Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Nacht. Die Zeit zwischen Abend und Morgen. Im Schutze der Dunkelheit rannte er durch die Gassen. Seine Umgebung war schwarz und dunkel und so fühlte er sich auch. In letzter Zeit war es einfach zuviel geworden, doch seit jeher musste er das aushalten, so wie er es immer ausgehalten hatte. Er war es gewöhnt. Wichtiger im Moment jedoch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, dabei durfte er aber weder gesehen noch gehört werden. Durch viele kleine Nebengassen, fast hakenschlagend ähnlich, fand er den Weg zum Bahnhof. Hier wartete er erst einmal. Wartete, ob ihm jemand gefolgt war. Seine Augen suchten die Umgebung ab, jeder kleinste Muskel in seinem Körper war angespannt und bei jedem noch so leisem Geräusch sah er in die jeweilige Richtung. Als er sicher war, nicht entdeckt worden zu sein, huschte er fast geräuschlos in den Bahnhof hinein. Er fuhr von Bikin aus nach Ternei. Leider dauerte die Fahrt länger als geplant. Als er endlich in Ternei ankam, visierte er sein nächstes Ziel an: den Hafen. Von dort würde die nächste Fähre um vier Uhr abfahren. Aber vom Bahnhof bis zum Hafen war es ein halbstündiger Fußmarsch. Er musste sich höllisch beeilen, denn die Zeit verging unaufhaltsam weiter. ~Noch 25 Minuten! Govno!~ Er rannte und rannte, jagte nur so über den Asphalt. "Wartet!! Halt!!" Die Fähre war in Sichtweite gekommen, aber sie war gerade im Begriff, wieder abzulegen. Zwei Skipper sahen die heranhetzende Person, der einem jungen Mann nicht unähnlich war, und schüttelten die Köpfe. Nein, sie konnten nicht mehr halten. Doch der junge Mann gab nicht so schnell auf, das hatte er noch nie getan. So gab er in einem verzweifelten Versuch noch einmal Vollgas, nutzte all seine Kraftreserven, bis er am Ende des Kiels angekommen war und - sprang! Die Skipper verfolgten seinen tollkühnen Sprung ohne besonderes Interesse. "Noch so ein Spinner!" Doch dann erstarrten sie. Er dumpfer Aufschlag ertönte, die Planken zitterten leicht - der Kerl hatte es doch tatsächlich geschafft, die Fähre zu erreichen!! Schnell eilten die beiden Männer heran, wo sich der "Springer" unter leichtem Ächzen erhob und sich Dreck von der Kleidung klopfte. Darauf bedacht, sein Gesicht zu verbergen, hielt er sich im Schatten auf und fragte ohne Umschweife: "Wie viel für ein Ticket nach Otaru?" Die Skipper sahen ihn mit großen Augen an. "Ich habe nach einem Ticket gefragt!", wiederholte der junge Mann mit Nachdruck. Als die Fährmänner immer noch keine Anstalten machten ihm zu antworten, drückte er ihnen einfach mehrere Münzen in die Hände und ging zum vorderen Teil der Fähre. Er lehnte sich gegen das Geländer, der Wind strich ihm beruhigend um sein Gesicht. Entspannt schloss er die Augen. Nach einer einstündigen Fahrt war er endlich in Otaru angekommen. Er verließ die Fähre und seufzte tief. Von dort ging es für ihn nämlich weiter nach Kioto. Er hatte die Strecke heute, oder sollte er besser sagen "gestern", denn mittlerweile war es kurz vor 5 Uhr am Morgen, also eigentlich tiefste Nacht, schon einmal zurückgelegt, aber das in entgegengesetzter Richtung. Und jetzt befand er sich auf der Heimreise. Kopfschüttelnd setze er seinen Weg zum Bahnhof fort. Dort kaufte er sich zuerst einen Kaffee, um wieder etwas auf die Beine zu kommen. Danach stieg er in den Zug ein. Im Abteil setzte er sich auf die Fensterseite. Er war müde, sehr müde. Die nächtlichen Exkursionen gingen ihm mächtig an die Nieren, das wusste er selbst, würde es aber niemals zugeben. Er vermisste seinen wohlverdienten Schlaf, den er jetzt dringend nötig hätte. Früher oder später würde er daran zugrunde gehen, wenn er nicht bald schlafen könnte. Aber wenn er in seiner Heimatstadt ankäme, hätte er gerade mal genug Zeit, um eilends zum Strand zu laufen und vorzugeben, er hätte schon angefangen zu trainieren. Die Fahrt nach Kioto würde zwei, vielleicht auch drei Stunden dauern. Der Junge lehnte sich in seinen Sitz zurück und rieb sich seine schmerzenden Arme und Knie, mit denen er auf den Boden der Fähre aufgekommen war. "Tja. Ein paar blaue Flecke mehr...", murmelte er und schloss die Augen. Schlafen. Schlafen. Das war sein einziger Gedanke in diesem Moment. Ein Stupsen, das zu leichtem Rütteln wurde, entriss ihn seinen Träumen. Ruckartig schlug er die Augen auf und blickte direkt in das Gesicht einer jungen Dame, augenscheinlich die Schaffnerin dieses Zuges. "Entschuldige. Wir werden gleich im Kiotoer Bahnhof einfahren. Dort musst du doch aussteigen, oder?", erklärte sie ihm freundlich. Verschlafen rieb er sich die Augen. "So schnell? Ja, gut, haben Sie vielen Dank!" Die Schaffnerin nickte ihm lächelnd zu und als er dann ausstieg, winkte sie noch einmal zum Abschied. Der junge Mann lächelte leicht müde und setzt seinen langen, weiten Weg fort. Auf dem Weg Richtung Strand packe er seine Sachen in die weiten Taschen seines warmen, schwarzen Mantels. Als er sie richtig verstaut hatte, ging er mit der aufgehenden Sonne in die Stadt. Er sah auf seine Uhr. "Hm. Viertel vor acht. Vielleicht sollte ich mich mal etwas beeilen..." Der Besitzer des schwarzen Mantels begann zu rennen. Nach etwa hundert Metern bog er in eine kleine Seitenstraße ein, die zum Strand führte. So spät wie jetzt war er noch nie gewesen. Aber was sollte es, nun war er ja da. Völlig erschöpft ließ er sich auf eine Mauer nieder, schlang die Arme um seine Beine und beobachtete den Sonnenaufgang. Dieser war zwar schon weit fortgeschritten, jedoch hatte er immer noch eine beruhigende Wirkung auf die auf der Mauer kauernde Person. Und jene wusste, dass bald wieder ein neuer, zeitaufwendiger Auftrag anstand. Der Junge seufzte schwer. Er fragte sich selbst, wie er das bloß alles ertragen konnte, wusste aber keine Antwort darauf. Seine Gedanken kehrten zu dem zurück, was vor einigen Stunden passiert war. "Ich habe gehört, ihr sollt sehr gut sein?" "Tja, wie man's nimmt..." "Dann habe ich einen Auftrag für euch." Ein abgedunkelter Raum, auf der einen Seite hinter einem Schreibtisch, saß ein Mann, ihm gegenüber standen zwei andere. Keiner der beiden Parteien kannte die andere, die Gesichter lagen im Schatten. "Also: Ich weiß zufällig, dass ihr jemanden sucht. Vielleicht kann ich euch helfen, indem ich euch Informationen gebe. Dafür müsstet ihr mir nur kleine Gefallen tun..." "Wie stellen Sie sich das vor, Sir... ähm...?" "Oh, keine Namen bitte. Die Wände könnten Ohren haben. Nennt mich Ispahan. Na ja, ich habe meine Quellen. Und ihr habt die euren. Werfen wir sie zusammen, haben wir mehr Möglichkeiten. Was meint ihr? Wenn ihr für mich den Yakuza-Clan der Toda aufspürt und ihn, sagen wir, entfernt, kommen wir ins Geschäft. Danach bekommt ihr natürlich auch etwas." Die beiden gegenüber dem Schreibtisch schauten sich kurz an. Dann erhob der größere der beiden das Wort: "Gut. Wir wollen aber einen festen Betrag und Informationen. Ansonsten keine Verhandlungen. Und vorerst bleibt es bei diesem einen Auftrag." "Ja, aber bedenkt doch, wir, zusammen... Ich weiß ja noch nicht mal eure Namen!" "Wir stellen die Bedingungen. Sie sind von uns abhängig, nicht wir von Ihnen. Ach ja, und wie Sie schon sagten: Die Wände haben Ohren, Sir Ispahan." "Nun gut. Hier sind die erforderlichen Unterlagen. Ich erwarte Ende der Woche die Ergebnisse." "Sir Ispahan" gab sich geschlagen und seinen Vertragspartnern die Dokumente. "Wir werden uns wieder melden. Ende der Woche. Auf bald." Damit verließen die Partner den Raum. Draußen angekommen, wandte sich der kleinere der beiden an seinen Kollegen. "Wie spät ist es?" "Es ist viertel vor drei. Du musst zum Bahnhof. Deine Fähre fährt in einer halben Stunde." "Ja ich muss los. Wenn was ist, dann melde dich." "Ist gut. Pass auf dich auf und lass dich nicht sehen. Beeil dich!" "Ja." So zog der Kleinere von dannen in Richtung Bahnhof. Noch lange blickte der andere ihm nach, bis auch er sich in entgegengesetzter Richtung auf den Weg machte. Ein Ruf schreckte ihn aus seinem Dämmerzustand auf. "-ai! Hey! Kai Hiwatari!" Kapitel 1: Ein neuer Morgen und neue Sorgen ------------------------------------------- Der Junge auf der Mauer brauchte gar nicht aufzusehen, um die Stimme, die ihn gerade gerufen hatten, zu identifizieren. "Was machst du schon wieder so früh hier? Hast du wieder mal trainiert?" Ray kam auf die sitzende Person zu, die er als Kai erkannt hatte, mit dessen und seiner eigenen Schultasche in der Hand. Dann blieb er direkt vor dem anderen stehen. Der Teamleader der Bladebreakers sah mit einem fragenden Blick erst die Taschen, dann seinen Kameraden an. "Hast du vergessen, dass das Wochenende vorbei ist und wir nun wieder zur Schule müssen?", fragte Ray. "Ach, wirklich?", entgegnete Kai desinteressiert und blickte auf das Meer hinaus, wo die Sonne schon hoch über dem Horizont stand. "Seit wann bist du denn schon hier? Ich hab dich gar nicht weggehen hören!" "Noch nicht sehr lang", bekam der Schwarzhaarige als Antwort. Dann erhob sich sein Gegenüber und meinte gleichgültig: "Na, wenn es denn sein muss, dann lass uns gehen." "Wohin?" "Zur Schule, Ray, du hast es doch gesagt! Im Übrigen: Weißt du wie spät es ist?" "Es geht langsam auf die 9 Uhr zu." Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Schule. Während dieser Zeit redete Ray entgegen seiner sonstigen Natur unaufhörlich auf Kai ein. Dieser aber schwieg und gab nur gelegentlich mal zustimmende Laute von sich. Dann waren sie - endlich, wie Kai fand - an ihrer Schule angekommen, wo sie auch gleich von den restlichen Teammitgliedern begrüßt wurden. "Hey! Na Kai, wohl wieder fleißig am trainieren gewesen, wie?" Lachend klopfte Max ihm auf den Rücken. Um darauf etwas zu erwidern, reichte dessen mentale Kraft momentan aber nicht aus. So begnügte sich Kai mit einem seiner wütendsten und stechendsten Blicke, den er Richtung Max schickte. Doch das schien den Blonden nicht zu stören, er quatschte einfach munter weiter. Genervt verdrehte der Teamchef die Augen. ~Ganz ruhig, Kai, nicht ausrasten...~, sprach er sich selbst zu. So zogen die Bladebreakers dann in ihren Klassenraum. Seufzend ließ Kai sich auf seinen Platz fallen. Am Wochenende hatte er einen "Auftrag" erledigt, der zwar einfach, jedoch mehr als nervtötend war, da es so ein langwieriges Unterfangen gewesen war. Und jetzt kam dieser Ispahan dazwischen... Dabei wünschte der Graublauhaarige nichts Sehnlicheres zu tun als zu schlafen. Leider Gottes brauchten sie das Geld, sie konnten Ispahan nicht abschlagen. Und zum wiederholten Male durfte er sich nichts anmerken lassen. Als wäre er wieder in der Abtei... Bei diesem Gedanken lief ihm ein leichter Schauer über den Rücken. "Ein Königreich für ein Bett... Das wär's jetzt...", murmelte Kai leise, nachdem er seinen Kopf auf seinen Armen gebettet hatte. "Hiwatari! Dürfte ich erfahren, was Sie dort vor sich hinmurmeln?" ~Verfluchter Mist! Wohl doch nicht leise genug!~, schimpfte er in Gedanken mit sich selbst. Schnell stand er auf und orientierte er sich wieder am Thema dieser Geschichtsstunde: "Ich meinte, dass es nicht nur diese Gründe für die Revolution in Frankreich gab." "Ah, ich sehe schon. Sie sind ganz beim Thema, wenn auch auf einem eher konfrontierenden Kurs. Nun gut, dann erklären Sie doch mal, was Sie meinen." Bei einer genaueren Betrachtung Kais hätte man ihn deutlich ein Stück in sich zusammensinken sehen. Er wusste, dass die Lehrerin ihn nun nicht so leicht von der Angel ließ, also erklärte er ihr notgedrungen etwas, was er sich gekonnt aus den Fingern saugte. Nachdem er geendet hatte, meinte die Lehrerin: "Aha. Ja, gut. Können Sie uns dann auch noch die Rolle von Voltaire erklären? Was hatte er in der Sache zu tun?" Beim Klang dieses Namens zuckte der Silberhaarige zusammen. Er musste schwer schlucken, um seine unbändige Wut, die langsam in ihm hoch kroch, zu unterdrücken. Aber es gelang ihm einfach nicht. Auch seine Freunde sahen ihn mit einer Mischung aus Sorge und Unbehagen an. Sie wussten, dass Kai nicht gerade freudige Erinnerungen mit diesem Namen verband. Zwar kannten sie den wahren Grund nicht, hatten aber schon einmal Bekanntschaft mit seinem Großvater gemacht. Als Kai keine Anstalten machte, zu antworten, hakte die Lehrerin nach: "Also? Was ist? Es war ein Teil der Hausaufgabe, und jetzt möchte ich, dass Sie erklären, Hiwatari." "Wollen Sie mir erzählen, dass ich... dass ich..." Kai bebte vor Zorn. "Was weiß ich denn? Kenne ich die kranken Vorstellungen von diesem... diesem... dieser PERSON? Er hat.. doch alles nur kaputt gemacht..." Nach diesem kleinen Ausbruch senkte er den Kopf. Dann fasste er sich wieder: "Verzeihen Sie bitte. Voltaire", er unterdrückte ein erneutes Aufflammen seiner Wut, "war einer der französischen Aufklärer, teilte dem Volk mit, was Gewaltenteilung brachte und so weiter." Nach dieser äußerst langweiligen und anstrengenden Stunde hatten sie erst mal Pause. Kai hatte es eilig, aus dem Klassenzimmer zu kommen und zog sich auf die Jungentoilette zurück. Hier ging er zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und ließ kaltes Wasser über seine Hände fließen. Dann sammelte er es in denselbigen, indem er sie zusammenlegte, und schlug sich das kühle Nass ins Gesicht. Als er dann triefend vor dem Spiegel stand, starrten ihn zwei rubinrote Augen an. Sie hatten all ihren Stolz, ihr Feuer und damit ihr Leuchten verloren. Kai fühlte sich einsam. So einsam wie schon lange nicht mehr. Ihm fiel der Satz eines berühmten Schriftstellers ein, Hemingway soll ihn einst gesagt haben: Auch wenn ich unter Menschen bin, so bin ich doch allein. Und diese Aussage traf, so fand der Junge mit der ungewöhnlichen Augenfarbe jedenfalls, hundertprozentig auf ihn zu. Klar, er wollte allein sein, aber nur um sich selbst zu schützen. Oder? Machte er sich bloß etwas vor? Wollte er wirklich immer wegrennen, sich vor seinen Gefühlen verstecken? Energisch schüttelte der Graublauhaarige seinen Kopf. Dann fiel ihm auf, dass seine Streifen verwischt waren. Er nahm etwas Papier und wischte dieses Geschmiere ab. Es sah wirklich nicht sehr ansehnlich aus. Nun fasste er in die Taschen seines Mantels, den er stets mitnahm und nie unbeaufsichtigt irgendwo liegen ließ, und holte eine kleine, mitternachtsblaue Dose hervor. Goldene, kyrillische Lettern beschrieben den Inhalt. Es war die Farbe, die er sich jedes Mal ins Gesicht malte, was seine Teamkameraden auch oft scherzhaft als Kriegsbemalung betitelten. Er tunkte zwei Finger in die flüssige Schminke und strich damit zweimal auf jeder Seite über seine Wangen. Als ihn das Ergebnis zufrieden stellte, schob er die kleine Dose zurück in seine Manteltasche. Kai lächelte leicht bei dem Gedanken, dass er wohl bald einen guten Freund wiedertreffen würde, konnte er diese besondere Schminke doch nur in Russland bekommen. Sie war nämlich wirklich gut, Qualitätsware, denn die Farbe verlief weder bei Berührung mit Wasser noch im trockenen Zustand, wenn er z. B. darüber strich. Nur die Kombination Wasser - Reibung machte dem ein Ende, denn schließlich musste sie ja auch wieder abzukriegen sein. Dann, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, schickte er sich an, in den Klassenraum zurückzukehren. Als er durch die Tür gehen wollte, wäre er beinahe über ein ausgestrecktes Bein gestolpert und der Länge nach hingefallen. Glücklicherweise fing er sich noch rechtzeitig auf, aber schon stand ein grinsender Edward vor ihm. "Och, bist du gefallen? Soll ich dir hoch helfen?" "Danke, geht schon", knurrte Kai missmutig zurück. Er hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, schon gar nicht mit Edward. "Du hast dir doch nicht etwa weh getan? Hast du dir gar etwas gebrochen?", frotzelte der Junge weiter. Edward war ein hochgewachsener, doch recht stämmiger Kerl, sein braunes Haar hatte mittlere Länge, dass er am Hinterkopf mit einem Gummi zu einem kurzen Zopf zusammengebunden hatte. Er war mindestens einen Kopf größer als Kai. Und wenn er so weiter machte, dann würde dessen Geduldsfaden sehr schnell reißen. "Ich warne dich, Junge, lass mich in Ruhe! Ich weiß, was du willst, aber ich habe keine Lust darauf!" "Ach ja... Ich versteh schon. Tja, Hiwatari, ich hab dich durchschaut." Genervt wandte sich Angesprochener, der gerade zu seinem Platz gehen wollte, wieder um. "Ja ha, da staunst du, was?! Du tust zwar immer so unnahbar und mutig und stolz, aber dabei bist du ein verwöhnter kleiner Bengel, der die Hosen voll hat, wenn es drauf ankommt! Schau dich doch jetzt an: Am liebsten würdest du dich doch hinter dem Rockzipfel deine Mutter verstecken und..." "Lass meine Mutter aus dem Spiel!" "Oh, hab ich da einen wunden Punkt getroffen? Ach du kleines Muttersöhnchen, soll ich dir erzählen, was deine Mutter so alles kann? Du wirst dich wundern, wo die abends anzutreffen ist... diese Bordsteinschwalbe!" Mit einem hämischen Grinsen untermalte Edward seinen eben geäußerten Satz. Hätte er besser nicht tun sollen. "Noch ein Wort und du bist fällig." Die beiden standen vor der Tafel, Edward mit dem Rücken zur Tür, im Blickfeld ihrer Mitschüler. Die sich wiederum nicht von ihnen stören ließen. Nur Ray hob ab und an den Blick, aus reiner Langeweile. "Oh nein, jetzt hab ich aber Angst!" Edward wollte ihn provozieren, um das zu bekommen, was er haben wollte. Und er trieb es zu weit. "Ich hab sie gestern Abend gesehen... Sie hat sich zu einem Autofenster hinuntergebeugt... Dann ist sie zu dem Kerl in den Wagen gestiegen und - " Es donnerte dumpf, die Wand vibrierte. Kai war vorgeschnellt und hatte seinen Gegenüber ziemlich hart gegen die Wand zwischen Tafel und Waschbecken geschleudert. "Wage es nicht noch mal, meine Mutter zu beleidigen!" Der Graublauhaarige musste sich sehr beherrschen, nicht in einer seiner Manteltaschen zu greifen und etwas zur Hilfe zu nehmen. "Hurensohn!", würgte Edward unter Kais Griff hervor. Das war eindeutig zuviel. Unsagbar schnell und kräftig rammte Kai seinen Ellbogen zielgenau in Edwards Magen. Dieser keuchte auf vor Schmerz. Doch Kai gab ihm kaum Gelegenheit, sich zu krümmen oder auf andere Art seinen Schmerzen Ausdruck zu verleihen. Er drückte ihn erneut gegen die Wand, die dabei etwas nachgab, und hieb ihm sein Knie in den Bauch. Durch das gequälte Stöhnen aufmerksam geworden, sah Ray auf und erschrak. Die beiden hatten doch tatsächlich angefangen, sich zu schlagen! Der Schwarzhaarige konnte keine Prügeleien ausstehen und sprang deshalb sofort auf. "Tyson, Max, los kommt mit!" Er zerrte seine Freunde mit zu Kai und Edward. "Kai was soll denn das! Hör auf damit!" Mit diesen Worten versuchte Ray, seinen Teamkollegen von seinem Mitschüler wegzuziehen. Doch er schaffte es nicht. Da begann Kai leise zu reden. "Wie kannst du es wagen, meine Mutter zu beleidigen?! Wenn ich könnte... Wenn ich dürfte... Du ahnst nicht, was ich mit dir anstellen könnte!“ Dann ließ er Edward los. Der ging zu Boden, rutschte die Wand hinunter, keuchte aber dennoch angriffslustig: "Na warte. Das werden wir in einem Battle austragen! Heute Nachmittag!" "Tze, du weißt wohl nicht, was gut für dich ist, wie? Schön. Nach der Schule im Hof, vor den Sportplätzen. Die Mittel sind klar: unsere Blades. Und ich sage dir was: In zehn Minuten habe ich dich besiegt!" Mit einem letzten wütenden Blick kehrte Kai an seinen Platz zurück. "Mensch Kai! Du hast sie ja wohl nicht mehr alle beisammen?! Du kannst doch nicht einfach einen deiner Mitschüler verprügeln!" Der Angesprochene ging nicht darauf ein, sondern meinte nur: "Ihr kommt mit. Er wird, wie üblich, seine Freunde mitbringen, die auch ,mitspielen' wollen. Und ihr quengelt doch immer, ich soll mal n anderes Training machen, also: Da habt ihr." "Aber..! Wir können nicht..." "Ray, jetzt sei bitte ruhig. Ich habe Kopfschmerzen." Tatsächlich klopfte neben seiner Schläfe ein monotoner Schmerz. Aber mit diesen Worten kam auch ein neuer Lehrer in die Klasse und es gab keine Zeit für weitere Diskussionen. Die Stunden bis zum Nachmittag zogen zäh dahin. Kai nickte immer mal wieder leicht ein. Seltsamerweise fühlte er sich dadurch etwas fitter und als die Schulglocke den Schulschluss verkündete, schritt er mit selbstsicherem Lächeln auf den Lippen und seinem Team im Schlepptau hinaus zu den Sportplätzen. Dort warteten bereits Edward mit seinen Freunden. Kai forderte Kenny auf, die Zeit zu stoppen. Ein minimales Glühen lag in seinen Augen. Edward hatte es gewagt, Kais Mutter zu beleidigen, und das würde er büßen! Dann begann das Match. Es war aber keine große Sache. Nach 9 Minuten und 51 Sekunden hatten die Bladebreakers gesiegt und Kai hatte damit Edward ein weiteres Mal zur Weißglut getrieben. Grinsend verließ der Silberhaarige den Schauplatz. "Was machen wir jetzt? Lasst uns doch was essen gehen!", schlug Tyson vor. "Könnt ihr ja machen. Ich geh nach Hause!", erwiderte Kai. Max wunderte sich: "Was willst'n da?" "Entspannen!", rief der Teamleader schon im Weitergehen zu ihrer gemeinsamen WG. Ja, das wollte er: Hinlegen, ausruhen, entspannen, fernsehen... Eben all das, zu dem er schon so lange nicht mehr gekommen war. Heute hatte er nämlich ausnahmsweise nachts nichts zu tun! ~Hm... ich könnte auch mal wieder ausgiebig baden! Das beruhigt, entspannt, und ich kann nebenbei fernsehen!~, dachte Kai, als er die Haustür aufschloss und eintrat. Ja, heute war sein langersehnter freier Tag nach Wochen! Kapitel 2: Vorboten ------------------- Am nächsten Morgen lag Kai in seinem Bett und schlief entgegen seiner sonstigen Natur tief und fest. Ray dagegen, der sich ein Zimmer mit Kai teilte und sein Bett sich auf der gegenüberliegenden Seite von Kais befand, wachte langsam auf. Da klingelte der Wecker auch schon wie gewohnt um 7.45 Uhr. Gewohnt jedenfalls für Ray und die anderen, nicht aber für Kai. Da er den morgendlichen Weckruf meist überhörte, weil er nicht anwesend war, fühlte er sich jetzt durch das schrille Piepsen persönlich angegriffen. Verschlafen suchte er nach diesem Ruhestörer, fand ihn und schmiss ihn gegen die gegenüberliegende Wand. Haarscharf an Rays Kopf vorbei, der sich eben aufgerichtet hatte. "Scheißding!" "He! Du hättest mich fast getroffen, Kai!", empörte sich Ray äußerst beleidigt. Kai öffnete sein rechtes Auge halb, da er auf seiner linken Gesichtshälfte lag, nuschelte ein müdes "'Tschuldigung" und schloss sein Auge wieder. Der Schwarzhaarige seufzte resigniert. Dann stand er auf und verließ das Zimmer durch eine Tür nahe dem Balkon, die zum Badezimmer führte. "Steh gleich auf, sonst kommst du zu spät", meinte er noch zu seinem Leader, bevor er die Tür hinter sich abschloss. Als er nach einer Viertelstunde wiederkam, lag Kai immer noch im Bett. Aber wie! Ray musste unwillkürlich schmunzeln. Der Blaugrauhaarige hatte sich unter seinem Kissen begraben und sich dermaßen schlimm in seine Decke eingewickelt, dass man kaum mehr unterscheiden konnte, wo bei ihm jetzt oben und unten war. Dazu lag jetzt auch noch Rays Wecker zerschmettert auf dem Boden. Worüber sich der Chinese aber wunderte, war, dass Kais rechter Arm, der über den Rand des Bettes hing, einen Hausschuh festhielt. Doch bevor er etwas tun konnte, klopfte es zaghaft und kaum hörbar an der Tür und eine Flüsterstimme fragte vorsichtig: "Dürfen wir reinkommen?" Ray schüttelte den Kopf, was war heute morgen bloß los? Er ging hin und öffnete die Tür, wo er Max und Tyson vorfand, die ängstlich zusammenzuckten. Doch als sie sahen, dass es ,nur' Ray war, der ihnen aufmachte, atmeten sie erleichtert aus. "Na, Tyson! Du siehst ja aus! Was hast du denn gemacht?", fragte der Schwarzhaarige. "Ach der... Tyson ist vorhin hier reingeplatzt, um euch zu wecken. Aber weil du nicht mehr da warst, wollte er sich Kai vornehmen. Na ja, das hat unserem Leader aber irgendwie wohl nicht so gefallen und hat deshalb seinen Pantoffel genommen und Tyson damit eins übergezogen", erklärte Max. "Ja, und das tat ziemlich weh! Ich bin ja einiges von ihm gewöhnt, ihr wisst, Kopfnüsse, Schwitzkasten und so weiter, aber diesmal war es viel schmerzvoller als sonst!", beklagte sich der Blauhaarige. "Aha. Na, dann geht mal runter. Ich versuch mal, Kai zu wecken. Wird ja wohl so schwer nicht sein!" Tja, weit gefehlt. Ray versuchte es mit Rufen, Brüllen und zuletzt Schütteln, aber von Kai kam keine Reaktion. Und die Decke wegziehen ging auch nicht, Kai hatte sich ja darin eingerollt. ~Moment, eingerollt?~ Das war die Idee! Ray schnappte sich die Enden der Bettdecke und zog so schnell und kräftig er konnte, und siehe da: Kai landete ,unsanft' auf dem Boden. Schlagartig wurde er dadurch wach, griff blitzschnell unter sein Bett und - hielt kurz inne. Der Blaugrauhaarige sah Ray an. "Na, du Schlafmütze? Endlich aufgewacht? Was hast du denn da?", wollte dieser wissen. Kai, der versucht hatte, es zu verbergen, schmiss es schnell zurück unters Bett und suchte nach einer Antwort. Da blinkte etwas unter seinem Shirt und er sagte: "Nur ein altes Bladeteil. Nicht der Rede wert." Dann stand er auf. Der Chinese schien sich damit zufrieden zu geben, er meinte nur noch: "Beeil dich bitte und komm gleich runter. Wir müssen nämlich - oh Wunder - zur Schule." "Ja ja..." "Ach, und noch was: Ich krieg dann noch nen neuen Wecker von dir." Damit deutete er auf das zerstörte Uhrwerk auf dem Boden und ging. Nachdem Ray das Zimmer verlassen hatte, schloss der Blaugrauhaarige die Tür ab, holte die ganzen Utensilien, die er in einem Karton unter seinem Bett verbarg, hervor und durchsuchte sie. Er machte das nur aus Vorsicht, denn wenn eines seiner Sachen in die falschen Hände geriet, z. B. in die Hände seiner Freunde, hätte er ziemlich schlechte Karten. "So.. Zuerst haben wir da... meine Beretta Main, die Sumatra 2500, auseinandergebaut und die MP 40, ebenfalls zerlegt... Dann noch eine Walther... ah, und hier hab ich noch eine Reinigungsbürste! Uh.. Die müsste ich mal wegschmeißen und ne neue kaufen.. Ok, dann ist alles da. Gut." Er packte seine Waffen in eine transportfähige, praktische Tasche, legte sie in den Karton zurück und stellte diesen ordnungsgemäß unter sein Bett. Jetzt ging er ins Bad. Auch hier schloss er die Tür ab. Der Junge zog sein Shirt aus und ließ es erst mal achtlos auf die kühlen Fliesen fallen, worauf dann auch seine Boxershorts folgten. Da leuchtete plötzlich sein rubinroter Anhänger auf, den er immer an einer silbernen Kette um den Hals trug und auf deren ebenfalls silbernen Befestigung das Familienwappen prangte. Das Leuchten sagte Kai, dass sein geliebtes Bit Beast bald erschien. Und so war es dann auch. Der feuerrote Phönix entstieg dem Anhänger und setzte sich auf den Rand der Badewanne. "Dranzer..", flüsterte Kai liebevoll. Er freute sich, ihn zu sehen und strich über das warme Gefieder seines Freundes. "Danke, dass du mir grade geholfen hast." Kai hatte nämlich, dank Dranzer, an Beyblades gedacht und somit eine passende Antwort auf Rays Frage gefunden. "Kein Thema", erwiderte der Phönix. Kai indes schob den Duschvorhang zur Seite und stellte das Wasser an. "Ich mag es irgendwie nicht, Ray anzulügen", erklärte er seinem Bit Beast. "Er und die anderen aus dem Team sind die einzigen, die nett zu mir sind und meine Freunde sein wollen - außer dir und Tala natürlich", setzte er hinzu, während er sich wusch. "Ja, aber es ist besser so. Du würdest sie in Gefahr bringen, und das willst du doch nicht." Der Silberhaarige schwieg eine ganze Weile, bis er aus der Dusche herauskam. Dranzer hielt ihm mit dem Schnabel ein Handtuch hin. Kai nahm es und meinte: "Du hast Recht." Er fing an, bitter zu grinsen. "Vielleicht sollte ich mir darüber keine Gedanken mehr machen. Sie dürfen es nie erfahren..." Hiernach herrschte erst mal Stille im Raum. "Kai, ich mache mir Sorgen um dich", begann der Phönix dann. "Du siehst schlimm aus. Guck dich mal an, man sieht dir deine Müdigkeit an!" Kai wickelte sich das Handtuch um die Hüften und trat an den Spiegel. Er sah einen grimmig dreinblickenden und spöttisch lächelnden Jungen, dem ein paar Strähnen ins Gesicht hingen und der tiefe Ränder unter den Augen hatte. "Ja, aber das sieht nur ein geübtes Auge. So sehr fällt das doch gar nicht auf!", versuchte er sich selbst einzureden. Dranzer schüttelte den Kopf. Seufzend drehte Kai sich vom Spiegel weg und zog sich seine Sachen an, die er am Vorabend nach seinem Bad schon bereitgelegt hatte. Danach machte er sich daran, sich seine Streifen zu malen. Dabei überlegte er ernsthaft, ob er die Augenringe, die doch recht deutlich waren, vielleicht mit Make-up verdecken sollte, entschied sich letztendlich aber dagegen. "Wie lange willst du sie dir eigentlich noch aufmalen?", fragte Dranzer plötzlich. Damit waren seine Streifen gemeint, das wusste Kai, und es war ein altes Streitthema zwischen Dranzer und ihm. "Das weißt du doch genau." "Aber es war nicht deine Schuld! Warum..?" "Bitte Dranzer. Lass gut sein. Und inzwischen haben sich auch die anderen so sehr daran gewöhnt, dass sie einen Schrecken kriegen würden, mich plötzlich ohne zu sehen." Der Silberhaarige lächelte leicht. Sein Bit Beast aber seufzte schwer. "Nun gut. Ich geh dann wieder. Pass auf dich auf." Mit diesen Worten verschwand Dranzer wieder im Amulett. Kai umfasste es, solange es leuchtete und verließ dann, nachdem er seine Klamotten in die Wäschetonne gestopft und kurz versucht hatte, seine Haare zu bändigen, das Bad. Die Betonung lag hier wirklich auf auf ,versucht'... Währenddessen saßen die anderen Mitglieder des Teams mit Mr. Dickenson an einem Tisch und unterhielten sich. Ray schenkte dem Vorsitzenden der BBA gerade etwas Kaffee in eine Tasse ein, als Kai die Treppe runterkam. "Guten Morgen Kai! Hast du gut geschlafen?" Mr. Dickenson drehte sich zu dem Silberhaarigen um. Sein anfängliches Lächeln erschlaffte. "Himmel Herrgott!! Wie siehst du denn aus?!" "Ebenfalls Guten Morgen. Ray, gibst du mir auch eine Tasse?" Kai überging die letzte Frage seines Sponsors und stellte seine Schultasche auf seinem Stuhl ab, um eine Flasche Wasser hineinzupacken. Ray, der ihm die Tasse gab, bemerkte: "Du siehst echt nicht gut aus. Hast du schlecht geschlafen?" Kai blickte nun auf. Er sah in mehrere fragende Gesichter. Mit einem kurzen Nicken als Dank nahm er dann aber die Tasse mit schwarzem Kaffee und antwortete auf Rays Frage. "Nicht schlechter als sonst auch." Eine kurze Zeit des Schweigens entstand. "Ey, könnt ihr das mal lassen?! Hört auf, mich so anzustarren!" "Iss wenigstens etwas. Du siehst so mager aus. Bist du krank? Hast du vielleicht Fieber?" Besorgt fühlte Mr. Dickenson Kai die Stirn. "Mr. Dickenson, ich esse morgens nie etwas! Und mir geht es gut! Wirklich!" Hilfesuchend blickte er sich im Raum um, um den Vorsitzenden loszuwerden. Ray bemerkte Kais ,Verzweiflung' und stand ihm zur Seite. "Mr. Dickenson, wir müssen jetzt leider gehen, sonst kommen wir zu spät zur Schule. Lassen Sie Kai ruhig mit kommen. Wenn er meint, dass es ihm gut geht, dann wird es wohl so sein." Mit diesen Worten nahm er den Blaugrauhaarigen bei der Hand und zog ihn mit sich nach draußen. Die anderen folgten den beiden auf dem Fuße, denn sie waren wirklich spät dran. Als sie alle in der Schule ihren Klassenraum erreicht und sich auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, trat der Lehrer auch schon ein. Er überflog schnell die Anwesendheitsliste und fing dann mit dem Unterricht an. Plötzlich landete ein kleiner gefalteter Zettel auf Rays Tisch, direkt auf seinem Heft. Der Lehrer schien es nicht bemerkt zu haben. So öffnete der Schwarzhaarige dann das Stück Papier, auf dem nur ein einziges Wort stand. Thanks. Ray blickte sich suchend um. Bei Kai machte er Halt und lächelte ihm zu, als dieser in seine Richtung blickte. Er wusste, dass es nicht die Art des Russen war, viele Worte des Dankes zu verlieren. Aber er verstand ihn auch so. Nach dieser Stunde folgten noch fünf weitere und danach hatten sie eine Doppelstunde Sport. Kai war ja so begeistert! Herr Kusakabe hatte seinen Schülern schon in der letzten Stunde erklärt, dass sie Volleyball spielen würden. "So Jungs. Ihr habt das früher sicher schon einmal im Sportunterricht besprochen. Keine Angst, das ist nicht schwer. Diesmal wird es nur darum gehen, dass wir eine oder zwei Schulmannschaften gründen wollen. Und ich will, dass ihr euch anstrengt, denn wir wollen auch gegen die Mannschaften der anderen Schulen antreten. Also, gebt euer Bestes!" Das war die Eröffnungsrede ihres Lehrers. Danach führte er seine Schüler in das Spiel ein. Die erste Stunde ging vorüber und das Team der Bladebreakers stellte sich gar nicht mal so schlecht an. Aber auch die anderen Mitschüler lernten schnell dazu. Ray spielte sich gerade mit Kenny ein, als Herr Kusakabe meinte, dass alle ihren Partner einmal tauschen sollten, und zwar indem sie einmal nach rechts weiterdrehten. Für Ray war das nicht weiter schlimm, er spielte dann mit Raphael, Kenny mit Max und Tyson war irgendwo weiter hinten, aber Kai... Er durfte zu seinem Übel mit Edward spielen. ~Toll. Von allen anderen krieg ich natürlich den...~ Man sah Kai seine Begeisterung darüber deutlich an. Na ja, mal abgesehen davon, dass er immer grimmig schaute. Aber als Edward in sein Blickfeld trat, zogen sich seine Augenbrauen so stark zusammen, dass es schien, als wären sie ein einzelner Strich. Er biss sich auf die Unterlippe, um sich zurückzuhalten und nicht auf den anderen Jungen loszugehen. "Bereit? Ihr könnt jetzt weiterspielen!", verkündete Herr Kusakabe. "Na los, Kai, zeig was du drauf hast, Lusche!", setzte Edward hinzu. Der Angesprochene sah ihn desinteressiert an, stellte seine Ohren auf Durchzug und schlug eine Angabe auf ihn. Die Edward aber geschickt abwehrte. Nach einigem Hin und Her war es der Part des Braunhaarigen, und er nutzte seine Chance. Edward schmetterte den Ball brutal auf Kai zu. Dieser sah den Ball auf sich zukommen, ging einen Schritt zurück und nahm den Ball an, als wäre es kein Schmetterball sondern ein ,Wattebäuschen'. Und damit nicht genug, er spielte ihn sich selber hoch, so dass er jetzt eine gute Angriffshöhe erreicht hatte und schlug den Ball zurück. Edward konnte dem nicht standhalten und hielt sich schützend die Arme vors Gesicht. "Aber was denn? Du brauchst doch keine Angst vor dem Ball zu haben, da ist doch nur Luft drin!" Es gongte und Kai ging mit den anderen aus seinem Team und innerlich grinsend in die Umkleidekabine. Etwas später auf dem Heimweg suchte Kai in seinen Hosentaschen nach Geldmünzen. Als er welche gefunden hatte, sagte er: "Ich muss noch mal in die Stadt." Daraufhin bog er links in eine kleine Seitenstraße ein. Seine Teamkollegen sahen ihm verblüfft nach. Ihr Leader jedoch sah sich in der Stadt nach einer Telefonzelle um. Aber nicht irgendeine, nein. Sie musste etwas abgelegen sein, aber nicht zu auffällig entfernt, es sollten Menschen in der Nähe sein, aber nicht zu viele und es sollte eine richtige Zelle sein, nicht so ein offenes Ding wie auf den Bahnhöfen und natürlich musste es ein Münztelefon sein. Viele Ansprüche an eine einzige Telefonzelle. Trotzdem fand Kai eine, die seinen Anforderungen entsprach. Schnell warf er ein paar Geldstücke ein, für ein Ferngespräch. Er wählte. "~"Tut...tut...tut...tut..."~" "Nun nimm schon ab!" Leicht nervös wickelte Kai die Telefonschnur um seine Finger. "~"Klick. Da?"~" Eine verschlafene, aber ihm dennoch vertraute Stimme antwortete ihm. "Tala? Bis du das?" Sofort war die Person am anderen Ende der Leitung hellwach. "~"Kai? Ja, dank dir bin ich jetzt wach. Was willst du? Du störst meinen Schönheitsschlaf!"~" "Den kannst du ja später fortsetzen, obwohl du den ja dringend nötig hast." "~"Haha. Werd nicht frech, Kleiner. Nein, jetzt im Ernst: Warum rufst du an? Warte, ich kann es mir denken: Du willst wissen, ob ich was Neues hab!"~" "Ja und nein. Erst will ich wissen, wie es dir geht. Alles in Ordnung?" "~"Na ja. Sagen wir, es geht. Es ist kalt, aber richtig warm wird es ja nie. Mach dir keine Sorgen, ich bin fit. Unkraut vergeht nicht, oder wie heißt das noch gleich so schön?"~" Kai lächelte leicht. Sein Freund verstand es immer wieder, ihm Hoffnung zu geben und ihn wieder aufzubauen, wenn er am Boden war. Allein die Stimme des Rothaarigen besänftigte ihn. "Na dann..." Der Graublauhaarige warf noch schnell ein paar Münzen nach. "~"Ok, jetzt geht's aber ums Geschäft. Also. Unser feiner Herr, den wir am Wochenende kennen gelernt haben, hat uns Informationen versprochen. Ich hab mit ihm zusätzlich fünf Riesen ausgehandelt. Ich halte das für angemessen. Er will ja Ende dieser Woche Ergebnisse erhalten. Hast du was über die Toda herausgefunden?"~" "Nö. Du denn? Da fäll mir auf, wir haben ja nur noch Mittwoch, Donnerstag und Freitag dafür Zeit!" "~"Das fällt dir aber früh auf. Ich hab mich hier etwas umgehört. Die Toda verfrachten Drogen im großen Stil, deshalb sind sie einflussreich. Sie haben eine neue Methode, wie sie Heroin schmuggeln, und zwar.."~" "Scht! Nicht am Telefon. Also Drogenkuriere. Hm. Ich hab gestern Abend was in den Nachrichten darüber gehört. Vielleicht hab ich mir sogar was aufgeschrieben, muss ich mal gucken." "~"Kai? Kannst du kommen?"~" "Hm. Wenn ich heute Abend fahre... Ja. Wieso?" "~"Können uns dann besser unterhalten. Wie spät fährst du?"~" "Heute Abend um Acht. Dieselbe Strecke. Aber diesmal komm ich von Tetjuche-Pristan. Lass uns in Iman treffen. Ist das in Ordnung?" "~"Solange du kommst, ist alles ok. Beeil dich. Wir haben nur noch drei Tage. Pass auf dich auf."~" "Du auch. Tschau." Beide legten gleichzeitig auf. ~Warum sagen sie mir eigentlich dauernd, ich soll auf mich aufpassen? Ich bin doch kein Kind mehr!~ Wieder leuchtete sein Amulett kurz auf, weiter geschah aber nichts. "Ja, ist ja gut Dranzer, ich sag ja schon nichts mehr." Dann ging er nach Hause. Dort angekommen, machte Ray ihm die Tür auf. "Hi! War es schön in der Stadt?" Kai ging ohne ein Wort zu verlieren an ihm vorbei und sofort in ihr gemeinsames Zimmer. "Oh, vielen Dank für die Auskunft!", rief Ray ihm leicht säuerlich hinterher. Doch das störte den Russen wenig. Oben im Zimmer war er nämlich gerade dabei, diese kleine Tasche hervorzukramen, die er immer so sorgsam versteckte. Dann suchte er noch nach dem Zettel, wo er ein paar Nachrichten über die Toda aufgeschrieben hatte, stopfte diesen mit die schwarze Tasche und ging dann nach unten. Im Flur nahm er seinen Lieblingsmantel vom Garderobenständer und zog ihn an. "Wo willst du denn jetzt noch hin?!", fragte Max verwirrt, als er seinen Leader sah. "Hab noch was zu erledigen." "Und was, bitteschön?", hakte jetzt auch Ray nach, der hinzugekommen war. "Das geht euch nichts an. Könnte übrigens spät werden." Damit hob er seine Tasche auf und ging zur Tür. "Ich sage dir, wenn du morgen nicht aus den Federn kommst, ICH wecke dich bestimmt nicht!", erklärte Ray ihm. Der Graublauhaarige zuckte nur mit den Schultern und verließ die gemeinsame Wohnung. Als er außer Sichtweite war, fing er einen Dauerlauf zum Bahnhof an. *~*~*~* Kleines Nachwort: Ich war jetzt etwas faul und hab die Regeln für Volleyball nicht erklärt. Aber es wäre auch bestimmt langweilig geworden. Ich geh mal davon aus, dass Volleyball relativ bekannt ist. Wenn jemand trotzdem das wissen will, einfach Ens an mich ;-) Ah, und ich bin mit den Waffen da nicht ganz sicher, da ich da nicht gerade viel Ahnung habe, aber ich bin dabei, mir das Wissen darüber anzueignen^^ Also, falls da was falsch sein sollte, und jemand das weiß, dann bitte sagen. Man lernt ja schließlich nie aus, nicht wahr?!^^ *alle Leser mal durchknuddel* Cu bis zum nächsten Kapitel! =^..^= *wink* Kapitel 3: Kurzbesuch --------------------- Als Kai am Bahnhof angekommen war, fiel ihm ein, dass er Ray noch einen Wecker schuldig war. "Och nee... Einen Morgen kommt der auch wohl ohne aus!" Trotzdem: Wohl war ihm nicht dabei. Aber damit konnte er sich jetzt nicht abgeben, er musste so schnell wie möglich nach Russland. Kai stieg sofort in die nächste Bahn ein, die gerade einfuhr. Er setzte sich in ein Abteil neben eine alte Dame, die er höflich gefragt hatte, ob dort noch ein Platz frei wäre. "Du bist aber ein wohlerzogener Junge! Die Jugend heutzutage ist ja oft längst nicht mehr so höflich. Sehr bedauerlich", sprach die Dame Kai an. Der Blaugrauhaarige nickte nur bestätigend. Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. "Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf? 16? Weißt du, ich habe zwei Enkelkinder, ein Zwillingspärchen, die sind auch ungefähr in deinem Alter. So lieb, kann ich dir sagen, aber wenn die untereinander reden, mit Gleichaltrigen, dann sind sie rotzfrech, da erschreckst du dich!" So ging das noch eine Weile weiter. Dem Jungen ging das Gelaber der Dame zwar mächtig auf den Keks, zumal es ihn ja nicht mal interessierte, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel, sprich, er blieb weiterhin höflich, beantwortete ihr Fragen und hörte ihr zu. "Wohin willst du denn eigentlich noch so spät abends? Ist das nicht gefährlich so ganz alleine? Oder fährst du gerade nach Hause?" Kai bemerkte für sich, dass die Dame scheinbar Gefallen daran hatte, ihn mit mehreren Fragen auf einmal zu bombardieren. "Nein, nicht nach Hause. Ich möchte einen Freund von mir besuchen, das ist nicht mehr allzu weit." "Einen Freund? Das ist aber schön! Wie weit geht die Reise denn?" "In Otaru muss ich aussteigen." "Ja, aber das sind ja noch mindestens drei Stunden Fahrtzeit!", rief die Frau erschrocken aus. Der Graublauhaarige musste sich beherrschen, denn sie fing an, ihn heftigst zu nerven. "Das macht nichts, dann ist es ja erst kurz vor zwölf Uhr." "Na, wenn du das mit deinen Eltern so abgesprochen hast... Also ich habe meinen Sohn nicht mehr so spät nachts rumlaufen lassen, da hätte ich mir als Mutter ja viel zu viele Sorgen gemacht! Zwölf Uhr nachts, wenn das mal gut geht! Du, ich muss hier aussteigen! Sei vorsichtig und viel Spaß noch!" Damit verabschiedete sich die alte Dame und stieg in Aomori aus. Kai blickte ihr nach. Mit traurigen Augen senkte er den Kopf. Die Frau hatte alte Wunden aufgerissen. Seine Eltern... 11 Jahre hatte er sie schon nicht mehr gesehen... Die frühen Sonnenstrahlen leuchteten in einem sanften orangerot. Diejenigen von ihnen, die sich durch die kleinen Lücken zwischen den Rollläden hindurchschoben, kitzelten den kleinen Jungen, der im Bett seiner Eltern selig schlief, an der Nase. Müde öffnete er die Augen, dann streckte er sich, nachdem er mehrmals geblinzelt hatte. Er kuschelte sich näher an die Wärmequelle, die seine Mutter war, und atmete ihren Duft ein. Nur sie roch so, wie der Kleine fand, und dieser Geruch war wie Balsam für ihn, er beruhigte ihn immer wieder. So langsam erwachten auch die Eltern des Jungen. Alexander Hiwatari rutschte sachte näher an seinen Sohn und seine noch schlafende Frau heran und bedachte sie mit einem liebevollen Lächeln. Da schlug die Frau nun schläfrig die Augen auf und als sie ihren Mann sah, erwiderte sie sein Lächeln. Beide schauten zärtlich auf ihren Sohn herab. Nach einer Weile aber stand die junge Mutter auf, um das Frühstück vorzubereiten. Ihr Sohn kommentierte das mit einem leichten Grummeln. Darüber musste sein Vater lachen. "Komm kleiner Mann, raus aus den Federn!" Doch der Kleine dachte gar nicht daran, aufzustehen. Er rollte sich in die Bettdecke seiner Mutter ein und gab nur ein "Möh!" von sich, was auch immer es heißen sollte. "Kai..." Alexander dehnte den Namen seines Sohnes besonders lang. Dann schnappte er sich ein Kissen und warf es auf das Kind. Der Junge war sofort hellwach und wehrte sich lachend. Kissen um Kissen flog durch die Luft und eine schöne Kissenschlacht begann. Da warf sich Alexander aber auch schon angriffslustig auf Kai und begann, ihn gehörig durchzukitzeln. Kai selbst bekam kaum noch Luft vor Lachen. Durch das fröhliche Geschrei angelockt, stand seine Mutter in der Tür und beobachtete das Treiben eine Weile. Dann nahm sie Anlauf und stürzte sich ebenfalls in die Fronten. Das junge Ehepaar war kaum zu stoppen. Sie hatten sich gegen ihren Sohn verbündet und kitzelten ihn nun gemeinsam durch. Schließlich aber erbarmten sie sich doch ihres Sohnes, da er unter höchsten Anstrengungen den Satz "Ich mach gleich in die Hose!" hervorgebracht hatte, weil er so lachen musste. "Sophia, lassen wir das lieber, sonst passiert noch ein Unglück!", grinste Alexander. "Ok!", meinte die junge Frau. Ihre Augen strahlten und ihre Wangen waren gerötet, wie die von Kai und Alexander auch. "Jungs, es gibt Frühstück!" "Jaaaaaah!" Schon waren ihre ,Jungs' verschwunden. Vater und Sohn begannen ein Wettrennen in die Küche, wobei diesmal Kai gewann, da er das Treppengeländer herunterrutschte. "Na gut, wollen wir das mal gelten lassen!", entschied Alexander. Dann warteten beide auf Sophia. Wenig später betrat sie auch die Küche, nahm aber eine strenge Haltung ein und erklärte mit ernstem Ton: "Ihr beide werdet gleich oben aufräumen, dass das klar ist!" Dabei erkannte man aber ganz deutlich den Schalk, der in ihren Augen blitzte. "Aber natürlich Schatz. Du musst uns nur vormachen, wie das geht, wir wissen das doch nicht!", meinte Alexander, ein Grinsen unterdrückend. "Das könnte dir so passen, du...!" Sie nahm ihren Mann scherzend in den Schwitzkasten. "Dir zieh ich die Ohren lang!" "Wieso? Ist doch schon längst aufgeräumt...", sagte Kai unschuldig. Sophia hörte auf, ihren Mann zu ,quälen' und strubbelte Kai durch sein Haar. "Nun verrat doch nicht immer alles! Woher wusstest du das denn schon wieder?" "Na ja.. Das machst du doch immer, bevor du runterkommst, und wir mussten ja auch auf dich warten.." "Stimmt! Du kannst nie was liegen lassen, weil du so ein ordentlicher Mensch bist!", fiel der Vater ein. Sophia gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn. "Hast ja Recht, mein Liebling!" "Hey, und was ist mit mir?", empörte sich ihr Mann gespielt. "Du bist frech und ungezogen, Tigrönok!" Sophia setzte sich auf seinen Schoß. "Aber ich liebe diese Seite an dir, genau wie ich all die anderen Seiten an dir liebe...", wisperte sie. Und damit gab sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen... Kai lächelte. Bis plötzlich eine Stimme über Lautsprecher verkündete, dass der Zug nun die Haltestelle Otaru erreicht hatte. Schwerfällig stand er auf und stieg aus. Ein kühler Wind ließ seinen Mantel umherwehen. Auf der Bahnhofsuhr kündigten die Zeiger 23:45 Uhr an. Mit einem letzten Blick auf den wieder anfahrenden Zug setzte sich der Graublauhaarige in Bewegung Richtung Hafen. Er begegnete keiner Menschenseele. Wie auch, es war mitten in der Nacht, und jeder halbwegs vernünftige Mensch schlief um diese Zeit, da es zusätzlich mitten in der Woche war und man am nächsten Tag entweder arbeiten oder zur Schule musste. Nur Kai mal wieder nicht. "Oh, das kotzt mich ja alles so was von an!", murrte er vor sich hin. Er wollte ein normales Leben führen, wie seine Teamkollegen, ein ganz gewöhnlicher Jungendlicher sein, gut in der Schule... Doch das alles wurde ihm seit nun mehr 11 Jahren schon verwehrt. Na ja, gut in der Schule war er eigentlich doch, wenn er sich das überlegte. Obwohl er, wie er selbst feststellen musste, in letzter Zeit derbe nachgelassen hatte. Nur in Sport stand er eins, worauf er sich durchaus was einbilden konnte. Mittlerweile war die Fähre losgeschippert und er genoss die Stille und die Meeresluft. Wie immer stand er an Deck und betrachtete die Sterne am Himmel. Er fragte sich, was SIE wohl gerade machten. Ob SIE wohlauf waren? Ob auch SIE an ihn dachten, ihn suchten? Kai wusste, dass seine Grübeleien bezüglich dieses Themas zu nichts führten, außer zu schmerzvollen Erinnerungen. Aber er konnte einfach nicht anders. Er musste sich Gedanken um SIE machen, in letzter Zeit verlor er zusehends seine Zuversicht, ob seine verzweifelte Suche überhaupt noch sinnvoll war. Automatisch verließ er die Fähre, als sie nach zwei Stunden im Hafen Terneis anlegte. Immer noch in Gedanken versunken lief er den Weg zu einer Mietfirma, die rund um die Uhr Autos verlieh. Das Problem bei ihm war, dass, wann immer er mutlos wurde, sein Phönix es merkte. Er wollte nicht schwach sein, seine Probleme zeigen, aber Dranzer bemerkte es immer, ebenso wie Tala. Deswegen waren sie auch wohl seine besten Freunde. "Priwet. Schto ti hotschis?" Kai hatte gar nicht realisiert, dass er den Laden der Mietfirma bereits betreten und sich an den Schalter gestellt hatte. Erst der Angestellte schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. "Oh... Priwet. Nu, ja hotschu jedan Honda CR-V. Ti eto mosches?" "Hm... Da. Sdesj, tolko 1200 Rubel." Mit diesen Worten schob der Angestellte den Schlüssel für den verlangten Wagen über den Tresen. Kai gab ihm das Geld, nahm die Schlüssel und verließ den Laden. Auf dem Parkplatz hinter dem Geschäft fand er das Auto, schloss es auf und setzte sich hinein. "Er ist teurer geworden.. Sonst hat er immer nur 1000 Rubel verlangt. Na ja, vielleicht nimmt er neuerdings Schweigegeld. Was meinst du, Dranzer?" Das Amulett um seinen Hals leuchtete rot auf und die Stimme des Phönix antwortete ihm: "Vielleicht. Kann ja sein, dass er weiß, dass du erst 16 bist." "Ja... Hier fragen die nicht groß danach, wie alt man ist. Alle wollen verdienen, ist doch verständlich. Besonders seitdem Großvater so machtvoll geworden ist, dass er die Hälfte der Steuergelder kassiert und sie noch in die Höhe treibt." Missmutig drehte Kai den Schlüssel um und trat aufs Gaspedal. "Aber dafür kannst du doch nichts!" "Oh doch! Denn da er mich nicht mehr hat, um seine angestrebte Weltherrschaft zu erlangen, versucht er es eben so! Nimmt den Bürgern das Geld, macht Geschäfte mit den Politikern und die Polizei ist machtlos dagegen. Viele von denen lassen sich ja auch bestechen!" "Kai! Hör auf damit! Immer musst du dir die Schuld an allem geben, was falsch läuft! Kannst du das nicht einmal abstellen?" "Aber wenn es doch so ist?" Kai erhöhte die Geschwindigkeit. Er fuhr nicht, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, über Tetjuche-Pristan, sondern direkt durch Wälder, Felder und sonstige kleine Landstraßen, die unscheinbar waren, nach Iman. Er war so wütend, auf sich selbst, auf seinen Großvater... Und das veranlasste ihn dazu, immer schneller zu fahren, um seiner Wut Luft zu machen. Die Anzeige des Wagens stand schon auf 134 km/h und Kai beschleunigte immer noch. "Immer wieder geschieht Leuten in meiner Gegenwart etwas, oder wenn etwas schief läuft, bin ich immer in der Nähe. Das sind doch keine Zufälle! Du kannst mir nicht erzählen, dass ich NICHT derjenige welcher bin, weswegen diese ganze Scheiße passiert!", schnauzte er Dranzer an. "Du kennst meinen Standpunkt dazu. Und jetzt hör auf, das hält ja keiner aus, dein ewiges Selbstmitleid! Du musst ein für alle Mal verstehen, dass... KAI!! FAHR LANGSAMER!!!" Kai war mit 156km/h in eine Kurve gebrettert und schien zusehends die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Die Reifen drehten durch und das Heck schlitterte nach links. "GOVNO!!!!!!!!!" Fluchend trat er auf die Bremse und gerade noch rechtzeitig riss er das Steuer herum. Der Wagen blieb stehen. "Das hast du nun von deiner unbegründeten Wut! Du hast so ein Glück gehabt! Kai, ich will jetzt kein Wort mehr davon hören, ist das klar?!!" "Da hast du's! Wegen mir wären wir fast drauf gegangen!!" Kai konnte nicht klein beigeben, es war schon immer so gewesen und das wusste er, das wusste Dranzer. So flackerte das rubinrote Licht von Kais Anhänger, bis es endgültig erlosch. "Dranzer?", fragte Kai vorsichtig. Aber sein Phönix war weg. Kai hatte ihn verärgert und jetzt würde er erst mal für den Rest der Fahrt alleine bleiben. Vorsichtig fuhr er wieder an. "Shit..." Nach 6 ½ Stunden Fahrzeit erreichte er endlich den verabredeten Treffpunkt in Iman. Er hatte viel Zeit verloren, es war bereits zwanzig vor neun am Morgen. Der Graublauhaarige parkte den Landrover geschickt in einer Lücke zwischen einem klapprigen alten Jeep und einer Straßenlaterne. Nachdem er abgeschlossen hatte, lief er die Straße herunter zu einem kleinen Cafe. Dort wartete bereits Tala. "Priwet. Mi usche dolgo ne rasgawariwali", grinste der Rothaarige ihn an. "Ach, astaw menja w pakoje!" Tala zog Kai am Arm zu sich ran. "Hey, was ist los? Hattest du Probleme herzufinden? Oder hast du Stress gehabt? Ich hab schon lange auf dich gewartet, wolltest du nicht schon früher kommen?", fragte er ihn flüsternd. "Ich hab mich gleich nach unserem Telefonat auf den Weg gemacht. Es ging nicht eher." "Warum bist du denn dann so schlecht drauf?" Kai folgte Tala, der ihn ein Stück weitergezogen hatte. "Ich hab mich auf dem Weg hierhin mit Dranzer gestritten." "Du bist aber auch ein Sturkopf. Ich kann mir schon denken, worüber. Dranzer hat es bei dir echt nicht leicht", lachte der Ältere. "Na danke auch!" Als sie an einem Uhrengeschäft vorbei gingen, hielt Kai seinen Freund auf. "Warte mal!" "Was ist denn? Musst du dir unbedingt jetzt ne Uhr kaufen?" Aber Kai hatte schon den Laden betreten. Tala seufzte und schüttelte den Kopf. ~Wenn er sich erst mal was in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht davon abzubringen. Da hab ich ein schweres Los gezogen...~ Dann betrat er ebenfalls den Laden. Kai sah sich bei den Weckern um. "Die brauchst du doch nicht! Du schläfst doch eh nie!" "Der soll ja auch nicht für mich sein!", erklärte der Graublauhaarige, "Ich suche einen neuen Wecker für Ray. Seinen hab ich neulich geschrottet, als ich endlich mal wieder in der WG geschlafen hab." "Gute Arbeit!", meinte Tala ironisch. Nach einer Weile fügte er vorsichtig hinzu: "Du nennst die WG immer noch nicht dein Zuhause?" Die Antwort war ein schlichtes Nein. Dann nahm Kai einen schwarzen Wecker vom Regal, bei dem der Rand um das Ziffernblatt indigoblau war und dessen Ziffern im Dunkeln ebenfalls in einem Blauton leuchteten. "Könnten Sie diesen Wecker in einen Karton von diesen Weckern dort verpacken", fragte er den Verkäufer freundlich und deutet auf eine aus schrill pinkfarbenen, kitschigen Kinderweckern mit Bärchenaufdruck bestehende Pyramide. Der Verkäufer sah seinen Kunden skeptisch an, zuckte dann aber die Schultern und tauschte die Kartons aus. "Würden Sie mir den auch noch als Geschenk einpacken?" Auch diesen Wunsch führte der Verkäufer aus. Nach dem Bezahlen verstaute Kai den Wecker in einer Tasche seines Mantels und schlug dann vor: "Lass uns im Auto über alles reden. Ich denke nicht, dass uns jemand im Wagen abhört. Zur Not können wir ihn ja noch filzen." Tala stimmte dem zu. So fanden sie sich kurze Zeit im Landrover wieder. Der Silberhaarige steuerte den Wagen über einige wenig befahrene Straßen über Landstraßen zu einem Feld, das gerade brach lag. Hier konnten sie sofort sehen, wenn sich jemand dem Wagen näherte. Und da sie keine Wanzen oder ähnliche Abhörgeräte fanden, begannen sie, ihr geschäftliches Vorhaben zu besprechen. Um fünf Uhr nachmittags meinte Kai: "Gut, so machen wir's. Du rufst Ispahan an, der soll unser Geld auf dieses Konto überweisen." Er unterdrückte ein Gähnen. "Und in ungefähr 5 Tagen, so sagst du ihm, wird dieser Clan, der ihm ein Dorn im Auge ist, vom Erdboden verschwunden sein. Außerdem werden wir eine Zusatzprämie von, sagen wir mal, 13700000 Yen verlangen. Wegen dem Zeitdruck, unter den er uns gesetzt hat." "Das ist gut! Der hat auf das Konto übrigens schon die Hälfte unseres Lohnes überwiesen." "Richtig so. Und wenn der nicht zahlen will, kann der sich auf was gefasst machen!" "Wir sind zwar teuer, dafür aber gut. Ich finde sowieso, dass wir unsere Honorarleiste höher anschrauben sollten. Schließlich sind wir besser als manche Profis. Oder was meinst du?", fragte Tala. Kai nickte zustimmend und gähnte dann erneut. "Ich glaube, ich muss nach Hause, sonst meckern die wieder rum..." Tala betrachtete Kai eindringlich. "Soll ich dich fahren?" "Wenn's dir keine Umstände macht. Du kannst den Wagen noch bis zwei Uhr morgens fahren, ich hab schließlich für einen ganzen Tag bezahlt." Beide setzten sich wieder nach vorne, mit dem Unterschied, dass Tala nun am Steuer saß. Er brauchte nur 1 ½ Stunden weniger als Kai bis zum Hafen in Ternei, was auch daran lag, dass das Feld, auf welchem sie geparkt hatten, sehr weit in Richtung Ternei lag. "Wir sind da. Komm gut nach Hause." Tala tippte Kai auf die Schulter. Der Jüngere rieb sich die Augen. "Schon? Na dann..." Kai drehte sich zu seinem Freund und umarmte ihn kurz. "Pass auf dich auf, Tala." Leicht lächelnd verließ er den Wagen und trat seinen Rückweg an. Da rief der Rothaarige ihm nach: "Vergiss nicht, dich etwas auszuruhen!" Als Antwort hob Kai im Weitergehen den Arm und winkte einmal. Dann verschwand er im Nebel, der eingesetzt hatte. Um sieben Uhr kam er wieder in Kioto an. Es hatte zu regnen begonnen. Der Silberhaarige schlug den Kragen seines Mantels hoch und ging leicht gebeugt durch den Regen zur WG der Bladebreakers, die er immer noch nicht sein Zuhause nennen wollte. Er fühlte sich nicht wirklich daheim. Sowieso konnte er nicht sagen, wo er sich wirklich wohl und geborgen fühlte. Er hatte schon lange keinen so besonderen Bezug zu seiner Umgebung, dass er sie als sein Zuhause ansehen konnte. Der einzige Ort, wo er so vertraut mit allem war, bestand seit mehr als 11 Jahren nicht mehr. Und doch suchte er danach... Kai stand bereits vor der Haustür. Sein Mantel war nass und seine Haare trieften vor Wasser. Leise schloss er die Tür auf und betrat die Wohnung. Aber mit einem wütenden Ray, der im Flur stand und ihn zornfunkelnd anstarrte, hatte er um diese Uhrzeit nicht gerechnet. Als der Graublauhaarige ihn sah, schreckte er innerlich kurz zusammen. Mit einem Seitenblick auf seinen Teamkollegen zog er seine Schuhe aus und wollte in die Küche gehen. Doch der Schwarzhaarige stellte sich ihm in den Weg. "Wo kommst du her? Du warst gestern den ganzen Tag nicht auffindbar! Es ist bereits Donnerstag!! Du bist Dienstag Abend abgehauen!!" "Ich hab doch gesagt, dass es später wird! Und jetzt geh mal beiseite", versuchte Kai sich an ihm vorbei zu schieben. Ray jedoch war standhafter, als er gedacht hatte. "Du sagst mir jetzt sofort, wo du warst! Wir haben uns Sorgen gemacht, und du hast jetzt die Nerven, hier einfach reinzuspazieren und so zu tun, als sei nichts gewesen!!" "Ja genau, die habe ich!" Kai funkelte Ray nun ebenfalls böse an. Dann zwängte er sich an dem Chinesen vorbei und betrat die Küche. Dort stellte er den in Geschenkpapier gewickelten Wecker auf den Küchentisch und meinte: "Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass du jetzt nicht mehr verschlafen musst. Aber da du ja anscheinend mehr damit beschäftigt bist, mich auszuschimpfen, brauchst du das ja wohl nicht." "Was soll das denn heißen? Was ist das denn überhaupt?" "Ein Wecker. Ich hab deinen doch kaputt gemacht. Und sag jetzt bloß nicht, dass du dir schon einen neuen besorgt hast." "Du... warst deswegen so lange weg? Weil du mir einen Wecker gekauft hast, hast du in der Schule gefehlt?" Der Schwarzhaarige sah seinen Leader ungläubig an. Der aber schwieg dazu. Er war schließlich nicht nur wegen dem Wecker nach Russland gefahren. "Entschulde bitte, das wusste ich nicht." Mittlerweile hatte Ray sich wieder beruhigt, was Kai aufatmen ließ. "Mr. Dickenson hat sich schon voll aufgeregt. Von wegen, wo du wärst! Er wollte schon eine ,SOKO Kai' einrichten lassen." Kai stutzte. "Warum das denn? Mal ehrlich, findest du nicht auch, dass er übertreibt?" "Er macht sich eben Sorgen um dich, was ich auch verstehen kann." Kenny stand, mit Tyson und Max im Schlepptau, in der Tür und musterte seinen Teamchef. Derweil war Ray dabei, den Wecker auszupacken. "Du hättest den Wecker doch nicht extra noch einpacken lassen müssen." Der Graublauhaarige schwieg dazu. Als Ray das gesamte Papier abgewickelt hatte, hielt er die Verpackung des Kinderweckers in den Händen. "Ähm, ja... Vielen Dank, Kai." Mit großen, ungläubigen Augen betrachtete er sein ,Geschenk'. "Also, mal ehrlich Kai: Ich hätte dir echt einen besseren Geschmack zugetraut. Das ist ja mega-kitschig!", gab Tyson hingebungsvoll von sich. Kenny und Max nickten bestätigend. Ray hingegen öffnete den Karton, um sich dieses Objekt genauer anzusehen. "... Woah! Der ist echt geil!" Die anderen drehten sich zu Ray um. "Was? Du findest so ein pinkes Teil gut?", fragte Max verständnislos. "Schaut doch mal! Der ist doch echt geil!" Der Schwarzhaarige hielt ihnen den Wecker entgegen. Auch sie staunten nicht schlecht. Dann sah er Kai an: "Aber der war doch sicher teuer, oder?" Ihr Anführer zuckte mit den Schultern. "Da sind 36 Monate Garantie drauf. Bewahre den Karton gut auf, man kann ihn nämlich nur mit der Verpackung umtauschen!" Kai konnte ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken. Ihn hatte Rays Reaktion beruhigt und es freute ihn, dass der Wecker seinem Teamkollegen gefiel. "Und wenn es euch nichts ausmacht, ziehe ich mich jetzt um." Mit diesen Worten verließ Kai die Küche und ging in das gemeinsame Zimmer von ihm und Ray, wo er sich seines nassen Mantels entledigte, seine kleine Tasche wieder ordnungsgemäß unter seinem Bett verstaute und den Mantel, nachdem er ihn nach etwaigen, vergessenen Arbeitsutensilien abgesucht hatte, im Badezimmer über die Heizung zum Trocknen hing. Als Kai dann, nachdem er sich auch die anderen Kleidungsstücke ausgezogen hatte, vor seinem Schrank stand, klopfte es an der Tür und Ray sprach durch die Tür: "Beeil dich, wir wollen los, zur Schule." Der junge Russe seufzte. Er beeilte sich dann aber wirklich und kurze Zeit später machte er sich mit den anderen auf den Weg zur Schule. ~Das kann ja heiter werden...~ Mit gemischten Gefühlen setzte er sich an seinen Platz und wartete auf das Donnerwetter, welches sein Klassenlehrer mit Sicherheit über ihn herfallen ließ. *~*~*~*~*~ Hallo!^^ Ich muss da was beichten: Tetjuche-Pristan heißt Rudnaja-Pristan und Iman heißt Balneretschensk. Warum ich die Namen aber verwende? Das kommt daher, weil ich einen Atlas von 1967 benutze ^^''' Ich find den alten Atlas aber irgendwie schöner, da kann man die Wege usw. viel besser erkennen. Einfach nicht dran stören lassen^^ Und dann noch kurz zur Währung: Die Preise sind in Yen, ich weiß jetzt nicht, wie viel das in russischer Währung ist.. 1 € sind so ungefähr 40 Rubel. ^^ Und der Wagen kostet pro Tag 30€, deswegen 1200 Rubel. 1 € sind auch ca. 136,9863014 Yen, grob also 137 Yen. (Es gibt auch Umrechnungen mit 1:125 und 1:130) 13700000 Yen sind so 100000 € ^^ Fremdwörter: Tigrönok - Tigerchen Priwet - Hallo / Guten Tag Schto ti hotschis? - Was willst du? Nu, ja hotschu jedan Honda CR-V. - Nun, ich will einen Honda CR-V. Ti eto mosches? - Kannst du das? (ich hoffe, das stimmt so, sicher bin ich mir da nicht) Da - Ja Sdesj, tolko 1200Rubel - Hier, nur 1200 Rubel Govno - Scheiße Mi usche dolgo ne rasgawariwali - Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesprochen Astaw menja w pakoje - Lass mich in Ruhe Kapitel 4: Elternsprechtag ohne Eltern - Wie soll das gehen? ------------------------------------------------------------ Klassenlehrer Hasegawa betrat den Raum. Sein Blick fiel auf Kai, der zwei Tage gefehlt hatte. "Dir scheint es ja wieder besser zu gehen, Hiwatari. Mir wurde gesagt, dass du krank warst?" Der Graublauhaarige sah erstaunt zu Ray herüber, der ihm zunickte. Daraufhin bestätigte Kai die Frage seines Lehrers. "Gut. Also, ich habe hier eine Einladung zum Elternsprechtag, der nächste Woche Freitag feststeht. Zu morgen will ich alle Unterschriften zurückbekommen. Ray, deine Eltern leben in China, darum hast du Zeit bis spätestens nächste Woche Donnerstag. Ein Fax reicht auch aus. Es steht euch wie immer frei, eure Eltern zu begleiten, doch ihr müsst den Eltern natürlich den Vortritt lassen. Schließlich könnt ihr uns Lehrer jederzeit sprechen und mündlich einen Termin mit uns machen. Der Elternsprechtag ist normalerweise freiwillig, aber die Eltern folgender Schüler sollen bitte unbedingt kommen: Edwin, Tyson, Marlene und Kai." Der zuletzt Genannte schaute seinen Lehrer erschrocken an. "Und ich sage es noch mal: Bringt die Zettel morgen von euren Eltern unterschrieben wieder mit. Ich weiß, dass das in dieser Klasse gern vergessen wird, aber es ist wichtig." Dann verteilte er die Zettel. Kai las ihn durch und schluckte schwer. Wie sollte er das denn schaffen? Ihm blieb nur eine Wahl: Er musste die Unterschrift fälschen. Was sollte er denn sonst machen? Er konnte nur hoffen, dass es niemand merken würde. Während des Rests der Stunde versuchte er sich fieberhaft daran zu erinnern, wie sein Vater einmal einen Vertrag unterschrieben hatte. Als kleiner Junge hatte er über die Tischkante geschaut und so kurz die Unterschrift gesehen. Aber auch wenn es ihm im Moment nicht klar vor Augen stand, wie diese ausgesehen hatte, er würde am Nachmittag viel Zeit haben, darüber nachzudenken. Ungestört. Und dann fiel ihm plötzlich mit Schrecken ein, dass seine Eltern da ja zu erscheinen hatten! "Scheiße..." "Wie bitte? Ich hoffe, ich habe mich verhört, Hiwatari!" Kai hatte das Wort, das seine missliche Lage genau auf den Punkt brachte, mitten in die Pause zwischen zwei Sätzen von Herrn Hasegawa kundgetan. "Entschuldigung..." Endlich klingelte die Pausenglocke. Kai kramte wieder einmal in seinen Hosentaschen nach Kleingeld. Da er für die Telefonzelle der Schule aber zu wenig dabei hatte, nahm er ausnahmsweise sein Handy. Der Graublauhaarige ging aus der Klasse und rannte dann die Treppen zum Schulhof hinunter, um ungestört telefonieren zu können. "Tala? Ich bin es. Du, ich hab ein Problem." "~"Ja, das weiß ich! Weißt du eigentlich wie spät das ist? Ich bin in der Schule verdammt, zum Glück war nur Vibrationsalarm, der Lehrer hätte mich geköpft!!"~" "Häh, wie kannst du dann telefonieren?" "~"Ich sitz aufm Klo."~" "Oh, ach so... Na ja, ich hab nicht viel Zeit, bin auch in der Schule, es ist grade kleine Pause. Jedenfalls... Wir haben nächste Woche Elternsprechtag, und meine Eltern müssen kommen!" "~"Ja, aber...! Das geht doch nicht!"~" "Das weiß ich selber. Ich werde wohl selber hingehen müssen. Hast du eine gute Ausrede?" "~"Hm.. Deine Eltern liegen im Koma? Nee... Ja, ich hab's. Glaubwürdiger wäre, wenn du sagst, dass sie irgendwo ganz weit weg, von mir aus in Wien oder so, arbeiten und nicht so kurzfristig kommen können, weil ihre Arbeit es nicht erlaubt."~" "... Ja, vielleicht klappt das..." "~"Kai, ist alles in Ordnung? Du hörst dich so seltsam an."~" "Nein, alles ok, wirklich. In einer Wochen sind Ferien. Vielleicht komm ich dich besuchen." "~"Ja, komm vorbei. Kai, du hörst dich trotzdem... Weinst du?"~" "NEIN! Ich weine nie, das weißt du!!" "~"Ok! Tut mir leid. Gut, noch was?"~" "Net." "~"Ich würde ja so gern mal wegfahren aus Russland... aber na ja... Übrigens hab ich für uns schon wieder einen neuen Auftrag annehmen müssen, die brauchten uns dringend in..."~" "Shhhh! Nicht am Handy!" "~"Ach ja, sorry. Ähm, Handy? Wird das nicht teuer?"~" "Boah, ich sag dir, wenn Mr. D. wieder so dumm kommt wie beim letzten Mal, ne... Ich bin ja wohl alt genug, um mit Geld umzugehen! Wir sind erwachsener als der Rest des Kindergartens der sich Bladebreakers nennt!" "~"Tja, was wohl an unserer guten Erziehung liegt. "~" Kai schnaubte verächtlich und Tala lachte kurz verbittert auf. "Ok, ich mach Schluss. Will dich ja auch nicht zu lange aufhalten. Ich danke dir, dass du für mich da bist!" "~"Dafür nicht! Aber trotzdem gern geschehen."~" Nachdenklich legte Kai auf. Er hatte ganz vergessen, dass auch Tala viel hatte zurückstecken müssen. Der Rothaarige hatte nicht wie er die Möglichkeiten, mal eben schnell in ein anderes Land zu reisen, nicht nur aus finanziellen Gründen. Das Geld, was sie zusammen bei ihren Aufträgen verdienten, teilten sie sich gerecht auf, obwohl Kai immer wollte, dass Tala mehr bekam, weil es für den Älteren schwieriger war, allein klarzukommen und das bei den Verhältnissen, die zur Zeit in Russland herrschten. Doch Tala meinte, er käme schon klar, er hätte aus seinen Beybladezeiten genügend gespart, sozusagen ein finanzielles Polster angelegt. Beyblade... Noch etwas, bei dem Tala hatte kürzer treten müssen. Kai ging langsam und innerlich geknickt die Treppen hinauf. Beyblade war Talas ganze Freude gewesen, er hatte es geliebt wie nichts anderes auf der Welt. Aber er kam kaum noch zum Training, da er keine Zeit hatte. Das einzige, was ihm immer zur Seite stand, war sein Bit Beast. Wolborg war für Tala das, was Dranzer für Kai war: ein ständiger Begleiter, ein Freund, der jederzeit da war, dem man all seine Gefühle anvertrauen konnte. Und ein Beschützer. Während Kai so nachdachte, wurde etwas für ihn immer klarer: Eigentlich hatte er so einen guten Freund, wie Tala es war, gar nicht verdient. Er war ja so egoistisch gewesen! Hatte nur an sich selbst gedacht! Und nur weil er sein Ziel verfolgen wollte, um es endlich zu erreichen, musste Tala nun auf so vieles verzichten... Wieder einmal war er schuld am Schicksal eines von ihm geliebten Menschen... Kai war auf den Flur gelangt, auf dem sich sein Klassenzimmer befand. Er hielt an. "VERDAMMT!!!!!!!!" Sein Ruf hallte über den Flur, über den Korridor, in alle offenstehenden Klassen. Sofort steckten alle Schüler den Kopf aus der jeweiligen Tür. Kai stand dort, mit gesenktem Kopf, die Faust, mit welcher er gegen die Wand geboxt hatte, immer noch an dieser anliegend. Auch seine Freunde sahen nach, was da vorging. Die Bladebreakers quetschten sich irgendwie an den anderen Mitschülern vorbei. Aber sie wagten es nicht, Kai anzusprechen. Es sah aus, als würde er gleich explodieren. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Innerlich war er kurz davor, zu zerbrechen. Am liebsten wollte er heulen. Ja, richtig heulen! Aber er konnte nicht. Sein einziger Gedanke war, dass er wieder einmal schuldig war. ~Nein! Nicht schon wieder!~ Unfähig sich zu bewegen verharrte er in seiner Haltung. In seinem Kopf hallten immer die gleichen Worte wider: Schuldig. Schuldig. Schuldig. "Geh mal hin, Ray! Frag ihn, was er hat!" "Wieso denn ich? Ich kann das nicht!", gab der Schwarzhaarige flüsternd zurück. Da nahm sich Max ein Herz und ging auf seinen Teamleader zu. "Hey... Du Kai, ist alles in Ordnung?" ~In Ordnung? Oh nein Max, nichts ist in Ordnung! Aber das würdest du sowieso nicht verstehen!~ "Ich weiß ja nicht, was dir fehlt, aber...", der Blonde sah sich kurz um, "vielleicht solltest darüber reden. Es hilft wirklich, wenn man redet! Und wir sind doch deine Freunde! Du kannst uns alles erzählen!" ~Pah! Alles erzählen! Würde ich euch alles erzählen, würdet ihr wohl nicht mehr meine Freunde sein wollen!" Kai seufzte schwer. Er zog seine Faust von der Wand zurück. Feiner Putz rieselte auf den Boden und eine kleine Delle blieb zurück. Er wusste, dass Max es nur gut meinte. Theoretisch konnte er froh sein, solche aufmerksamen Teamkameraden zu haben. Doch praktisch war es schwierig, Geheimnisse vor ihnen zu verbergen. Kai hob den Kopf, sah aber nach einem kurzen Blick in Max' blaue Augen sofort wieder zur Seite. In diesem Moment sah er müde aus. Sehr müde. Und viel zu alt für einen Jungen seines Alters. "Es ist nichts. Ich... habe mich nur aufgeregt, weil... ich meine Eltern nicht erreichen kann..." Damit ging er an seinen Mitschülern vorbei und setzte sich an seinen Platz. Den Rest des Schultages bekam er kaum mit. Er saß nur noch teilnahmslos im Unterricht. Das war der Tag, an dem sein Team begann, sich ernsthafte Sorgen um ihren Teamleader zu machen. Kapitel 5: Gib Acht, sonst fliegst du auf! ------------------------------------------ "Habt ihr alle eure Unterschriften dabei?" Klassenlehrer Hasegawa ging durch die Reihen und sammelte die Zettel für den Elternsprechtag ein. Bei Kai hielt er an, da er zufällig genauer hingeschaut hat. "Na, das sieht mir aber sehr gemalt aus... Bist du sicher, dass deine Eltern das waren?", fragte er seinen Schüler misstrauisch. "Schreib doch mal bitte diesen Namen", forderte er ihn zusätzlich auf. Kai ließ seine Unterschrift mit der auf dem Zettel vergleichen. Er musste sie drei mal schreiben, bis Herr Hasegawa sich zufrieden gab und die Unterschrift von Kais Eltern akzeptierte. "Ist es eigentlich sehr schlimm, wenn meine Eltern nicht zu Ihnen kommen?", fragte Kai plötzlich. "Wieso sollten sie denn nicht kommen? Ich finde es schon sehr wichtig, denn ich denke, dass es sie sicherlich interessiert, wie du dich so machst." ,Ja, das interessiert sie sicherlich... Aber bestimmt nicht nur im schulischen Bereich...' Kais Gedanken drifteten ab. Doch nur kurz, denn er wurde von seinem Sitznachbarn angerempelt, er solle doch eben einen Brief weiterreichen. "Pah, mach es selbst!", motzte der Graublauhaarige und wandte sich ab. Er war froh, wenn er diesen Vormittag hinter sich gebracht hatte... Der Elternsprechtag war gekommen. Es war früh am Morgen und Mr. Dickenson saß wieder mal bei den Bladebreakers am Tisch und unterhielt sich über diesen großartigen Tag, wie er ihn nannte, als das Telefon klingelte. Sofort sprang Tyson auf und nahm den Hörer ab. "Ja? .. Ja, der ist wohl da. Nein, nicht hier, ich glaube, er schläft noch... Seine Eltern? Nee, aber Sie können ja mit Mr. Dickenson sprechen!" Damit reichte Tyson dem älteren Herrn den Hörer. "Mr. Dickenson, guten Tag? ... Hm... Ja... Ich bin momentan für ihn verantwortlich. ... Ach so? Hmm... Ja, ja, danke. Auf Wiederhören." "Wer war denn das?", fragte Kenny neugierig. "Das war eine Lehrerin eurer Schule. Sie wollte sich versichern, dass Kais Eltern auch sicher heute erscheinen. Sie meint, wir müssten uns Sorgen um Kai machen. Er wäre oft abwesend oder teilnahmslos im Unterricht..." "Das stimmt nicht! Erst neulich hat er einen Vortrag über die Französische Revolution gehalten!", verteidigte Ray seinen Teamleader. "Sie meint auch, dass er in letzter Zeit recht müde wirke. Ray, wann geht er abends schlafen? Und wie spät steht er morgens auf?" "Ich weiß es nicht. Er geht oft abends spazieren, sagt er, und kommt erst wieder, wenn ich schon schlafe. Und morgens ist er meist beim Strand, weil er dort schon trainiert. Er ist dann immer schon weg, wenn ich aufstehe. Heute morgen hat er aber noch geschlafen." Während Ray erzählte, kam Kai die Treppe runter, goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich von den anderen unbemerkt an den Tisch. "Das ist ungewöhnlich. Eure Lehrerin meint, wir sollten ihn mal zu einem Beratungslehrer schicken", sagte Mr. Dickenson. "Das ist totaler Quatsch! Kai ist nun mal Kai, mit all seinen Eigenarten. Aber deswegen muss er doch nicht gleich zum Beratungslehrer!", erklärte nun auch Max. Ihr Sponsor versuchte es wieder: "Es scheint aber schon seit mehreren Wochen so zu gehen!" "Unglaublich! Da können wir ihn ja gleich fragen, ob er Drogen nimmt!!", rief Ray. "Meinst du das im Ernst? Nimmt er Drogen?" Mr. Dickenson war entsetzt. "Warum fragt ihr ihn das denn nicht persönlich?" Kai war aufgestanden und trank den letzten Schluck Kaffee aus. Seinen Teamkameraden und seinem Sponsor war das etwas peinlich. Wie viel hatte er mitbekommen? Mr. Dickenson versuchte vom Thema abzulenken. "Ah, Kai, du kommst gerade recht. Wie machst du das denn? Kommen deine Eltern? Ich habe gehört, sie sollen unbedingt erscheinen!", begrüßte er den Teamleader. Wie immer hatte er nicht das Schlafpensum erreicht, dass er benötigte. Letzte Nacht hatte er sich mit einem Agenten Ispahans treffen müssen. So war er noch etwas müde und dementsprechend auch gereizt. Was verständlich ist, schließlich dachten seine ,Freunde' ja anscheinend schon, er würde Drogen konsumieren. Kai überging die Frage seines Sponsors einfach und fuhr mit dem Gespräch fort, dass dieser mit Ray, Max, Kenny und Tyson begonnen hatte. "Es ist interessant zu erfahren, was andere über einen denken, wenn man nicht so ist, wie diese anderen es gerne hätten." Der Graublauhaarige lachte bitter auf und schüttelte dabei den Kopf. Mr. Dickenson ging auf Kai zu und bat ihn, mit ihm ins Wohnzimmer zu gehen. Hier begann er in ernstem Tonfall. "Hör mal Kai, ich weiß, dass du es in der Vergangenheit schwer hattest." Kai glaubte sich verhört zu haben. Er und schwere Vergangenheit? Wie kam der alte Mann denn bloß darauf? Seine Gedanken trieften nur so von Sarkasmus. Der Mann weiter: "Ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Und wenn du Probleme hast, solltest du wissen, dass du jederzeit zu mir kommen kannst. Ich will versuchen, dir zu helfen. Aber du musst ehrlich zu mir sein. Deshalb frage ich dich, und nimm es mir bitte nicht übel, aber: Nimmst du Drogen?" Er sah Kai eindringlich in die Augen. Dieser schlug nach einiger Zeit seine Augenlider nieder und ließ sich in einen Sessel fallen. "Kai, du kannst mir vertrauen!" "Vertrauen ist zerbrechlich, Mr. Dickenson, und wie Sie vielleicht erahnen können, hat man mein Vertrauen schon gehörig verbraucht, so dass kaum noch etwas davon über ist." "Ich kann mir denken, wie du dich jetzt fühlst. Du denkst, dass wir dir nicht glauben, aber wir können dir helfen! Es gibt Entzugskliniken und..." "Mr. Dickenson, es geht mir nicht um meinen angeblichen Drogenkonsum! Sie verstehen gar nichts! Was wissen Sie denn schon? Sie haben höchstens meinen Steckbrief und meinen Lebenslauf, Daten auf einem Stück Papier. Und schon denken Sie, dass Sie alles über mich wissen! Dabei haben Sie nicht mal die leiseste Ahnung, wer ich wirklich bin! Und Drogen nehme ich sicherlich nicht, ich habe besseres zu tun, als mir mit irgendwelchen Substanzen meinen Körper, meinen Geist und somit mein Leben zu ruinieren!!" Wütend blickte der Sechzehnjährige seinen Gegenüber an. Dieser versuchte, ihn zu besänftigen. "Ganz ruhig, ich wollte dir nicht zu nahe treten! Meine Frage wäre also damit geklärt. Aber wenn ich nicht weiß, wer du bist, warum erzählst du es mir nicht? Du hast Recht, ich kenne nur das, was auf deinem Papier steht. Willst du mir nicht weiterhelfen?", fragte er, freundlich lächelnd. Kai überlegte kurz. Dann grinste er böse und kam mit seinem Gesicht dem von Mr. Dickenson ganz nahe. Er wirkte in diesem Augenblick bedrohlich, besonders, als er folgende Worte zischte: "Ich bin unberechenbar und sehr gefährlich... Denn ich... bin ein Profikiller!" Er wartete kurz auf die Reaktion Dickensons. Dessen Augen weiteten sich. Kai zog seinen Kopf zurück, sein Sponsor schluckte hart und musterte ihn mit leichtem Unbehagen. "Kai, ich wäre doch sehr beruhigt, wenn du dich einem Drogentest unterziehen würdest. Tust du das?" Der Graublauhaarige sah den Mann vor ihm unschuldig an. "Ja gern, Mr. Dickenson. Wenn es Sie beruhigt und besser schlafen lässt..." Der Ältere nickte. "Du magst es wohl zu provozieren, oder?" Kai sagte aufrichtig: "Entschuldigen Sie bitte, Mr. Dickenson. Ich war darüber verärgert, was sie von mir glauben. Vielleicht lernen Sie mich ja irgendwann besser kennen. Aber soll ich ehrlich zu ihnen sein?" Der Sponsor nickte erneut. "Ja bitte." "Ich lasse andere Menschen ungern an mich heran. Mr. Dickenson, in meiner Kindheit bin ich oft verletzt worden. Und ich will das nicht noch einmal erleben. Bitte haben Sie für mein Verhalten Verständnis." Dann verabschiedete Kai sich und ging zum Elternsprechtag. Mr. Dickenson seufzte schwer. Er wusste ja, dass Kai Probleme gehabt hatte. Aber er hätte nie gedacht, dass es so schwierig werden würde, Kais Vertrauen zu gewinnen. Ein Mann mittleren Alters verließ das Klassenzimmer. Nun war Kai als nächstes dran. Er betrat den Raum. Herr Hasegawa war verärgert. "Kai Hiwatari! Was machst du und nicht deine Eltern bei mir? Sie wurden eindringlich gebeten, herzukommen!" Beim Elternsprechtag wurde allgemein die formelle Anrede für Schüler ab 16 Jahren außer Acht gelassen, um eine bessere Basis für Vertrauensgespräche herzustellen. "Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber meine Eltern konnten leider nicht kommen. Sie..." Der Graublauhaarige erinnerte sich an Talas Vorschlag. "Sie haben beruflich im Ausland zu tun und konnten es nicht einrichten, herzukommen." "Das ist mir ja eine schöne Ausrede! Kann man sie denn telefonisch erreichen? Ich muss unbedingt mit einem Erwachsenen, der sich um dich kümmert, reden. Bei dir scheint ja jedes Wort auf taube Ohren zu stoßen." "Rufen Sie bei..." Kai stockte. Er wollte fast Talas Telefonnummer preisgeben. Doch er konnte dieses hohe Risiko nicht eingehen. Zum einen, weil er sonst vielleicht Talas Sicherheit in Gefahr brachte, zum anderen hatte er seinen Freund schon zu oft bemüht und er wollte ihn nicht schon wieder belästigen. Also gab er die Telefonnummer von Mr. Dickenson an. Dieser wurde prompt hergebeten und ungefähr zwanzig Minuten später stand auch er im Klassenraum. Auch die Lehrerin, die heute Morgen bei den Bladebreakers zu Hause angerufen hatte, Frau Nishi, hatte sich für dieses Gespräch eingefunden, denn auch sie war ehrlich besorgt um Kai. "Guten Tag. Man hat mich herbestellt. Mein Name ist Dickenson, ich kümmere mich um das Team Bladebreakers, welchem Kai angehört. Hat er was angestellt?", stellte der Chef der BBA sich vor. "Nein, seien Sie unbesorgt. Es ist nur so, dass Kais Eltern nicht aufgetaucht sind. Und ich muss mit jemandem sprechen, der sozusagen erziehungsberechtigt ist." Herr Hasegawa und Mr. Dickenson begannen ein ernstes Gespräch. Der Sponsor erfuhr, dass Kais Noten sich verschlechtert hatten und er oft unkonzentriert war. "Wir wollen ihm ja helfen, es ist ja nicht so, dass wir dich an den Pranger stellen wollen, Kai", mischte sich nun Frau Nishi ein. "Mr. Dickenson, sie müssen wissen, dass er oft müde wirkt und manchmal nicht aufpasst. Ich will ja nicht sagen, dass das etwas Außergewöhnliches ist und das nur bei Kai vorkommt. Aber seine Leistungen rutschen kontinuierlich ab und das schon über einen längeren Zeitraum." Lehrer Hasegawa fügt hinzu: "Zudem fehlt er des Öfteren ohne Entschuldigung. Und ich habe gehört, dass er ab und zu unfreundlich gegenüber seinen Mitschülern ist." Mr. Dickenson, der den Worten der beiden Lehrkräfte aufmerksam gelauscht hatte, nahm Kai nun in Schutz: "Ich weiß ja, dass es nicht förderlich für die Klassengemeinschaft ist, aber wie er sich Mitschülern gegenüber verhält, ist meines Erachtens seine Angelegenheit." "Eben. Außerdem ist das nicht ganz wahr. Ich bin nicht zu allen unfreundlich. Ich unterhalte mich nur nicht mit ihnen, und wenn, dann ganz selten. Und wenn Sie auf Edward anspielen, den kann ich einfach nicht leiden. Es gibt eben Menschen, die man mag, und welche, die man nicht mag. So ist das Leben." Kai hatte keine Lust mehr gehabt, schweigend diesem Gespräch beizuwohnen, denn schließlich ging es hierbei um ihn. Schweigen trat ein und es zog sich eine Weile hin. Doch dann brach Frau Nishi die Stille. "Also, Kai, ich hoffe, dir hat dieses Gespräch etwas geholfen. Und wenn etwas ist, dann kannst du dich gerne an mich wenden, falls du Fragen hast oder so. Und Mr. Dickenson, ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind." "Und Kai, wirst du versuchen, dich und deine Leistungen zu verbessern? In deinem eigenen Sinne?" "Ja, ich werde es versuchen. Aber ich bleibe doch nicht sitzen?" Es war ihm so rausgerutscht, aber er hatte ehrlich Angst davor, ein Jahr zu wiederholen. Frau Nishi lächelte. "Nein, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du bist doch nicht dumm! Und so schlecht sind deine Leistungen auch wieder nicht. Du hast noch genug Zeit, deine Differenzen auszugleichen", versicherte sie ihm. Kai war erleichtert. Zusammen mit Mr. Dickenson verließ er den Klassenraum und das Schulgebäude, um zur WG zurückzukehren. Das war ja noch einmal gut gegangen. Am Nachmittag lag Kai auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte der Musik zu, die sein Discman ihm per Kopfhörer in seine Ohren dröhnte. Endlich waren Ferien, mit dem heutigen Elternsprechtag war auch der letzte Schultag vor den Frühlingsferien vorbei gegangen. Ray saß auf dem Boden und meditierte. Der Chinese hatte Kai vorhin gefragt, ob dieser mit ihm trainieren wollte. Kai hatte es bejaht und nun bereitete sich der Schwarzhaarige auf den Kampf vor. Beide Jungen warteten nur noch darauf, dass Tyson und Max ihr Match beendeten. Nach dem Vorfall in der Schule vor einer Woche, als Kai so neben sich gestanden hatte, hatten sie ihn alle, einschließlich Tyson, zunächst mit Samthandschuhen angefasst und so leise mit ihm gesprochen, als hätten sie Angst gehabt, er wäre sterbenskrank und würde beim nächsten lauten Geräusch ausrasten. Da war ihm am vergangenen Sonntag dann der Kragen geplatzt und hatte sie davon in Kenntnis gesetzt, dass es ihm ja wohl gut gehen würde. Seitdem benahmen sich Kenny, Ray, Max und Tyson wieder weitgehend normal ihm gegenüber. Aber sie hatten mit Mr. Dickenson gesprochen und ihm davon berichtet, dass Kai wohlmöglich Hilfe bräuchte. Das war wohlmöglich auch der Grund, weshalb Mr. Dickenson so überaus besorgt war und sich um Kai bemühte. Und wahrscheinlich er auch deswegen glaubte, Kai hätte unter Umständen ein Drogenproblem. Kai wusste von Tuscheleien hinter der Hand, die wegen ihm gehalten wurden. Auch hatte er seit dem letzen Sonntag gemerkt, dass seine Teamkameraden hinter seinem Rücken irgendwas besprachen. Es war in dieser Woche schon extrem oft vorgekommen, dass die Unterhaltung sofort erstarb, wenn er den Raum betrat. Und wenn er diesen wieder verließ, konnte er ihre Stimmen wieder hören. Es war ein klarer Misstrauensbeweis, aber Kai war dies ja schon oft genug gewöhnt. Also störte es ihn nicht sonderlich. Für ihn war das ganze Team doch eh eine reine Zweckgemeinschaft. Jedenfalls versuchte er, sich das einzureden. Er hatte Dranzer zwar mal erzählt, dass er es nicht mochte, Ray anzulügen. Doch nun schien es, als hätte er sich nie darüber Gedanken machen sollen. Anscheinend wollten seine angeblichen Freunde es so und Kai war dies recht. So zog er sie auch nicht in seine Angelegenheiten mit hinein. Endlich kamen Max und Tyson durch die Terrassentür wieder rein. Lachend erzählten sie von ihrem Match, dass unentschieden ausgegangen war. "So, ihr könnt jetzt!", verkündete Max frohgemut. Ray stand auf und tippte Kai an. "Komm, das Tableau ist frei." Kai nahm seine Kopfhörer ab. "Was?" "TEEELEEEFOOOOOON!!" Aufgeregt kam Kenny ins Wohnzimmer gerannt und hielt Kai das Telefon entgegen. "Hier, für dich!" "Wieso, wer is'n dran?" Der Graublauhaarige war etwas überrumpelt. "Keine Ahnung, ein Kerl, der meint, er müsse dich unbedingt ganz dringend sprechen!" "Gib her. Hallo?" Kai hörte zunächst nur Atemzüge und etwas sich verschieben. "Hallo?!!", rief er etwas energischer in den Telefonhörer. "~"Kai? Ah, endlich! Du, die Toda haben herausgefunden, wo ich wohne."~" "STO?! Wie das denn?" "~"Ich hab mich in einer Kneipe verplappert..."~" "YURIY, TI PROKLJATIJ PJANIZA!!! Durak!! I sdesj?" Wie so oft, wenn Kai sich aufregte oder er nicht wollte, dass ihn jemand verstand, fluchte oder sprach er auf Russisch, seiner Heimatsprache. "~"Jetzt ruf ich dich an, um ein letztes Mal deine Stimme zu hören. Hör zu, ich hab dich sehr gerne. Aber jetzt musst du alleine klar kommen. Ich weiß, du schaffst das. Bis jetzt bin ich noch hier sicher, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis..."~" "Was meinst du mit 'ein letztes Mal'? Was soll das heißen? Hey!!" Da schoss es. Kai wurde kreidebleich. Er rief noch ein paar Mal in den Hörer, aber er erhielt keine Antwort mehr. Nur noch ein leichtes Pochen war zu hören. Dann war alles still. Die Leitung war tot. *~*~*~*~* Vokabeln Sto Was Yuriy, ti prokljatij Pjaniza! Yuriy, du verdammter Säufer! Durak Dummkopf I sdesj Und jetzt Kapitel 6: In Lebensgefahr -------------------------- Hi!^^ Melde mich mal wieder mit nem Kapitel zurück. War etwas viel Arbeit, hab ganz viel geändert únd dann doch wieder in die ursprüngliche Form gesetzt... Hach es war ein Kreuz. Naja, hoffe, es gefällt euch so^^'' Freue mich wie immer über Kommis XD Aber jetzt viel spaß mit "In Lebensgefahr" ! Wie versteinert saß Kai da und starrte entsetzt geradeaus. Der Hörer entglitt ihm und fiel auf den Teppich. Sekunden vergingen, in denen er sich keinen Millimeter regte. Doch dann sprang er plötzlich wie von der Tarantel gestochen auf. "Hey Kai! Was ist los? Wer war das?", wollte Kenny neugierig wissen. "Ich muss weg. Schnell, ruft mir ein Taxi, sofort!!" "Aber was...?", begann Max. "NUN MACHT SCHON!!" "J-ja." Erschrocken wählte der blonde Amerikaner die Nummer eines Taxiunternehmens. Kai indes rannte so schnell wie er konnte nach oben. Ihm war scheißegal, ob die anderen ihn jetzt so sahen, wie er all jene Arbeitsutensilien unter seinem Bett hervorholte. Er nahm eine große Reisetasche aus seinem Schrank und kippte den gesamten Inhalt des Kartons, indem er seine Waffen verstaute, blindlings in die Tasche hinein. Dann riss er einen schwarzen Rollkragenpulli und eine schwarze Hose aus seinem Schrank, die zusammen einem Kampfanzug nicht unähnlich waren, und schmiss sie ebenfalls in die Tasche. Kai warf diese nun die Treppe hinunter, während er noch Handy und Geld einsteckte. Dabei flogen einige kleine Kartons heraus, in denen er Patronen aufbewahrte. Die anderen bestaunten sein Tun teils mit Schrecken, teils mit Verwirrung und Fassungslosigkeit. Endlich kam Kai die Treppe runtergewetzt, griff im Laufen nach seinem Mantel, stopfte noch Unterwäsche in die Tasche und zog und zerrte am Reisverschluss, um die Tasche zu schließen. Dann bemerkte er die herausgefallenen Patronenpackungen. Fluchend sammelte er sie auf und steckte sie sich in die Manteltaschen. "Ist das Taxi schon da?" Sein Team nickte. "Aber was...?" "Gut!" Ohne weitere Worte rauschte er zur Tür hinaus. "Ja, aber wo willst du denn hin?!!" Ray war ihm gefolgt und sah ihn fragend an. "Ich fahre in Urlaub. Keine Ahnung, wann ich wiederkomme." ~Oder ob ich überhaupt wiederkomme~, setzte er in Gedanken hinzu. Er knallte die Tür zu und das Taxi fuhr an. "Zum Hafen bitte, aber machen Sie schnell!" Der Fahrer nickte und schlug die gewünschte Richtung ein. "Geht das denn nicht schneller?" "Entschuldigen Sie, aber ich fahre schon die erlaubte Höchstgeschwindigkeit!" Kai kam es aber trotzdem viel zu langsam vor. Nervös kaute er auf seinen Nägeln herum. ~Tala, was hast du bloß gemacht? Geht es dir gut?~ Seine Gedanken spielten verrückt. Was, wenn er die Fähre nach Russland nicht erreichte? "Hören Sie, ich leg noch was drauf, wenn Sie schneller fahren! Aber erreichen Sie bitte in den nächsten drei Minuten den Hafen!!" "Bitte? Wie glauben Sie, soll ich das denn schaffen?" "Fragen Sie nicht, fahren Sie einfach!" Kai kaute auf seiner Lippe herum. ~Hoffentlich... Hoffentlich... ~ Sein Amulett leuchtete auf, Dranzer versuchte ihn zu beruhigen. Doch selbst das half ihm nicht. Endlich kam der Hafen in Sicht. Mit qualmenden Reifen blieb das Taxi fast direkt vor einem Schiff stehen. Kai kramte einen Schein aus seiner Hosentasche und gab ihm den Fahrer. Dann stieg er eilig aus und rannte auf eine Fähre zu. "Hey, Ihr Wechselgeld!" Doch Kai war bereits weg. Er hatte sich nicht einmal mehr die Mühe gemacht, die Tür zuzuschlagen. Gerade noch rechtzeitig hatte er die Fähre erreicht. Mit der Tasche über der Schulter stellte er sich an seinen Stammplatz, dem vorderen Teil des Schiffes. Um ihn herum begann langsam reges Treiben. Die anderen Passagiere hatten sich anscheinend genug verabschiedet. Kai fand es total übertrieben, schließlich waren sie bereits 20 Meter vom Ufer entfernt, und noch immer standen einige Leute an der Reling und winkten ihren Angehörigen. Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er selbst sich nicht mal richtig von seinen Teamkollegen verabschiedet hatte. Er war überstürzt abgehauen. Und vielleicht war dieses das letzte Mal gewesen, an dem sie ihren Leader gesehen hatten. Zumindest lebend. Kai hatte keine Ahnung, was ihn in Russland erwartete. Auch nicht, wo er anfangen sollte. ~Am besten erst zu Talas Wohnung.~ Der Hafen war in weite Ferne gerückt, man konnte ihn nicht mal mehr sehen. Auch an Deck war es ruhiger geworden und Kai stand nun ganz allein dort und beobachtete die Wolken am Himmel. Er lauschte dem Rauschen der Wellen und ließ sich langsam zu Boden sinken. Sein Kopf lehnte an einer Stange der Reling, welche eiskalt war. Der Junge entspannte sich. Mit einem klaren Kopf konnte er besser denken und handeln. Sein Atem begann regelmäßiger zu werden. "Ray, was...? Wo ist Kai?" Max kam nach draußen gelaufen, ihm folgten Kenny, Tyson und Mr. Dickenson. "Weg." Der Schwarzhaarige senkte den Kopf und drehte sich zu ihnen um. Seine Freunde verstanden nicht. Notgedrungen erzählte Ray ihnen, was Kai ihm in höchster Eile mitgeteilt hatte. "Urlaub? Das glaubt er doch wohl selber nicht!", entrüstete sich Kenny. "Ich habe noch nie jemanden so gehetzt und überstürzt in ,Urlaub' fahren sehen!" Ray zuckte mit den Schultern. "Das ist es, was er mir gesagt hat. Mehr weiß ich auch nicht!" "Also, das ist ja wohl unerhört! Können wir ihn eigentlich zurückholen?" Tyson war sichtlich beleidigt, da Kai es anscheinend geschafft hatte, sich eine Erholungspause zu verschaffen, obwohl er selbst angeordnet hatte, dass in den Ferien trainiert werden würde. Doch niemand wusste, wie sie ihren Teamleader aufspüren sollten. Da er ja anscheinend alles sehr spontan entschieden hatte, wussten sie keinen Anhaltspunkt. "Wir werden wohl auf ihn warten müssen. Tja, und so müssen wir auch nicht sein Training in den Ferien durchstehen, seht es doch mal so!", versuchte Max seine Freunde aufzuheitern. Aber Freude darüber wollte bei ihnen allen nicht so recht aufkommen. Verstört gingen sie ins Haus zurück. Die Fähre hatte angelegt. Sofort sprang Kai von Deck und rannte so schnell er konnte zu dem Mietwagenverleih, bei dem er Stammkunde war. Seine Ausdauer war erstaunlich. Es war eine Strecke von fünf Kilometern, die er ohne Pause hinter sich brachte. Die Sorge um seinen besten Freund trieb ihn voran. "Geben Sie mir ein Motorrad! Schnell!!", überfiel er förmlich den Mann hinter dem Tresen. "Moooment mal... Wir besitzen hauptsächlich Autos, und die wenigen Bikes, die wir haben, sind schon verliehen." Anscheinend war er neu in dem Laden oder eine Aushilfskraft. Der andere Angestellte, der Kai immer bediente, hätte seine Bestellung ohne Fragen ausgeführt. "Erzählen Sie mir keine Märchen! Ich brauche ein Motorrad, sofort!" "Schreien Sie hier nicht so rum. Ich sagte Ihnen doch bereits, dass..." "Dann treiben Sie eins auf! Aber fix! In fünf Minuten bin ich wieder hier, und dann haben Sie eines!! Und wehe, wenn nicht! Beeilen Sie sich!" Und schon lief er mit seinem Gepäck zur Toilette. Er schloss sich in einer Kabine ein und zog sich aus. Hastig griff er in seine Tasche und holte den schwarzen Pulli und die Hose mit den vielen nützlichen Taschen heraus und tauschte sie gegen seine vorherigen Klamotten aus. Er füllte die Taschen seiner Hose mit Patronen und Magazinen, während er die dazugehörige MP5 und seine Beretta 92 in die weiten Taschen seines Mantels gleiten ließ. Dann ging er wieder nach vorne zum Verhandlungsraum. "So. Haben Sie nun eine Maschine?" Gehetzt sah er auf die Uhr. "Ja. Aber diese ist neu. Und sie ist extrem schnell und schwer, ich glaube nicht, dass sie die richtige für Sie..." "Die Schlüssel bitte." Der Angestellte war sehr pikiert über das Verhalten seines Kunden. "Dürfte ich Ihren Führerschein sehen?" Jetzt reichte es Kai. "Hören Sie! Ich habe es verdammt eilig, also: Die Schlüssel und den Preis, bitte!" Seine Stimme war klar und fordernd wie die eines Erwachsenen und die gesamte Erscheinung des Jungen hatte etwas an sich, wogegen sich der Händler nicht wehren konnte und sich nun doch fügte, den Preis zu nennen. "34.300 Rubel und sie gehört Ihnen für mindestens sieben Tage. Aber ich will die Maschine heil zurück!" "Ja, ja!", bestätigte Kai unwirsch, legte 35.000 Rubel auf den Tisch und rauschte ab. Er hielt sich jetzt nicht mit Kleinigkeiten wie Wechselgeld auf. In seinem Geschäft verdiente er sowieso genug, um in Notsituationen wie diese eine war auch mal etwas ,großzügiger' zu sein. Vor dem Laden fand er eine nagelneue Suzuki vor, von blau-silberner Farbe, mit einem schwarzen Helm und verspiegeltem Visier. Das Motorrad gefiel ihm und auch der Helm war nützlich, da man sein Gesicht durch die Verspiegelung nicht erkennen konnte. Sofort setzte er den Helm auf, bestieg die monströse Maschine und startete. Der Angestellte hatte Recht gehabt, sie war wirklich sehr schwer. Doch dafür fuhr sie auch schneller. Er jagte durch halsbrecherische Kurven mit viel zu hohem Tempo, die Straßen waren uneben und teilweise vereist, da es März war, und er konnte von Glück reden, dass es im Moment nicht schneite. Die Sorge um Tala wuchs in ihm, er wusste, dass sein Freund in Gefahr schwebte, wenn nicht sogar in Lebensgefahr. Und das trieb ihn dazu, die Maschine auf Höchstgeschwindigkeit laufen zu lassen. Sein Unternehmen war waghalsig, doch seine Angst, dass er den wichtigsten Menschen in seinem Leben verlieren würde, ließ ihn jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung vergessen. Wenn es nötig sein würde, gäbe er sogar sein Leben für das von Tala. Aber um diesem erst mal zu helfen, sollte er doch zunächst auf sich selbst aufpassen. Denn wenn er auf dem Weg seiner Rettungsaktion starb, war er dem Rothaarigen auch keine große Hilfe. Aus einer Lagerhalle drangen vereinzelt schmerzerfüllte Schreie. Doch die meisten wurden von den dicken Wänden verschluckt. Aber auch wenn es nicht so wäre, niemand wäre darauf aufmerksam geworden. Die Halle stand weit abseits einer Stadt, sie war über Jahre hinweg als Lagerstätte für diverse Dinge genutzt worden, zuletzt für Gewürze und Ersatzteile von Fahrzeugen. Doch an den Eingängen waren jeweils zwei Wachposten aufgestellt worden, sie trugen jeder eine mit reichlich Munition ausgestattete Maschinenpistole über der Schulter. In einem separat abgetrennten Bereich dieser Halle brannte das Licht einer einzelnen Lampe. Sie beschien das Gesicht eines auf den ersten Blick recht muskulösen Mannes, der auf einem Stuhl saß. Er war an Händen und Füßen gefesselt. Über seinem rechten Auge klaffte ein Riss, aus dem sein Blut floss. Er war mit Blutergüssen übersäht und aus einer Schusswunde an seinem Oberschenkel tropfte ebenfalls unablässig der rote Lebenssaft auf den Boden. Doch wann immer er den Blick hob, so war dieser stolz und entschlossen. "Sag uns endlich, wer dein Auftraggeber ist!" "Ha. Wer will das wissen?" Die Gegenfrage schien nicht zu gefallen. Der braunhaarige Mann, der ihm die Frage gestellt hatte, trat vor und schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Ein anderer griff in das rote Haar des Gefesselten und zog dessen Kopf ruckartig hoch. "So. Hast du nicht einen Partner? Den Namen und seinen Aufenthaltsort, bitte." Der Mann riss noch einmal an den Haaren. Doch Tala spuckte ihm einfach nur ins Gesicht. Angewidert wischte sich der Mann den Speichel ab. "Hn. Falsche Antwort." Er schnippte einmal und jemand reichte ihm ein scharfes Klappmesser. Er riss den Ärmel vom Pullover des Rothaarigen ab und lächelte bösartig. Dann schnitt er besonders langsam in die Haut an dessen linken Oberarm ein. Doch Tala tat ihm nicht den Gefallen zu schreien. Er biss die Zähne zusammen. "Du willst also nicht reden? Mal sehen, ob das deine Meinung ändert..." Der Mann verstärkte den Druck auf das Messer und die Klinge glitt tiefer in die Wunde hinein. Dann drehte er sich um, stach mit dem Messer in einen Sack hinter ihm, ein Überbleibsel der letzten Lagerung dieser Halle, und risse ein Loch hinein. Und während sich ein hinterhältiges Grinsen auf seinen Lippen ausbreitete, griff er in den Sack, holte eine Hand voll Salz heraus und klatschte diese auf die frische, blutende Wunde. Ein gequälter Schrei hallte durch die Halle. Die Wohnungstür war nur angelehnt. Kai tippte die Tür an, so dass sie knarrend aufglitt. Zunächst harrte er einen Moment hinter der Wand aus. Dann rannte er geduckt durch die Tür. Deckung suchend lief er durch die Räume. Alles war wüst und durchsucht. Dann kam er in der Küche an. Kai richtete sich auf. Es war anzusehen, dass die Wohnung verlassen war. Er steckte die Pistole auf seinem Rücken hinter seinen Gürtel. Der Hörer des Telefons baumelte noch immer über dem Rand des Tisches. Doch Kai fiel auf, dass das Kabel des Anschlusses durchtrennt war. Plötzlich klebte etwas unter seinen Schuhen. Er sah auf den Boden. Dort waren größere Blutflecke verbreitet, und in diese war der Junge getreten. Alte Erinnerungen krochen in ihm hoch, doch er schüttelte konsequent den Kopf. Dafür war nun keine Zeit. Doch ein ekelhaftes Gefühl blieb an ihm hängen. Er suchte nach Hinweisen. Und wurde fündig. Durch die ganze Wohnung zogen sich Blutspuren, mal auf dem Boden, mal auf Wänden und sogar auf einigen Möbeln waren welche verteilt. Sie schienen etwas zu bedeuten. Er folgte ihnen und fand hinter der Tür einen unscheinbaren kleinen Block, der ebenfalls blutverschmiert war. Doch als Kai den Block öffnete, war dieser leer. "Das kann nicht sein!" Suchend sah er sich um. Nach einer Weile hob er einen Bleistift auf, den er in dem ganzen Chaos hier hatte auftreiben können. Damit rieb er nun über die erste Seite des Blockes. Und tatsächlich standen dort Wörter drauf, wie er erhofft hatte. "Krowij dja wela tetzöt w maich venach. 17 Weg 4 Wald 23 Zaun 56 Brad." Lange starrte er auf das Schriftbild, dass sich ihm darbot. Den Satz hatte er verstanden. Doch was sollte der Rest bedeuten? Angestrengt überlegte er. Es wollte ihm nicht einleuchten. Mit dem Block in der Tasche verließ er die Wohnung wieder und setzte sich auf sein Motorrad. Und dann kam ihm eine sehr abwegige Idee. Aber ein Versuch war es wert. Er startete den Motor und fuhr los. "Alles, was wir bis jetzt gemacht haben, zeigt keine Wirkung auf ihn! Was sollen wir denn noch tun?" Einer der Männer lief nervös auf und ab. Der Anführer der Gruppe sah ihm missbilligend dabei zu. "Hör endlich auf damit, es nervt! Wenn wir nichts aus ihm raus bekommen, müssen wir ihn eben ausschalten. Er hat dank euch Idioten sowieso zu viel mitbekommen! Der Boss wird ausrasten, wenn er erfährt, dass er noch lebt! Also hilft nur der eine Weg." Tala horchte auf. Er hatte es geahnt. Nun würde er Kai nicht wieder sehen. Entmutigt ließ er den Kopf hängen. Das Licht wurde von seinen Peinigern ausgeschaltet. Sie verließen den Raum um sich zu beraten und ihren Vorgesetzten anzurufen. Als es um ihn herum dunkel geworden war, versuchte der Rothaarige sich von den Fesseln loszumachen. Er war erschöpft von den Schlägen und Misshandlungen, die er hatte erdulden müssen. Doch suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit. Er hatte noch nie aufgeben, und allzu leicht wollte er es ihnen nicht machen. Den Stuhl zurückschiebend tastete er nach einem spitzen Gegenstand. Aber er fand keinen. Da wurde das Licht erneut eingeschaltet und er direkt angestrahlt. Davon geblendet schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er in mehrere dreckig grinsende Gesichter. "Feige Sau! Brauchst du immer Rückendeckung, wenn du jemanden umbringen willst?" Der Angesprochene bedachte Tala mit einem abschätzigen Blick. Dann taten sie untereinander eine Reihe auf, und eine Gestalt kam durch den so entstandenen Gang. "Oh keine Sorge, er wird dich nicht umbringen. Ich werde diese Ehre haben, aber erst nachdem du mir dein Geheimnis erzählt hast, erstes Mitglied von Krowawaia Boinia." "Tss... Wenn ich ein Geheimnis hätte, würde ich dir es schon gar nicht erzählen, Kurai-san!" "Oh, ich sehe, mein Ruf eilt mir sogar bis hierher voraus..." Kurai kicherte belustigt. "Es stimmt, ich bin Masami Kurai, Anführer des Toda-Clans höchstpersönlich! Sieh es als eine besondere Ehrerbietung an, von mir die Kugel zu empfangen!" "Und wenn schon, auch wenn ich tot bin, Krowawaia Boinia wird weiterhin bestehen! Ich hätte nicht von dir gedacht, dass du weißt, wer ich bin!" "Wer sonst wäre fähig gewesen, uns aufzuspüren? Du kannst also durchaus noch was von mir lernen. Zu schade nur, dass es dir jetzt nichts mehr nützen kann. Ich weiß zwar nicht, wie viele Mitglieder Krowawaia Boinia hat, aber wir werden alle finden und sie eliminieren. Du bist doch auch nichts anderes als ein Yakuza!" Tala schwieg. Warum sollte er widersprechen? Kurai war es sowieso nicht wert, die Wahrheit zu erfahren. So sah er den Boss der Toda einfach nur an und wartete darauf, dass es vorbei war. "Noch einen letzten Wunsch?" Masami Kurai entsicherte seine Waffe, richtete sie auf Talas Kopf und berührte mit dem Lauf seine Stirn. Tala selbst schloss die Augen und formulierte die Antwort auf die Frage: "Ich will SIE sehen..." Mit einem grausamen Lächeln drückte Kurai den Abzug durch. Totenstille durchzog den Raum. "W-Was?!" Ungläubig starrte der reuelose Mann auf seine Hand. Seine Handschuhe, die er trug um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, waren angesenkt, seine Pistole lag mehrere Meter entfernt von ihm auf dem Boden. Sofort rückte seine Leibgarde in einem engen Kreis um ihn und sah sich suchend um. "Aber ich habe nur einen Schuss gehört?!! Wie kann das sein?!" In dem Moment sank ein Mann nach dem anderen zu Boden. Dünne Fäden, fast wie Spinnenweben, zogen sich durch den Raum, legten sich in einer Schlinge um den Hals der einzelnen Leibwächter und würgten diese so. "Was geht hier vor?!!" Verzweifelt sah sich Kurai nach einem Anhaltspunkt um. Da hörte er ein leises Aufkommen, auf das dann Schritte folgten. Ein in schwarz gekleideter Mann kam auf ihn zu, in der rechten Hand eine MP, in der linken, um seine Faust gewickelt, hielt er die Drahtfäden in der Hand, mit denen er die Leibgarde in Schach hielt. Diese lagen um Luft ringend am Boden und versuchten sich von den todbringenden Fesseln zu befreien. "Wer bist du? Gehörst du zu ihm?", schrie Kurai dem Neuankömmling zu. Tala hob den Kopf und sah in dieselbe Richtung. ~Kai...? Oh bitte, lass es Kai sein...~ Die Person kam näher und mit jedem Schritt wickelte er die Schnüre mehr um seine Faust. "Na na, keine falsche Bewegung, sonst blas' ich dir das Hirn weg!" Nun ließ er die Todesfäden fallen, er hatte die Männer bereits bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, und nahm den Helm mit verspiegeltem Visier ab, den er trug. "Glaubst du im Ernst, ich lass dich meinen Partner ermorden? Ich verrate dir ein Geheimnis: Krowawaia Boinia besteht nur aus zwei Mitgliedern, und das sind wir beide. Und du hast einen großen Fehler begangen, dich mit uns anzulegen." Mit diesem Satz war Kurai zum Todgeweihten erklärt worden. Denn nur denjenigen, die später sterben sollten, wurde das Geheimnis von Krowawaia Boinia verraten. "Und da du das jetzt weißt, stelle ich dich vor die Wahl: Entweder du redest und sagst uns, wo du deine Ware versteckt hast und danach überlasse ich es ihm", damit deutete er auf Tala, "wie er weiter mit dir verfahren will, oder ich knall' dich sofort ab. So ist der Deal." Kurai schluckte hart. Da aber überkam ihn ein Anflug von Hochmut. "Aber du bist doch noch ein Kind! Willst du wirklich..." Der Chef der Toda-Yakuza hielt inne. Kai hatte mit einem Klacken seine Waffe entsichert und zielte damit auf ihn. "Kind?" In seiner Stimme schwang ein bedrohlicher Unterton mit und ein kaltes Grinsen untermalte dies noch. "Dir ist es nicht erlaubt, Mutmaßungen zu äußern. Also? Kooperation oder nicht?" Kai erhob sich und ging zu Tala, um ihm die Fesseln loszuschneiden. Dabei kehrte er Kurai den Rücken zu. Und während er sich zu seinem Freund hinunterbeugte, sah dieser sich im Vorteil. Er griff zu seiner Linken nach dem Revolver eines der Leibwächter und feuerte blind in die Richtung der beiden Jugendlichen. Nach neun Schüssen war seine Trommel leer. Mit heftigem Atem stand Kurai da und ließ seine Hand sinken. "Aha. Ahaha. Ahahahaha..." Siegesgelächter brach über ihn ein. Da fiel der zehnte Schuss. Jetzt herrschte wirklich Ruhe in der Lagerhalle. "Dämlicher Idiot", murrte Kai und durchtrennte Talas Fußfesseln. Der Rothaarige rieb sich die schmerzenden Handgelenke und nickte zustimmend. "Und du bist auch einer!", schimpfte der Blaugrauhaarige und gab ihm eine leichte Kopfnuss. "Aua!! Wieso das denn?" Doch statt einer Antwort fiel Kai auf die Knie und warf sich ihm um den Hals. Es bedurfte keiner Erklärung. Mit einem Verständnis, über das nicht erst groß diskutiert werden musste, schloss Tala die Augen und erwiderte die Umarmung. Es war offensichtlich, das sein Freund sich große Sorgen um ihn gemacht hatte. "Komm jetzt, wir müssen gehen." Der Rothaarige tätschelte Kai kurz den Kopf und erhob sich leicht schwankend. Kai beobachtete dies mit einem neu aufflammenden Gefühl der Besorgnis. "Bist du sicher, dass du das schaffst?" Tala sah ihn mit einer Mischung aus Erhabenheit und Drohung an. Kai seufzte. "Schon gut, schon gut. Dann komm halt..." Die beiden Jungen beeilten sich aus der Lagerhalle herauszukommen. Dabei überschritten sie den Leichnam Kurais und die ebenfalls am Boden liegenden Körper seiner Leibgarde, Tala mehr schlecht als recht, da er humpelte. Kai packte ihn forsch am Arm und zog ihn mit sich, so dass sie diesen Ort schneller verließen. "Oh nein!", stöhnte Tala, als sie draußen waren und vor Kais Motorrad standen. "Oh doch!", sagte Kai bestimmt, "Und du machst, dass du deinen Arsch da rauf bekommst! Hier, setzt den auf!" Er stülpte Tala den Helm über und schob den sich widerstrebenden Jungen in die Richtung ihres Gefährts. Widerwillig nahm der Ältere Platz und murrte unverständliches Zeug vor sich hin. "Hör bloß auf, dich zu beschweren! Du ahnst nicht, was ich für Scherereien wegen dir hatte! Und jetzt halt still, ich kümmere mich kurz um deine Wunden, sonst blutest du mir noch mein neues Bike zu!" Kai zog ein Hemd aus seiner Tasche, die er vor der Lagerhalle hatte liegen lassen, und zerriss es, damit er die Wunde an Talas Oberarm verbinden und die Blutung seines Oberschenkels zeitweilig stillen konnte. Dann setzte er sich zu Tala auf das Motorrad. "Egal was du tust: Halt dich gut fest!!" Und schon startete er den Motor und sie sausten los. Tala versuchte ihm den Weg zum Versteck der Ware zu erklären und musste dabei trotz des hochgeschobenen Visiers und der Nähe ihrer Köpfe sehr laut schreien. Aber dennoch erreichten sie nach einiger Zeit ihr Ziel. Kai sah nach oben. Vor 10 Minuten hatte Schneefall eingesetzt. Der Graublauhaarige beobachtete das Treiben der unterschiedlich großen Flocken und wie sie sich auf der Erde zu einem weißen Teppich zusammenflochten. Es war wärmer als sonst, deshalb waren die Schneeflocken ziemlich groß. Der Schneefall war stark, so dass der Junger, der auf dem Dach eines Hauses auf der Lauer lag, schon sehr schnell eingeschneit war. So gelangte er zu einer perfekten Tarnung, die zwar unfreiwillig, dennoch sehr praktisch war. Da knirschte es in seinen Ohren. Er wandte seinen Blick von den Schneeflocken ab und sah, soweit es ihm möglich war, hinunter. Er entdeckte zwei Männer, augenscheinlich Wachposten, die miteinander sprachen und via Funkgeräte irgendwelche Befehle weitergaben. Um sich Zutritt zu dem Gebäude zu verschaffen, mussten Tala und Kai versuchen, an diesen Wachen vorbeizukommen. Vorsichtig rutschte der Graublauhaarige ein Stück weit dem Rand des Daches entgegen, auf dem er lag. Etwas Schnee rieselte dabei zu Boden, doch die Wachen schienen dies nicht gesehen zu haben. Unbemerkt also kam er ihnen immer näher. Kai richtete mit Blick durch sein Zielfernrohr seine Waffe auf sie. Erst schwenkte er auf ihre Köpfe, richtete den Lauf dann tiefer bis zu ihren Knien, dann wieder rauf und blieb nun auf der rechten Schulter eines Mannes ruhen. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Die Wachen waren ebenfalls schwer bewaffnet, wie auch die in der Lagerhalle, wo Tala gefangengehalten worden war. Doch mussten sie überlegter vorgehen als Kai es dort getan hatte, denn weder er noch Tala wussten, was sie hinter der Tür erwartete. So wartete er auf das Zeichen Talas, denn er wollte den anderen Wachmann außer Gefecht setzen. Der Rothaarige nämlich hatte sich ein Versteck am Boden ausgesucht, da er aufgrund seines verletzten Beines nicht mehr gut klettern konnte. Mittlerweile war ein Vorhang aus Schnee entstanden, der es Kai schwer machte, seine Zielpersonen zu sehen. Mit viel Konzentration erkannte er noch ihr Umrisse. Da sah er links von sich ein kurzes Glühen oder vielmehr das Glimmen einer Flamme. Talas Zeichen! Kai vergewisserte sich, sein Objekt nicht zu verfehlen. Dann drückte er ab. Im selben Augenblick schnellte Tala aus seinem Versteck hervor, rammte dem anderen seinen Ellbogen in den Magen und schlug sein gesundes Knie in das Gesicht seines Opfers, als dieses sich vor Schmerzen krümmte. Die Wachen waren K.O. Kai richtete sich auf und sprang vom Dach herunter. Beide nickten sich kurz zu. Dann trat Tala die Tür ein. Erschrocken blickten die Männer, die dahinter saßen, auf. "Was hat das zu bedeuten?", fragte einer, der die Sprache recht schnell wiedergefunden hatte. Doch niemand der beiden Jungen antwortete. Kai warf Tala eine Thompson zu, der sie auffing und sofort auf die versammelte Gesellschaft richtete. "Alles auf den Tisch legen, langsam aufstehen und in einer Reihe hinstellen!", bellte Kai. Langsam und vorsichtig taten die Männer, was von ihnen verlangt wurde und stellten sich hinter dem Tisch auf, an dem sie vor kurzen noch gesessen hatten. Kai ging darauf zu, um sich die dort liegenden Ordner und Zettel anzusehen. Die Lampe über dem Tisch, einzige Lichtquelle dieses Raumes, schwang sachte hin und her. Tala, sein Maschinengewehr noch immer im Anschlag, ließ seine Blicke über die Männer vor ihm schweifen und sah dann zu Kai. Da griff einer von ihnen unbemerkt hinter seinen Rücken und holte einen Revolver hervor. Kai nahm gerade die Akten auf und legte sie in den Koffer zurück, in welchem sie zuvor aufbewahrt worden schienen. Plötzlich feuerte jemand Schüsse auf Tala ab. Der Rothaarige, nicht darauf gefasst, ging zu Boden. Gelächter erfüllte den Raum, genau so fieses und siegessicheres Gelächter, wie Kurai es abgegeben hatte, kurz vor seinem Tod. Kai schloss die Augen. Dann, ohne Vorwarnung und so schnell, dass die Männer es kaum mitbekamen, zog er zwei Pistolen hinter seinem Gürtel hervor. Blitzartig drehte er sich um und feuerte in die Richtung der Menge. Er vergeudete seine ganze Munition und als seine Magazine leer waren, standen die Männer noch kurz auf ihren Beinen, jeder von ihnen mit einem tödlichen Treffer, fielen dann aber hintereinander zu Boden. Kai atmete schwer, nachdem er sah, was er angerichtet hatte. Dann rannte hinüber zu seinem Freund und kniete sich neben ihn. "Hey! Was ist mit dir? Geht's?" Behutsam berührte er Tala an Hüfte und Schulter, um ihn aufzurichten, woraufhin dieser schmerzvoll aufkeuchte. Er drehte sich auf die Seite und fasste an seine Hüfte. Als er seine Hand zurückzog, war sie mit Blut beschmiert. "Was für ne Scheiße!", fluchte Tala und kniff die Augen zusammen, als er sich unter Schmerzen aufrichtete. "Lass mal sehen..." Kai beugte sich zu ihm herunter. Sachte schob er Talas Shirt hoch. "Hm. Scheint zum Glück nur ne Fleischwunde zu sein. Ich kann keine Kugel sehen." Zur Sicherheit tastete er die Wunde noch einmal ab. Aber er konnte keinen harten Widerstand fühlen. "Blöder Wichser!" Stöhnend versuchte Tala aufzustehen, wobei Kai ihm half und an einem Arm hochzog. "Komm, wir müssen von hier verschwinden! Die letzte Aktion grad hat wahrscheinlich die Nachbarn aufgeweckt", riet Kai und schnappte sich den Koffer. ~Das wird ne harte Flucht werden~, dachte er, als er Tala ansah. "Hier, drück das auf die Wunde!" Er zog seinen Mantel aus, dann seinen Pullover und reichte diesen an den Rothaarigen weiter und zog seinen Mantel wieder an. Danach verließen sie, Tala humpelnd und fluchend, das Gebäude durch eine Hintertür. Draußen hörten sie schon von weitem die Polizeisirenen. "Wir müssen uns beeilen! Wenn die uns erwischen, können wir einpacken, die glauben uns doch kein Wort!", rief Kai über das Getöse hinweg. In einer kleinen Nebengasse hielten sie an und packten ihr Waffen zusammen. Dabei warf Kai einen Blick auf Tala. "Komm, ich helfe dir!" Er griff in seine Hosentasche und klappte ein Taschenmesser auf, mit dem er den bereits blutdurchtränkten Pullover, den er Tala gegeben hatte, zerriss und die klaffende Wunde behelfsmäßig versorgte. Vor Schmerzen keuchend, hielt der Rothaarige sich an Kais Schulter fest und beide schafften es so zum Motorrad. "Wir müssen zu Ispahan, ihm den Koffer bringen", brachte Tala gepresst hervor. Kai nickte. Sie saßen auf und jagten davon, weit weg von den Sirenen. "Ich verlange von Ihnen eine Entschädigung! Das Honorar reicht bei Weitem nicht aus, um für die entstandenen Schäden aufzukommen! Wissen Sie, was wir im Versteck vorgefunden haben? Lauter Papierkram und so was!" Kai knallte einen Stapel Ordner auf den Schreibtisch und wetterte unablässig und lautstark gegen ihren Vertragspartner. Dieser hob beschwichtigend die Hände. "Schon gut, etwas leiser bitte, ich habe sehr gute Ohren! Gut. Sie haben ihre Arbeit glänzend erledigt. Hiermit stelle ich Ihnen einen Scheck über 20.000.000 Rubel aus", Kai nickte eifrig, "und auf Ihr Konto ist ja bereits der verabredete Teil geflossen." ,Sir Ispahan', wie er sich nannte, reichte Kai den Scheck, welcher ihn rasch einsteckte. "Wirklich, exzellente Arbeit. Vielleicht kann ich Sie ja mal wieder für meine Geschäfte interessieren, ein Wiedersehen würde mich wirklich sehr freuen..." "Vergessen Sie's!" Tala trat vor, sein Gesicht aschfahl, er hatte große Schmerzen. "Unsere Geschäftsgrundlage heißt: ,Einmal ist keinmal, aber zweimal ist einmal zu viel!' Und daran halten wir uns auch! Ach, und noch etwas: Konnten Sie etwas darüber in Erfahrung bringen, was Sie uns breitspurig versprochen haben?" Argwöhnisch beobachtete der Rothaarige die Bewegungen Ispahans, der in eine seiner Schubladen griff und einen DinA4 großen Umschlag herausholte und ihn über seinen Schreibtisch in die Richtung der beiden Freunde schob. Tala nahm den Kuvert an sich und gab ihn an Kai weiter. Ispahan war sichtlich pikiert darüber, wie die beiden mit ihm umsprangen, und presste seine Lippen aufeinander. Kai gab ein zustimmendes Geräusch von sich, nachdem er sich den Inhalt des Umschlags kurz angesehen hatte. "Gut. Dann verschwinden wir jetzt." Sie nickten Ispahan zu und verließen sein Gebäude. Draußen bückte Kai sich und verstaute den Umschlag sicher in seiner Reisetasche. Als er wieder aufsah, schluckte er hart. Talas Gesicht hatte die Farbe einer vergilbten Gardine angenommen. "Mir is' schlecht...", murmelte er leise. "Mich wundert's, dass du überhaupt noch laufen kannst! Komm her und setz dich, wir fahren!" Kai bugsierte Tala nun vor sich auf den Sitz, damit er nicht runterfiel. Tala selbst umklammerte mit feuchten Händen das Steuer, um das sich auch Kais Finger legten. Immer noch sickerte Blut durch den zum Verband degradierten Pullover. "Halt dich fest, es geht los!" *~*~*Vokabeln*~*~* Krowij dja wela tetzöt w maich venach Das Blut des Teufels fließt durch meine Adern Krowawaia Boinia Blutbad Kapitel 7: Zurück "zu Hause" ---------------------------- Kai fuhr in Richtung Fährhafen. Er wusste, das Tala eigentlich Hilfe benötigte, doch wusste er auch, dass er Ärzte hasste. Die Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, waren schlimm und vor allem wegen dem Blutverlust machte er sich Gedanken, doch Tala bewegte sich noch in dem Pensum einer Blutspende. Mehr hatte er, jedenfalls soweit Kai es einschätzte, noch nicht verloren. Also musste er sich beeilen, dass Tala so schnell wie nur irgend möglich irgendwo unterkam. Der Graublauhaarige war noch weit, sehr weit entfernt vom Hafen und er bog in eine andere Richtung ein. "Wohin fahren wir?", fragte Tala angespannt. Doch Kai antwortete nicht. Erst als ein großes Gebäude auftauchte, das allen Anschein nach Kais Ziel war, sagte er: "Du brauchst einen Arzt. Du hast Blut verloren, vielleicht zu viel und..." "Nein! Kein Arzt!" Tala griff nach Kais Arm und drückte in Panik fest zu. "Kein Arzt!!" Kai schwieg nun. Er fuhr weiter und hielt vor dem Eingang des Krankenhauses. Der Rothaarige drehte sich zu ihm um und sah ihn an. "Ich bin gesund! Ich muss da nicht rein!" Sein ohnehin schon bleiches Gesicht wurde durch die Panik noch weißer. "Tala, ich bleib die ganze Zeit bei dir! Versprochen! Ich lass dich nicht allein, aber du musst dir helfen lassen! Du brauchst dringend Hilfe, und wenn es nicht wirklich nötig wäre, hätte ich dich nicht hergebracht, das weißt du!" Tala nickte schwach. Kai stieg ab und half ihm ebenfalls vom Motorrad. Leicht wankend erreichten sie die Rezeption in der Eingangshalle. Tala wurde immer unruhiger, als sie inmitten diesem unbehaglichen und ungewohnten Gebäude standen, umgeben von weißen Wänden und herumrennenden Menschen in ebenso weißen Kitteln. "Notfall! Ich brauche unbedingt einen Arzt!!" Die Schwester am Schalter schaute kurz auf. Beim Anblick der beiden blutbeschmierten Jugendlichen, der eine davon auch noch kaum bei Bewusstsein, stieß sie einen leisen Schrei aus. Sie griff zu ihrem Telefon und rief ein paar Ärzte aus. "Notfall in der Eingangshalle! Zwei..." Sie berichtigte sich, als Kai den Kopf schüttelte und auf Tala zeigte. "Ein Jugendlicher mit stark blutenden, äußeren Verletzungen." Kai schwankte untern der Last von Talas Gewicht und zog ihn noch ein Stück mehr auf seinen Rücken. Dabei stöhnte der Rothaarige auf und krallte sich vorne an Kais Mantel fest. Dann, nach endlosen Minuten, wie es den beiden schien, kam endlich ein Arzt angerannt. Ein Pfleger schob eine Rolltrage hinter ihm her. Mit äußerster Vorsicht wurde Tala darauf gelegt und sofort in einen Behandlungsraum geschoben. Kai war dabei immer an Talas Seite, denn dieser wurde sichtlich nervös, als er so viele Weißkittel auf einmal sah. "Oh mein Gott, was habt ihr denn gemacht?! Das muss sofort genäht werden!" Der Pfleger schnitt eilig Talas Hosenbein auf. "Das Knie blutet ja auch! Was ist passiert?" Kai und Tala suchten verzweifelt nach einer Ausrede. Dann meinte Kai: "Er ist beim Klettern abgerutscht und unglücklich an einem Metallzaun vorbeigeschrammt." Der behandelnde Arzt sah ihn durchdringend an. "Meistens ist es hilfreicher, die Wahrheit zu sagen, das erleichtert die Behandlung..." "Ok, ok, ich hab mich geprügelt! Die hatten Messer dabei!", gab Tala dann resignierend zu. "Aha. Gut, wir werden das jetzt nähen. Warte bitte draußen", wies der Doktor Kai an, doch dieser wehrte sich. "Nein!!" "Du darfst hier jetzt nicht bleiben", versuchte eine Schwester ihn herauszuscheuchen, "Dein Freund wird behandelt und dann darfst du ihn besuchen." "Nein, ich bleibe hier!!!" Kai nahm Talas Hand. "Nichts wird mich davon abhalten! Ich hab's versprochen, ich darf jetzt nicht gehen!" Tala dankte Kai insgeheim, er wollte jetzt nicht alleine sein. Beide hatten schlechte Erfahrungen mit Leuten solcher Professionen gehabt, daher konnte man es ihnen nicht verübeln. Langsam beruhigte der Rothaarige sich und lag nicht mehr so verkrampft da. Kai indes weigerte sich weiterhin strikt, Tala allein zu lassen und hielt dessen Hand fest. Nach einigen erfolglosen Versuchen, ihn aus dem Raum zu schaffen, gaben die Ärzte es auf, denn der Junge musste bald behandelt werden. Also begannen sie ihre Arbeit im Beisein Kais. Dieser hatte ein scharfes Auge auf jeden ihrer Handgriffe. Beiden waren Ärzte nicht geheuer, und schon gar nicht, wenn sie Spritzen aus großen Ampullen verschiedener Flüssigkeiten aufzogen. "Was geben Sie ihm da?" "Das sind handelsübliche Beruhigungs- und Schmerzmittel." Kai schien beruhigt, doch beobachtete er ihr Handeln immer noch mit Misstrauen. Besonders, als Tala eingeschlafen und er nun den Händen der Ärzte sozusagen schutzlos ausgeliefert war. "He, was machen Sie jetzt?" "Ich desinfiziere die Wunden und vernähe sie!" "Ich warne Sie, wenn sie ihm auch nur eine falsche Arznei geben!" "Hören Sie, lassen Sie uns bitte unsere Arbeit machen. Schlimm genug, dass Sie bei der Behandlung dabei sind, aber seien Sie nun bitte still, so können wir nicht arbeiten, wohlmöglich machen wir noch eher Fehler! Also, könnten Sie sich jetzt bitte ruhig da vorn am Kopfende hinstellen, damit wir fortfahren können? Danke!" Dem behandelnden Arzt war der Kragen geplatzt und wies Kai nun zurecht. Widerwillig machte dieser dem Arzt Platz. Er wollte schließlich, dass Tala wieder gesund wurde. "Hach, total entspannt die Ferien..." seufzte Max entzückt und lehnte sich auf seiner Liege im Schwimmbad zurück. Vor ihm stand Kenny und trocknete sich ab, als Tyson aus dem Becken, das einige Meter von ihrem Liegeplatz entfernt war, stieg und sich wie ein nasser Hund schüttelte. "Mensch Tyson, pass doch auf!", meckerte Kenny und Max schlug mit dem Handtuch nach ihm. "Ey, ich war gerade trocken, du Nase!" Grinsend setzte sich Tyson auf seine Liege. "Ne tolle Idee, herzufahren, find ich sehr gut! Super Vorschlag von Ray!", meinte er. Die vier Freunde hatten überlegt, was sie tun sollten, und der Schwarzhaarige hatte empfohlen, schwimmen zu gehen. Dies war einstimmig angenommen worden. "Mal nebenbei, wo ist Ray überhaupt?", fragte Max. Tyson sah sich um. "Ah, er sitzt an der ,Beach Bar'! Scheint mit der Barkeeperin zu flirten...", feixte er. Das Hallenbad war sehr weitläufig. Es war lagunenartig angelegt, das Becken glich einer Bucht und im Bereich der ,Beach Bar' war künstlicher Sand ausgestreut worden, um einen Strand anzudeuten. Palmen und andere Grünpflanzen säumten den Weg dahin und umgaben auch die einzelnen Plätze mit den Liegen. Das Bad war sehr populär, und es erfreute sich hoher Besucherzahlen, so wie heute. Mittlerweile war Ray zu seinen Freunden zurückgekehrt, mit einem alkoholfreien Cocktail in der Hand. "Na, was sagt sie? Wollte sie ein Autogramm?", fragte Max grinsend. "Wovon bitte sprichst du?" "Von dem Mädchen hinter der Bar!" "Ach so, das... Na ja, in der Tat hat sie gesagt, dass ich einem von den Bladebreakers sehr ähnlich sehe...", gab Ray leicht belustigt zurück. "Und als ich ihr meinen Namen sagte, meinte sie: ,Was für ein Zufall, der, dem du ähnlich siehst, heißt genau so!' Tja, Zufälle gibt's..." Seine Freunde brachen in schallendes Gelächter aus. "Echt jetzt? Sie hat dich nicht erkannt?", fragte Tyson, noch immer kichernd. "Nein, aber das ist auch nicht weiter schlimm, oder? Hättet ihr denn Bock, ausgerechnet heute Autogramme zu schreiben? Heute sind viele Familien mit Kindern hier, wir hätten doch in Nullkommanichts einen Krampf in der Hand!" Der Schwarzhaarige strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und nahm einen Schluck von seinem Cocktail. "Kommt jemand mit zu den Rutschen? Es soll hier einen ,Nachttunnel' geben, den will ich unbedingt ausprobieren!" Sofort sprangen die anderen drei Jungen auf. Zusammen liefen sie lachend zur Fun-Area des Schwimmbads, welche aus einer Extrabucht im hinteren Teil gleich neben dem Sprungbecken angelegt war. Niemand der sie sah, hätte gedacht, dass sie sich Sorgen machen. Sorgen um ihren Teamleader, der sich schon seit mehr als einer Woche nicht bei ihnen gemeldet hatte. Besonders Ray machte sich Gedanken, er stand Kai noch am nächsten und da er mit ihm ein Zimmer teilte, hatte er mehr von dem Graublauhaarigen mitbekommen, als diesem vielleicht lieb war. Zum Beispiel wusste Ray, dass Kai manchmal in der Nacht Albträume hatte, dass er sich im Schlaf unruhig hin und her wälzte und dann keuchend erwachte. Doch er hatte es immer vermieden, Kai darauf anzusprechen, auch hatte er es niemandem erzählt. Aber jetzt nagten Schuldgefühle an ihm, vielleicht hatte Kai schwerere Probleme als sie alle annahmen, und die Albträume waren eventuell der Schlüssel dazu. Andererseits wollte er Kai auch nicht in den Rücken fallen. Eine verdammt verzwickte Situation. Im Moment jedoch versuchten sie alle, die Ferien zu genießen. Sie redeten sich ein, Kai wäre wirklich in Urlaub gefahren und käme sicher bald zurück. "Kommt, wir machen eine Kette!", rief Max vergnügt und setzte sich auf die Rutschbahn. Ihm folgten Kenny, Ray und Tyson, sie hielten sich fest und sausten hinunter. Sie platschten in das Auffangbecken ein und tauchten prustend wieder auf. Rays Haare hingen ihm platt ins Gesicht, er war so förmlich blind. Er tauchte abermals unter und wischte sie nach hinten. "Sehr reizend Ray, du solltest deine Haare öfter so tragen", frotzelte Tyson, als der Schwarzhaarige wieder aufgetaucht war. Zur Antwort streckte dieser ihm die Zunge raus. Am Abend saßen die Bladebreakers zusammen im Wohnzimmer, ein angenehmer Geruch von Pizza lag im Raum, und auf dem Tisch, um den herum die Sessel und das Sofa arrangiert waren, stapelten sich die Pizzapappen. "Ein gelungener Abschluss für die Ferien, findet ihr nicht auch?", fragte Kenny die anderen drei. Sie hatten es sich gemütlich gemacht, im Hintergrund lief Musik aus dem Radio. "Abschluss? Wir haben noch vier Tage Zeit!", gab Tyson entrüstet bekannt. "Ja, aber die wirst du wohl für die Hausaufgaben brauchen, die du meines Wissens noch nicht gemacht hast, und außerdem sind diese vier Tage gut für die Vorbereitungen auf die Schule zu gebrauchen", belehrte Kenny seinen Freund lächelnd. Ray und Max grinsten sich an. Typisch Kenny, aber er hatte Recht. 10 Tage waren schon vergangen, und damit auch 10 Tage seitdem Kai abgehauen war. Max sprach diesen Gedanken als erster aus: "Kai hätte heute auch hier sein sollen, es war echt lustig... Warum hat er sich nicht ein einziges Mal gemeldet?" "Und warum haben wir uns nicht mal bei ihm gemeldet?", fragte Kenny nüchtern. "Er hatte doch sein Handy dabei!" "Er hat aber nie abgenommen, und seit vier Tagen ist nur noch die Mailbox dran...", sagte Ray betrübt. "Warum erzählst du uns denn nicht, dass du ihn angerufen hast?!" Max starrte Ray durchdringend an. "Weil die Ergebnisse immer so ernüchternd waren... Ich wollte euch das ersparen..." Schweigen senkte sich nun über die Freunde, sie sahen betreten zu Boden. Da ließ sie das Geräusch eines Schlüssels, der im Haustürschloss umgedreht wurde, aufschrecken. "Was war das?", wunderte sich Tyson. "Wahrscheinlich Mr. D., er hat sich neulich einen Ersatzschlüssel geliehen. Vielleicht kommt er uns besuchen.." Die Tür ging auf. "...und dann suchen wir dir ne Wohnung, ich hab da schon so eine Idee..." Eine leise Stimme ließ sich vernehmen, dann fiel die Tür ins Schloss. Es war der Teamleader, den die Jungen so sehr vermisst hatten. Kai hängte seinen Mantel an der Garderobe auf, die links neben der Haustür hing. Dann verabschiedete er sich von Tala, mit dem er per Handy geredet hatte. Kenny, Tyson, Max und Ray sahen sich an. Konnte das wirklich wahr sein? Erwartungsvoll wanderten ihre Blicke zur Wohnzimmertür. Diese ging langsam auf. Kai seufzte leise und verstaute sein Handy in seiner Hosentasche. Plötzlich hielt er inne und bevor er überhaupt seine Teamkameraden ansah, drehte er sich auf dem Absatz um und rannte zur Toilette im Flur, auf der er sich erbrach. "Was zum...?" Die Freunde lugten neugierig zur Tür und reckten ihre Hälse. "Das war doch Kai, oder? Ihr habt ihn doch auch gesehen, oder nicht? Oder bilde ich mir das ein?", fragte Tyson verblüfft. "Ja, das war er. Ich seh mal nach ihm...", erklärte Ray und stand auf. Er nahm eine Packung Taschentücher von einem Regal an der Wandseite und ging auf den Flur. Die Tür zur Toilette war offen, Kai kniete vor der Porzellanschüssel und übergab gerade seinen Mageninhalt dem Abwasserkanal. Der Schwarzhaarige stellte sich hinter ihn und lehnte sich dann an die Wand zwischen Waschbecken und Tür. Als Kai die Spülung drückte, öffnete Ray die Packung und reichte ihm ein Taschentuch. Der Graublauhaarige nahm es und wischte sich damit den Mund ab. Dann klappte er den Toilettendeckel runter und setzte sich darauf. "Und, schönen Urlaub gehabt?", fragte Ray leicht spöttisch. Kai spuckte noch einmal in das Taschentuch, bevor er es dann wegwarf. "Na ja, insgesamt vier Tage Fahrt, dann nur Stress und die letzten drei Tage war ich im Krankenhaus, aber ansonsten war es recht schön, ja!", gab er sarkastisch zurück. "Krankenhaus? Aber wieso?" "Ich brauche ein Glas Wasser..." Leicht wankend erhob Kai sich und ging in das mit der Küche verbundene Wohnzimmer, woraufhin Ray ihm sofort folgte. Die letzte Woche hatte ihn doch arg mitgenommen und dieser Stress, verbunden mit dem ungewohnten Geruch der Pizzen, hatten in ihm einen Brechreiz ausgelöst, von dem er nun recht benommen war. "Kai! Du bist wieder da! Wo warst du? Was hast du getrieben?", begrüßte Max ihn. Der Graublauhaarige goss sich zunächst ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck. Dann schaute er durch die Anrichte, die eine Art Fenster war und den Wohnzimmerbereich von der Küche trennte, jedoch an beiden Enden ein Durchgang hatte. "Wie gesagt, ich war im Krankenhaus..." "WAS? Warum das? Wieso sagst du uns nicht, dass du krank bist?" Kai verdrehte genervt die Augen, seufzte, nahm noch einen Schluck Wasser und kam dann um die Anrichte herum. Er setzte sich auf einen freien Sessel und drehte das Glas in seinen Händen. Doch er hatte irgendwie das dringende Bedürfnis, sich mitzuteilen. "Lasst mich doch mal ausreden... Es ging nicht um mich, sondern um Tala. Er... hatte einen Unfall..." "Wie? Tala? Was für einen Unfall? Erzähl!", unterbrach in Tyson gespannt. Es war für alle ein seltsames Ereignis, dass sie alle beisammen saßen, und ,alle' meinte in diesem Fall MIT Kai, und dieser sie auch noch ins Vertrauen zog. ~Tala muss es wirklich sehr schlecht gehen, wenn Kai uns davon erzählt~, dachte Ray bei sich. "Ich weiß nicht wie und was, nur, dass er einen hohen Blutverlust erlitten hat und die Wunden genäht werden mussten... Versteht ihr, ich musste zu ihm, ich konnte ihn nicht alleine lassen, wenn er draufgegangen wäre, er wollte ja nicht mal zum Arzt, ich musste ihn hinschleifen, obwohl die Ärzte in Russland gut sind, aber er wollte nicht, was ich auch verstehen kann, wir haben beide nicht gerade gute Erfahrungen mit diesen Leuten gemacht, aber es war einfach notwendig, wisst ihr, und er sah es dann auch ein..." Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, er konnte diesen Vorgang nicht aufhalten, vielleicht brauchte er das, vielleicht lag ihm das schon länger auf der Seele. Die Angst vor dem Verlust seines besten Freundes, seinem einzigen Halt in seinem Leben, auf den er sich stützen konnte. Er konnte nicht immer für ihn da sein, und das machte ihn wahnsinnig. "Und das war der Grund für deine Abreise?", fragte Kenny sanft. "Warum hast du das nicht gleich gesagt?" "Ich... ich war viel zu durcheinander, es hätte fast zu spät sein können..." Kai fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar und senkte gleichzeitig den Kopf. "Die letzten Tage hab ich bei Tala am Krankenbett gesessen, er ist gestern entlassen worden." Er merkte, wie seinen Augen anfingen zu brennen und er einen Kloß im Hals bekam. "Entschuldigt, aber ich bin müde." Er erhob sich und verzog sich nach oben auf sein Zimmer. Stille trat ein, die vier Jungen mussten erst begreifen, was Kai ihnen erzählt und dass er ihnen überhaupt etwas erzählt hatte. Im gemeinsamen Bad von Ray und Kai stand Letzterer vor dem Spiegel und sah hinein. Er trug seine normale Kleidung, die er sich schon im Krankenhaus in Russland wieder angezogen hatte, denn sein schwarzer Pullover war zerrissen und die dazu passende Hose voller Blut. Dass er aus der Hölle, die er die letzte Woche mitgemacht hatte, bis auf ein paar kleinere Kratzer überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Er strich mit den Fingern zärtlich über das Amulett, das er nie ablegte. Sein Phönix, der seine Qual wie immer bemerkt hatte und wusste, dass Kai jetzt Trost brauchte, erschien. "Kai... Es war richtig, ihnen davon zu erzählen. Sie machen sich doch auch Sorgen um dich!" "Ja... Sie sollen sich aber nicht sorgen. Es soll ihnen egal sein..." "So darfst du nicht reden! Ich weiß, dass es dir gut tut, wenn du ihnen einen kleinen, wenn auch minimalen Einblick in deine Welt verschaffst. Und ich finde es nicht schön, wenn du immer alle Menschen auf Abstand hältst. Jeder braucht das Gefühl, zu wissen, dass da jemand ist, dem es nicht egal ist, wie dreckig oder gut es ihm geht, auch du, Kai!" Sanft strich Dranzer mit seinem Flügel über den Kopf seines Schützlings. Kai schloss die Augen. "Ich brauche dich, Dranzer, bitte geh nicht weg! Geh nie wieder weg!" Auf einmal war er wieder der kleine Junge aus der Abtei damals, der Angst hatte vor dem Alleingelassenwerden. Er krallte sich in Dranzers Gefieder fest. Es war nicht sehr schwierig für den Phönix, die richtigen Worte für Kai zu finden, denn sie kannten sich schon seit frühester Kindheit, aber in diesem Moment rang auch er mit der Fassung. Dieses Bild des sechzehnjährigen Jungen, der verzweifelt nach einem Halt suchte und von dem er wusste, dass ihn nur noch die Hoffnung aufrecht erhielt, seine Eltern irgendwann zu finden, war schwer zu ertragen. Dranzer legte seinen Flügel um Kai und eine einzelne Träne tropfte auf den Jungen. Sofort ließ dessen Verkrampfung nach. Phönixtränen wurde eine mächtige Heilwirkung zugeschrieben, und auch wenn er keine äußeren Verletzungen besaß, linderten sie die Schmerzen in Kais Innerem. Der Graublauhaarige drückte sich näher an Dranzer. Nach ein paar Minuten war er eingeschlafen. Der Phönix lächelte, packte mit seinem Schnabel Kai vorsichtig am Kragen und brachte ihn ins Schlafzimmer, wo er ihn auf seinem Bett ablegte. Mit beinahe mütterlicher Sorgfalt deckte er ihn zu und setzte sich neben ihn. Kai genoss die wohltuende Wärme, die sein Bit Beast ihm spendete und kuschelte sich in seine Decke ein. Als Ray eine halbe Stunde später den Raum betrat, lag Kai immer noch so da. Dranzer war schon wieder in seinem Amulett verschwunden. Kai aber hielt eine rote Feder in seiner Hand und lächelte leicht im Schlaf. Kapitel 8: Albträume -------------------- Er sah sich um. Neben ihm saßen viele Jungen in einer langen Reihe auf einer hölzernen Bank, einige wenige waren so alt wie er, die meisten waren aber älter. Sie alle hatten ihren Kopf gesenkt und vermochten nicht, nach vorne zu sehen. Er aber sah auf. Ein Mann schlug einen Jungen. Der Kleine hatte nicht die gewünschte Leistung erbracht. "Mach das noch mal! Du übst das so lange, bist du das kannst!" Der Mann schüttelte den Jungen, dem man die Erschöpfung deutlich ansah. Er wusste, dass der Junge diese Tortur nicht mehr lange aushielt. Noch einmal gab der Mann dem Jungen eine Ohrfeige. Ihm reichte es jetzt, wutentbrannt stand er auf. "Boris, lass ihn!!" Der Mann drehte sich um. "Für dich immer noch Gospodin! Auch wenn du der Enkel des Chefs bist, kannst du dir nicht alles erlauben, Kai!", fauchte Boris. Er drehte sich wieder zu dem kleinen Jungen. "Los, mach jetzt! Starte dein Blade!" "Ich... ich kann nicht...", wimmerte der Kleine. Zornig holte Boris mit seiner Hand aus und schlug zu. Der Junge fiel leblos zu Boden. "DJUNA!!!" Erschrocken fuhr Ray aus dem Schlaf. Kai hatte geschrieen. Schnell sah er zur Seite. Dort saß sein Teamleader, verschwitzt, zittern, die Hand ausgestreckt, als wolle er nach jemandem greifen oder halten, aufrecht im Bett. Kai hatte ja schon oft Albträume gehabt, aber nie einen, bei dem er so geschrieen hatte. "Was ist los?" Ray rutschte von seinem Bett runter und ging auf Kai zu. Dieser atmete schnell, als hätte er gerade einen 100m Sprint hinter sich. Nur mühsam erholte er sich von seinem Traum. Das schlimmste an seinen Alpträumen war, dass es immer schon passiert war und die Erinnerung daran nur schmerzte. "Kai?", fragte Ray noch einmal vorsichtig nach. "Was? Ja, nein, alles klar..." Er sah sich um. Dort vor dem Fenster stand ein Schreibtisch, dem gegenüber, an der Wand, stand ein weiterer, links neben seinem Bett stand das von Ray, das an dessen Schrank grenzte. Neben dem Fenster führte eine Tür zum Badezimmer. Er war in Kioto, in der WG, nicht in der kalten Abtei in Russland. Langsam beruhigte er sich wieder. "Hast du schlecht geträumt?" Der Schwarzhaarige ließ sich auf dem Bett nieder. Kai ließ sich zurück ins Kissen sinken. Ray zögerte, strich dann aber doch leicht über Kais Kopf. "Nicht... Ich will nicht darüber sprechen, Ray... leg dich wieder hin, es ist noch zu früh." Ray nickte und ging in sein Bett zurück. "Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe", murmelte der Silberhaarige, bevor er sich auf die Seite drehte. Schlafen konnte er jetzt nicht mehr, aus Angst vor einem erneuten Alptraum. Also wartete er, dass die Zeit verstrich. "Guten Morgen! Na, gut geschlafen?", begrüßte Max Ray freundlich, als dieser in die Küche gestolpert kam. Gähnend antwortete er ihm: "Ja, ging wohl. Wo ist denn Kai?" "Wieso, ich dachte, er wäre noch in seinem Bett?" "Da ist er aber nicht! Und im Badezimmer auch nicht. Wo steckt er denn schon wieder?" Als ein ohrenbetäubender Krach die Stille des Morgens durchbrach, beantwortete sich die Frage von selbst. Die beiden Jungen sahen durch das Wohnzimmerfenster nach draußen in den Garten. "Sollen wir mal nachsehen? Ich bin gespannt, was er jetzt wieder kaputt gemacht hat", meinte Max. Im Garten stand Kai vor dem Holzschuppen, in dem die Jugendlichen ihre Holzscheite für den Winter aufbewahrten, jedoch hatten sich die Scheite von ihrer Stapelung gelöst und lagen nun überall verstreut auf dem Boden. Davor kreiselte Dranzer. Und, den Rücken Max und Ray zugewandt, stand Kai, seine Schultern bebten vor Anstrengung. Dann hob er einen Scheit auf und pfefferte ihn wütend gegen den Rest, der vom Stapel übrig geblieben war. "Kai, ähm, dürften wir wohl erfahren, was du da treibst?", fragte Max. Genervt drehte sich der Angesprochene um. "Ich räume den Garten um, sieht man doch!!! Weckt die anderen, damit sie frühstücken. Ich will so früh es geht mit dem Training beginnen!" Der blonde Amerikaner machte sich sofort auf den Weg, doch Ray blieb noch stehen. "Hör mal, möchtest du vielleicht darüber reden? Es ist nicht zum ersten Mal passiert, dass du...", fing er an, doch Kai unterbrach ihn barsch. "Beeil dich und hilf Max." Er wandte sich ab und trat nach einem Holzscheit. Dranzer hörte auf sich zu drehen und Kai hob ihn auf. Nach dem Frühstück trafen sich Kenny, Max, Ray und Tyson im Garten. Kai stand vor dem ordentlich aufgebauten Stapel Winterholz. Während die anderen aßen, hatte er seinen verursachten Schaden wieder aufgeräumt. "Und was jetzt, Captain?", lachte Tyson munter. Kai zog seine Jacke aus, unter der er nur ein T-Shirt trug und stellte sich vor ihnen auf. "Training, Tyson." Ein allgemeines Murren zog sich durch sein Team. "Wir ihr vielleicht wisst", fuhr er fort, "haben wir unsere Kondition und unser Krafttraining in außerordentlichem Maße vernachlässigt. Ich hoffe, dass ihr in der Zeit meiner Abwesendheit trotzdem etwas trainiert habt. Wenn nicht, auch nicht weiter schlimm, das habe ich sowieso im heutigen Trainingsplan miteinkalkuliert. So, erst ein paar Aufwärmübungen. Einmal um den Block und lasst dabei eure Blades neben euch laufen. Los!" Der Silberhaarige schickte seine Schützlinge fort. In der Zwischenzeit besprach er mit Kenny das folgende Training und machte den Garten und ihre eigene kleine Beyarena spielfertig. "Wenn ich ehrlich bin, keiner hat in den Ferien trainiert, Kai!", gab Kenny kleinlaut zu. "Ich weiß. Das hab ich mir gedacht. Wer denkt schon ans Training, wo doch der Oberfeldwebel Hiwatari nicht da ist und einen triezen kann, nicht wahr?" Missmutig legte er sich auf den Bauch, um das Becken des Stadiums mit einer Tinktur zu reinigen. Er nahm seine Aufgaben sehr ernst, denn es verlangte eine gehörige Portion Verantwortungsgefühl, Teamleader und Trainingskoordinator zu sein. Aber mit Kenny, der momentan verlegen mit den Füßen über den Boden scharrte, da er wusste, dass Kai mit seinem eben geäußerten Satz genau den Nerv der Sache getroffen hatte, stand ihm eine sehr hilfreiche Person zur Seite. Als Max als Letzter aus seinem Team wieder im Garten erschienen war, gab der Silberhaarige die nächste Anweisung. "Ihr drei kämpft gegeneinander, bis nur noch einer übrig ist. Dabei werdet ihr den ganzen Garten als Übungsort nutzen. Wie ihr unschwer erkennen könnt, habe ich einige Hindernisse aufgebaut." Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er hinter sich. "Fangt an!" Er bat Kenny, seinen Laptop aufzuklappen, und alles zu dokumentieren, für die spätere Trainingsanalyse. Nachdem er sich eine halbe Stunde angesehen hatte, wie die drei Blader ihre Aufgabe absolvierten, brach er ab. "Nein, Schluss!! Das ist kein Beybladen, was ihr da macht!", blaffte Kai seine Teamkameraden an. Er war wegen des Alptraums und seinem daher rührenden Schlafmangels und überhaupt wegen des ganzen Stresses in der letzten Woche sowieso schon gereizt genug, und nun stellten sie sich auch noch so dumm an. "Wieso, was machen wir denn dann hier?", keuchte Tyson leicht erschöpft. "Ich kann nur sagen: Shit hoch Fünf! Das ist grottenschlecht! Echt, sogar meine Großmutter bladet besser als ihr drei zusammen!" "Und was sollen wir deiner Meinung nach machen? Wir strengen uns doch an und geben unser Bestes!", klagte nun Max. "Das ist aber anscheinend noch nicht genug!", donnerte Kai ihm entgegen. Jetzt platzte Tyson der Kragen, denn sie hatten alle hart gearbeitet und getan, was Kai von ihnen verlangte. "Mein Gott noch mal!! Wir versuchen es so gut es geht und du meckerst nur rum! Leg dich ins Bett und schlaf dich mal richtig aus, deine Laune geht mir echt auf den Sack! Vielleicht solltest du auch nicht immer abends ,spazieren gehen', wie Ray sagt, sondern wie wir schon längst schlafen! Ich wette, dass du eh in irgendwelchen Kneipen und Bars abhängst und ein paar Chicks abschleppst!!!" Kais Augen weiteten sich bedrohlich. Als Rays Name fiel, sah er diesen mit einem vernichtenden Blick an. "Wisst ihr was? Ich habe es SATT, dass ihr ständig meine Trainingsmethoden kritisiert! Wenn ihr es besser wisst, schön! Wenn ihr eure Fehler alleine feststellen könnt, gut! Dann macht doch, was ihr wollt! Ihr werdet schon sehen, wie ihr mit eurem Kindertraining zurecht kommt! Ray, komm, du und ich, Trainingsmatch." "Aber...", warf der Schwarzhaarige ein, er hatte gerade einen Schluck trinken wollen. "SOFORT!!!!" Ray schrak zusammen, folgte dennoch dem Aufruf seines Leaders. Sie stellten sich vor dem Tableau auf. Kenny mimte den Schiedsrichter. "Ok, drei, zwei, eins, let it rip!" Beide Jungen starteten zeitgleich ihr Beyblade. ~Was erlaubt er sich eigentlich? Chicks abschleppen? Aber sonst geht's, ja? Wenn es das wenigstens wär! Verdammt, er hat doch keine Ahnung! Die haben mich alle auf dem Kieker, irgendwas planen die, ich weiß es!~ Grimmig starrte Kai auf die sich kreiselnden Blades hinunter, ganz in seine Gedanken vertieft. ~Hab ich es nötig, mich vor ihm zu rechtfertigen? ... War das jetzt arrogant? Ach ja, ich BIN ja arrogant, oh, ich vergaß!! Sie kennen mich doch überhaupt nicht! Und das sollten sie auch besser nicht! Sie wissen nicht, was in mir vorgeht! Aber ich werde es ihnen sicher nicht auf die Nase binden!~ "Hey! Du bist mit deinen Gedanken ganz woanders, Kai!!!" Ray missfiel die Spielweise, mit der sein jetziger Gegner bladete, denn es entsprach ganz und gar nicht seiner sonstigen Art. "Ray hat Recht, Kai! Mach das gefälligst vernünftig, du hättest uns für diese Leistung mindestens schon drei Mal um den Block rennen lassen!", höhnte Tyson, der immer noch sauer auf ihn war. "Misch dich nicht in meinen Kampf ein!", fuhr der Graublauhaarige ihn an. "Warum nicht, dann weißt du auch endlich mal, wie unser Training ist, wenn du immer dazwischen quatscht!!" Kai sah zur Seite und seine Augen blitzten auf wie Dolche. "Willst du alles spüren, Ray?" "Ja, du sagst uns doch auch immer, wir sollen alles geben! Also halte auch du dich daran!!!" "Ich frage dich noch einmal: Du willst also wirklich alles spüren? Ich soll wirklich alles geben? Willst du das?" "Ja, das sagte ich doch gerade!!" "Ok! Ich habe dich gefragt." Er wandte sich an die anderen Jungen, die um das Tableau herum standen. "Ihr habt alle mitgekriegt, dass ich ihn gefragt habe, nicht wahr?" Sie nickten und jeder einzelne von ihnen wunderte sich, ob Kai gerade dabei war, den Verstand zu verlieren. Was sollten diese Fragen? Doch schon bald sollte sich das Rätsel lösen. Der Graublauhaarige ließ seine Finger knacken. Dann gab er Dranzer den ersten Befehl. Und Ray bekam was er wollte - Kais gesamte Power! Bereits nach nur wenigen Minuten war den Bladebreakers klar: Das war kein normales Beybladematch mehr. Kai legte seine ganzen Gefühle in seinen Angriff. Ray hielt dagegen, auch er wollte alles geben, doch er kam nicht gegen die geballte Macht Dranzers an. "Halte dich nicht zurück Kai!!! Komm schon, zeig mir was du kannst!!!" Kai konzentrierte sich. Er wollte Ray nicht weh tun, aber er hatte den Schwarzhaarigen schließlich ausdrücklich gefragt, ob er wirklich alles geben sollte, sodass dieser sich über mögliche Konsequenzen bewusst sein sollte. Beim Training und im Kampf konnte er vergessen. Dann zählte für ihn nur noch Dranzer und der Moment, in dem er alles gab, um zu siegen. Und auch wenn er schon völlig am Ende war, machte er weiter, denn im Augenblick der völligen Erschöpfung nahm er nichts mehr von seiner Außenwelt wahr. Und diesen Punkt suchte er in jedem Kampf. Er erstickte immer seine Gefühle, seine Schmerzen, seine Tränen und seine Qual. Aber jetzt, jetzt hatte er die Chance, alles rauszulassen. Die Erde begann zu beben und in das kleine Beystadium stahlen sich feine Risse. Er wollte vergessen, und indem er sie freiließ, all seine Erinnerungen, konnte er sich befreien. Ihn umgab eine blendende Aura, die seine Konturen verwischen ließ. So sahen Kenny, Ray, Max und Tyson auch nicht die Tränen, die über seine Wangen flossen. In ihm brannte der Schmerz und der Hass, der ihn auffraß, es quälte ihn, er wollte loslassen... "Kai, hör auf! Hör auf, du zerstörst die Terrasse!!! Lass das! Kai!!" Seine Freunde schrieen verzweifelt nach ihm, doch er hörte sie nicht, er gab Dranzer weiterhin Befehle. Er war festgefahren auf der Spur des Kampfes, jetzt konnte er nicht aufhören. Nein, niemals! Tyson zog Ray weg, bevor der Angriff ihn hatte treffen können. Verängstigt drängten sich die Freunde in eine Ecke des Gartens. So hatten sie ihren Leader noch nie gesehen. Er kämpfte ohne Gegner weiter. Tyson startete Dragoon und stieß Drigger aus dem Tableau. Kai ließ all seine Kräfte frei. Dranzer drehte sich so schnell, dass man annehmen musste, er könnte das Beystadium in Brand setzen. Dranzer schrie und so laut hatte keiner der Jungen je einen Vogel schreien gehört. Der Phönix wollte, dass Kai aufhörte, er konnte die Energie nicht in einen Angriff umwandeln, da kein Gegner vorhanden war. Auch er spürte mit lähmender Wucht die Energie in Kais Körper und Geist. Und so mächtig er auch war, es war sehr schwer, die urgewaltige Kraft aufzunehmen. Also drehte er sich weiter, sein Kreischen erhob sich über die Dächer der Häuser hinweg und stieg in den Himmel hinauf. Kennys Laptop zeichnet alles auf, doch im Moment war wohl keiner der Jungen in der Lage, nachzuvollziehen, welche Folter die beiden, Bit Beast und Blader, gerade durchlitten. "Kai! So hör doch auf! Du hast gewonnen!!", rief Ray verzweifelt. Nein gewonnen hatte er erst, wenn er über diesen Schmerz in seinem Inneren gesiegt hatte. Erst, wenn es nicht mehr weh tat, dann hatte er gewonnen... Ihm sackten die Knie weg. Dranzers Leuchten erlosch, er stürmte aus dem Tableau und suchte sich einen Weg durch die Gärten der Nachbarn, ehe er wieder kam und vor seinem Besitzer liegen blieb. "Ich habe verloren", flüsterte er tonlos. Kai stürzte bewusstlos zu Boden und schlug hart mit dem Kopf auf. Er hatte sich verausgabt. Entsetzt liefen seine Kameraden auf ihn zu. Zusammen schafften sie es irgendwie, ihn auf das Sofa im Wohnzimmer zu schleppen. Sein Gesicht war schweißnass, er zitterte am ganzen Körper, doch seine Haut glühte wie bei einem Sonnenbrand, er hatte hohes Fieber. "Schnell, holt einen kalten Lappen, und ruft einen Arzt!", forderte Ray laut. "Aber - Er mag doch keine Ärzte!" "Das ist mir scheißegal, Kenny, willst du dass er drauf geht?!!" In dem Moment hustete Kai stark und spie Blut aus. "Max!! Bring mir irgendwas, womit ich das Blut auffangen kann!" Der Blonde rannte sofort los, gleichzeitig kam Tyson mit einer Schüssel kaltem Wasser und einem Lappen an. Kenny hing derweil am Telefon. Im Angesicht dieser Notsituation funktionierte der Zusammenhalt im Team fabelhaft. "Ein Notarzt kommt gleich!", verkündete Kenny und die Freunde atmeten erleichtert auf. Ray kniete vor dem Sofa, auf welchem Kai lag, tunkte den Lappen in das Wasser und tupfte vorsichtig den Schweiß aus seinem Gesicht. Dabei kam er auch über die blauen Streifen und verwischte sie. Der Schwarzhaarige stutzte zunächst, nahm dann ein Taschentuch und rieb die Farbe aus Kais Gesicht. Jetzt staunten die Jungen nicht schlecht, denn ohne diese Dreiecke sah Kai längst nicht mehr so bedrohlich aus. "Wow, er sieht ja jetzt ganz nett aus!", sagte Tyson und er meinte es so. Keiner von ihnen, nicht mal Ray, hatten den Russen je ohne die blaue Schminke gesehen. "Ich wusste gar nicht, dass die überhaupt abgeht! Ich hab schon gedacht, das ist vielleicht ein Tattoo!", sagte Ray. "Na ja...", fügte er hinzu, als er die verständnislosen Blicke der anderen bemerkte, "Kai schläft sogar damit!" "Wofür die wohl gut sind?", fragte Kenny neugierig. Ray zuckte mit den Schultern. "Chef, sieh dir das mal an!", rief Tyson und reichte dem Braunhaarigen Kais Blade, der diesen entgegen nahm. Der Bit Chip hatte viele und tiefe Risse, der Rest des Blades sah aus, als hätte man ihn erhitzt, so stark versengt war er. Kenny starrte fassungslos auf den Beyblade. "Wie kann denn so was... Das geht doch gar nicht!" Die Jungen saßen in einem Halbkreis um das Sofa. Ray legte Kai gerade ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Kenny nahm vorsichtig den Bit Chip vom Blade ab. Plötzlich kam ein gewaltiges Kreischen auf, das die Freunde zusammenzucken ließ. Sie sahen sich um. Da knirschte es und Dranzer Chip zerbarst. Gleichzeitig stieg rotes Licht wie ein Blitz auf und sauste dann auf Kai nieder. Sein Körper umgab dieses rote Licht, es hob ihn für wenige Sekunden von der Couch hoch und ließ ihn leuchten. Dann sank er langsam wieder und blieb ruhig liegen. Das Licht erlosch genauso schnell wie es erschienen war. Geschockt blickten die Bladebreakers auf Kai. "W-Was war das?", zitterte Max verängstigt. "War das etwa Dranzer?" Sie schauten zurück zu Kenny, in dessen Händen sich die Splitter von Dranzers Bit Chip befanden. "Wie sollen wir das bitte Kai erklären?" Kapitel 9: Erinnerungen ----------------------- Es war Mitte November. Die letzten Flocken eines Schneeschauers rieselten sanft zu Boden, bis ein alltägliches Ritual die Stille der Landschaft brach. "REKRUTEN AUFSTELLEN!" Dieser Ruf donnerte über den Platz. Die mehr als 150 Kinder stellten sich in Reih und Glied nebeneinander auf. Einige waren kaum älter als 8 Jahre. Sie hatten Angst, aber das durften sie nicht zeigen. Sie hatten sich schon längst ihrem Schicksal ergeben, hier ausgebildet zu werden. Doch es gab auch andere. Andere wie Kai. Boris ließ ihn vortreten. "Name?" "Kai Hiwatari", murmelte der Zehnjährige leise. "Wie war das?!" "Kai Hiwatari, Gospodin!", rief er nun lauter, doch seine Augen funkelten seinen Gegenüber wild an. "Sieh mich nicht so an!", forderte der Befehlshaber gereizt. Doch der Blauhaarige dachte gar nicht daran. Boris wurde böse. "Sieh mich nicht so an!!!", brüllte er. Einige Kinder tauschten verwirrt und nervös Blicke, wagten es aber nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben. Kai festigte nur seinen Blick. Da zog der Boris seine schwarzen Lederhandschuhe aus, legte sie übereinander und nahm sie in seine rechte Hand. Dann schlug er Kai damit ein paar Mal links und rechts ins Gesicht. Der Junge taumelte leicht, fing sich jedoch recht rasch wieder. "Zieh deine Jacke aus, dein Hemd und deine Schuhe! Und jetzt lauf 30 Runden um den Platz! Es gibt kein Abendessen, bis du das nicht geschafft hast!", befahl er barsch. Kai tat was ihm aufgetragen worden war, meinte dann aber widerspenstig: "Ich hab eh keinen Hunger!" Da erhob sich Boris' Stimme über die versammelte Kinderschar: "Das gilt für alle! Sollte Kai es nicht schaffen, seine 30 Runden zu vollenden, wird niemand von euch Abendbrot bekommen!" Ein entsetztes Raunen zog sich durch die Gruppe. Ab jetzt hatte schon jeder für sich abgeschlossen, dass es heute Abend wohl nichts zu essen geben würde. Doch sie blieben ruhig, obwohl sie alle Hunger hatten, denn hinter ihnen lag ein anstrengender Morgen. Kai indes schickte einen bitterbösen Blick zu Boris und machte sich dann auf, seine Runden abzulaufen. Währenddessen übten die Kinder spezielle Moves an ihren Blades. Gegen Abend schickte Boris sie dann rein. Weil der Platz groß war, hatte Kai erst drei viertel seines Weges hinter sich gebracht. Als das letzte Licht des Tages erloschen war und nun die Nacht hereinbrach, war Kai fertig. Boris erwartete ihn an der Tür. Er hatte den anderen Kindern bereits erlaubt, zu essen, denn zu seinem äußersten Bedauern ließ sich der Enkel seines Chefs nicht so einfach brechen. Der Silberhaarige jedoch verspürte nicht den Hauch eines Hungergefühls, nein, er wollte nur noch in sein Zimmer. So ging er schweigend an Boris vorbei, der ihm grinsend hinterher sah, seinen Triumph über Kai auskostend. Halb erfroren kam dieser in seinem Zimmer an und versuchte sich aufzuwärmen. Seine Zehen waren bereits dunkelblau angelaufen, sein Oberkörper unnatürlich stark weiß. Als Tala Kai so sah, erschrak er. Obwohl Kai zunächst immer versucht hatte, zu blocken, hatte der Rothaarige es geschafft, sein Vertrauen zu gewinnen und so die Grundlage für eine gute Freundschaft geschaffen. Der Jüngere schälte sich nun die nassen Kleidungsstücke vom Leib, zog sich trockene Sachen an und legte sich sofort ins Bett. Er zitterte am ganzen Körper. "Kai... Soll ich zu dir kommen?" "NEIN!!" Schlotternd wickelte er sich dichter in die dünne Decke. Es war tiefster Winter und die Schüler in der Abtei bekamen eine Decke, die vielleicht gerade mal für den Sommer reichte, für Minusgrade dagegen aber völlig ungeeignet war. ~Er wird erfrieren!~, sagte Tala sich im Stillen. Er ging auf Kai zu. Der kleine Körper bebte vor Kälte. Entschlossen nahm Tala seine Decke und einen Pullover, den seine Oma ihm gestrickt und geschickt hatte und wollte ihn Kai geben. Doch dieser stieß ihn von sich. "Lass das!" "Nein!" Resolut zog Tala ihm den Pullover an. Kai war zu schwach um sich weiterhin dagegen zu wehren. "Von meiner Babuschka", erklärte der Rothaarige. Dann stieg er selbst zu Kai ins Bett. Er zuckte zusammen, als er den Körper des Jüngeren berührte. Eiskalt. Doch er legt sich ganz dicht neben Kai, deckte ihn und sich selbst mit beiden Decken zu und gab seinem Freund so etwas von seiner Körperwärme ab. Als sie ungefähr eine Stunde so gelegen und geschwiegen hatten, war Kai soweit aufgewärmt, dass er leise fragte: "Besucht deine Babuschka dich? Schreibt sie dir?" "Oh ja... Manchmal schickt sie mir diese Pullover... Wenn wir frei kriegen, gehe ich zu ihr. Sie ist meine einzige Verwandte." Kai nickte. "Hey, ich hab eine Idee: Ich nehme dich mit zu ihr! Was meinst du?" Traurig senkte Kai den Kopf. "Voltaire wird es nicht erlauben..." "Der muss es doch auch nicht wissen!! Ich würde sie dir gern vorstellen!" Freudig lächelte Tala ihn an. "Ehrlich?" Tala nickte. Und da lächelte Kai. Es war das erste Mal, das Tala ihn lächeln sah, und er war erleichtert, dachte er doch schon, Kai kannte diese emotionsvolle Mimik gar nicht. Irgendwann war Kai dann eingeschlafen und schmiegte sich eng an Tala. Noch immer war er unterkühlt, doch langsam wurde seine Haut wieder wärmer. "Diese Schinder...", murmelte der Rothaarige leise, "was hat er denn bloß getan?" Tala verstand nicht, warum Kai immer wieder den Schikanen von Boris ausgesetzt war. Und auch nicht, warum Voltaire dies zuließ, zumal es sein Enkel war und sich auch redlich bemühte. Und darüber weiter grübelnd, schlief auch Tala endlich ein. Mühsam öffnete Kai die Augen. Erst nach mehrmaligem Blinzeln schaffte er es, seine Lider aufzuschlagen. Zunächst war alles dunkel. Als sich seine Pupillen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er langsam die Umrisse in dem Zimmer war, in dem er sich befand. Vorsichtig richtete er sich auf, begann dabei aber fürchterlich zu husten. Er erkannte das Zimmer als seines. Es musste wohl schon Mittag sein, die Vorhänge waren zugezogen, doch schien die Sonne direkt auf das Fenster und ließ den Rahmen gelborange leuchten. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Er fühlte sich kraftlos und ausgelaugt, so als hätte man ihn wie eine Zitrone ausgepresst. Seufzend ließ er sich zurück in die Kissen fallen. Ihm fiel auf, dass er ein anderes T-Shirt und nur noch Boxershorts trug. Jemand musste ihn umgezogen haben. Doch im Moment konnte er sich nicht darüber aufregen. Vor sich hin dösend blieb er noch einige Minuten liegen. Dann raffte er sich innerlich auf und schob sich langsam zum Bettrand. Am liebsten würde er sich jetzt einfach aus dem Bett fallen lassen und dann ins Badezimmer kriechen. Wieder seufzte er schwer. Nun aber stand er auf und schlurfte los zum Bad. Im Gehen zog er sich das T-Shirt aus und warf es in eine Ecke des Zimmers. Im Bad selbst entledigte er sich seiner Shorts und nahm eine erfrischende Dusche. Es tat ihm gut, das Wasser auf sich niederprasseln zu lassen. Er änderte die Temperatur von lauwarm in kalt, dann in warm, dann wieder kalt und zum Schluss wieder lauwarm. Das belebte. Er stellte das Wasser aus, zog ein Handtuch aus dem Schrank und trocknete sich ab. Ein kurzer Blick in den Spiegel sagte ihm, dass er anders aussah, aber was genau so anders an ihm war, wusste er im Moment auch nicht. Also schlurfte er, das Handtuch um die Hüften geschlungen, wieder ins Schlafzimmer, wo er sich anzog. Bei seinem ganzen Tun wirkte er lustlos, seine sonstige stolze Haltung wie weggeblasen. Zurück im Badezimmer kämmte er sich die Haare. Dabei überlegte er fieberhaft, warum ihm sein Spiegelbild so fremd vorkam. Als er die Bürste weglegte, fiel sein Blick auf eine mitternachtsblaue Dose mit kyrillischen Lettern. Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er sah so anders aus, weil er seine Streifen nicht im Gesicht hatte! Sofort änderte er das. Nun gefiel ihm sein Bild wieder. Auch fiel ihm auf, dass er gesünder aussah. Seine Augenringe waren kaum noch erkennbar. Anscheinend hatte er eine Erholung gebraucht. Er lächelte zufrieden. Danach lief er langsam die Treppe runter. Kai betrat die Küche. Sogleich richteten sich fünf Augenpaare auf ihn. Doch niemand sagte ein Wort. "Guten Morgen", meinte Kai und seine Stimme klang rau. "Guten Morgen", erwiderten alle seinen Gruß, weiter sagten sie nichts. Kai legte die Stirn in Falten, überlegte, drehte sich dann zur Anrichte um und begann damit, Kaffee zu kochen. "Zwei Tage", durchbrach Max' ernste Stimme die Stille. "Was zwei Tage?", fragte Kai verwirrt. "Zwei Tage hast du geschlafen." Kai wandte sich seinem Team zu. Er sah in fünf besorgte und ernst dreinblickende Gesichter. "Heute ist der letzte Ferientag", ergänzte Kenny leise. "Und trink keinen Kaffee, das verträgt sich mit deinen Tabletten nicht", erklärte Ray ihm und stellte kurzerhand die Kaffeemaschine aus. Verdutzt sah Kai ihn an. "Was denn für Tabletten?" "Die, die du gekriegt hast, und die, die du nehmen wirst." Ray nickte Tyson zu. Dieser stand auf und öffnete eine Schranktür. Zum Vorschein kamen diverse Packungen. Kai nahm sie nacheinander heraus. Einige waren gegen physische Schmerzen, aber die meisten waren Antidepressiva. "Das ist nicht euer Ernst." Der Silberhaarige war fassungslos. "Doch, ist es. Dein letzte Match war zwar durchaus beeindruckend, aber auch beängstigend. Wir haben Mr. D. die Aufzeichnungen von Dizzy gezeigt. Und zusammen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass du Hilfe benötigst. Und darunter fällt auch ärztliche Hilfe. Für heute ist ein erstes Treffen mit einer Diplompsychologin angesagt." Ray verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn entschlossen an. Kai blickte von einem zum anderen und blieb dann an Mr. Dickensons furchtbar mitleidiger Miene hängen. Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes. "... In Ordnung." "Was?", fragte Tyson verblüfft. Alle hatten mit heftigster Gegenwehr gerechnet. "In Ordnung. Ich gehe heute zu dieser Frau Psychologin." "Aber das ist nicht nur heute, deine Sitzungen sind mehrtägig, das weißt du schon, oder?!", bohrte Ray nach. "Sicher." "Und du bist damit einverstanden?" "Da ihr mir keine Wahl lassen werdet, muss ich ja wohl damit einverstanden sein, oder?" Kai setzte den Kaffee wieder auf. Dabei fragte er: "Wie viel habt ihr mir von den Medikamenten gegeben?" Kenny stellte ihm die Tablettenkonstellation zusammen, die er verabreicht bekommen hatte. "Ok. Aber ihr könnt vergessen, dass ich die jetzt noch nehme. Und die Antidepressiva werde ich auch nicht anrühren. Es ist eine ungeheure Beleidigung, so was von mir zu verlangen!" Die Jungen schauten sich betreten an. "Na ja, aber wir dachten... Also da ist noch was, was wir dir sagen müssen...", begann Tyson langsam. Der Kaffee war fertig und Kai goss ihn sich in eine Tasse. Er wartete darauf, dass jemand fortfuhr. "Du musst jetzt ganz stark sein, Kai. Ähm, also, es ist so... Reg dich jetzt bitte nicht auf, wir haben so was auch noch nie vorher gesehen, aber...", setzte Tyson fort, wurde aber unwirsch von Kai unterbrochen. "Ja, ist gut, hab ich verstanden! Jetzt sagt endlich was ihr mir sagen wollt, ich hab nicht ewig Zeit!" "Wir haben uns gedacht, du würdest die Antidepressiva vielleicht brauchen, weil... Dranzer ist weg." "Was?!" "Das ist das einzige was von ihm übrig ist. Nach deinem Zusammenbruch hat er sich aufgelöst. Der Bitchip ist unrettbar zerstört. Und dein Blade ist versengt und wie durch Hitze verformt, ich bin noch nicht dazu gekommen, das zu reparieren." Kenny gab dem Teamleader eine kleine Schachtel, in der die Überreste des Bitchips lagen, und zeigte ihm seinen verkohlten Blade. Kai nahm die Schachtel an sich und öffnete sie. Sofort dachte er an sein Amulett. Er war sich nicht ganz sicher, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass sein Phönix NICHT fort war. Er öffnete den Schrank, in dem der Mülleimer stand, und kippte den Inhalt der Schachtel in eben diesen. Den Bladebreakers und ihrem Sponsor stand das blanke Entsetzen in ihren Gesichtern. Kapitel 10: Falscher Alarm? --------------------------- Moin!^^ Stellenweise hatte ich bei diesem Kapitel echt Bauchschmerzen. Ich wusste nicht, wie ich das ausdrücken sollte. Und ich kann nur hoffen, dass es nicht zu trocken geworden ist. Auf jeden Fall taucht wieder viel russisch auf. Möglich gemacht hat das das Team des "Wer will Russisch lernen" Forum, darum ist das Kapitel dieses Mal den lieben Übersetzern dieses Forums gewidmet^^ "Ich bin zurück! Hast du ihn erreicht?" "Nein. War immer besetzt, jedenfalls heut morgen. Hab ne Weile geschlafen." "Das ist gut, Yuriy. Sollst ja wieder auf die Beine kommen." Der Rothaarige richtete sich auf. Er saß entspannt auf dem Sofa. Die Sonne schien warm durch die Fenster in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer. Eine Frau, Ende 50, hantierte in der Küche herum. Tala hörte sie mit Geschirr klappern. Bald kam sie mit zwei dampfenden Tassen Tee zurück und stellte eine davon vor ihm auf den kleinen Wohnzimmertisch. Die Frau setzte sich zu ihm auf das Sofa. Erst jetzt konnte man eine verblüffende Ähnlichkeit feststellen. Die Farbe ihrer Haare war zwar stark verblasst und auch ergraut, doch der nur allzu bekannte Rotstich war unverkennbar. Und ein Blick in die blassblauen Augen der älteren Dame, die immer noch vor Lebensfreude glühten, bestärkten nur den Verdacht. "Danke, Babuschka." Talas Großmutter wuschelte ihrem Enkel durchs Haar. Er hatte sich noch im Krankenhaus bei ihr gemeldet und gefragt, ob er zu ihr kommen könnte. Und seit seiner Entlassung vor zwei Tagen wohnte er jetzt bei ihr. Schließlich war seine alte Wohnung unbrauchbar geworden. "Dann ruf doch jetzt noch mal an, Schatz!" Sie reichte ihm das Telefon. Er lächelte sie dankbar an. Dann umarmte er seine Großmutter und schmiegte sich an sie. Anna Ivanow strich ihm beruhigend über den Rücken. "Ich hab dich lieb, Babuschka!" "Das weiß ich doch! Ich dich auch!" Sie drückte ihm einen dicken Schmatzer auf die Stirn. "Aber jetzt ruf schon an, sonst kommst du ja doch nicht zur Ruhe!" Nickend wählte Tala die Nummer und hoffte, dass die ersehnte Stimme endlich abhob. Kai spürte die bohrenden Blicke, wagte aber nicht, seine Teamkameraden direkt anzusehen. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und nahm einen weiteren Schluck Kaffee aus seiner Tasse. Dann schob er den Mülleimer zu. Noch immer brannten sich ihre Blicke in seinen Nacken. Da klingelte zu seiner Erlösung sein Handy. Kurz sah er auf das Display und atmete erleichtert auf. "Priwet Yuriy!!! Kak u tebja dela?" Jetzt drehte er sich zu seinen Teammitgliedern um, seine Augen strahlten vor Freude, seinen Freund zu hören. "Da?! Eto choroscho! Ja radujus'! ... Eto tak ne idjot. Oni chotjat' menja letschit'. Eto etschjo budet dluts'ja. Ja tebe poswanju kogda eto sakontschitsa. Da, etschjo segodnja. No ja chotschju tschto tij pridjosch." Kai hörte Tala mit jemandem reden, dessen Stimme er aus dem Hintergrund nicht richtig verstehen konnte. Dann fragte Tala ihn nach einer geeigneten Unterkunft. "Das hab ich dir doch schon gesagt: tji moschesch sdes' schit'! Tji sejtschas gde? Ja sche slijschu golossa w szade!" Nun schaltete sich Anna Ivanow in das Gespräch ein, indem sie Tala den Telefonhörer wegnahm und nach dem Grund von Kais Behandlung fragte. "Babuschka? Da, Psichalogi..." Mehr konnte er nicht erklären. Die Stimme von Anna Ivanow erhob sich zu einem tosenden Orkan. Die anderen Jungen in der Küche konnten sie auch ohne Lautsprecher deutlich hören, auch wenn sie nicht verstanden, was sie sagte. "~"Psichalogi?!! Moj bednji maltschik!! Kak wij eto moschite paslat ego ko tokumu doktoru! Psichalogi!!!! Esli ja eto usche sljschu!! Dlja etogo netu pritschinij! Kakaja besstjdnast, neslchano!!!"~" Kai hielt sich ein Ohr zu und den Hörer weit von sich. "Babuschka, poschalujsta, spokojna! Eto ne tak plocho, tij sanaesch..." "~"Tji gowoisch ne tak plocho? Daj mne sejtschno togo, kotorij tebja chotschit tuda poslat!!"~" "Ähm, net, eto sejtschas ne idjot..." "~"Kai, tji tuda ne pojdjosch."~" "Net, ja pojdu, ja im pokaschu, tschto ja ne cumasschedschij!" Anna verstummte. Sie schien zu überlegen. "~"Charoscho. No smotri tschto tji goworisch, da? ... Poschajlujsta, prochodi, ja usche o tebe skutschaju!"~" Kai lächelte. "Da, konetschno. Ziluju!" "Ziluju. Paka." Beide legten auf. "Ok, und was hast du dann gemacht?" "Ich habe die Reste des Chips in den Mülleimer geworfen." Kai saß einer Frau mittleren Alters gegenüber. Nachdem Kai das Telefongespräch beendet hatte, hatten seine Freunde ihn sofort zum Auto geschleift und waren ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren zu seiner neuen Psychologin gefahren. Und in ihrer Praxis befand er sich jetzt, während sein Team im Wartezimmer saß. "Und das macht dir gar nichts aus? Ich habe mir Beschreibungen durchgelesen, die deine Freunde von dir angefertigt haben, und aus ihnen geht hervor, dass dir dein Bit Beast sehr viel bedeutet." "Sie müssen wissen, dass Bit Beasts eigentlich relativ lange leben. Nur weil ich das Material wegwerfe, muss das ja nicht heißen, dass ich Dranzer weniger gern gehabt habe. Aber wissen Sie, ich glaube, dass man sich manchmal von Dingen trennen sollte." "Wie meinst du das?" "Ich habe nicht das Gefühl, dass Dranzer gestorben ist oder so. Er ist schließlich ein Phönix. Vielleicht braucht er auch mal eine Auszeit von mir. Er kommt aber ganz sicher wieder - vielleicht." "Kai, ich weiß dass du nicht freiwillig hier bist. Warum bist du dennoch hier?" "Ich... Na ja, teilweise hab ich mir auch einen neutralen Gesprächspartner gewünscht, mit dem ich über bestimmte Dinge sprechen möchte. Es ist nicht meine Natur, viel und lange zu reden. Deswegen werde ich derweilen auch schnell heiser." Kai lächelte leicht, sah die Frau dann aber sehr ernst an. "Sie unterliegen doch der ärztlichen Schweigepflicht, das heißt, dass Sie Details aus unserem Gespräch niemandem preisgeben, auch nicht Mr. Dickenson, oder?" Die Ärztin versicherte ihm dies und bot ihm ein Glas Wasser an. Kai nahm dankend an und trank einen Schluck. "Ok. Also, ich weiß, dass meine Freunde Sie ausfragen werden wollen. Und von mir aus dürfen Sie Ihnen Ihre Ergebnisse auch gerne mitteilen. Aber erzählen Sie ihnen bitte nichts von dem, was ich Ihnen jetzt sage: Ich habe nur einen Menschen, dem ich wirklich vertraue. Wir kennen uns seit klein auf. Und ich liebe ihn so sehr wie meinen Bruder. Nein, er IST mein Bruder, verstehen Sie, was ich meine?" Die Psychologin bejahte. "Sprich weiter." "Das Problem dabei ist, dass wir so weit auseinander wohnen. Er wohnt in Russland. Seit ich hierher gezogen bin, versuchen wir uns regelmäßig zu treffen. Meist komme ich zu ihm, wofür ich auch manches mal Schultage opfere. Aber er ist es mir wert! Ich habe Sehnsucht nach meinem Zuhause, aber jedes Mal, wenn er bei mir ist, ist alles nur noch halb so schlimm. ... Ist das egoistisch? Denke ich immer nur an mich?" Kai hob seinen Blick. Er suchte schon lange eine Antwort auf diese Frage. "Nun... Es kommt auch immer darauf an, wie dein Freund das sieht. Fühlt er sich von dir genervt, unter Druck gesetzt? Und was dich betrifft, so denke ich nicht, dass du immer nur an dich denkst. Allein schon, dass du dir Gedanken darum machst, wie sich dein Freund fühlen könnte. Und du scheinst nicht deinen Vorteil daraus zu ziehen." Kai schluckte. "Liegt dir noch etwas auf dem Herzen, Kai?", fragte die Ärztin freundlich. "Ja.... Muss ich noch mehrmals zu Ihnen kommen?" "Steht dir denn der Sinn danach?" "Na ja, eigentlich nicht. Ich komme mit der bestehenden Situation selbst ganz gut zurecht. Vielleicht geht es meinen Freunden nicht so, vielleicht bin ich schwierig für sie. Aber... Das ist mein Leben, das bin ich. Hätten die anderen mitgekriegt, dass ich so viel rede", Kai lächelte leicht, "sie wären sehr überrascht gewesen. Normalerweise bin ich nämlich kein Fan vieler Worte. Denken Sie, ich benötige noch weitere Sitzungen?" Die Ärztin erhob sich. "Ich habe Notizen angefertigt. Ich werde sie versiegelt an Mr. Dickenson weiterreichen. Hier, nimm sie." Sie schloss den Umschlag mit den Aufzeichnungen und gab ihn an Kai. Zum Abschied zwinkerte sie noch einmal, ehe sie ihn entließ. Kai atmete erleichtert auf, dankte und verließ das Praxiszimmer. Mr. Dickenson saß mit seinen Schützlingen um den Tisch im Wohnzimmer. Auf diesem lag in der Mitte das Kuvert der Psychologin. Keiner hatte es bisher geöffnet. Kai war ebenfalls anwesend. Er wartete darauf, dass jemand etwas sagte. Endlich raffte Mr. Dickenson sich auf, griff nach dem Umschlag und entfaltete ihn. Dann begann er mit lauter Stimme vorzulesen: "Sehr geehrter Mr. Dickenson, liebes Team Bladebreakers. Hiermit versichere ich Zeichens meines Amtes, dass Kai Hiwatari, Mitglied eures Teams und Ihr Schützling, keine weiteren Sitzungen oder andere psychologische Betreuung benötigt. Er machte auf mich einen normalen Eindruck, die dem eines 16-Jährigen Jugendlichen entspricht, teilweise auf mich sogar schon recht erwachsen wirkte. Sie, Mr. Dickenson, brauchen sich keine großen Sorgen machen. Ich diagnostiziere keine schadhafte, psychische Erkrankung und verbiete jegliche laienhafte Behandlung durch bestimmte Medikamente. Mit freundlichen Grüßen..." Die Stille war greifbar. Dann, ganz spontan, begann Kenny in seine Hände zu klatschen. Ray fiel mit ein, ebenso Max und zuletzt Tyson. Kai sah sich verwundert um. Mr. Dickenson räusperte sich zu einer Entschuldigung. "Kai... Wir waren im Unrecht. Es tut mir leid. Es war ungemein unverantwortlich von mir..." Kai unterbrach ihn: "Ist schon gut. Was sollen Sie auch von mir denken, so, wie ich mich Ihnen und euch auch gegenüber verhalte. Aber so bin ich nun mal. Ich bin nicht krank oder so. Und ich wäre sehr froh, wenn ihr das alle einsehen würdet. Ich gehe jetzt schlafen." Das Team nickte synchron. Sie waren erleichtert. ******Russisch-Vokabeln****** Das geht aber nicht. Eto tak ne idjot Wie geht es dir? Kak u tebja dela? Das ist schön! Ich freu mich! Eto choroscho! Ja radujus'! Sie wollen mich behandeln lassen Oni chotjat' menja letschit'. Das wird noch dauern. Eto etschjo budet dluts'ja. Ich ruf dich an, wenn das fertig ist. Ja tebe poswanju kogda eto sakontschitsa. Ja, heute noch. Da, etschjo segodnja. Aber ich möchte, dass du kommst. No ja chotschju tschto tij pridjosch. Du kannst hier wohnen. Tji moschesch sdes' schit' Wo bist du denn jetzt? Tji sejtschas gde? Ich höre doch Stimmen im Hintergrund! Ja sche slijschu golossa w szade! Psychologe Psichalogi Mein armer Junge! Moj bednji maltschik!! Wie können sie ihn denn nur zu so einem Doktor schicken? Kak wij eto moschite paslat' ego ko tokumu doktoru! Wenn ich das schon höre! Esli ja eto usche sljschu! Dafür gibt es keinen Grund! Dlja etogo netu pritschinij! So eine Unverschämtheit, unerhört! Kakaja besstjdnast', nesljchano! Oma, bitte beruhige dich! Babuschka, poschalujsta, spokojna! Es ist gar nicht so schlimm, weißt du... Eto ne tak plocho, tij sanaesch... Nicht so schlimm sagst du? Tji gowoisch ne tak plocho? Gib mir sofort denjenigen, der dich dahinschicken will!! Daj mne sejtschno togo, kotorij tebja chotschit tuda poslat Nein, das geht grad nicht Net, eto sejtschas ne idjot Du wirst da nicht hingehen! Tji tuda ne pojdjosch! Doch werde ich, ich werde ihnen zeigen, dass ich nicht verrückt bin! Net, ja pojdu, ja im pokaschu, tschto ja ne cumasschedschij! Ok. Aber pass auf, was du sagst, ja? Chroscho. No smotri tschto tji goworisch, da? Komm doch mal wieder vorbei, ich vermisse dich schon! Poschajlujsta, prochodi, ja usche o tebe skutschaju! Ja, ganz sicher. Kuss! Da, konetschno. Ziluju! Paka Tschüss Waren das jetzt zu viele? Ich hoffe, ich hab euch nicht abgeschreckt, das zu lesen!^^'' Bis zum nächsten Kappi, Eure Mina Kapitel 11: Die Unsterblichkeit des Phönix ------------------------------------------ Es war Samstag, noch recht früh am Morgen. Da klingelte es an der Tür. „Ich mach auf!“, rief Tyson stürmisch. „Ich bin schneller!“, lachte Max und startete zu einem Wettlauf mit seinem besten Freund. Doch Tyson war zuerst an der Tür und öffnete sie. Vor ihm stand ein hochgewachsener Typ, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnten, da es von einem gewaltigen Strauß weißer Lilien und roter Rosen verdeckt wurde. „Ähm, ich glaube, wir hatten keine Blumen bestellt...“, meinte Tyson ratlos. Da raschelte der Strauß, und ein roter Haarschopf kam zum Vorschein. „Tala!“ Erschrocken drehten sich Tyson und Max um. Hinter ihnen stand ihr Teamleader und grinste. „Kai!“ Ein ebenso breites Grinsen legte sich auf die Lippen des Rothaarigen. Die Wiedersehensfreude der beiden Freunde war unverkennbar. „Dawai, komm rein!“ Kai schob sich an Max und Tyson vorbei und öffnete die Tür ganz. Dabei entdeckte er auch einen schwarzen, recht schwer aussehenden Koffer. Er umarmte Tala herzlich, packte dann dessen Koffer und schob seinen Freund ins Haus hinein. „Hier, hab ich dir mitgebracht.“ Tala überreichte Kai den Blumenstrauß, der ihn fast ehrfürchtig entgegennahm. „Weiße Lilien und Rosen...“ Der Graublauhaarige drehte sich weg. „Dass du daran gedacht hast... Danke! Ich suche eben ne Vase, geh ruhig schon mal ins Wohnzimmer.“ Dann ging er in den Keller. Jetzt wandte Tala sich an Tyson und Max. „Entschuldigung, ich habe euch noch gar nicht begrüßt. Hi!“ Er reichte den beiden seine Hand. Max fand als erster seine Sprache wieder, da sie beide noch total überrascht gewesen waren. „Ähm, ja, hallo! Das Wohnzimmer ist geradeaus, durch die Küche und dann links. Setz dich doch!“ Tala nickte und ging in eben beschriebene Richtung. Dabei humpelte er leicht und hielt sich die rechte Seite. „Oh, hallo Tala! Was verschafft uns die Ehre?“, fragte Ray überrascht, als der Russe das Wohnzimmer betrat und auf dem Sessel Platz nahm, wo Kai gesessen hatte, als er seinen Teamkameraden erklärt hatte, dass Tala einen Unfall gehabt habe. „Ich wollte Kai besuchen. Hab ihn ja schon lange nicht mehr gesehen und heute ist ein besonderer Tag...“ „Besonderer Tag? Ein Feiertag oder was meinst du?“ Interessiert setzte sich Max ihm gegenüber auf das Sofa. ~Treffer, Fettnäpfchen gefunden! Kai hat es ihnen ganz sicher nicht erzählt...~, dachte Tala. „Wie geht es dir eigentlich? Kai sagte, du wärst verletzt“, erkundigte sich Kenny, der neben Max saß. „Schon viel besser. Es dauert noch ne Weile, bis ich mich wieder uneingeschränkt bewegen kann, aber der Verband muss noch einmal gewechselt werden und nach einer Woche muss ich ihn dann gar nicht mehr tragen.“ „Das hört sich gut an!“ Kai, der eben wieder gekommen war, lächelte erfreut. Er stand hinter Tala und legte seine Hände auf dessen Schultern. „Leute, wir, also Tala und ich, gehen für ein paar Stunden weg, ok? Damit ihr Bescheid wisst. Sorry Tala, dass ich dich schon wieder aufscheuche, obwohl du gerade erst gekommen bist.“ „Kein Problem. Also Jungs, hat mich gefreut! Bis die Tage!“ Tala stand, mit Hilfe von Kai, auf und zusammen verließen sie die WG. Kai trug Talas schweren Koffer, während Tala den Blumenstrauß in der Vase mitnahm. „Wohin geht es denn?“ „Na ja, ich hab dir ja versprochen, dass du hier wohnen kannst. Damit meinte ich jetzt nicht die WG. Wenn du willst, kannst du natürlich auch da wohnen, aber... der Ort, zu dem wir jetzt gehen, ist weitaus ruhiger und schöner, das kannst du mir glauben“, erklärte Kai und sah dabei fast glücklich aus. Sie waren lange gelaufen, durch viele Neben– und über zwei Hauptverkehrsstraßen. Endlich waren sie an ihrem Ziel angekommen. „Was ist das? Wo sind wir hier?“ , fragte Tala verwirrt, als sie vor der kleinen Gartenpforte eines recht ansehnlichen Hauses standen. Kai öffnete das Pförtchen und ging über den gepflasterten Weg durch den Garten bis vor die weiße Haustür. Tala folgte ihm verblüfft. Der Weg war übersäht mit Wildpflanzen, in den Blumenbeeten wuchs alles durcheinander. An diesem Garten schien schon sehr lange niemand mehr Hand angelegt zu haben. Dennoch besaß er eine gewisse Schönheit. Kai betrachtete den Garten lange. Dann wandte er sich ab. Er zog seine Halskette mit dem Amulett hervor. Dieses öffnete er und zum Vorschein kam ein Schlüssel. Er steckte diesen ins Schloss und drückte die Tür auf. Kai trat ein und ließ das Amulett, in das er den Schlüssel bereits wieder sicher verstaut hatte, mit einer selbstverständlichen Bewegung links von sich auf dem marmornen Sideboard nieder. Es staubte sehr, als er dies tat. Tala dagegen sah sich um. Von seinem Standort aus mündete der Flur geradeaus in eine große, geräumige Küche. Links von ihm ging es ins Wohnzimmer. Rechts führte eine Treppe hinauf in die zweite Etage. Sie war relativ breit und auf halber Höhe machte sie einen Knick nach links. Tala ging weiter in Richtung Küche. Diese war durch eine Tür mit dem Wohnzimmer verbunden. Er öffnete die Tür und sah in den Raum hinein. Hier befand sich ein breites, orangefarbenes Sofa, gesäumt von zwei Sesseln derselben Farbe. In der Mitte dazwischen stand ein kleiner Holztisch von runder Form. Gegenüber der Tür, in der Tala stand, trug ein gläserner Tisch mit Spitzendeckchen ein etwas älteres Modell eines Fernsehers, das heute schon längst nicht mehr verkauft wurde. Der Rothaarige drehte sich um und bemerkte zu seinem Erstaunen, dass die Küche über eine weitere Tür verfügte. Diese führte über einen kleinen Flur zum Wintergarten. Auf diesem Flur hing eine zweite Garderobe, ähnlich der, die Tala bereits im ersten Flur entdeckt hatte. Ihr gegenüber war ein Schild mit der Aufschrift „Gäste-WC“ an einer Tür befestigt. Kai, der vorgegangen war, kam durch den Wintergarten wieder ins Haus. „Kai? Wem gehört dieses Haus? Wer wohnt hier?“, fragte Tala. Kai sagte leise: „Es ist das Haus meiner Eltern... Wir haben hier gewohnt, bis...“ Er senkte seinen Blick, denn durch seine Entdeckung, die er draußen gemacht hatte, war ihm zum Heulen zumute. Doch vor seinem besten Freund konnte er sich nicht verstellen. „Weißt du, ich wollte früher unbedingt ein Kaninchen.. Aber weil Mama und Papa ja immer unterwegs waren, ging das nicht, keiner hätte sich um das Tier kümmern können. Und grade... ich... also, da steht ein unfertiger Stall im Garten... Sogar das Werkzeug liegt noch da.. ein Hammer, rostige Nägel...“ Kai zwängte sich an dem Rothaarigen vorbei und rannte los, die Treppe hoch, hielt erst, als er im Zimmer seiner Eltern stand. „Kai!!“, rief Tala und lief ihm hinterher. Er stoppte. Kai hatte ihm den Rücken zugewandt, er zitterte leicht. Die Sonne schien durch die Fenster und erhellte den Raum. Zu seiner Linken sah Tala eine Kommode mit einem Spiegel, dahinter, in Richtung der Fenster, einen Schrank. Auf der rechten Seite stand ein breites Ehebett, mit einem Nachttisch an jeder Seite. Langsam ging Kai weiter ins Zimmer, stellte sich direkt vor das Bettende. Eine dicke Staubschicht lag auf der Bettwäsche, wie auch sonst auf allen Möbeln und Gegenständen im Haus. Doch das war nicht verwunderlich, schließlich hatte es seit elf Jahren niemand mehr betreten. Der Graublauhaarige ließ sich auf die Knie sinken. „Ich habe immer gewusst, dass es hier ist. Dass mein Zuhause nur ein paar Straßen entfernt liegt“, begann Kai leise. „Aber ich habe mich nicht getraut...“ „Weil du Angst hattest? Davor, wieder erinnert zu werden?“ Ein schwaches Nicken war die Antwort. Tala seufzte. Er hockte sich hinter Kai und schlang seine Arme um ihn. „Du warst hier doch zuhause, hast dich hier wohl gefühlt, nur gute Gefühle verbindest du mit diesem Ort, das stimmt doch, oder? Du wirst dich immer an die erinnern, die dich lieben und die du liebst. Das kannst und sollst du nie verdrängen, hörst du?“, flüsterte er ihm sanft, aber eindringlich ins Ohr. Da spürte er etwas auf seine Hände tropfen. Kai rannen die Tränen die Wangen hinunter. Er wollte es zurückhalten, doch er schaffte es nicht. Der Rothaarige wiegte ihn sacht hin und her, Kai krallte sich an ihm fest. In diesem Moment glühte sein Amulett auf, das er unten hatte liegen lassen, und leuchtete heller denn je. Es wurde zu einer Lichtkugel mit rötlichem Schimmer, stieg auf in die Luft und schwebte hinauf zu den beiden Jungen im elterlichen Schlafzimmer. Dort strahlte es noch heller, so dass es die Jungen blendete. Als Kai die Augen blinzelnd wieder aufschlug, sah er rotes Gefieder und aufgeweckte, goldene Augen, die ihn zärtlich musterten. „Dranzer?!“ Ja, sein geliebter Phönix war zurückgekehrt! „Ich finde es gut, dass alles in diesem Haus so hell ist“, meinte Tala. Und das stimmte, die großen Fenster ließen viel Licht durch, die Einrichtung an sich war in frohen Farben gehalten. So hatte sich Sophia Hiwatari wohl gefühlt. „Krasser Gegensatz zur Abtei, nicht wahr?“, fragte Kai, während er den Kühlschrank öffnete. Tala erwiderte darauf nichts. Er wischte mit einem Lappen den Staub vom Küchentisch. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, wobei er viel Staub aufwirbelte. Er hustete. Kai drehte sich zu ihm um. „Du kannst hier wohnen. Wenn du möchtest...“ „Was? Nein, Kai, das... das kann ich nicht annehmen! Du hast hier gelebt, deine Eltern, Erinnerungen, du...“ „Ich weiß. Das alles ist mir sehr wichtig. Aber du bist es auch! Ich vertraue dir. Du bist mein bester Freund, und hiermit will ich dir zeigen, wie wichtig du mir bist!“ „Kai...“ Tala lächelte. „Ja sku4aju bes tebja.“ Der Rothaarige nickte. „Sollen wir... ein bisschen Staub saugen?“ „Wäre besser. Aber... um Essen musst du dich selbst kümmern, das ist alles... schon etwas über der Haltbarkeit.“ Dabei holte er mit spitzen Fingern ein eingepacktes Stück Käse aus dem Kühlschrank heraus, das wirklich unansehnlich war. „Aha. Nun, ich wollte immer schon mal wissen, wie ein Käse aussieht, wenn man ihn nicht isst...“ Tala schüttelte sich vor Ekel und machte den Mülleimer auf. Sofort schlug er ihn wieder zu. Es war ein Wunder, dass der Schimmel sich nicht weiter im Haus ausgebreitet hatte. „Meine Eltern haben sicher nicht gedacht, dass sie nicht wieder kommen werden. Für sie war es nur eine kleine Fahrt nach Moskau. Sie wollten mich doch nur abholen, weiter nichts. Alles ist so, wie sie es verlassen haben...“ Kurz schwiegen beide. Dann klatschte Tala in die Hände: „So, dann wollen wir mal! Lass uns mal ranklotzen, wenn deine Eltern wieder kommen, sieht’s hier wenigstens nicht mehr so aus wie bei mir unterm Bett!“ Er grinste und krempelte die Ärmel hoch. „Ja, dann wollen wir mal...“, murmelte Kai leise. Kapitel 12: Die Einladung ------------------------- Hi Leute!^^ Boah, schon so viele Kommis... *o* Ich freue mich! Vielen, vielen Dank dafür!^^ Werde mich mit den Kapiteln jetzt auch beeilen. Aber es wird noch ein Ereignis geschehen, von dem ich nicht weiß, wie das ankommt... das muss da aber rein... meine ich... egal. Ach ja, und ich wurde schon mehrmals gefragt, welches Pairing in dieser FF vorherrscht. Nun, was glaubt ihr denn? Es gibt folgende Möglichkeiten: Kai x Tala Ray x Kai oder gar kein Pairing. Mich würde interessieren, was ihr so denkt, vllt könnt ihr mir das ja mitteilen. Dann werde ich beim folgenden Kappi die Auflösung geben^^ Aber jetzt genug geschwafelt, Vorhang auf für: Die Einladung "Wo soll ich eigentlich schlafen?" Tala und Kai saßen, erschöpft und ausgelaugt von ihrer Entstaubungs-Aktion, auf dem Sofa im Wohnzimmer. Im ganzen Haus waren die Fenster weit geöffnet, damit die abgestandene Luft hinaus konnte. "Neben meinem Zimmer ist noch das große Gästezimmer, das können wir fertig machen." Kai stand auf und streckte sich gähnend. Sie hatten den ganzen Tag gebraucht, um das Haus wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen. Sogar die Schränke hatten sie ausgeräumt, die staubige Wäsche in die Waschmaschine gesteckt und das Geschirr abgespült, den Müll rausgebracht, Teppichläufer ausgeklopft, ja sogar WC und Badezimmer gründlich geputzt. Die Wohnung erstrahlte in neuem Glanze. "Wenn wir die Wäsche von der Leine draußen geholt haben, können wir dein Bett beziehen und dann kannst du dich häuslich einrichten!" Da das Wetter ihnen gut gesinnt war und die Sonne ihnen gnädig, hatten sie die Gelegenheit gehabt, Bettwäsche sowie Kleidung nach draußen zum Trocknen zu hängen. Auch Tala erhob sich, knickte aber ein. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, jemand würde mit einem Dolch in seine Hüfte stechen. "Geht schon, ist nichts!", beruhigte er Kai, als er dessen besorgten Blick bemerkte. Zusammen stiegen sie die Treppe wieder hinauf in das Gästezimmer. Kai bezog das Bett mit einem frischen Laken, Decken- und Kissenbezug, während Tala seinen Koffer entleerte und dessen Inhalt im Schrank links neben dem Bett verstaute. Es war bereits acht, als sie endlich fertig waren. Kai ließ sich von rechts auf das Bett fallen, Tala tat es ihm von der anderen Seite gleich. So lagen sie eine Weile und betrachteten die Decke. Tala fasste nach Kais Hand und drückte sie leicht. Zur Antwort verkreuzten sich dessen Finger mit den seinen. Keiner der beiden sagte ein Wort. Plötzlich durchbrach lautes Magenknurren die Stille. Kai drehte seinen Kopf zu seinem Freund, der leicht beschämt lächelte. Der Graublauhaarige hob die Hand, die Talas hielt, küsste diese und drückte sie gegen seine Brust. Vertrauen und Liebe, Gefühle, die stärker nicht hätten sein können, das drückte diese Geste aus. "Komm, lass uns was essen gehen. Hier in der Nähe ist ein kleines Restaurant", meinte er und stand auf. Tala folgte ihm. "Sag mal, willst du denn nicht in die Messe?" "Morgen vielleicht. Oder auch nicht. Ich weiß noch nicht." Kai ging ins Schlafzimmer seiner Eltern und öffnete die oberste Schublade des linken Nachttischchens. Er holte einen Hausschlüssel hervor. "Hier, das ist ein Ersatzschlüssel, damit kannst du hier ein- und ausgehen", sagte er und drückte dem Rothaarigen das Objekt in die Hand. Er brauchte nicht hinzufügen, dass Tala gut darauf aufpassen solle. Dann legte er sich die Kette mit dem rubinroten Stein wieder um und gemeinsam verließen sie das Haus. Erst später am Abend kam Kai wieder zur WG zurück. Er roch nach Rauch und Bier, dem typischen Kneipengeruch. Dennoch hatten Tala und er sich bei ihrem ‚Dämmerschoppen' in Maßen gehalten. Tala lag bereits im Bett und schlief. Kai hatte ihn noch nach Hause gebracht und sich dann verabschiedet. Nun hing er seine Jacke an der Garderobe auf und betrat das Wohnzimmer. Seine Teamkameraden waren noch wach und sahen sich einen Film im Fernsehen an. Als Kai eintrat, blickte Ray auf. "Hey Kai! Für dich ist heute ein Brief angekommen, er..." Der Schwarzhaarige hielt inne und ging in die Küche, um das Kuvert zu holen. Verwirrt sah Kai ihm nach. "Hier..." Betreten hielt Ray seinem Leader den Brief hin. Der Umschlag war mit einem schwarzen Rand gekennzeichnet, ganz so wie bei einer Trauerkarte. Kai öffnete ihn und entfaltete das Blatt Papier. Als er die ersten Zeilen gelesen hatte, weiteten sich seine Augen, kurz darauf zogen sich seine Augenbrauen zusammen. "Mein lieber Kai, du bist heute sicher traurig. Ich weiß, wie sehr du sie vermisst. Morgen um zehn ist in der Kapelle neben dem Friedhof eine kleine Messe, sozusagen zur Erinnerung. Ich würde mich freuen, wenn du kommst. Dein Großvater, John Hiwatari" Unter diesem Namen prangte ein Wappen, ein J und ein H ineinander verschlungen und ein Feuerkreis umschloss diese beiden Buchstaben. Nachdem er den Brief gelesen hatte, knüllte Kai den Brief zusammen, warf ihn auf den Boden und trampelte darauf herum. "Verfluchter Mistkerl!", knurrte er. "Was erlaubst du dir, dass du so eine Frechheit besitzt... Aber warte, das wirst du büßen! Ti mortwij Muschina!!" Er rauschte hinauf in sein Zimmer. Mit der Hand fuhr er zu seiner linken Schulter. Vor langer Zeit hatte das ~Familienwappen~ auch auf ihm geprangt... "Hiwatari, stell dich gerade hin!" "Jawohl, Gospodin!" Der Siebenjährige gehorchte aufs Wort. Er wusste, dass ein Besuch seines Großvaters bevorstand und alle Schüler und Auszubildenden der Abtei ihn gebührend zu empfangen hatten. Boris ließ seine Rekruten nicht aus den Augen, besonders nicht den Enkel seines Chefs. Und heute hatte er besondere Anweisungen, was den Jungen betraf. Da betrat der Leiter der Abtei den Hinterhof. Die Schüler verneigten sich unterwürfig und bekundeten ihren Respekt. Voltaire nickte Boris zu. Daraufhin zeigte dieser mit dem Finger auf Kai. Der Junge kam der Aufforderung nach und trat vor. "Folg mir!", befahl der Mann mit der krummen Nase. Kai nickte und beeilte sich, Schritt zu halten. Voltaire erlaubte den anderen, sich zu rühren, dann schloss er zu Boris und Kai auf. Im Innern des sogenannten Klosters dirigierte er die beiden in die Kellergewölbe. Vor einer breiten, gusseisernen Tür gebot er Halt. Boris öffnete diese. Ein großer, hölzerner Tisch stand in der Mitte des Raumes, an einer Wand war eine Feuerstelle eingearbeitet. Der krummnasige Mann mit der eigenwilligen Haarfarbe ging darauf zu und begann, ein Feuer zu entfachen. Neben dem Holztisch stand ein weiterer, jedoch war dieser kleiner und viele metallische Gegenstände lagen darauf verstreut. Kais Augen weiteten sich erstaunt, was hatte sein Großvater jetzt wieder mit ihm vor? Voltaire packte ihn an seiner Schulter und schob ihn in den Raum hinein. Doch der Junge wollte nicht, er sträubte sich, stemmte seine kleinen Beinchen gegen den Boden. Er ahnte, dass es nichts Gutes war, was hier vorbereitet wurde. "Du hast die Augen deiner Mutter... und den Stolz und den Willen deines Vaters... Aber keine Sorge. Ich werde sie dir brechen!" Voltaire lachte hohl auf und es hallte von den Kellerwänden wieder. "Das kannst du nicht!", rief der Junge widerspenstig. Da packten ihn zwei starke Hände und zogen ihm das Hemd vom Leib. "Auf den Tisch!" "Nein!" "Ich sagte, auf den Tisch! Sofort!" Voltaire wurde böse. "Und ich sagte nein! Da kannst du lange warten!!" Kai rannte durch den Raum und versuchte die Tür zu erreichen. Voltaire seufzte laut auf, Boris nickte und schlug die Tür zu. Kai war gefangen. Dann schnappte Boris sich ihn und trug ihn zum Tisch. Der Junger strampelte wild, doch es half nichts. Sein Gospodin war weitaus stärker als er. Boris legte ihn ab und drehte ihn auf den Bauch. Mit geübten Handgriffen fesselte er die Füße an den Tischbeinen fest, sowie die Arme des Kleinen. "Du gehörst mir, Kai! Und dieses Zeichen wird dich immer daran erinnern!", sagte Voltaire in beinah feierlichem Tonfall. Boris überreichte ihm dazu das eigens zu diesem Zwecke angefertigte Eisenstück, dass er in dem von ihm entfachtem Feuer erhitzt hatte. Es war rund und hatte die Form eines Feuerrings, und in der Mitte waren die beiden Initialen Voltaires, J und H für John Hiwatari, eingearbeitet. Das Eisen funkte noch leicht von der Hitze des Feuers. "Halt ihn fest!", befahl Voltaire seinem Untergebenen. Boris legte seine Hände auf das rechte Schulterblatt und das Becken Kais. Dann drückte Voltaire das glühende Eisen erbarmungslos auf die zarte Haut des Jungen. Kai schrie wie noch nie in seinem Leben. Er schlug gegen die Tischbeine, versuchte sich loszureißen, doch die Fesseln schnitten sich nur tiefer in sein Fleisch. Er bäumte sich auf vor Schmerzen, aber Boris drückte ihn nieder. Und Voltaire verstärkte den Druck des Eisens. Er behandelte seinen Enkel wie ein Tier, wie ein Pferd, das ein Brandzeichen bekam. Der Schmerz benebelte Kai, er hielt es nicht aus. Der Gestank verbrannter, menschlicher Haut stieg in die Luft, ein ätzender, beißender Gestank, der in ihm einen Brechreiz auslöste. Er erbrach sich. Kurz darauf umfing ihn ein tiefes, schwarzes Loch voller Leere, in dem er nichts mehr spürte. Kai schüttelte sich. Sein Großvater hatte es ~Siegel~ genannt. Er war gebranntmarkt für sein Leben. Doch er hatte sich eines raffinierten Tricks bedient. Man konnte seine Narbe nun nicht mehr sehen. Wichtiger war im Moment jedoch, warum er eine Einladung zu einer angeblichen Messe erhalten hatte. Obwohl - er konnte sich den Grund durchaus denken. Es war wieder mal ein Spielchen. Er wusste, dass er verhöhnt wurde, dass ihm nur weh getan werden sollte. Denn Voltaire hatte es nicht vergessen. Heute war der Tag, an dem er Kais Eltern umgebracht hatte. Ti mortwij Muschina Du bist ein toter Mann Kapitel 13: Das Video --------------------- Am Frühstückstisch war es sehr ruhig. „Reichst du mir mal die Butter rüber, Max?“, fragte Tyson leise. Sein Freund nickte und schob sie zu ihm hin. Zwar saß das gesamte Team heute zusammen, aber eine drückende Stimmung hing wieder einmal über ihnen. Kai starrte gedankenverloren vor sich auf den Tisch. Nicht mal seinen Kaffee hatte er angerührt. Warum gab sein Großvater nicht Ruhe? Wieso musste er immer und immer wieder alte Wunden aufreißen? Plötzlich stieß ihn jemand an. „Was?“, knurrte er gereizt. „Ich habe dich gefragt, was los ist. Ist jemand gestorben?“, fragte Kenny. Kai sah auf seine Uhr, es war halb zehn. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Eine Messe, nichts weiter. Bis später.“ Die kleine Kapelle war bereits sehr voll. Es waren viele Leute gekommen. ~Ob sie wirklich alle meine Eltern kannten? Oder sind sie einfach nur der Einladung von Voltaire gefolgt?~, fragte Kai sich, als er seinen Blick über die Menschenmenge gleiten ließ. Voltaire selbst stand bereits vorne auf einem kleinen Podium, dort, wo sonst immer der Pastor seine Predigt hielt. Er war extra aus Russland eingereist, um in der Heimatstadt seines Enkels die Ehrung dessen Eltern zu halten. Die Türen wurden geschlossen, Kai blieb am Eingang stehen. Er wunderte sich, was sein Großvater wohl vorhatte. Da begann dieser auch schon seine Rede. „Meine Lieben!“ Er breitete seine Arme aus, so als wolle er alle umarmen. „Zehn Jahre ist es nun her. Gestern vor zehn Jahren sind sie von uns gegangen, durch einen tragischen Unfall...“ „Unfall, ja?!“, unterbrach eine entrüstete Stimme seine Einleitung. Voltaire blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war und als er Kai entdeckte, umspielte ein kaum merkliches, süffisantes Lächeln seine Mundwinkel. Er räusperte sich und machte weiter. „Nun, dieser Unfall hat sie uns aus dem Leben gerissen. Aber die Zeit vergeht, die Ewigkeit bleibt. Es ist schlimm, dass wir sie so früh verloren haben...“ „DU HEUCHLER!! HALT BLOSS DEIN SCHRECKLICHES SCHANDMAUL!!“, schrie Kai auf einmal und rannte auf das Podium zu. „DU hättest sterben sollen, nicht SIE!!!“ Entsetzt starrten die anderen Trauergäste auf die Szenerie, die sich ihnen darbot. Doch Voltaire machte weiter, als sei nichts geschehen. „Mein Sohn, auch du in deinem Schmerz wirst die Wahrheit erkennen, denn ein jeder, der verblichen ist, wird noch einmal aufleben, indem man ihm gedenkt...“ Wieder unterbrach sein Enkel ihn. „Oh nein, du nicht! Weil du bereits tot bist! Es wird nie jemanden interessieren, wenn du stirbst, weil du schon längst tot bist! DEIN HERZ IST KALT!“ Kai sprang aufs Podium und piekte ihm mit dem Finger in die Brust. „Wenn du einmal in dieser Holzkiste liegst, wird niemand eine Träne um dich weinen, denn du hast deine Familie auf dem Gewissen! In Wahrheit bist du allen egal! Jeder, der hier sitzt, der deiner Einladung gefolgt ist, hat doch nur Angst vor dir! Du wirst einsam sterben, denn du hast niemanden, der dich liebt!“ Seine Worte hallten von den Wänden der Kapelle wider, die geladenen Gäste wagten vor Schreck und Empörung über die Störung nicht, sich zu rühren. „Und dennoch bist DU gekommen, du, der du doch genau weißt, WARUM deine Eltern umkamen...“, zischte Voltaire und fasste mit einem Griff wie ein Schraubstock nach Kais Hand. „Da, ja snaju, a ti mortwij Muschina!”, antwortete Kai knurrend. Voltaire lachte schallend auf. Er schnippte mit den Fingern, die Türen schwangen auf und zwei uniformierte Polizisten kamen hinein. Eine Falle. „Danke, du hast gerade ein Paradebeispiel abgegeben. Schuldig im Sinne der Anklage“, grinste der alte Mann und drückte mit seiner Hand, die noch immer Kais umklammert hielt, so fest zu, das ein widerliches Knacken zu hören war. Kai zuckte kurz zusammen, doch er gab sich nicht die Blöße, seine Schmerzen zu zeigen. Mindestens ein Finger war gebrochen. „Wie schön, dass du dir die Grundsätze meiner Schule immer noch so zu Herzen nimmst. Du bist mein bester Schüler, Kai!“ Da packten ihn auch schon die Polizisten und führten ihn hinaus. Kai sah über seine Schulter zu seinem Großvater zurück und rief ihm folgende Worte zu: „Deduschka, vergiss meine Worte nicht! Du hast dein Leben verwirkt! Denn du hast niemanden, der dich liebt!“ Dann wurde Kai in den Streifenwagen verfrachtet und zur Wache gefahren. Der Inspektor versuchte jetzt schon seit einer Viertelstunde, mit Kai ein Gespräch zu beginnen. Sie saßen sich in einem Büro der Polizeidienststelle gegenüber. Doch er bekam kein Wort aus dem Jungen heraus. Verzweifelt raufte er sich die Haare. Da schob Kai ihm seinen Pass hin. „Na, das ist doch schon mal ein Anfang!“ Erfreut griff er zum Telefon und wählte die Nummer, die ihm sein Computer dank der Adresse auf Kais Ausweis anzeigte. Kai starrte derweil auf seine rechte Hand. Sie zitterte leicht. Er berührte seinen Mittelfinger. Sofort durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Genauso der Zeigefinger. Resigniert seufzte er. „... wenn Sie ihn abholen könnten? Wache 73, wissen Sie wo das ist? Gut, Wiederhören!“ Der Polizeibeamte legte auf. Dann sah er hinüber zu seinem ‚Verdächtigen’, der immer noch seine Hand betrachtete. Er seufzte und drückte eine Taste seines Telefons. „Schicken Sie mir bitte Fräulein Natalja.“ Er war der Ansicht, dass Kai ihn wohl nicht verstehen könnte und dabei gleichzeitig ärztliche Hilfe benötigte. Für solche Fälle gab es Fräulein Natalja, eine junge, russischsprachige Ärztin aus dem benachbarten Hospital direkt neben der Wache. Es dauerte nicht lange, da klopfte es an der Bürotür. Eine mittelgroße, schlanke Frau schob sich hindurch. Sie trug einen weißen Arztkittel, der ihr gerade mal bis zur Hälfte ihres Oberschenkels reichte und sehr freizügig geschnitten war. Sie hatte blonde Locken und als sie Kai erblickte, strahlte sie ihn regelrecht an. „Nun, Fräulein, das ist Ihr Metier. Sie haben freie Hand.“ Der Inspektor setzte sich auf seinen Schreibtisch und beobachtete ab jetzt ihr Tun. Fräulein Natalja nickte. „Priwet moj maltschik, kak u tebja dela?“ Kai schaute die Frau mit großen Augen an. Was wollte die denn von ihm? „Haroscho, spasibo“, antwortete er und sah weg. „Was sagt er?“, wollte der Beamte wissen. „Nun, ich habe gefragt, ob es ihm gut geht, und er sagte ‚Gut, danke’. Soll ich weiter machen?“ Der Polizist bejahte dies. „Nu, eto haroscho. Ti...” “Sagen Sie, können Sie das hier behandeln?”, unterbrach er die Ärztin und hielt ihr seine Hand entgegen. „Äh... Ja natürlich“, sagte sie verwirrt. Sie drehte sich zum Inspektor um und sah ihn stirnrunzelnd an. Aber auch er starrte den Jungen vor ihm verständnislos an. „Das glaub ich nicht, da hample ich hier rum wie so ein Idiot und er versteht mich doch!“ Kai zuckte mit den Schultern. Resigniert seufzend bestätigte der Beamte der Ärztin, sie könne ihn nun behandeln. Und so klappte Fräulein Natalja ihren kleinen Notfallkoffer auf und begann damit, Kais Finger zu untersuchen. „Was hat er jetzt wieder gemacht?“ „Er reitet sich von einer Scheiße in die nächste!“ Murrend und maulend, sich über ihren Teamleader aufregend, stiegen die vier Jungen in den Van zu Mr. Dickenson und fuhren Richtung Polizeidienststelle. „Warum müssen wir ihn eigentlich abholen? Soll er doch für ne Nacht ruhig im Gefängnis bleiben“, meckerte Tyson. „Ty, nun sei doch nicht so! Außerdem sitzt er nur auf der Wache und wartet jetzt auf uns“, meinte Kenny. Mr. Dickenson klärte nun die Situation, indem er erzählte: „Man hat mir gesagt, dass er ein bisschen gepöbelt hat, und das in einer Kapelle. Es ist nichts Schlimmes. Er musste nur abgeholt werden, damit die Messe fortgesetzt werden konnte. Der Einsatz der Beamten ist auch schon bezahlt. Kai hat wohl einen geheimen Wohltäter.“ Mr. Dickenson wusste nicht, dass es Voltaire gewesen war, der den Einsatz eigens beordert hatte, nur um Kai wieder einmal Schaden zuzufügen. Als sie endlich anhielten, – weit war es von der WG aus nicht dorthin – beeilten sie sich, ins Gebäude zu gelangen. In dem Moment, als sie das Büro betraten, beugte sich Fräulein Natalja gerade über Kai und legte ihm einen Gips um Zeige- und Mittelfinger. ~Na toll... Geht die Fragerei gleich wieder los...~ Kai verdrehte die Augen. Er hasste es, wenn sie ihn so ansahen, wie sie es gerade taten. Denn auf diesen Blick folgte immer ein großes Bombardement an Fragen, auf die er keine Antworten geben wollte. Doch kam ihm eine gute Idee, wie er das umgehen konnte. Er könnte doch einfach von sich aus reden! „Ich war auf einer Messe... Dort habe ich meinen Großvater getroffen und wir haben uns in die Wolle gekriegt. Wir sind wohl laut geworden. Nun ja... ihr wisst doch, dass er einflussreich ist, also hat er mich ans Messer geliefert...“, erklärte er schnell, ehe irgendeiner den Mund aufmachen konnte. „Und deine Hand?“, fragte Ray skeptisch. „In der Tür eingeklemmt.“ „Fertig!“, verkündete Fräulein Natalja frohgemut und gab Kai einen dicken Kuss auf die Stirn. „Ihr könnt ihn jetzt mitnehmen!“, sagte sie lächelnd und verließ den Raum. Verdutzt sahen ihr alle nach. „Haha, du hast ihr wohl sehr gefallen, was?“, lachte Max noch immer, als sie bereits wieder zu Hause waren und Ray die Tür aufschloss. „Sehr lustig, Max! Ich lach mich tot!“ Kai hatte sich die ganze Fahrt lang solche und ähnliche Witzeleien gefallen lassen müssen, bis Mr. Dickenson sie vor ihrer Haustür absetzte und weiterfuhr. Der Sponsor hatte sich einen eigenen Plan ausgedacht, wie er Kai näher kommen konnte, und der lautete: Lass ihn machen und gib ihm so das Gefühl, dass du ihm vertraust! Nun jedoch suchte sein Schützling seine Ruhe und verzog sich sofort auf sein Zimmer, als er den ersten Schritt über die Türschwelle getan hatte. Auf seinem Handy warteten drei Kurzmitteilungen von Tala auf ihn, die er beantworten wollte, und zwar ungestört. Er schlug die Tür zu, setzte sich auf sein Bett und machte sich sofort ans Werk. Deswegen hörte er auch nicht, dass Tyson rief, sie hätten noch Post bekommen. „Das kann doch gar nicht sein, nicht um diese Uhrzeit! Und Sonntags schon gar nicht!“, meinte Kenny und widmete sich wieder dem Wirtschaftsteil seiner Zeitung. „Doch, es ist sogar ein Päckchen!“, beharrte Tyson, holte seine Entdeckung aus dem Briefkasten und ging damit ins Wohnzimmer. „Aber Tyson, da steht weder ein Empfänger, noch ein Absender drauf! Ist das denn wohl für uns?“, fragte Ray, als er es sah. „Da steht aber unsere Hausnummer drauf. Ich mach das jetzt auf, ok?“ „Warte, ich will dabei sein!“, rief Max und sprang aufs Sofa. Selbst Kenny gesellte sich zu ihnen. Alle vier Jungen saßen um den Wohnzimmertisch herum und warteten gespannt darauf, was das Paket wohl zu offenbaren hatte. „Was ist das?“ Tyson hatte es ausgepackt. Der Inhalt des Päckchens war eine schwarze Kassette. Doch ein weiteres Schreiben lag nicht dabei. „Das ist ein Video! Meint ihr, wir sollten es uns ansehen?“ „Aber auf jeden Fall! Wer weiß, vielleicht will uns jemand eine geheime Botschaft übermitteln?“ Übermütig rannte Tyson auf den Fernseher zu und schaltete ihn und den Videorekorder darunter ein. Er wusste ja nicht, wie Recht er damit hatte. Max dämmte das Licht etwas. Tyson drückte auf ‚Play’ und setzte sich zu seinen Freunden auf das Sofa. Das Videoband begann sofort zu spielen. Zu sehen war Voltaire, der von einem Podium aus eine Rede hält. Neben ihm steht ein junges Ehepaar und vor ihnen ein kleiner Junge von etwa fünf oder sechs Jahren, dessen blaugraue Haare in alle Himmelsrichtungen abstehen. „Was ist das nur für ein Video?“, fragte Tyson verwundert. „Ist das denn... Kann das denn wirklich Voltaire sein? Wovon spricht er?“ Am unteren Rand des Fernsehers sah man eine Einblendung, die den Namen des Redners zeigte. Und rechts leuchtete ein Zeichen. Es schien, dass die Bladebreakers ein archiviertes Videoband eines Fernsehsenders erhalten hatten. Die Jungen konnten kaum verstehen, was Voltaire sagte. Sie drehten die Lautstärke höher. „~ Die Abtei ist ein guter Ort für Kinder und Jugendliche jeglichen Alters. Sie müssen nur das nötige Engagement und das Grundwissen über Beyblades besitzen. Wir sind zwar eine Art Privatschule und unsere Methoden mögen manches Mal unverständlich erscheinen, jedoch achten wir sehr darauf, dass es unseren Schülern gut geht. Mein Sprecher wird Ihnen dies sicher bestätigen, er...~“ Der junge Mann neben ihm tritt vor, er war kaum älter als 25, und schob Voltaire beiseite. „~ Wir können nur an die Vernunft in Ihnen appellieren, dass Sie Ihre Kinder nicht zu uns schicken. Die so genannte Abtei ist nur als Tarnung für die Operationen der Biovolt Corporation gedacht. Machen Sie nicht den Fehler, den wir begangen haben. Sie werden Ihre Kinder nicht wieder erkennen, wenn Sie – ~“ Man konnte nicht mehr hören, was der junge Mann sagte. Voltaire legt seine Hand über das Mikrofon, in das beide gesprochen hatten. Offenbar war diese Versammlung in der Art nicht besprochen worden. Drohend dreht der ältere Mann sich um. Er schien aufgebracht und baut sich vor dem jüngeren auf. Nun schaltet sich auch die Frau aus dem Hintergrund in das Gespräch ein. Die vier Jungen erkannten, dass diese Unterhaltung nicht bloß eine hitzige Diskussion war, sondern ein regelrechter Krieg. Plötzlich fiel Ray auf: „Hey, der Junge da, der sieht irgendwie aus wie Kai!“ „Und wer ist die Frau, die ihn an der Hand hält? Und der Mann da?“, fragte Max. „Ob das wohl seine Eltern sind?“, meinte Ray leise. In dem Moment stoppte das Band, das Licht im Wohnzimmer ging fast gleichzeitig an. Kai stand wutentbrannt in der Zimmertür, in seiner Hand die Fernbedienung, die vor Zorn zitterte. Mit flotten Schritten lief er auf den Fernseher zu, würdigte seine Teamkollegen keines Blickes. Sich beherrschend nahm er das Video aus dem Abspulgerät und ging wortlos auf sein Zimmer. Ray wachte auf. Es war mitten in der Nacht. Er sah auf seinen neuen Wecker, den Kai ihm geschenkt hatte. Kurz vor drei. Er wollte sich schon wieder umdrehen, da hörte er leise Stimmen. Sie schienen von unten zu kommen. Verwundert blieb Ray eine Weile liegen und lauschte. Ja, eindeutig. Der Schwarzhaarige schob sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen auf den Flur hinaus... „Autsch!“ „Ray, bist du das?“ Schemenhaft konnte er die Umrisse von Tyson erkennen, der vor ihm stand. Er war wohl mit ihm zusammengestoßen. Aber auch die anderen beiden steckte ihre Köpfe neugierig aus ihrer Zimmertür hervor. „Habt ihr das auch gehört?“ „Ja, klingt wie ein Streit. Wir sollten nachsehen...“ Kenny und Max gesellten sich zu ihnen. Im stillen Einverständnis huschten sie leise die Treppe hinunter. Die Stimmen kamen augenscheinlich aus dem Wohnzimmer. Vorsichtig öffneten sie die Tür. Der Fernseher lief. Es war dunkel, die einzige Lichtquelle der Apparat, auf dem die Bilder zu sehen waren, die die Jungen sich schon am Abend angesehen hatten. Kai saß im Lichtkegel auf dem Sofa, die Beine an sich gezogen, auf seinen Knien lag die Fernbedienung. Gebannt starrte er auf das TV-Gerät. Die Freunde beobachteten ihn lautlos. Sie sahen ergriffen die nachfolgenden Szenen, die sie noch nicht kannten. Die junge Frau nimmt den Jungen nun auf ihren Arm und zeigt auf ihn, hält ihn aber schützend von Voltaire weg. Der junge Mann schaut sehr böse, während er mit Voltaire spricht. Sie schreien sich gegenseitig an. Ein Streit, entfacht vor laufenden Kameras. Der Chef der Biovolt will nach dem Jungen greifen, doch die junge Mutter springt die Treppen des Podiums hinunter. „Du kriegst ihn nicht! Du wirst aus ihm keine Marionette für deine widerlichen Machenschaften machen!“, schreit sie schrill. Der kleine Junge klammert sich verängstigt an seine Mutter. Zusammen verlässt das Elternpaar das Rednerpult. Das Band war zuende. Kai spulte es zurück und ließ es erneut von vorne beginnen. Immer und immer wieder spulte er vor und zurück, ließ wieder und wieder dieselben Szenen laufen. Seine Teamkameraden schauten zu ihm und in ihnen zog es sich zusammen. Auf seinem Gesicht, das vom Bildschirm angestrahlt wurde, zeichnete sich deutlich sein Schmerz ab. Hass und gleichzeitig unendliche Trauer spiegelten sich in seinen Augen wieder. Plötzlich wurde die Bildfläche schwarz. Noch lange saß Kai einfach nur so da und unternahm nichts. Dann erhob er sich langsam, drückte den Aus-Knopf mit seiner bandagierten Hand und blieb kurz dort stehen. Im Dunkeln konnten die anderen nicht genau erkennen, was er nun tat. Der Silberhaarige fasste sich an seine linke Schulter, danach an seinen Hals, zu seinem Amulett. „Es ist noch lange nicht vorbei...“, murmelte er leise. Dann öffnete er die Glasschiebetür zum Garten und ging in die kalte Nacht hinaus. ~*~*~*~*~ Da, ja snaju, a ti mortwij Muschina Ja, ich weiß, ab du bist ein toter Mann Kapitel 14: Das kleine Mädchen ------------------------------ Hey Leute! Vielen vielen Dank für die vielen lieben Kommentare! Es freut mich echt, dass meine Story euch gefällt! =^.^= Dabei sind aber auch einige Fragen aufgekommen, und einige davon, falls sie noch nicht geklärt sind, möchte ich jetzt im Vorfeld beantworten. 1. Kannst du Russisch bzw bist du Russin? - Leider nein. Ich muss mir alles übersetzen lassen, entweder von meiner Freundin oder ich frag beim "Wer will Russisch lernen"-Forum hier auf Mexx nach ^^''' Und seit meinem Geburtstag bin ich im Besitz eines handlichen Universal-Sprachführers für Russisch^^ 2. Was sind Antidepressiva? - Irgendwelche Medikamente gegen Depressionen. Keine Ahnung, kann leider kein Beispiel geben, was ja auch Schleichwerbung wäre xDDD 3. Sind Kais Eltern tot, und er weiß es? - *räusper* Ähem... also, eigentlich dürfte ich dazu nichts sagen, weil das ja zur Story gehört. Aber vielleicht wird es so etwas verständlicher: Kai GLAUBT sie sterben gesehen zu haben, ist aber davon nicht überzeugt und sucht sie jetzt. Es wird noch ein Sequel geben, in der sich diese Frage endlich aufklärt.^^ 4. Wieso hat Voltaire als Initialen für das Brandzeichen JH und nicht VH genommen? - Nun, ím Manga heißt Voltaire wirklich John Hiwatari. Voltaire ist so eine Art Pseudonym oder sowas. Ich hab den Namen mal so übernommen, weil sich alle Möchtegern-Weltbeherrscher sich einen neuen Namen zulegen. Aber sie müssen ja auch einen richtigen haben. Deswegen JH für John Hiwatari. 5. Wieso wurden die Zeitformen in Kapitel 13 vertauscht? - Das war Absicht. Ich hab gedacht, dass es besser ist, wenn ich das, was auf dem Video zu sehen ist, in der Gegenwart beschreibe, damit sich das von dem anderen abhebt. Falls das doof ist, änder ich das gern^^ 6. Was hat jetzt eigentlich das Video zu bedeuten? - Öhh, jaa... gehört zum Storyboard (an das ich mich halten wollte, es aber aus unerfindlichen Gründen immer links liegen lasse... arbeite grade daran, mich wieder dran zu halten XDDD). Außerdem konnten die Bladebreakers mal wieder in Kais Vergangenheit rumschnüffeln, um die es ja geht, damit sich sein Verhalten bald erklären lässt... oder sowas^^'' +-+-+-+ Soderle, das dazu. Ich hoffe, das hat euch etwas geholfen und nicht noch mehr verwirrt. Und jetzt zum Pairing, wo es diesbezüglich auch oft Fragen gab: Ich hatte da ja mal so eine Umfrage, was ihr glaubt, was hier vorliegt, hier das Ergebnis: Kai x Ray: Niemand Tala x Kai: Minaho, Evil_chan, Dark-Phoenix_Kai, manni Keins: Lyos Nun... Nein, ich will das nicht auflösen >.<" *drop* Naja, eigentlich war kein Pairing geplant. Aber die YuKas unter euch werden dennoch das ein oder andere Mal Stellen finden, das darauf hindeuten KÖNNTE... ^^'''''''' Jedenfalls kann ich das so einrichten =^.^= Jetzt aber Schluss mit dem Gelaber, hier ist Kapitel 14^^ Das kleine Mädchen Er wusste nicht wohin sein Weg ihn führte, er lief einfach ziellos durch die nächtlichen Straßen Kiotos. Die Viertel, die er durchquerte, waren nicht unbedingt die besten, er sah leichtbekleidete Frauen an der Straße stehen, die sich zu den Fenstern von haltenden Autos hinunterbeugten. Er hörte Hunde bellen und Katzen klagen, in der Ferne quietschten Autoreifen. Ja, für seinen nächtlichen Spaziergang hatte er sich nicht gerade eine besonders nette Gegend ausgesucht. Kai schob seine Hände in die Hosentaschen und schlurfte mit eingezogenem Kopf und hochgezogenen Schultern weiter. Er wollte einen klaren Kopf bekommen. Nun kam er in ein anderes Gebiet. Hier waren einige Restaurants und kleine Kneipen vertreten. Die meisten waren bereits geschlossen, doch aus wenigen drang noch Gelächter auf die Straße, ein paar Männer torkelten umher, offenbar auf dem Nachhauseweg. Der Sechzehnjährige blickte ihnen nach. Er fragte sich, ob er sich auch an eine Theke setzen sollte und seine Gedanken mit einer Flasche Whiskey oder ähnlichem wegspülen sollte. Er wollte gerade in eine der Spelunke eintreten, als er an einer kleinen Gasse vorbeikam. Geschirr klirrte und eine Männerstimme brüllte laut. Neugierig ging er den Geräuschen nach. Vorsichtig schlich er voran, ein schmaler Lichtschimmer zeigte ihm den Weg. Kurz bevor er im Lichtkegel stand, hielt er an. Jetzt konnte er erkennen, woher diese Helligkeit kam: Eine Hintertür, offenbar zu einer Kneipe, stand offen und von dort strahlte eine alte Deckenlampe aus dem Inneren in die Gasse hinaus. Davor saß ein kleines Mädchen und wusch in einer Wanne mit Schaumwasser Geschirr ab. Ihr schulterlanges, blondes Haar war mit einigen bläulichen Strähnen durchzogen und zu einem Flechtezopf zusammengebunden. Sie trug eine blauweiß-karierte Schürze über einer kurzärmeligen, mit Rüschen besetzten Bluse und einem sommerlichen grauen Stoffrock. Die Sachen sahen etwas abgenutzt aus. Kai sah sich um, es war niemand zu sehen. Er trat aus dem Schatten hervor. Das kleine Mädchen blickte auf. Es erschrak und bekam es mit der Angst zu tun. Automatisch rutschte es einige Zentimeter zurück. „Hallo. Was machst du denn hier?“, fragte Kai dann nach einer Weile, um die Stille zu durchbrechen. „Ich wasche hier ab. Wenn ich nicht schnell fertig werde, schimpft mein Herr mit mir“, antwortete es ihm leise. ~Ihr Herr?~, wunderte sich Kai. Aber da hörte er auch schon eine wütende Männerstimme, anscheinend dieselbe wie zuvor, die gereizt rief: „Shary, beeil dich gefälligst! Komm rein und bring die frischen Gläser mit!“ „Jawohl!“ Das Kind stand auf, klopfte sich den Staub vom Röckchen brachte in einem großen Korb das Gewünschte hinein. Es schien, dass hier wohl noch Betrieb war. Oder die Bar wurde bereits für morgen vorbereitet. ~Und das um diese Uhrzeit! Es ist doch schon fast vier! Die arme Kleine...~, dachte der Junge. Ihm tat das Mädchen leid. ~Aber das ist nicht meine Angelegenheit...~ Da fielen ihm die Worte seiner Mutter ein: Es gab einmal eine Zeit, in der Hilfsbereitschaft noch etwas wert war. Und ich finde immer noch, dass es etwas wert ist! Daraufhin kniete er sich hin und wusch das restliche Geschirr ab. Als das Kind wieder kam, blieb es verwundert stehen. „Aber das brauchst du doch nicht!“ Kai schüttelte den Kopf. „Du heißt also Shary?“ Die Kleine kniete sich neben den Jungen, der ihr völlig unbekannt war und trocknete die von ihm abgespülten Stücke ab. „Nein“, sagte sie traurig. „Das ist nur ein Kosename. Er mag wohl meinen richtigen Namen nicht. Vorher hat er auch manchmal ‚Sklavin’ oder so zu mir gesagt... daraus ist dann irgendwann Shary geworden...“ Sie seufzte tief. „Und wie heißt du dann?“ „Lin ist mein Name. Und du?“ Kai sah zu ihr hin. „Kai“, sagte er und reichte ihr den letzten Teller. „Ich muss jetzt wieder gehen.“ Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab und stand auf. Dann schaute er noch einmal zu ihr. „Danke!“, lächelte sie aufrichtig. Kai nickte und verließ diesen Ort. ~Ein komisches Kind... Geistig viel zu reif für ihr Alter...~ „Aber du weißt doch: Unrecht und Elend machen früher erwachsen, als einem lieb ist!“, ließ sich die Stimme seines Phönix' vernehmen. Ein roter Lichtstrahl schoss aus seinem Amulett, flog in die Luft und landete schließlich auf seiner rechten Schulter. Eine etwas kleinere Ausgabe Dranzers machte es sich dort gemütlich. Kai streichelte über das Gefieder und sofort begann der Phönix zu gurren. „Ach Dranzer... Schön, dass du da bist...“ Kais gefiederter Freund schmiegte sich an ihn und wärmte ihn etwas. Während sie weitergingen, meinte er: „Wollt ihr euren nächsten Coup wirklich durchziehen? Tala ist immer noch nicht ganz fit!“ „Ja, werden wir. Und Tala muss auch kaum was machen. Wir werden zum Hauptgebäude hinfahren, ich werde in den Lüftungsschacht kriechen und Tala wird mich mithilfe unseres Notebooks durchlotsen. Das wird diesmal kein großes Ding.“ Er setzte sich auf die Latte eines Holzzaunes. Die Morgendämmerung hatte langsam eingesetzt, die ersten Sonnenstrahlen erhellten die Umgebung. „Wir müssen nur die Unterlagen holen. Dass wir dafür sozusagen in unsere eigene Firma einbrechen müssen, ist fast schon lächerlich... Na ja, aber was will man machen. Wir haben leider nicht die Machtbefugnis und keinen triftigen Grund, warum wir den Ablaufplan und den Bericht der letzten Razzia in Moskaus Vorzeige-Abtei einsehen wollen... Vor allem, weil diese schon so etwa zehn oder zwölf Jahre her ist. Ich hoffe nur, dass die Sachen auf dem Hauptrechner des japanischen Sicherheitsdienstes gespeichert sind. Wenn nicht, wäre die ganze Arbeit umsonst.“ Kai seufzte resigniert. „Ich habe keine Lust mehr. Versteckspiel vor der Polizei, vor dem Team, vor Biovolt, Versteckspiel vor allem!! Glaubst du nicht auch, wenn sie noch leben, dass sie sich schon längst gemeldet hätten?“ „Kai, du weißt genau wie ich, dass du nicht glaubst was du da sagst. Du hast Zweifel, klar, aber du bist müde, abgebrannt, da treten die gern mal auf. Vielleicht brauchst du mal ne Auszeit, Urlaub!“ „... Du bist ein richtiger Scherzbold, weißt du das?“, meinte der Junge trocken. Wieder seufzte er. Dann erhob er sich und schlenderte zurück zur WG. Es war Freitag und heute abend würden Tala und er aufbrechen um den Zentralrechner der obersten Behörde des Sicherheitsdienstes zu knacken. Ein gefährliches und bescheuertes Unterfangen, doch daran hatten sich die beiden Jungen gewöhnt... Seine Freunde sagten nichts, als er sich zu ihnen an den Frühstückstisch setzte und sich Kaffee eingoss. Sie waren es leid, dauernd nachzufragen und jedes Mal unbefriedigende Antworten zu erhalten. Sie wussten auch, dass er sich diese Nacht herumgetrieben hatte. Und dass sie gar nicht wissen wollten, wo er gewesen war. Sowieso glaubten sie, dass ihr Leader sie anlog. Sie wussten ganz genau, dass er ihnen etwas verschwieg. Ray war sich sogar sicher, dass Kai allein damit nicht klar kam. ~Wie kann ein einzelner Mensch nur so sturköpfig sein und gutgemeinte Hilfe nicht annehmen?!~, dachte der Schwarzhaarige verständnislos. „Ich möchte heute Abend bei Tala übernachten.“ Die vier Jungen horchten auf. „Bis Sonntag in etwa“, fügte Kai noch hinzu. Verwirrt tauschten die Freunde Blicke aus. Dann hielt Max es einfach nicht mehr aus, er musste einfach fragen. „Du, Kai, sag mal, das Video, ne, wer waren die Personen? Und... weißt du, woher es kommt, also wer es geschickt hat?“ Der Angesprochene hielt nicht mal in der Bewegung inne, sich sein Toastbrot zu schmieren und es mit Käse zu belegen. „Waren das deine... deine Eltern?“, unterstützte Kenny Max’ Frage vorsichtig. Spätestens jetzt erwarteten er, Ray, Max, und Tyson eine nur allzu bekannte Abwehrreaktion oder Wutausbruch seitens Kai. „Ja.“ Das Team schaute sich überrascht an. Durch seine nüchterne Antwort jedoch ermutigt, wollte jetzt Ray wissen: „Und der kleine Junge, das warst du, oder?“ Der Blaugrauhaarige nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und sah über den Rand hinweg in die Runde. „Ja“, meinte er wieder nur, als er die Tasse absetzte. „Und Voltaire?“ „Ja, Herrgott noch mal!!“ Erschrocken zuckten die Jungen zusammen. Sie hätten es sich ja denken können. Kai aß währenddessen sein Brot auf und spülte es mit dem Rest Kaffee hinunter. „Und auf die Frage, woher das Video stammt: Natürlich auch von ihm, was denkt ihr, wo das sonst herkommen soll!? Er macht das absichtlich. Damit ich mich ärgere und ihr euch dämliche Fragen stellt, die ihr mir dann stellt, die ich eigentlich nicht beantworten will, aber jetzt doch beantwortet habe, weil mir eure ständige Fragerei auf den Sack geht!“ Ärgerlich stand er auf. „Wow, das war ja mehr als sonst in einer Woche, Kai! Konversation ist ja sonst nicht grad deine Stärke...“ Tyson wollte ihn damit nicht provozieren, es war vielmehr eine Feststellung, die er kundtun musste. „Muss ja nicht jeder soviel quasseln wie du!“, entgegnete sein Leader schlicht. Dann ging er hinauf in sein Zimmer, schnappte sich die Schultasche und verschwand Richtung Schulweg. „Hast du alles?“ „Ja. Liegt der Rest bei dir?“ Der Rothaarige nickte. Er saß lässig auf einem Drehstuhl in Kais Zimmer und sah zu, wie dieser eine große Reisetasche packte und zwischen Bad und Kleiderschrank hin und her pendelte. Tala zog ein kleines Hartschalen-Etui aus seiner Hosentasche und nahm eine Zigarette heraus. Er drehte sie zwischen seinen Fingern, bevor er sie letztlich anzündete. „Mach bitte das Fenster auf, ich möchte nicht, dass der Rauch hier einzieht“, bat Kai, während er nun ein dickes, stabiles Seil in einen Rucksack warf und sich dann seinem Bett widmete. „Meinst du, dass wir die brauchen?“ Der Jüngere deutete auf diverse Pistolen und Revolver, die auf seinem Bett verstreut lagen. „Hm.. Besser wär’s. Aber nicht alle. Nimm mal die, mit drei Magazinen dafür. Auf keinen Fall deine alte Beretta, die klemmt nämlich, das Laden dauert ewig.“ Tala war aufgestanden und reichte Kai seine Vorschläge. Die übrigen ließ er wieder in der Kiste unter dem Bett verschwinden. Kai atmete tief durch. „Aufgeregt?“ Sein Freund klappte sein Etui auf und bot ihm eine Zigarette an. Der Silberhaarige schüttelte den Kopf. „Nervös.“ „Na komm, wir hauen ab. Sonst kommen wir zu spät.“ Sie schnappten sich Tasche und Rucksack und gingen hinunter ins Wohnzimmer. „Trinkst du noch was mit mir?“, fragte Kai. Er war wirklich aufgeregt, das kannte er sonst gar nicht von sich. Lächelnd nickte Tala und ließ sich auf der Lehne eines Sessels nieder. Auch er konnte nicht von sich sagen, dass er besonders ruhig war. Nach außen hin vielleicht, aber nur deshalb, um Kai aufzubauen. Einen vor Nervosität platzenden Partner im Lüftungsschacht zu haben, war nicht gerade eine rosige Aussicht. „Na sdarowje!“ Tala schrak aus seinen Gedanken auf, dann erwiderte er grinsend den Trinkspruch. Sie stürzten gleichzeitig den Kognak hinunter, den Kai mitgebracht hatte. „Wusste gar nicht, dass ihr so was zu Hause habt, ihr seid doch alle noch minderjährig!“ Der Rothaarige drehte das Glas in seinen Händen. Kai goss ihm mit zittrigen Fingern nach. „Muss wohl n Werbegeschenk gewesen sein...“ Auch er füllte sein Glas erneut. Doch selbst der Alkohol beruhigte ihn nur mäßig. Da ging die Tür auf. Tyson und Kenny traten ein, gefolgt von Ray und Max. Sie stutzten, als sie die beiden Russen erkannten. „Hallo!“, grüßte Tala freundlich. Die Jungen begrüßten ihn ebenfalls. Kenny klappte seinen Laptop auf und nahm auf dem Sofa Platz. „Also, Kai pennt heute bei dir? Wo wohnst du denn?“, fragte Max neugierig. „Jep. Ich wohn hier in der Nähe, in ner kleinen Hütte zur Untermiete. Ist ja nur vorübergehend.“ „Du hättest doch auch hier bleiben können!“ Der blonde Amerikaner lächelte. Tala zuckte mit den Schultern. „Ach, egal. Wollte euch nicht stören oder so.“ Dann sah er zu Kai herüber, der sich schon sein viertes Glas Kognak einschenkte. Er seufzte. Doch bevor er zum Sprechen ansetzen konnte, erhob Kenny das Wort: „Kai, ich hab da was für dich. Das solltest du dir mal zu Herzen nehmen!“ Der Kleinste der Gruppe stand auf und hielt seinem Leader den Laptop hin, während er sprach. „Wer ständig zu wenig schläft, wird leichter krank und früher alt. Das haben amerikanische Forscher herausgefunden, es ist also wissenschaftlich bewiesen! Chronisches Schlafdefizit verschlechtert den Kohlehydrat-Stoffwechsel, der Blutzuckerspiegel steigt ebenso wie der Pegel des Stresshormons Cortison. Das Risiko, Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck auszubilden, erhöht sich massivst! Ein 24stündiger Schlafentzug entspricht der Wirkung von einem Promille Alkohol, was unter anderem zu Konzentrationsstörungen und erhöhter Unfallhäufigkeit führen kann. Aber ein chronischer Schlafmangel kann auch psychische Veränderungen, Gereiztheit, Leistungsverschlechterung und Depressionen hervorrufen.(*)“ Kai blinzelte auf den Bildschirm. Gelangweilt las er die Zeilen noch einmal. „Aha. Das würde ja einiges erklären. Fällt dir irgendetwas auf?“, fragte Ray und musterte ihn prüfend. „Ich bin nicht gereizt und schon gar nicht depressiv!“, grollte Kai leicht missgelaunt. „Außerdem: Für Menschen besteht nach fünf Tagen ohne Schlaf akute Lebensgefahr!“, ergänzte der Chef noch. Lächelnd drehte Kai sich um und brachte die Flasche Kognak wieder dorthin zurück, wo er sie hergeholt hatte. Als er zurückkam, lächelte er immer noch genauso wie vorhin, es war ein kaltes, abwertendes Lippenspiel, das verriet, wie wenig ihn Kennys Ausführungen berührten. „Können wir jetzt gehen, Tala?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er mit Sack und Pack das Haus. Sein Freund wollte ihm gerade folgen, da hielt Tyson ihn auf. „Sag mal, Tala, war er schon immer so? Wie war Kai als Kind?“ Tala stutzte, drehte sich zu dem blauhaarigen Jungen und überlegte. Dann grinste er. „Kleiner!“ Und auch er verschwand. An manchen Tagen möchte man keinen Hund vor die Tür jagen. So auch diesem Abend. Es goss wie aus Kübeln vom Himmel herab. „Scheiß Wetter! Búdit grasá!“ „Quatsch nicht, Tala, das bisschen Nieselregen bringt uns noch lange kein Gewitter!“ Sie waren zu Fuß unterwegs, da das laut Kai unauffälliger wäre. Tala war dem gegenüber skeptisch gewesen. Und besonders jetzt fielen sie auf, da sie sich unter einem Regenschirm quetschten und, anstatt sich irgendwo unterzustellen, einfach weiterliefen. „Mein Laptop wird nass, das ist alles deine Schuld! ‚Lass uns laufen’, hast du gesagt, ‚wir kommen schneller voran’, hast du gesagt. Ja scheiße, schau dir das an, bis wir da sind, haben wir uns ne Lungenentzündung geholt!“, moserte der Rotschopf. Kai blieb stehen und sah nach links. Hier war er schon einmal vorbeigekommen. Während Tala weiter meckerte und in den Regen hinauslief, betrachtete der Silberhaarige lange die Kneipentür vor sich. „Hey!! Was bleibst du mit dem Regenschirm da stehen! Spinnst du?! Ich hol mir den Tod!!“ Gäbe es eine Weltmeisterschaft im Nörgeln, würde der rothaarige Russe Erster werden. „Wenn du noch weiter so rumbrummst, holst du ihn dir schneller als dir lieb ist!“, entgegnete Kai nüchtern. „Komm mit, wir gehen hier rein und wärmen uns ein bisschen auf. Bis Feierabend ist es eh noch hin.“ Tala war mehr als einverstanden. Sie traten ein. Kai stellte den Schirm an der Garderobe ab und rieb mit dem Ärmel eines anderen Mantels über den Griff, um seine Fingerabdrücke zu verwischen. „Warten wir, bis der Regen nachgelassen hat.“ Die beiden Freunde setzten sich an die Theke. „Was möchtet ihr trinken?“, fragte eine leise, schüchterne Stimme, deren Besitzer sie nicht sehen konnten. Synchron erhoben sie sich von den Barhockern, auf denen sie saßen, und schauten über den Tresen hinweg. Ein kleines Mädchen kletterte gerade auf einen Eimer, um die Kunden bedienen zu können. Die Jungen schmunzelten leicht, als sie dies sahen. „Zweimal Cola, bitte!“, meinte Tala milde lächelnd. Jetzt sah das Mädchen auf. „Kommt sofo-“ Es hielt in seiner Bewegung inne. „Kai?“ Er nickte. Und stutzte. „Woher hast du denn die vielen blauen Flecke?“ Seine Augen musterten das Kind und in seinem Blick mischte sich eine gewisse Sorge. Doch das Mädchen antwortete nicht. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, musst du nicht...“ „Du kennst sie?“ „Ja, Lin. Hab sie heut Nacht kennen gelernt. Ich glaube, sie hilft hier aus.“ „Hmhm!“ Aufgeregt nickte Lin, denn sie hörte schwere Stiefel über die Dielenbretter eilen. „Shary, ich bezahle dich nicht dafür, dass du mit der Kundschaft redest! Schenk ihnen endlich ein!“ „Natürlich!“ Sie beeilte sich, die Cola in die Gläser zu füllen und kam extra um den Tresen herum, damit sie Tala und Kai ihre Bestellung aushändigen konnte. Dann verschwand sie so schnell es ging in einem Hinterraum. Dort wurde sie unsanft empfangen. Die beiden Freunde hörten nur Gezeter und Gepolter, dann eilige Schritte, die sich entfernten. Letztendlich kam der Wirt aus dem Raum, in den Lin gegangen war. Schnaufend wischte er sich über sein unrasiertes Kinn. Er legte eine alte Pistole auf die Theke. Talas Blick glitt über den abgenutzten Griff, in dem eine rote 9 eingefräst worden war. Eine P38. Er wusste, dass diese Waffe sehr alt war. Die Herstellung begann noch vor 1935, ab diesem Jahr war sie an Streitkräfte der Wehrmacht verkauft worden. Dem Rothaarigen war die Vorliebe einiger Kenner für dieses Modell bekannt, da es schmutzunempfindlicher war als z. B. eine P08, der Standartwaffe der deutschen kaiserlichen Armee um 1908 herum. „Eine Waffe der deutschen Wehrmacht, merkwürdig... Mich würd' interessieren, wo der die herhat“, raunte Tala Kai zu. „Das Magazin fasst 8 Schuss, außerdem passen die Patronen der P08 hinein!“ „Mich interessiert viel eher, was er damit macht!“, stieß Kai grimmig hervor. Ihm war nicht wohl dabei, Lin bei diesem Wirt in dieser Spelunke zu wissen. Er konnte sich nicht erklären, warum er so für das kleine Mädchen empfand. Vielleicht, weil sie ihm so ähnlich war. Er sah Parallelen zu sich selbst und seinem Leben. Denn er glaubte nicht, dass dieser schmierige Typ von Kneipenbesitzer ihr Vater sein sollte. Er trank die Cola in einem Zug leer. Der Regen hatte nachgelassen. „Wir sollten gehen. Es wird Zeit.“ *~*~*~*~* (*) aus dem Internet von einer Seite des von Glahn Reformhaus, und wenn ich ehrlich bin, ist das ein Zitat, also fast wörtlich übernommen. Budit grasa Es wird Gewitter geben Ist es verständlich, wenn ich die Bedeutung der russischen Sätze in die folgenden mit einwebe? Ich hoffe es^^ Kapitel 15: Berufsrisiko ------------------------ Warnung: Dieses Kapitel soll weder Gewalt verherrlichen noch Gewalt als Problemlösung darstellen. Die Situation und das Umgangsfeld der Hauptfiguren erfordert aber gewisse Handlungen, die dem entsprechen. Berufsrisiko „Es geht einfach nicht ab!!“ Kai stand im Badezimmer vor dem Waschbecken und versuchte mit einer Nagelbürste seine Hände zu reinigen. Immer verzweifelter drückte er die Borsten auf seine Haut und schrubbte, so gut er konnte. „Verdammt!! Das Blut!! ... Ich hab ihn umgebracht und es geht nicht mehr ab!!!“ Wieder hielt er seine Hände unter den Wasserstrahl. Da trat Tala hinter ihn. „Weil es bereits dein Blut ist...“ Er nahm ihm die Bürste weg, drehte das Wasser aus und trocknete seine Hände. „Schau!“ Er zeigte auf sie. Die Haut war rissig, die Borsten hatten Kratzer gezogen, aus denen es rot hervortrat. Es würde schon bald trocknen und die Wunden verschließen. „Er ist tot! Ich bin ein Mörder!!“ Kai sah auf Talas Brust und doch durch sie hindurch. „Tja...“ Schulterzuckend zog der Rotschopf ihn am Arm hinaus. „Ein bisschen Schwund ist immer.“ Folgendes war passiert... Sie hatten das Gebäude erreicht. Es war umzäunt von riesigen Metalllatten, welche oben spitz zuliefen. Die Freunde saßen auf einer Bank gegenüber, zwischen ihnen und ihrem Zielobjekt verlief eine Hauptstraße. Doch die Dunkelheit, die sie umhüllte, gab ihnen Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten. Kai atmete tief durch. Der Boden war noch nass vom Regen, aber die Wolken hatten sich größtenteils verzogen. Langsam spürte er die süße Wärme, die durch seinen Alkoholgenuss in ihm aufstieg. Er schloss die Augen. „Rechts neben dem Eingang ist ein Betongraben, dahinter ein Fenster. Dieses führt zu den Toiletten.“ Tala hackte auf die Tastatur des Laptops ein. Er durchforstete den Grundriss der Zentrale. „Hier, damit hörst du mich, steck es in dein Ohr!“ Er reichte Kai einen kleinen Chip. Der Blaugrauhaarige tat wie befohlen. „Der Lüftungsschacht zieht sich bis in die oberste Etage und in die Keller. Der Rechner ist gut gesichert, du musst auf die Alarmanlage aufpassen. Brich das Fenster nicht mit Gewalt auf. Und denk an die Überwachungskameras!“ Kai nickte. Das war alles. Er packte den Rucksack, schnürte ihn so schmal es ging an sich fest und stand auf. Er sah sich nach Fahrzeugen um. Als keines kam, nahm er gehörigen Anlauf. Damit rannte auf den Zaun zu, sprang am Metall hoch und schon landete auf der anderen Seite. Noch einmal drehte er sich um, reckte Tala seinen linken Daumen empor und verschwand dann auf der rechten Seite im Dunkeln. Es dauerte eine Weile, bis er das Fenster aufhebeln konnte. Seine rechte Hand war immer noch eingegipst, was es ihm schwer machte, schnell voranzukommen. „Na endlich!“ Sein Weg war offen. Er kletterte hindurch. Flüchtig sah er nach, ob ihn jemand entdeckt hatte. Nein. Er legte seinen Rucksack ab und steckte seine Waffe, eine 9mm Parabellum, hinter einem Gummizug an seinem linken Hosenbein, denn falls er davon Gebrauch machen musste, hatte er sie mit links zu bedienen. Zuletzt packte er noch das vorbereitete Seil aus. Er sah aus wie ein Dieb in seiner schwarzen Kluft und den Handschuhen, die er trug. Und er war es ja auch, jedenfalls bei diesem Auftrag. Nun trat er auf den Gang hinaus. Eine Überwachungskamera schwenkte gerade in seine Richtung. Kai huschte in den Schatten, dort, wo er nicht mehr im Blickwinkel der Kamera war. Da sah er auch schon eine Klappe des Lüftungsschachts. Behände kletterte er hinein. Nachdem er den Schacht wieder verschlossen hatte, kroch er weiter. „Du wirst jetzt auf eine Art Kreuzung kommen, da musst du links!“, erklärte ihm Tala durch den Minikopfhörer. Der Rothaarige seinerseits überwachte die ganze Aktion gewissenhaft. Er hatte den Lageplan, die Kameras und das Gebäude gleichzeitig im Blick. ~War zwar teuer, aber die Anschaffung dieser Geräte hier hat sich sehr gelohnt!~, dachte er. Zielsicher lotste er seinen Freund durch die Gänge. „So, du müsstest jetzt direkt darüber sein!“ Kai nickte. Er stieg aus dem Schacht hinab auf den Gang und stand vor einer Tür. Sie war durch Netzhauterkennung und Sicherheitscode geschützt. Der Junge nahm einen Draht zur Hand, machte das eine Ende am Gerät für die Netzhaut, das andere in einer Steckdose fest. Es gab einen Kurzschluss, ein Schutz fiel schon mal weg. Jetzt galt es, den Code einzugeben. Das war Talas Metier. Kai beschrieb ihm die Konstruktion, die er vorgefunden hatte. Es dauerte nicht lange, da hatte Tala eine Zahlenkombination herausgefunden, die Kai eintippen konnte. Die Tür ging auf. Ab hier war für das Team alles ganz einfach. Kai hackte sich in den Computer ein. Nun hatte er Zugriff auf den Hauptrechner. Er durchforstete die Dateien nach verschiedenen Stichwörtern. Das, was er fand, speicherte er auf einem USB-Stick. Als er sicher war, dass er alles hatte, was er wollte bzw. brauchte, steckte er seinen Datenträger ein, verwischte seinen Spuren, die er im Laufwerk des Rechners hinterlassen hatte, wie Tala es ihm sagte, und verließ den Raum wieder. Erleichtert, dass ihre Aktion doch einfacher ablief als erwartet, schlenderte Kai den Gang entlang. Gerade wollte er wieder in den Lüftungsschacht klettern, da sah er einen Lichtpegel über den Boden huschen. Es war zu spät, um sich zu verstecken, denn schon blendete ihn das Licht einer Taschenlampe in der Hand eines Wachmannes. „Sie da! Stehen bleiben! Keine Bewegung!“ Kais linke, unverletzte Hand wanderte langsam zu seiner Pistole am Bein. „Lassen Sie das!“ Seine eigene Waffe im Anschlag ging er auf den Jungen zu. Anscheinend widerstandslos ließ dieser sich die Arme auf den Rücken drehen, bereit, abgeführt zu werden. Doch bevor der Wachmann ihm Handschellen anlegen konnte, bückte Kai sich blitzschnell. Mit einem gezielten Tritt vor das Knie machte er sich los und ließ den Mann keuchend zu Boden gehen. Kai dachte, das würde reichen, also lief er wieder zur Schachtöffnung, sprang hinauf und stemmte sich hoch. Nur noch seine Beine schauten heraus. Unerwartet wurde er aber gepackt und mit roher Gewalt auf den Boden geworfen. Der Mann kniete über ihm und drückte ihm den Lauf seiner, wie Kai feststellte, Walther PP7 auf die Brust. „Lassen Sie mich gehen, dann muss ich Ihnen auch nicht weh tun“, meinte Kai höflich. Verdutzt darüber lockerte der Ältere seinen Griff. Das nutzte Kai aus, schlug dem Wachmann die Waffe aus den Händen und stieß ihn mit den Beinen von sich. Er sprang auf, wollte fliehen, ohne den Mann zu verletzen. Doch wieder wurde er an seinen Füßen gefasst und dadurch zu Fall gebracht. Keuchend kroch der Wachmann auf die sich wehrende Person zu. Er fischte mit einer Hand nach seiner Walther. Kai drehte sich auf den Rücken, um ihn im Blick zu haben. ~Er ist nah, viel zu nah!~, schoss es dem Jungen durch den Kopf, als sich der Körper vor ihm bewegte, sich auf seine Beine setzte und seine Arme festhielt. „So, nun halten Sie still, damit ICH Ihnen nicht weht tun muss!“, schnaufte der Mann. Er war schon etwas älter und anscheinend für solche Eskapaden nicht mehr geeignet. „Verzeihung...“ Kai schlug ihm mit der linken Faust hart ins Gesicht. Es gelang ihm so, den Wachmann umzuwerfen. Sie rollten gemeinsam über den Flur, jeder von ihnen bemüht, Herr der Lage zu werden. Kai versuchte, die Pistole an sich zu nehmen. Aber sein Gegner war hartnäckig. Da knallte es. Ein Schuss hatte sich gelöst. Kai sah, wie der Mann über ihm ein erschrockenes Gesicht machte und zusammensackte. Schnell fasste er nach dessen Schultern und legte ihn behutsam auf den Rücken. „Kai? Hey, lebst du noch? Kai?!!“ Talas Stimme vibrierte in seinem Ohr. Aber er hatte die Wunde entdeckt, aus der unheimlich viel Blut quoll. „Verd – Es tut mir leid, das wollte ich nicht!“ Er drückte das Einschussloch in der Brust mit beiden Händen fest zu, bedacht, die Blutung zu stoppen. Das Gesicht des Mannes nahm einen seltsamen Ausdruck an. „Ich gehör doch zu euch, verstehen Sie? Halten Sie durch, ich ruf einen Krankenwagen...“ „Schon erledigt, Kai, mach dir keine Sorgen, aber komm da jetzt raus! Ihr habt die Alarmanlage ausgelöst!“, meldete sich Tala wieder, erleichtert, als er die Stimme seines Freundes gehört hatte. Kai widerstrebte jedoch. „Nein, nein! Ich kann nicht weg, er blutet wie ne Sau – verzeihen Sie – hier gibt es nichts, was...“ Er brach ab, als er spürte, wie etwas seine Hand berührte. Der Wachmann sah ihn ernst an, ihm war bewusst, dass der Junge bei ihm sich ehrlich bemühte ihn zu retten. „Un... fall... ein Unfall...“, presste er hervor. Kai nickte. Er riss an dem Ärmel der Uniform, die der Wächter trug, um den Stofffetzen auf die Wunde zu drücken. Bereits nach kürzester Zeit war dieses blutdurchtränkt, wie schon davor Kais Handschuhe. Von weitem waren die Sirenen der Rettungswagen zu hören. In dem Moment schloss der Mann die Augen. Seine Muskeln entspannten sich. Ganz ruhig lag er da. ~Nein! Nicht schon wieder! Nicht wieder eine Blutlache...~ Kais Blick wurde leer. Wie in Trance stand er auf. „Junge, hau ab jetzt, das ist die letzte Gelegenheit! Verschwinde!“ Tala gab ihm einen mentalen Tritt in den Hintern. Und sein Freund gehorchte. Er kroch zurück in den Lüftungsschacht. Dabei merkte er nicht, wie ein rotes Licht heimlich seinen angestammten Platz verließ und zurück zum Ort des Geschehens schwebte. Kai kam auf selbem Wege zurück, wie er gekommen war. Und ohne ein weiteres Wort huschte Krowawaia Boinia in den Schutz des Dickichts, sie sahen noch, wie der Krankenwagen ankam, dann aber gingen sie fort. „Du hast schon so oft jemanden ins ewige Reich der Träume geschickt, zuletzt Kurai. Also, warum regst du dich jetzt so auf?“, fragte Tala, der sich zur Entspannung eine Zigarette anzündete. Es war eine lästige Angewohnheit, die er begonnen hatte, als er das erste Mal jemanden getötet hatte. Das war ungefähr ein oder zwei Jahre her. „Ja, aber er war einer von den Guten! Sonst hatten wir Drogendealer, andere Mörder oder sonstige Typen, aber nie einen Unschuldigen!“ Kai hatte angefangen, hinter Tala, welcher auf dem Sofa im Wohnzimmer saß, auf und ab zu gehen. Dann neigte er sich über die Rückenlehne der Couch und stützte seine Hände auf der Sitzfläche ab. Tala nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, während er Kai seinen Glimmstängel hinhielt. Der Silberhaarige nahm ihn und zog einmal. Er blies den blaugrauen Rauch durch die Nase wieder aus, ohne zu husten. Die beiden Freunde teilten sich die Zigarette, bis sie aufgeraucht war und Tala sie in einem Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch ausdrückte. „Hast du auf die Kameras geachtet, als ihr euch geprügelt habt?“ „Machst du Witze? Natürlich nicht!“ „JA UND WARUM NICHT?!“, polterte Tala los. Er war aufgestanden. „Du hast weder eine Maske, noch einen Helm getragen! Dein Gesicht ist weltbekannt, du Meisterblader! Was werden wohl die Nachrichten sagen, wenn sie erfahren, dass KAI HIWATARI, Bladerstar am Himmel des Erfolges, nachts in das Gebäude der obersten Sicherheitsbehörde eingedrungen ist und einen Wachmann erschossen hat?!!!“ Jetzt hatte sich auch Kai erhoben. Sie standen sich nun nah gegenüber, fast Nase an Nase, und Kai funkelte Tala wütend an. „Hör auf, das weiß ich selber! Du hättest doch auch nicht daran gedacht, in so einer Situation!“, verteidigte er sich. „Und außerdem ist Tyson Weltmeister, schon vergessen?“ Tala schnaubte verächtlich. „Du kommst in die Klapse, das sag ich dir! Ach, ich vergaß: Da warst du ja schon fast!!“ Das war zuviel. Kai scheuerte seinem Freund die Hand ins Gesicht. Der Abdruck auf Talas Wange brannte und verfärbte sich rasch rot. „Du Arsch! Das ist nicht wahr! Ich bin nicht verrückt!! ICH BIN NICHT VERRÜCKT!!!“, schrie er und stürzte sich auf den Rothaarigen. Dieser packte ihn und warf ihn zu Boden. Kai trat und schlug um sich. Tala steckte einiges ein. Aber auch er war nicht zimperlich. Er verpasste Kai schallende Ohrfeigen und hieb ihm das ein oder andere Mal seinen Ellenbogen in den Bauch. Ihr Kampf war rau und hart. Kein Wort fiel während der Prügelei und als sie miteinander fertig waren, blieben sie keuchend und schnaufend rücklings auf dem Teppich liegen. Das hatten sie gebraucht. „Danke...“, murmelte Kai. „Kein Thema. Hat sogar Spaß gemacht!“ Tala grinste. Er drehte sich auf die Seite und beugte sich über Kai. „Oh, da hat aber jemand was abgekriegt, das wird ja jetzt schon ganz blau!“ Schuldbewusst setzte er sich auf. „Ein bisschen Schwund ist immer...“, zwinkerte Kai. Die Spannung zwischen ihnen hatte sich wieder gelöst. Eine beruhigende Atmosphäre breitete sich im Raum aus. Und sie genossen es. Kapitel 16: Discofox und andere Unannehmlichkeiten -------------------------------------------------- Kai stand vor dem Fenster und sah nach draußen. Die Sonne hatte das Gras vom gestrigen Regenschauer gänzlich getrocknet. Es ging auf den Abend zu. Tala hatte es sich wieder auf dem Sofa gemütlich gemacht und zappte durch die Fernsehkanäle. Bei einem, der die Nachrichten brachte, stoppte er. In dem Moment klingelte es an der Tür. Da Kai keine Anstalten machte, sich zu bewegen, übernahm der Rothaarige diese Aufgabe und öffnete die Haustür. Kenny, Max und Tyson kamen von einem langen Einkauf zurück, zeitgleich mit Ray, der eine Runde um den Block gejoggt war. Seit dem Match zwischen ihm und Kai hatte letzterer sich nicht mehr um ihr Training gekümmert. Und wie er vorausgesagt hatte, waren seine Kollegen nicht besonders voran gekommen. Außerdem weigerte Kai sich auch strikt, überhaupt mitzumachen, da er keinen Bitchip mehr besaß und seine Finger gebrochen waren. Die Jungen tolerierten dies, da sie es auf Kais Verlust von Dranzer zurückschoben, von dem sie nicht wussten, dass das Bit Beast niemals weg war. Aber... Es machte doch einen Unterschied, ob der Teamleader das Training aufbaute und koordinierte oder ob sie es selbst in die Hand nahmen und sich von Kenny Ratschläge geben ließen. „Hi Tala! Du hier? Ist Kai auch da?“ Der Angesprochene ließ sie eintreten und nickte. „Jepp, im Wohnzimmer.“ Er selbst ging in selbiges zurück und spielte mit seinem Feuerzeug, während sein Blick gelangweilt den Bildschirm streifte. Dann nahm er seine Zigarette wieder auf und zog einmal kräftig daran. Derweil kam Tyson ins Zimmer und protestierte: „Hey! Das hier ist eine Nichtraucher-WG!“ Missbilligend musterte er den vollen Aschenbecher auf dem Tisch. „Kai, nun sag du doch auch mal was!“, wandte er sich an seinen Leader. Doch dieser blieb stumm, öffnete nur mit einer Hand das Wohnzimmerfenster, vor dem er stand. Tyson bemerkte den blauen Dunst nicht, der bei Kai aufstieg. „Um Himmels Willen, warum stinkt es hier denn so?“, bemerkte Ray und rümpfte die Nase, als er das Wohnzimmer betrat. Max, der in der Küche hantierte, machte dort erst mal das Fenster auf. Und auch Kenny, der seine neu erworbenen Ersatzteile auf dem Küchentisch ausbreitete, verzog das Gesicht. „Tut mir leid, ich wusste nicht, dass euch das so stört!“, entschuldigte Tala sich. Gerade wollte er seine Zigarette wegschmeißen, als er den Nachrichtensprecher hörte: „In der Nacht von Freitag auf Samstag ist in die Polizeizentrale eingebrochen worden. Folgende Bilder sind von den Überwachungskameras aufgezeichnet worden...“ Kai horchte auf. Langsam und geräuschlos drehte er sich um. Auch der Rest des Teams wandte sich dem Fernseher zu, um interessehalber etwas zu erfahren. Die Kamera war schlecht angebracht, so konnte man den Kopf des Angreifers nie erkennen. Nur Bruchstücke der Auseinandersetzung waren sichtbar. Entweder sah man den Wachmann, den Rücken oder die Beine des Einbrechers, der irgendwo an der Decke verschwunden war. Nun zeigten die Bilder das Gerangel, dann wie der Wachmann plötzlich absackte und der Dieb sich über ihn kniete. Was genau er machte, war nicht erkennbar. Nervös blies Kai den Rauch aus seinen Lungen. Der Angreifer verschwand im Schacht. Zeitgleich wurde es sehr hell im Gang, die Kamera konnte nichts mehr aufnehmen, die Linse wurde geblendet. Erst als Sanitäter bei dem Wachmann waren, schärfte sich das Bild wieder. „Der Grund für den Überfall ist unbekannt. Die zuständige Behörde hüllt sich über das, was entwendet wurde, in Schweigen. Der Verletzte ist auf dem Wege der Besserung, befindet sich zur Zeit jedoch noch im Koma. Die Polizei vermutet...“ „Gott sei Dank!“ Erleichtert atmete Kai auf und Tala lächelte beruhigt. Vier Köpfe drehten sich synchron um. Kai drückte seinen qualmenden Glimmstängel im Aschenbecher aus. „Aber Kai!!“, riefen die Jungen gleichzeitig. Der Teamleader wusste nicht, was seine Kollegen meinten und schielte fragend zu ihnen. „Wenn Tala das macht, okay, aber du, als Vorbild! Du bist doch erst 16!“, meinte Max entrüstet. Tyson ergänzte: „Das ist total ungesund und schädlich für dich und deine Mitmenschen!“ Genervt verdrehte Kai die Augen. „Mann, macht doch nicht wegen einer einzigen Kippe so ein Theater!“ „Eine Kippe?! Jede Zigarette verkürzt das Leben um 15 Minuten!“, mahnte Kenny empört. Tala warf Kai einen vielsagenden Blick zu. Grinsend erwiderte der Blaugrauhaarige Kenny: „Ja, aber jeder Sex verlängert das Leben um 15 Minuten!“ Der Braunhaarige errötete und stammelte etwas davon, das sei nicht wissenschaftlich erwiesen. Kai und Tala lachten leise. „Du bist echt unmöglich, Kai!“, warf Ray böse ein. „Wir machen uns ernsthafte Sorgen und du ziehst das alles ins Lächerliche! Findest du das fair?“ „Wer hat behauptet, dass das Leben fair ist? Aber na gut, wenn es euch so beschäftigt, dann gewöhnt Tala sich das Rauchen eben ab.“ „Okay, wie du meinst...“ „Und was ist mit dir?“, fragte Max verständnislos. „Wenn ich aufhöre, dann kann Kai sich auch nicht dauernd von mir welche leihen“, erklärte Tala. „Hey! Das ist echt mal eine gute Idee, du alter Schnorrer! Da hast du dich selbst verarscht!“ Lachend klopfte er seinem Freund auf die Schultern. Dann wandte er sich an die Bladebreakers: „Hey, habt ihr nicht vielleicht Lust mit uns ins ‚Purple Sky’ zu kommen?“ Das ‚Purple Sky’ war eine etwas kleinere Diskothek unter russischer Leitung ganz in der Nähe. Der Rothaarige hatte vor, den letzten Einsatz gebührend zu begießen. „Danke für die Einladung, aber wir haben heute alle schon was vor“, sagte Kenny entschuldigend ab. „Schade. Na ja, da kann man wohl nichts machen. Komm, Kai, wir ziehen uns um!“ Tala ging aus dem Zimmer und stieg schon die Treppen hoch, als er rief: „Ey, Kai? Kann ich bei dir duschen?“ „Ja klar, kein Problem. Nimm das Badezimmer oben, ich komm gleich nach!“, antwortete ihm der Silberhaarige, während er den Aschenbecher in der Mülltonne entleerte. Die Idee, heute Abend auszugehen, gefiel ihm ganz gut und er freute sich schon darauf. Gerade wollte er nach oben gehen, da hörte er Rays erschrockene Frage: „Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?!“ Kai fasste an sein linkes Auge, wo er wahrscheinlich einen von Talas Ellenbogen abbekommen hatte. Dort erblühte bereits ein recht ansehnliches Veilchen in den schönsten Farben. „Bin gegen meine Schranktür gelaufen“, nuschelte er leise, auch wenn er selbst wusste, wie unglaubwürdig das klang. Schnell verließ er daher das Wohnzimmer, um zusammen mit Tala ein paar passende Klamotten auszusuchen. „Hey, siehst du die Kleine dort?“, fragte Tala und deutete auf ein Mädchen, welches mit mehreren anderen an einem Tisch saß. Er selbst hatte es sich wie Kai auf einem Barhocker bequem gemacht. „Wo?“ Der Graublauhaarige drehte sich um und lehnte sich an den Tresen. „Na, die da vorne am Tisch, im roten Kleid! Die mit den grünen Augen und mittellangen schwarzen Haaren!“ „Du kannst ihre Augenfarbe von hier aus erkennen?“, feixte Kai. „Nun, ja, die seh ich. Wasn damit?“ „Ey, die sieht doch scharf aus, oder nicht?!“ Tala war sichtlich fasziniert von dem Mädchen. Kai betrachtete es lange, nahm einen Schluck seines Martinis und meinte nur „Hm.“ „Also, ich geh jetzt zu ihr. Wer besser bei ihr ankommt, ok?!“ Grinsend leerte Tala sein Glas, welches er dann auf dem Tresen abstellte. Kai protestierte: „Findest du das fair? Ich mit meinem Auge verlier doch eh, Mädchen stehen nicht auf Brutalos!“ Der Rothaarige konterte mit einem frechen „Wer weiß?“ und machte sich dann auf den Weg zu dem schwarzhaarigen Mädchen. Sein Freund beobachtete das grinsend. Er wusste, dass die Chancen für Tala 50:50 standen. Er leerte nun ebenfalls sein Glas und bestellte einen doppelten Wodka-Martini und noch einen für den Rotschopf. Derweil sprach dieser das Mädchen an. Er neigte sich zu ihr runter, näherte sich ihrem Ohr und flüsterte ihr etwas hinein. Kai sah, wie sich die grünen Augen weiteten, wie die Schwarzhaarige weit ausholte und Tala eine gepfefferte Ohrfeige verpasste. Der Rothaarige schaute verdutzt und kehrte dann niedergeschlagen und mit hängendem Kopf zur Theke zurück. „Lach nicht!“, grummelte er, da Kai versuchte einen Lachanfall zu ersticken und es nicht schaffte. Tala hatte einen deutlichen Handabdruck im Gesicht. Und immer noch kichernd schob Kai ihm den bestellten Cocktail rüber, welchen Tala dann auch sofort hinunterstürzte. „Okay, also dann bin ich wohl jetzt dran. Was hast du ihr eigentlich gesagt?“, fragte Kai, als er sich endlich beruhigt hatte. Tala pfiff verächtlich durch die Zähne. „Das werd ich dir auch grade sagen!“ „Na gut, dann nicht. Bis gleich!“ Kai rechnete sich nicht wirklich Chancen aus. Wenn Tala schon abgeblitzt war... Er ging zu dem Mädchen, lächelte es charmant an und meinte: „Hi! Hast du Lust zu tanzen?“ Die Schwarzhaarige sah Kai, dann ihre Freundinnen und dann wieder Kai an und erwiderte: „Gern.“ Zusammen gingen sie zur Tanzfläche. Die Musik dröhnte in ihren Ohren, sie konnten kaum ein Wort des anderen verstehen, darum mussten sie sich gegenseitig anschreien, um miteinander reden zu können. „Sag mal, wie fandest du eigentlich den Rothaarigen dort?“, fragte Kai das Mädchen, als sie sich gerade gegenseitig antanzten. „Ein Freund von dir? Willst du uns jetzt verkuppeln?“, entgegnete es lachend. „Hm... Nein! Ich finde dich sehr hübsch, hab mich aber erst nicht getraut, dich anzusprechen!“ Er fühlte, wie sie unter seinem Lächeln schmolz. „Bestimmt! So schüchtern siehst du doch gar nicht aus!“ Sie lachten beide. Nach zwei weiteren Songs verabschiedeten sie sich voneinander, denn die Schwarzhaarige musste gehen. Doch zuvor stellte sie sich auf Zehenspitzen, zog Kai im Nacken zu sich hinunter und küsste ihn – lange. Dem Silberhaarigen gefiel das gar nicht mal so schlecht. Währenddessen war Tala aber auch nicht untätig gewesen. Fleißig flirtend hatte er viele weibliche Wesen kennen gelernt. Doch richtig gefunkt hatte es noch nicht. Plötzlich kam jemand von hinten auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals. „Vergeben?“, fragte ihn eine helle Stimme unvermittelt. Tala drehte sich um. „Ähm... Nein?“, entgegnete er leicht verwundert. In dem Moment kam Kai zurück, setzte sich auf den Platz neben die beiden und bestellte sich ein Bier. Das Mädchen musterte Kai kurz prüfend, sah dann wieder Tala an. „Schwul?“ „Nein!?!“, gab Tala entrüstet von sich. Neben ihm prustete Kai vor Lachen in sein Glas. „Okay, dann komm!“ Ohne weiteren Aufhebens zerrte es Tala auf die Tanzfläche. Schmunzelnd sah Kai ihnen nach. Dann wandte er sich ab und bekritzelte aus Langeweile seinen Bierdeckel. Das Mädchen tanzte sehr gut. Es gefiel Tala sehr, wie sie ihren Körper bewegen konnte. Ariana, so hieß seine neue Entdeckung, war in seinem Alter und wie es schien, ordentlich trinkfest. „Bist du denn oft hier?“, fragte Tala. Sie lachte ihn an und rief: „Ja, schon das ein oder andere Mal!“ Über mehr unterhielten sie sich nicht. Ein vernünftiges Gespräch konnten beide schon lange nicht mehr führen, dazu waren sie viel zu angetrunken. Um nicht zu sagen betrunken... Aber ihre Körpersprache drückte ihre Stimmung auch ohne Worte aus. Sie sahen sich beide lange an. Dann beugten sie sich gleichzeitig etwas vor. Sanft berührten ihre Lippen einander, zunächst vorsichtig und zögernd, dann immer fordernder. Talas Hand rutschte unter ihr Tanktop und schob es ein Stück hoch. Arianas Finger strichen über seinen Oberkörper und knöpften schließlich sein schwarzes Hemd auf, wo sie seine Muskeln erkundeten. Ein Kribbeln breitete sich in ihm von den Stellen aus, wo sie ihn berührte. Tala zog Ariana näher zu sich, streichelte leicht an den Seiten ihrer Taille entlang. Im Gegenzug spürte sie etwas an ihrem Oberschenkel, was sie lächeln ließ. Sie lösten den Kuss mangels Sauerstoff. Ariana legte ihre Hände in Talas Nacken, drückte sich an ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Komm mit!“ Sie nahm seine Hand und lief, leicht torkelnd, zu den Toilettenräumen. Mit einem Seitenblick sah Kai das Pärchen verschwinden. Plötzlich hatte er einen roten Drink vor sich stehen, den er nicht bestellt hatte. Fragend schaute er zum Barkeeper. „Von der Lady dort drüben im roten Kleid“, erwiderte dieser. „Aha.“ Der 16-Jährige sah in die Richtung, nahm das Glas, nickte ihr zu, und als die Frau ihres ebenfalls erhob, kam er auf sie zu. „Darf man sich setzen?“ „Aber gern.“ Sie war deutlich älter als Kai, vielleicht 25 Jahre alt, und lächelte ihn an. Das rote Kleid betonte ihre Figur, sie war schlank und ihr Dekolleté bot interessante Einblicke, eine lange Kette diente als Blickfang dafür. Das kastanienbraune Haar fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern. „Du bist attraktiv. Wie alt bist du?“ Ihr Verhalten war sehr elegant und vornehm. Ihr Auftreten ließ darauf schließen, dass sie aus der gehobenen Businessclass kam. „Hm, alt genug würde ich sagen.“ Kai setzte sein Gewinnerlächeln auf, was er schon oft an Mädchen ausprobiert hatte. Auch bei ihr schien es nicht fehl am Platze. Ihre Unterhaltung jedoch befand sich auf einem bestimmten Level. Diese Lady war nicht zum Spaß gekommen, das spürte Kai. Sie hatte einen anderen Antrieb, sich mit ihm zu amüsieren. Nach weiterem Smalltalk mit der jungen Frau schwiegen sie sich kurz an. Dann sah die 25-Jährige zu Kai. „Ficken?“ Kai schien von der Frage nicht besonders beeindruckt. Er zuckte mit den Schultern, wiegte den Kopf hin und her, überlegte, nickte dann. „Okay.“ Sie standen auf und gingen ebenfalls in die Richtung, wo sich die Toiletten befanden, die sich in der Farbe voneinander unterschieden. Die Damentoilette war in rosa oder fliederfarben gehalten, die für Herren in himmelblau, und am Eingang hing jeweils ein rotes und ein blaues Schild, welche die Geschlechter trennten. Jedoch gingen sie in keine dieser Türen hinein, sondern ein paar Schritte weiter. Kai folgte ihr in angemessenem Abstand. In einer Nische bei einem Münztelefon fielen sie übereinander her. Trotz der Absätze ihrer Stiefel war Kai größer als sie. Die Frau presste den Jungen gegen die Wand, verkrallte ihre Hände in seinen Haaren und leckte kurz über seine Lippen, ehe er diese öffnete und ihm Zugang zu seiner Zunge gewährte. Ihr Spiel glich einem Kampf, sie verschlangen einander, standen sich in nichts nach, bis sie sich atemlos voneinander lösten. „Hör zu“, wisperte sie gegen seine Lippen, „deine Anfragen bezüglich deiner Zielpersonen sind eingetroffen.“ Sie sprach von seinen Eltern. Also war sie eine Kontaktperson? Was hatte er ein Glück, heute mit Tala hierhin gekommen zu sein! Oder hatte Tala das etwa extra arrangiert? Wahrscheinlich. Egal, er hörte ihr weiterhin aufmerksam zu. Immer, wenn jemand näher kam, drückte sie sich wieder näher an ihn und versiegelte seine Lippen und ein neues hitziges Zungengefecht begann. Einmal sogar stieß Kai sich von der Wand ab, drehte sich um und wechselte mit ihr die Positionen. Sie wusste viel, enorm viel. Er merkte sich alles, sog jede Information in sich auf. Das, was sie ihm sagte, würde er auf keinen Fall vergessen. „Das war alles. Tut mir leid, mehr kann ich dir nicht sagen.“ Kai nickte. Er bedankte sich und nach einem letzten Kuss entfernte sie sich. Der Silberhaarige dagegen wartete einige Minuten, ehe er sich in Bewegung setzte. Da stieß er mit jemandem zusammen. „’Tschuldigung... Oh, Tala! Du bist es. Und, wie war’s?“, fragte Kai neugierig. „Ich brauch ne neue Hose...“, grummelte Tala. Kai sah an ihm hinunter. Sein Schritt war durchnässt, aber auch sein linker Oberschenkel war feucht. Irritiert meinte Kai: „Wieso das denn? Hat sie dir...?“ „Auf die Hose gekotzt, ja!!!“, beendete Tala den Satz ärgerlich. „Oh, ähm... ihh.“ Kai beugte sich hinunter und begutachtete die Jeans. „Nun, eigentlich hatte ich gedacht, dass sie etwas anderes gemacht hat... Du weißt schon...“ Neckend klopfte er dem Rothaarigen auf den Reißverschluss der feuchten Jeans. „Jahaha, wäre schön gewesen, wenn!“, brummte Tala, meinte dann: „Können wir jetzt gehen?“ „Einen Moment noch, ich wollte noch mal kurz auf die Toilette.“ Er wandte sich zum Gehen, und schickte sich an, den mit rosa Kacheln gefliesten Raum zu betreten. Da packte Tala ihn entsetzt am Arm: „HALT, WARTE!! Das ist ein Mädchenklo!!“ Kai stutzte und schüttelte den Kopf. Aber auf dem Weg zur Herrentoilette drehte er sich grinsend um und rief: „Und wieso darfst du dann da rein und ich nicht?“ „Das ist was ganz anderes!“, antwortete der Rotschopf ihm und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. „Beeil dich gefälligst, es ist schon fünf Uhr!“ Kapitel 17: Wann immer du mich auch brauchst – ich werde für dich da sein ------------------------------------------------------------------------- „Und du hast ihr wirklich die Zunge in den Hals gesteckt?“ „Ja sicher. Aber sie hat angefangen!!“ Tala war verblüfft. „Wow, das hätte ich von dir nicht erwartet. Wie alt war sie denn?“ Gemütlich schlenderten die beiden Jungen die Straße entlang, es war fast sechs Uhr in der Früh und sie unterhielten sich über den Abend. „Na ja, ich schätze sie auf etwa 20 bis 25 Jahre, weil sie auch sehr erfahren und außerdem gebildet war.“ „Ohoho! Eine erfahrene Intellektuelle! Hätte ich auch gerne in meiner Sammlung!“, feixte der Ältere. Kai verdrehte die Augen. „Du weißt ganz genau, dass es....“ „...Arbeit war, jajaaa, natürlich... So eine Art von ‚Arbeit’ möchte ich auch mal haben...“ Grinsend blieb Tala an einem Schaufenster einer Bäckerei stehen. „Ich habe Hunger... Können wir n kurzen Abstecher machen, vielleicht auch auf nen Kaffee oder so?“ „Von mir aus...“, antwortete der Silberhaarige schulterzuckend. Sie betraten das Geschäft, das schon geöffnet hatte. Während der Rothaarige die Auslagen betrachtete, ging Kai die Regale ab. Ihm fiel eine Pralinenpackung auf, kleine Schokoladenhügel, verziert mit Zartbitterschokolade. „Raffinierte Knusper Cappuccino-Pralinés…”, las Kai. Im selben Moment zuckte das Bild eines kleinen Mädchen, das ihn anlächelte, durch seinen Kopf. Er beschloss, ihr eine Packung davon mitzubringen. ~Liegt ja eh auf dem Weg~, dachte er. Da fiel ihm noch etwas ein. „Hey Yu!“ Kai wandte einen neuen Spitznamen für seinen besten Freund an. „Jetzt ist es doch egal, also sag schon: Was hast du der Schwarzhaarigen eigentlich erzählt, dass sie dir eine gepfeffert hat?!“ Tala seufzte, nahm dankend zwei Tassen Kaffee und ein Schokobrötchen, bezahlte und setzte sich auf einen Stuhl an einem runden Tisch. Er biss einmal von seinem Brötchen ab und schielte Kai ergeben an, so dass dieser sich zu ihm setzte. „Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen einem Rasenmäher und einem Minirock?“ „Nee.“ „Na dann fass mal drunter...“ „TALA! ... Also echt... deinen Humor möchte ich nicht haben... Aber du hast nicht auf meine Frage geantwortet!“ „Das war die Antwort.“ Kai verschluckte sich an seinem Kaffee und hustete. „Oh mein Gott, da ist es ja kein Wunder, dass du abgeblitzt bist!!“ Er grinste. „Vollidiot, echt!“ „Na toll, das sagst ausgerechnet du mir? Der sich von einer fast 30-jährigen hat abschleppen lassen?!“ „Sie war höchstens Mitte 20 und es war Arbeit.“ Ein spöttisches Schnauben seitens Tala. „Und außerdem bin ich bei der Schwarzhaarigen trotz meines blauen Auges gut weggekommen. Übrigens... ich hab festgestellt, das Verletzungen hilfreich beim Baggern sind, dann fragen nämlich alle Mädels danach und betüddeln einen...“ „... oder sie müssen betüddelt werden, weil sie allein nicht mehr laufen können...“ Beide Freunde seufzten schwer. „Weiber...“ „Hast du eigentlich was dagegen, wenn wir noch kurz eben bei einer Bekannten vorbeischauen?“, fragte Kai. „Du meinst doch nicht dieses kleine Mädchen, von dem du mir erzählt hast?“ „Doch, genau das. Ich möchte ihr gerne etwas schenken.“ Er trank seinen Kaffee auf, besorgte diese Pralinen, die er beim Eintreten entdeckt hatte, bezahlte und zeigte sie Tala. „Hm, wie du meinst. Aber... was versprichst du dir davon? Was soll das Gerede von wegen du könntest sie nicht mehr vergessen blabla?!“ „Sie erinnert mich halt auch ein bisschen an mich selbst... Du hast mir geholfen, du weißt, wie wichtig du mir bist und ich kann das nicht wiedergutmachen, wie gut du zu mir warst. Aber vielleicht kann ich an anderer Stelle etwas Gutes tun... ich möchte ihr helfen.“ „Oh je, der heilige Samariter... Viel zu viel ‚gut’ in deinem Sprachgebrauch, wenn du mich fragst. Aber von mir aus, gehen wir dahin.“ Kai legte eine Hand an Talas Wange und sah ihm bedeutungsvoll in die Augen. „Es ist mir ernst mit ihr. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass da etwas ist, was ich ändern kann, es aber nicht tue. Du musst mir nicht zustimmen. Du musst mich nicht verstehen. Es ist nur so...“ Tala unterbrach ihn ruhig: „Hör zu, als dein Freund akzeptiere ich dich so, wie du bist. Ich weiß, dass du einfach manchmal ein fürchterlicher Narr bist, oder dass du Angst hast, ein Schwächling zu sein. Ich weiß das – und ich ignoriere das. Denn ich glaube fest daran, dass alles, was du tust, in deinen Augen Sinn ergibt. Und solange dem so ist, solange werde ich dich in allem unterstützen, wo du meine Hilfe brauchst. Ich akzeptiere dich so, wie du bist – erwarte aber auch von dir, so zu sein, wie du wirklich sein kannst.“ Kai schwieg und betrachtete lange das eisblau in den Opalen seines Gegenübers. Dann lächelte er glücklich. „Weißt du, dass ich dich genau dafür liebe?!“ Er lehnte seine Stirn gegen die des Rothaarigen und fühlte den Trost und den Halt, den dieser ihm gab. „Ja, auch das weiß ich, Kai...“, erwiderte Tala und grinste. „... Ich denke, an deiner Selbstüberschätzung sollten wir aber noch arbeiten!“ Beide lösten sich lachend voneinander, um ihren Kaffee aufzutrinken und dann aufzubrechen. Denn Kai brannte vor Eifer, Lin zu helfen... „Ist es noch weit?!“ „Du kennst die Ecke doch, das ist dort, wo wir letztens waren, bevor ich... du weißt schon, die Sache da...“ „Als du den Wachmann abgeknallt hast, ja. Aber meinst du denn, dass du sie jetzt dort triffst? Es ist fast halb sieben Uhr morgens.“ Kai zuckte mit den Schultern. Sie standen vor der Tür zu der Kneipe, in der das kleine Mädchen arbeitete. Der Silberhaarige drückte den Türknauf. Doch nichts geschah. Die Bar hatte geschlossen. Sie gingen in die Seitengasse, wo Kai sie das erste Mal getroffen hatte. Doch auch die Tür war verschlossen. Kai sah sich nach Fenstern um, hinter denen er vielleicht vermuten könnte, dass dort jemand schläft. „Hey, kannst du mir mal eben ne Räuberleiter machen?“, fragte Kai dann. Tala ging in die Hocke. „Steig auf, aber mach schnell. Du bist schwer.“ „Ich bin nicht zu schwer, du bist einfach zu schwach, Schätzchen!“ Grinsend setzte er einen Fuß in Talas Handflächen und zog sich an einem Fenstersims hoch, während der Rothaarige ihn ein Stück weit hochstemmte. „Au... hängst du? Ich kann das nicht noch mal machen, meine Hüfte bricht gleich auseinander!“ „Jetzt stell dich nicht so an...“ Dennoch stimmte es, Tala musste sich immer noch schonen, damit seine Hüftverletzung keine bleibenden Schäden hinterließ. Kai lugte durch die Fensterscheibe. Mit den Füßen baumelte er frei an der Wand, versuchte aber, sich an den Steinen einen einigermaßen festen Halt zu sichern. Er sah einen Raum mit vielen Regalen, anscheinend das Lager. Also hangelte er sich am Sims entlang zum nächsten Fenster und stemmte sich hoch, um besser sehen zu können. Seine Muskeln waren vor Anstrengung stramm angespannt und in seinem schwarzen Tanktop sah er in diesem Moment sehr stark und attraktiv aus. Und dann sah er sie, schlafend auf einem Bett ihn einem bis auf Schrank, Nachttisch und Stehlampe kahlen Raum. „Ey, Tala, halt mich mal kurz fest, ich will anklopfen!“ „Wieso willst du sie eigentlich wach machen?!“ „Weil ich ihr was schenken will!“ „Ich hab eine bessere Idee: Wirf es doch durchs Fenster! Sieh nach, ob es offen ist, und sonst hebel es einfach auf.“ Kai ließ sich fallen. „Hast du Stift und Papier?“ „Nen Kuli hab ich wohl.“ Kai nahm ihn und beschrieb die Pralinenpackung mit einem Gruß. Glücklicherweise konnte er das Fenster aufdrücken, es war nicht verschlossen, wie er festgestellt hatte. So konnte er dann sein Vorhaben, Lin eine Kleinigkeit zu schenken, doch noch in die Tat umsetzen. Kapitel 18: Nie mehr bladen? - Von wegen! ----------------------------------------- Nie mehr bladen? – Von wegen! „Wir sprechen heute live mit dem Koordinator der BBA, Mr. Dickenson, der uns einige wichtige Mitteilungen bezüglich seiner persönlichen Schützlinge, der Bladebreakers, geben will. Mr. Dickenson, stimmt es, dass Kai Hiwatari das Bladen an den Nagel hängen will?“ „Nun, so will ich das nicht sagen, er hat sich aus gesundheitlichen Gründen erst mal eine Auszeit genommen.“ „Heißt das, er hat sich mit dem Team zu viel vorgenommen? War ihm der Druck zu groß? Wird Tyson Kinomiya seinen Part als Teamleader übernehmen? Schließlich hat Tyson sich bei den letzten Turnieren großartig geschlagen und es ist kein Geheimnis, dass die Rivalität der beiden untereinander zu einigen Spannungen im Team führte.“ Mr. Dickenson tupfte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Es war heiß im Studio. Verflixte Scheinwerfer! „Zu diesem Zeitpunkt kann ich nur sagen, dass sich die Lage im Team entspannt hat und zwischen Tyson und Kai herrscht ein friedliches Verhältnis, das...“ „... nicht zuletzt daran liegt, dass Kai sich aus dem öffentlichen Leben mehr zurückgezogen hat und somit einer Konfrontation mit Tysons Bladerfähigkeiten aus dem Weg geht? Was sagen Sie zu dem Gerücht, dass Kai sich in psychiatrische Behandlung begeben habe und statt einer Auszeit nie mehr bladen will? Vor allem, da er weder ein Beyblade noch ein Bit Beast mehr besitzt?“ „Die Bladebreakers trainieren hart. Dass es dann und wann zu Verletzungen kommt, ist nicht weiter verwunderlich. Ich weiß nicht, woher Ihre Quellen stammen, aber falls...“ Ray schaltete den Fernseher aus. Die Übertragung der Konferenz brauchte er nicht mehr zu sehen. Alles drehte sich immer nur um Kai! Dabei versuchte dieser sich eigentlich immer aus dem Mediengetümmel herauszuhalten. Aber anscheinend machte gerade das ihn so interessant. Der Chinese war nicht der Typ Mensch, der schnell neidisch wurde. Nein, eigentlich war er traurig darüber, dass sein Teamleader schon wieder unter enormen Pressedruck stand. Und ihn nervte Tysons gelegentliche Eifersucht, wann immer Kai statt seiner Mittelpunkt der Nachrichten war. Morgen Abend würden sie an einer Wohltätigkeitsveranstaltung teilnehmen müssen. Mr. Dickenson hatte ihnen gesagt, dass auch ein Interview bezüglich der letzten Ereignisse stattfinden würde. Ray seufzte. „Na dann werd ich mal was kochen. Wenn die anderen vom einkaufen zurück sind, haben sie sicher Hunger...“ Ein schweres Gewicht drückte auf seine Hüften und er spürte, dass jemand sprach. Mit ihm? „Mann, Kai, wach jetzt endlich auf!“ Tala saß auf Kai und batschte ein paar Mal gegen dessen Wangen, damit dieser seine müden Lider öffnete. Doch der Silberhaarige grummelte. „Geh runter von mir... Wie spät ist es denn schon?“ „Acht Uhr abends. Du hast lang genug gepennt. Hoch mit dir!“ Nachdem sie das kleine Geschenk bei Lin durch das Fenster geworfen hatten, waren sie zu Kais Elternhaus gegangen und hatten sich schlafen gelegt. Langsam dämmerte es Kai, weswegen er überhaupt hier war und warum Tala ihn aufweckte. Sie hatten diesen Abend noch etwas vor. „Ja, ich komm ja schon. Bist du denn schon wieder fit genug, Tala?“ Der Angesprochene war bereits im Bad verschwunden. Kai folgte ihm. „Ich hab mir erlaubt, dir deine Sachen rauszusuchen. Liegen über dem Wannenrand.“ Tala überging Kais Frage und während er sprach, zog er sein Shirt aus, um die Wundheilung an seiner Hüfte zu begutachten. Die Ärzte hatten die Wunde gut vernäht, die Fäden waren gezogen, nur eine dunklere Hautstelle war zu sehen, die später aufhellen und eine Narbe werden würde. Auch Kai hatte sich seines Hemdes entledigt und seufzte, als er das sah. Es tat ihm sehr leid, seinen besten Freund in die ganze Sache mit hineingezogen zu haben. Beide sahen in ihr Spiegelbild. „Hm, du könntest auch mal wieder mehr für deine Bauchmuskeln tun...“ Tala grinste frech und piekte Kai in den Bauch. „Ist zwar flach, aber lasch und nicht mehr ganz fest, hm?!“ „Ey! Lass das!!”, grummelte der Silberhaarige. „Kann halt nicht jeder Zeit für täglich 50 Situps aufbringen wie du...“ Der Rothaarige fuhr dem Jüngeren durch die Haare, woraufhin er einen grimmigen Blick erntete. „War doch nur Spaß, Kleiner...“ Kai zog eine Grimasse. „Und außerdem: Ich will auch nicht so durch die Gegend rennen, dass es so aussieht als könne ich vor Kraft nicht mehr laufen!“ Er musste aber auch immer das letzte Wort haben! Der Ältere schnaubte belustigt. Sie standen nebeneinander, Tala links, Kai rechts. Synchron fassten sie an ihre Schultern, Tala an seine rechte, Kai an seine linke. Und wie eine schauerliche Beschwörungsformel murmelten sie: „Krowij dja wela tetzöt w maich venach. Dies ist sein Zeichen. Ich höre seinen Ruf. Ihm werde ich folgen. Bis ans Ende unserer Reise will ich ihm dienen so wie er mir.“ Es schien, dass die beiden Drachen, die jeder von ihnen spiegelverkehrt auf der jeweiligen Schulter trug, die sie eben berührt hatten, sich anlachten. Die beiden Jungen lächelten. Sie zogen sich um und stiegen nacheinander die Treppe hinab. Kai hatte sich einen neuen, diesmal grauen Mantel zugelegt und schlüpfte gerade in selbigen, während Tala einen schwarzen vom Garderobenhaken nahm. Dann griff er zu seinem Handy. Das Wochenende war vorbei, aber ein dringender Auftrag hatte sich dazwischen gedrängt. „Hi, hier ist Tala. Entschuldigt bitte die späte Störung, aber ich muss euch etwas ausrichten. Ja, genau, es geht um Kai. Ich denke nicht, dass er heute Abend zurück zur WG kommt.“ Tala zwinkerte Kai zu, der ihn verdutzt anstarrte. „Nein, es ist nur... Ihm geht es nicht so gut... Anscheinend hat er was Falsches gegessen oder so... Er übergibt sich ständig und er hat Fieber gekriegt... Deswegen wird er wohl morgen auch nicht in der Schule erscheinen. Wenn ihr das euren Lehrern ausrichten könntet? Das wäre nett. Ja, ich kümmere mich um ihn, das ist kein Problem. Am besten warten wir morgen ab und dann sehen wir weiter. Okay. Ciao!“ Er legte auf. „So, dann wäre das auch geklärt und du musst dir keine Ausrede überlegen. Und sie wissen Bescheid und machen sich keine Sorgen, wo du wieder bleibst, du treulose Tomate!“ Grinsend schob der Rothaarige den anderen aus dem Haus und schloss die Tür ab. „Wir werden uns jetzt also ungestört um unseren Job kümmern können?“ Sie zogen sich gleichzeitig die Kapuzen ihrer leichten Mäntel tief ins Gesicht. Es war noch hell und es ging langsam auf den Sommer zu, darum mussten sie ihre Gesichter schützen, damit sie nicht erkannt wurden. Denn viele Menschen begegneten ihnen zu dieser Uhrzeit noch auf den Straßen. „Ja. Und wir werden wie immer perfekt sein.“ Ein paar Wolken hatten sich zusammengezogen und frischer Wind kam auf. Am Himmel stoben Krähen auseinander, krächzten laut, formierten sich und flogen ihre Kreise weit über den Köpfen der beiden Jugendlichen. Einer von ihnen blies bläulichen Dunst über seine Lippen und tippte Asche von seiner Zigarette. „Siehst du die Vögel?“ „Ja“, sagte Kai. „Vielleicht zieht bald ein Sturm auf.“ „Vielleicht ist es auch ein Omen.“ „Glaubst du an so einen Scheiß?“ Tala schwieg. „Na also“, kommentierte sein Freund das und hockte sich hin. Er drückte seine Zigarette am Boden aus und schnippte sie dann in einen Müllkorb. „Gehen wir.“ Diesmal klang der Auftrag einfach. Der Plan war, sich mit einem Mann in einem irischen Pub zu treffen, mit ihm mitzugehen, ihm dann Geld zu geben, das vorher vom Auftragsgeber auf ihr Konto geflossen war und das daraufhin erhaltene Tauschobjekt in einem Bahnhofsschließfach zu verstauen. Wie gesagt, der Auftrag klang einfach. Ihr Auftragsgeber hatte nichts von einer Rivalität zwischen ihm und dem Kontaktmann erwähnt. Fehde – das war wohl der passendere Ausdruck und auch der Grund, weshalb die beiden und nicht seine eigenen Leute dafür ausgewählt worden waren. Ihr Ruf eilte ihnen voraus – ob das nun positiv oder negativ zu bewerten war, unterschied sich von Fall zu Fall. Als sie das Lokal betraten, spürten die Freunde gleich die angespannte und aggressive Atmosphäre im Pub. Sie entschieden, zur Bar zu gehen. Unter den anderen Gästen fielen sie mit den tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen auf, also würde sich der Kontaktmann wahrscheinlich nach ihnen umsehen und auf sie zukommen, nicht umgekehrt. „Zwei Bloody Marys, gerührt, aber einen bitte ohne Kirsche“, bestellte Tala, dann raunte er Kai zu: „Nicht gerade einladend... Du spürst es auch, nehme ich an?“ „Du hast hoffentlich außer deiner heißgeliebten P38 noch mehr eingepackt? Ich finde es nicht gerade beruhigend, dass uns fast die Hälfte des Pubs anstarrt und ein viertel davon unverhohlen an Stellen fasst, wo man gut und gerne Waffen verstecken kann“, meinte der Blaugrauhaarige, nachdem er unauffällig seine Blicke durch die Wirtschaft hatte gleiten lassen. Ihre Bestellung kam, und der Barkeeper erklärte: „Na Jungs… Der, den ihr sucht, sitzt am Fenster. Bringt ihm ein kühles Bier mit, hier, hab gleich mal eins mitgemacht. Das bringt ihn in empfängliche Stimmung.“ Skeptisch sahen sich die jungen Russen an und hoben je eine Augenbraue. Dann seufzten sie resigniert, zahlten und gingen auf eben beschriebenen Mann zu. „Krowawaia Boinia, wenn ich richtig liege?“ Ein süffisantes Lächeln umspielte die Lippen des Mannes, der sich als Ifraim vorstellte. Die beiden Jungen achteten sorgfältig auf seine Hände und auf die Umgebung. Sie waren schließlich in der Unterzahl. „Was finden Sie daran so amüsant?“, fragte Kai, und während sich seine Pupillen gefährlich verengten, stellte er ihm sein Bier hin. Machte Ifraim sich lustig über sie? „Ach… Ich hatte mir imposantere Figuren unter einem Blutbad vorgestellt. Richtige Männer… Stattdessen sehe ich zwei halbwüchsige, pubertierende Jugendliche. Mein lieber Cousin hat euch geschickt, nicht wahr? Sicher kannte er euch auch nicht. Was ist das eigentlich, ein Ferienjob?“ Ifraim schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass er Angst hat. Schickt andere vor, ja ja, so ist er... Denkt wohl, wenn er Kinder schickt, nehme ich Rücksicht und halte mit meiner Wut hinterm Berg…“ „Oh, auf uns brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen. Wir kennen uns aus und auch wenn wir nicht so aussehen, wissen wir, was wir tun, Sir.“ Ifraim sprang auf, packte nach Talas Kragen, zog ihn zu sich heran und fauchte: „Ich warne dich, Jungchen, liefer mir nur einen Grund und ich schrecke nicht davor zurück, dir eine Kugel in den Arsch zu jagen!“ Stühle knarzten, viele Augenpaare richteten sich auf sie. Eine Clan-Fehde, wie überaus erfrischend! „Na na, wer wird denn gleich so überreagieren? Wir möchten doch nur eine friedliche Zusammenarbeit...“ Kai tätschelte Ifraims Arm, der Tala noch immer fest im Griff hielt. „Keinesfalls möchten wir uns in Ihre Angelegenheiten einmischen, deswegen achten wir auch sehr darauf, Ihnen so wenig wie möglich auf die Nerven zu gehen, okay?“ Sein darauffolgendes Lächeln war gezwungen, doch die Schmeichelei musste sein. Und sie zeigte Wirkung, denn Ifraim ließ nun von Tala ab. Der Rothaarige ordnete seine Kleidung wieder und blitzte Kai an: „Lizanie-zadnic nizhe nashevo dostoinstva!“ „Da, ja snaju.“ Natürlich wusste er, dass es beschämend war, doch er wollte kein größeres Aufsehen erregen. „Hey, ich hasse es, wenn man in meiner Gegenwart eine Sprache spricht, die ich nicht verstehe! Was habt ihr beiden ausgeheckt, eh?!“, blaffte Ifraim sie an. „Ich sagte, mein Kollege solle sich beruhigen, denn ihm gefiel nicht, wie Sie ihn anfassten. Wenn Sie das bitte für die Zukunft unterlassen könnten, wären wir beide Ihnen sehr verbunden.“ Kai senkte demütig den Kopf, ebenso Tala. Gott, wie war ihnen dieses Verhalten zuwider! Sie legten ein Verhalten an den Tag, das sie in der Abtei gelernt hatten: Gehorsam zeigen, Respekt zollen bzw. wenigstens vortäuschen, sich selbst verleugnen, gefügig sein… Jetzt konnten ihnen die Schikanen von damals aber nützen. „Nun, so sei es denn. Ich werde versuchen, mich zu zügeln.“ Die Versuche Kais, sich erwachsen zu verhalten und diplomatisch zu verhandeln, belustigten ihn. Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier und wischte sich dann mit dem Handrücken über die Lippen. „Und wie soll ich euch ansprechen, habt ihr auch irgendwelche Namen?“, grinste er selbstgefällig. Tala stellte sich vor: „Ich bin das erste Mitglied von Krowawaia Boinia, und er hier ist das zweite Mitglied. Von mir aus können Sie uns auch eins und zwei nennen. Denn wie Sie vielleicht wissen, geben Profis wie wir niemals ihren wahren Namen preis. Und entschuldigen Sie bitte unsere Unart, unsere Mützen nicht abzunehmen, aber wir möchten lieber nicht erkannt werden.“ Ifraim stutzte, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Nein, ihr seid so süß! Echt putzig, wie ihr euch bemüht zu den ganz Großen zu gehören!“ Er wischte sich Lachtränchen aus den Augenwinkeln. „Nicht!“, flüsterte Kai. Er legte eine Hand unauffällig auf Talas Knie, der gerade im Begriff war aufzuspringen, denn er merkte, wie sein Freund wütend wurde. „Das ist doch…!!“, knurrte der Rotschopf, aber Kai bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, ruhig zu bleiben. „Kommt mit mir, ich führe euch jetzt zum eigentlichen Verhandlungsort. Dort bewahre ich auch das Objekt auf, das ihr meinem Cousin bringen sollt.“ Ifraim erhob sich, und Krowawaia Boinia folgte ihm. Und mit ihnen noch mehrere Männer, die anscheinend zu Ifraims Schutz bestellt waren. In einem Hinterhof an einer Autohalle anliegend warteten Tala und Kai nun. Ifraim war schon vor einer Weile in einem Nebenraum verschwunden und hatte sie, eingekreist von seinen Leuten, zurückgelassen. Vor lauter Langeweile hatten sie sich auf den Boden gesetzt und begonnen, Durak, zu spielen. Tala war noch immer sauer auf ‚diesen Knilch‘, wie er ihn nannte. „Nikto ne moshet poranit nashu tschest'!! Auch er nicht!“ „Ja, ich weiß, ich weiß... Du und deine Ehre… Mich kotzt sein Gehabe auch an, aber lass ihn doch. Geh doch einfach nicht drauf ein. Es ist einfach nur ein Job, hier nach werden wir ihn nie wieder sehen, er ist es nicht wert, sich über ihn aufzuregen. Hey! Nu, eto tak ne idjot! Das ist Trumpf, die kannst du nicht abwehren! So, und ich gehe jetzt zu dir, und zack, ich hab gewonnen! Du bist der Durak!“ Kai grinste. „Ausgetrickst!“ In dem Moment kehrte Ifraim zurück. „Na, amüsiert ihr euch gut? Ich hoffe, ihr habt das Geld dabei?“ „Natürlich“, meinte Tala und beide erhoben sich, klopften sich den Staub von ihren Sachen. Jemand brachte einen Koffer, der aussah, als trüge ein Banker ihn ständig bei sich. Tala dagegen schlug seinen Mantel zurück und zum Vorschein kam eine praktische Umhängetasche, wie sie beispielsweise von Sportlern benutzt wurde. „Ist es da drin?“ Tala nickte. Sie tauschten die Gegenstände aus und prüften gewissenhaft den Inhalt. Es schien alles in Ordnung zu sein. Die Gefolgsleute entfernten sich und verließen den Hinterhof letztlich. Ifraim begann ein abschließendes Gespräch mit Kai, als dessen Handy klingelte. Er gab es dem Rothaarigen, der damit schon voraus ging und den Anruf annahm. Es war Ray. Gerade, als sich dieser nach Kais Befinden erkundigen wollte, war ein lautes Scheppern zu hören. „~“Was war das?“~“ „Ich weiß nicht, ich seh mal nach. Vielleicht ist Kai ins Klo gefallen...“ Tala legte auf. Es könnte nur ein Zufall sein, aber er glaubte in solchen Situationen selten an Zufälle und außerdem hatte er ein seltsames Gefühl. „Du und deine Art gehen mir schon die ganze Zeit auf den Sack, weißt du?! Möchtest erwachsen sein und tust so überaus männlich, aber jetzt – ja jetzt schlotterst du vor Angst, nicht wahr?“ Ifraim hielt Kai ein scharfes Messer an die Kehle und schnitt bereits massiv in die Haut, dort wo Hals und Schlüsselbein zusammenliefen. „Sie nerven mich…“ Kurz nachdem der Junge das gesagt hatte, musste er ein schmerzvolles Aufstöhnen unterdrücken. Die Klinge glitt tiefer in sein Fleisch. Blut tropfte unablässig an der Hand seines Angreifers hinab. „Ich hasse Jungs wie dich… Sie erinnern mich zu sehr an meinen Cousin…“ Kai verdrehte die Augen. „Na super. Und jetzt wollen Sie ihre Wut an mir auslassen, weil Sie einen Komplex haben und Ihre Fehde nicht unter sich austragen können, da sonst eine Familientragödie entsteht, nicht wahr? Wie langweilig…“ Mit einer schnellen Bewegung befreite er sich aus dem Griff, der ihn gefangen hielt. Dabei streifte ihn jedoch die Klinge eines Butterfly-Messers, das ihn letztlich schmerzlich am Bauch traf. „Duck dich!“ Kai schmiss sich blindlings auf den Boden. Mit einem Surren flog der runde Deckel einer Mülltonne über seinem Kopf hinweg und verpasste seinem Ziel einen gewaltigen Stoß, so dass Ifraim umfiel. Tala kam auf Kai zugerannt und half ihm auf die Beine. „Ging das nicht etwas schneller?“ „Ein ‚Danke, du hast mir gerade das Leben gerettet!‘ hätte es auch getan.“ „Hm, na gut. Danke.“ Der Rotschopf grinste: „Kein Thema.“ „Wer zum Teufel seid ihr?! Ihr seid doch keine normalen Boten!“ Ifraim raffte sich ächzend auf. „Oh, Verzeihung, wir haben uns nicht vorgestellt. Das ist Chaos, ich bin Körperverletzung. Wir treten immer zusammen auf!“, grinste Tala. Dann ging er auf ihn zu, trat ihm das Messer aus der Hand und hob ihm den Griff seiner P38 gegen die Schläfe. Ifraim sackte sofort weg. „Was für eine Erkenntnis… Und du, kannst dich wohl auch nicht von deinen Filmzitaten lösen! Woher war das wieder, Lethal Weapon?“ Grinsend nickte Tala und half Kai, von dort wegzukommen. „Was war eigentlich in dem Koffer?“ „Hab ich vergessen!“ Keine Fragen, keine Antworten. Das war das Gesetz ihrer Branche. Und man akzeptierte es. Tala hatte ihnen Kaffee besorgt, während Kai den Koffer im mit ihrem Auftragsgeber verabredeten Schließfach verschlossen hatte. Er reichte Kai beide Becher und wickelte ihm vorsichtig den Schal enger um, damit seine Wunden verdeckt waren. „Schaffst du es allein zu eurer WG? Oder soll ich mitkommen?“ Kai fand es zwar lieb von Tala, dass er sich um ihn sorgte, aber er wollte auch nicht von ihm bemuttert werden und ihn auch nicht zu sehr für sich beanspruchen. Darum antwortete er: „Ach, das sind doch nur Kratzer. Was soll das denn…“ Aufmunternd lächelt er dem Rothaarigen zu. Sie tranken ihren Kaffee und verabschiedeten sich dann. War er wirklich so hilflos? Das fragte der Jüngere sich, als er den Heimweg antrat. Sein Schal hatte sich langsam aber beständig mit dem Blut aus seiner Wunde vollgesogen. Als er die Tür aufschloss und eintrat, traf er auf seine gesamte Mannschaft. Max sah verwundert auf, denn er trug den Schal auch anders als sonst. „Sag mal Kai, ist irgendwas in der Wäsche falsch gelaufen? Seit wann ist dein Schal so rot-weiß gefleckt?“ „Der ist doch nicht gefleckt!“ „Doch, natürlich!“ Energisch wie er war, ging Max zu ihm hin und fasste den Schal an. „Ihh, der ist ja ganz nass!“ Dann starrte Max wie hypnotisiert auf seine Hände. Nervös fing er an zu lachen: „Hahaha... Sag mir bitte, dass das Farbe ist!“ Kai, dem Schweiß auf der Stirn stand, meinte: „Natürlich nicht! Der Schal ist weder rot, noch gefleckt, noch nass! Bist du doof?!“ Nun stand aber Ray vor ihm und berührte den Schal. „Der ist warm! Und nass!“ Auch seine Hände waren rot. „... Das ist ja Blut! Kai! Du blutest!!“ „Ich blute nicht, das bildet ihr euch ein!“ Kai tat seine Verletzung als irrelevant und als nicht vorhanden ab. Er konnte ihnen ja nicht erzählen, was wirklich los war. „Dann mach deinen Schal ab und zeig uns deinen Hals!“, verlangte Ray. „Vergiss es, ich werde mich sicherlich nicht vor euch ausziehen!!“ Aber Ray gab nicht auf. Er versuchte selbst, Kais Schal abzuwickeln. Doch Kai stieß ihn mit einer, man könnte fast sagen ängstlicher Brutalität von sich, so als wolle er sich schützen. „Fass mich nicht an!!“, fauchte er. Er sah seine Teamkollegen mit einem bitterbösen Blick an. „Es ist nichts, ok?!“ Und damit rauschte er aus dem Raum hinaus, ins Badezimmer. Der Schwarzhaarige sah ihm nach. Im Bad rief er nach seinem gefiederten Freund: „Dranzer, hilf mir bitte!“ Er brauchte Hilfe, allein kam er doch nicht mehr zurecht, so wie er Tala großspurig versichert hatte. Nicht nur sein Schal war vollgesogen, sondern auch sein Shirt und langsam auch seine Jacke, die er noch trug. Dranzer erschien sofort. „Meine Güte Kai! Was hast du denn gemacht?!“ „Ich weiß es nicht, wie es dazu kam. Plötzlich hatte er mich im Schwitzkasten, so schnell konnte ich gar nicht gucken. Ich glaube, der Mistkerl hat gut getroffen! Schau mal bitte.“ Kai nahm keuchend seinen Schal ab. Unter Stöhnen entledigte er sich auch seiner Jacke und seines Shirts. Von seiner linken Schulter über das Schlüsselbein hinweg zog sich eine breiteSpur von Blut hinunter bis zu seiner Brust. Kurz oberhalb seines Bauchnabels klaffte rechts ein Riss. Ermüdet und lustlos ließ sich Kai auf einen Hocker sinken. Dabei verzog er vor Schmerzen sein Gesicht. „Oh Kai... Ich kann nichts tun! Das weißt du! Entweder du lässt dir von Ray helfen oder du musst es selber machen. Du brauchst Tala!“ „Dem habe ich gerade gesagt, ich käme alleine schon klar.“ „Es wäre aber die beste…“ „Ich bin von euch abhängig, richtig? ... Ich bin so müde...“ „Kai?! KAI!!“ Kai wankte. Aber er fasste sich. „Ich geh duschen...“ Nur sehr langsam kam er voran. Plötzlich klopfte es an der Tür. Ray war gekommen. „Kai? Bist du da drin?“ Die Antwort verzögerte sich kurz, kam aber dann nach einem gequälten Keuchen. „... Ja!“ „Was machst du denn da drin?!“ „Ich dusche!“, gab Kai genervt zurück, während er sich vorsichtig aus seinen Klamotten schälte. Was sollte er sonst im Bad machen?! „Dann beeil dich, wir müssen gleich auf eine Wohltätigkeitsveranstaltung!“ „Ja, ja! Lass mir Zeit, okay!?“ „Die haben wir nicht. Aber wir warten“, meinte Ray dann versöhnlich. Unter der Dusche keuchte Kai vor Schmerzen auf. Das Wasser, das in seine Wunde lief – es brannte höllisch auf seiner Haut. Er hätte schreien mögen, doch hätte er so die Aufmerksamkeit seiner Teamkollegen, besonders die von Ray, auf sich gezogen. Und das wollte er um jeden Preis vermeiden. So unterdrückte er seine Schmerzen, biss sich auf die Zunge und beeilte sich, aus dieser selbstauferlegten Folter rauszukommen. Schließlich musste er ja das Blut von seinem Körper waschen. Dranzer hatte gewartet. Als Kai aus der Dusche stieg und nach dem Handtuch griff, bedachte der Phönix ihn mit einem bedrückten Blick. Er liebte seinen Herrn und würde alles für ihn geben, doch außer jetzt für ihn da zu sein, konnte er nichts tun. Nun klopfte er mit dem Schnabel gegen den kleinen Schrank, der die Hausapotheke darstellte. Jedes der Badezimmer im Haus der Bladebreakers besaß eine, denn schnell brauchte man Pflaster, Mullbinden, Tape oder Erkältungsmittel, manchmal auch Schmerzgel oder Pferdesalbe. Kai nickte, öffnete den Schrank und holte zwei Kompressen heraus, die er auf seine Wunden drückte. Er war geübt darin, hatte damals oft Tala oder einem anderen Mitglied seines früheren Teams der Demolitionboys geholfen oder sich selbst, damit nicht aufgefallen war, dass er sich verletzt hatte. Ja, damals – es war eine verhasste Zeit, und doch, wenn er darüber nachdachte, hatte sie ihn auf das Leben sehr gut vorbereitet. Ein ständiger Kampf ums nackte Überleben hatte an der Tagesordnung gestanden und aus der Erziehung konnte er nun seine Vorteile ziehen. Mit einem Stück Hansaplast fixierte Kai das Ende des Verbandes und zog sich an. „Dranzer, mein Freund, du hast es nicht leicht mit mir, nicht wahr?“ Er lächelte, als sich der Phönix daraufhin vertrauensvoll an ihn schmiegte und leise gurrte. „Was hältst du davon, wenn wir heute wieder als Team auftreten? Ich habe einen neuen Bitchip erstanden und Kenny sagte mir neulich, dass er wohl einen neuen Blade für mich hat, ich hab aber abgelehnt. Was meinst du, sollen wir es wagen, wieder zu trainieren?“ „Das fragst du noch? Natürlich!!!“ Und als wäre das noch nicht Antwort genug, busselte Dranzer ihn überschwänglich und zerzauste ihm mit seinen vor Glück schlagenden Flügeln die Haare. „Habt ihr – du und Tala – eigentlich Spaß daran, mir die Frisur zu ruinieren??!“, brummte Kai, dem jetzt ein Kampf mit der Bürste drohte. „Ihr seid spät dran!“, stellte Mr. Dickenson fest. „Tut uns leid.“ Ray hatte den Anstand, nicht zu erwähnen, dass es Kais Schuld gewesen war. Das Team setzte sich neben ihren Sponsor. Auch Kai, der es mit zusammengebissenen Zähnen versuchte und dabei aussah wie ein alter Mann mit Rheuma. Die Veranstaltung bestand aus einer Versteigerung. Fans konnten persönliche Gegenstände der Bladebreakers ersteigern, der Erlös kam einer Stiftung für Waisenhäuser zugute. Gleichzeitig wimmelte der Ort nur so von Reportern, die eine Stellungnahme der Beyblader erhaschen wollten. Tyson stellte für die Versteigerung seine Mütze und den Starter, den er bei der ersten WM benutzt hatte, zur Verfügung. Max trennte sich von seinem T-Shirt, das er während des Kampfes in der dritten WM getragen hatte, zusammen mit einem handgeschriebenen Nudelrezept mit Senf. Ray hatte eine Auswahl an Stirnbändern zurecht gelegt, sowie ein Paar rote Handschuhe mit Yin Yang – Zeichen darauf. Und Kai hatte den verkohlten Blade seines letzten Trainingsmatches gegen Ray mitgebracht, den Kenny zur Analyse vor dem Müllkorb hatte bewahren können. „Meinst du, du kriegst dafür was?“, fragte Tyson verächtlich, als er sah, was Kai darbot. „Hauptsache es kommt überhaupt was zusammen. Ich hatte keine Zeit, um meine Sachen zu durchsuchen. Aber sollte es nicht ausreichen, tanz ich zur Not auf dem Tisch!“, erwiderte Kai bissig. „Sag das nicht zu laut, sonst schnappen die da noch was auf!“, meinte Ray mit Blick auf ein paar Journalisten. Kai schloss die Augen. „Ich sag euch was, ich will nur schnellstmöglich wieder zurück zur WG.“ Das wurde von einem nahe stehenden Reporter gehört und sogleich in einen Startschuss für eine Befragung umgewandelt. „Also stimmt es, dass du dir zuviel zugemutet hast und dich nun zurückziehen willst? Man sagt, du würdest nicht mehr zum Starter greifen wollen!“ Das Mikro wurde dem Blaugrauhaarigen fast an die Nase gehalten, so dicht waren die Korrespondenten herangerückt. Kai lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schob selbigen sogar noch ein Stück weiter. Ray war aufgesprungen und wies mit dem Finger auf den, der die Frage gestellt hatte. „Sie sollten Ihre Quellen besser auswerten und nicht aus jedem Fieps, den einer von uns kundtut, gleich ein Riesentamtam machen!“ Max stellte sich auf die Seite des Schwarzhaarigen. „Was Ray mit viel Vokabular aus der Volksmusik erklären will, ist, dass Sie einfach zuviel in unsere Sätze hineininterpretieren.“ „Sind das Anzeichen von Neid? Höre ich Eifersucht auf das Interesse, dass Kai entgegengebracht wird, heraus?“, fragte darauf ein anderer Reporter. „Können wir solche Fragen nicht vertagen? Es ist nicht Zeit und Ort, um das zu diskutieren. Fakt ist, dass das Wohl der Kinder heute Thema ist und darum sind wir hier!“ Tysons Worte drangen auf die Umstehenden ein. Sie machten Sinn, denn schließlich war der Zweck der Veranstaltung, Spenden für Waisenkinder zu sammeln. Selbst Kai war über soviel Weitsicht bei Tyson erstaunt. ~Auch er entwickelt sich weiter... Zu seinem Vorteil.~, dachte er. „Aber eine Frage noch, eine die uns jetzt wirklich alle beschäftigt: Wirst du aufhören und deinen Titel des Teamleaders an Tyson abgeben?“ Das war nach seinem letzten Gespräche mit Dranzer nicht schwer zu beantworten. Dennoch wog er die Worte gut ab, bevor er antwortete. „Dazu... kann ich nur sagen, dass Kenny für mich einen neuen Blade entworfen hat, und mir juckt es in den Fingern, ihn auszuprobieren. Und zu dem Gerücht, ich hätte kein Bit Beast mehr... Nun, Dranzer hat mich nie verlassen, wenn ich präsentieren darf: Dranzers neuer Bit Chip! Und damit werde ich mein Team schon bald wieder anführen und mit Ray, Tyson, Max und Kenny trainieren. Das ist alles.“ Ray fiel die so genannte Kinnlade herunter. Woher konnte Dranzer...? Schwindelte Kai? „Ein Phönix ist unsterblich, wisst ihr...“, flüsterte Kai, als er vergnügt feststellte, wie überrascht sein Team war. Man musste nicht erwähnen, dass Kais zerstörter Blade nach dieser Ansage mehr als das Doppelte seines Wertes einbrachte. ~*~++~*~ Vokabeln: Lizanie-zadnic nizhe nashevo dostoinstva - Arschkriecherei ist unter unserem Niveau Da, ja snaju – Ja, ich weiß Krowawaia Boinia – Blutbad Krowij dja wela tetzöt w maich venach – Das Blut des Teufels fließt durch meine Adern Durak – Dummkopf (hier Name eines Kartenspiels, macht unglaublich viel Spaß^^) Nikto ne moshet poranit nashu tschest' - Niemand kann unsere Ehre verletzen Nu, eto tak ne idjot! – Also, das geht aber nicht! Kapitel 19: Nicht der beste Tag... ---------------------------------- Die Autorin erklärt hiermit, dass eventuell als Diffamierungen, Diskriminierungen oder Beleidigungen aufgefasste Äußerungen über einzelne Personen oder Personen- sowie Völkergruppen nicht beabsichtigt sind und keinesfalls als solche verstanden werden sollten. Des Weiteren behält sie sich vor, zu erwähnen, dass dieser Text nicht die Meinung der Autorin selbst widerspiegelt, was für Erzähltext sowie wörtliche Rede der handelnden Figuren gilt, d. h. dass der Leser eine klare Linie zwischen Autor und Erzähler setzen und nicht beide gleichsetzen soll. (wie im Deutschunterricht gelernt, ne ^.~ Lyrisches Ich ungleich Autor) „Kai, komm doch mal bitte kurz nach vorne.“ Die Wohltätigkeitsveranstaltung war fast zwei Wochen her. Er war wieder aktiv ins Training eingestiegen, als seine Wunden verheilt waren. Sehr zur Freude seines Teams, denn endlich kehrte wieder Leben in die WG ein, Unterhaltungen fanden statt, wenn auch eher bezüglich neuer Gewichtringe oder Powerschubs. Kai fand sich im ganz normalen Alltagsstress wieder. Ihm schwirrte viel im Kopf herum. Der aktuelle Trainingsablauf, dann die Treffen mit Tala – der hatte ihn übrigens gefragt, ob Babuschka nicht mal kommen könne, er vermisse sie so sehr, und Kai konnte ihm diesen Wunsch nur schwer abschlagen –, die nächtlichen Unternehmungen, denn seine Untersuchungen waren noch längst nicht abgeschlossen und... ja, hatte er eigentlich die Hausaufgaben gemacht? Könnte der Tag doch 48 Stunden haben! Doch der junge Russe kam der Aufforderung nach. Er wurde von seiner Geschichtslehrerin ausgefragt. Die Französische Revolution hatten sie hinter sich gelassen, sie waren bei der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas angekommen. „Was ist ein Skalp?“ „Ein Skalp, das ist...“ Er überlegte kurz und ließ den Blick durch die Klasse gleiten. Ein Vogel im Baum vor dem Fenster zog sein Interesse auf sich. „Ein Skalp ist nicht, wie fälschlicherweise oft als solcher benannt, der abgeschlagene Kopf eines Feindes, sondern die behaarte Kopfhaut, die abgetrennt wurde und als Trophäe zum Beweis der Tapferkeit nach einem Kampf mitgebracht wird. Vorwiegend ist dieser Brauch von den Indianern Nordamerikas bekannt.“ „Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht. Du kannst dich setzen.“ Die Lehrerin war zufrieden. Seit dem Elternsprechtag haben sich einige von Kais Lehrern zusammengesetzt und beraten. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass sie ihn mehr fordern wollten, damit er sich anstrengt, um die Versetzung zu schaffen. Anscheinend ging dieser Plan aus ihrer Sicht gesehen auf. Kai hingegen war nicht sonderlich begeistert darüber. Denn die nächste Stunde verlief auch nicht viel angenehmer für ihn. Da stand er nun. Vor der Tafel. Schon zum wiederholten Mal aufgerufen von verschiedenen Lehrern. Es war, als ob sich heute alles gegen ihn verschworen hatte. Was hatte er bloß verbrochen, dass er immer wieder nach vorne geholt und abgefragt wurde? Er konnte jetzt nicht mehr. Was Kai im Moment beschäftigte, war vor allem die letzte Nacht. Seine Fingerknöchel schmerzten und er konnte kaum die Kreide halten. Die Brüche an der Tafel, die er ausrechnen sollte, verschwammen vor seinen Augen. Die Variablen tanzten umher und die Wurzeln schienen sie fressen zu wollen. Er schüttelte den Kopf. Dann nahm er die Kreide und begann doch noch zu rechnen. Doch er war in seinen Gedanken abgedriftet, so dass er nicht merkte, dass er die Buchstaben und Zahlen so schrieb, wie er es von früher gewohnt war – kurz gesagt, in Kyrillisch. Obwohl er immer versucht hatte, seine Herkunft zu verbergen ein paar Ausrutscher gab es immer. Wie jetzt. „Kai.“ Als er sah, was er getan hatte, fielen ihm die Worte seines Vaters ein: „Man soll seine Herkunft nie verleugnen. Es ist ein Teil von dir und gehört zu deiner Existenz. Verstehst du das, Kai?“ Damals hatte er genickt. Doch das war vor seiner langen Zeit in der Abtei gewesen. Und er wollte nie wieder an diese Zeit denken. Jedenfalls nicht, wenn er nicht unbedingt musste. Er liebte seine Muttersprache zwar und Reden und schreiben, das brauchte er oft nachts für seine Besorgungsgänge, dennoch wollte er so wenig wie möglich von seiner Vergangenheit preisgeben. Und schon gar nicht wollte er der Schule zeigen, woher er kam. Besonders mit Hinblick auf Edward, den Kai noch nie leiden konnte und der jede Gelegenheit wahrnahm, um ihn persönlich anzugreifen. „Kai, was steht da?“, fragte Herr Hasegawa ihn und zog verwundert eine Augenbraue hoch. Der Junge seufzte und las den Satz vor, den er geschrieben hatte. Himmel, was hatte ihn geritten?! „Eto ne moj denj...“ Das stand an der Tafel. Seufzend setzte er leise hinzu: „Net, koneschno ne moj denj...“ „Aha. Und das heißt?“ „... soviel wie ‚Nicht mein Tag’.“ Nein, gewiss nicht. Eindeutig nicht. Edward dachte gar nicht daran, seine Stimme zu senken. Er und seine Gang saßen in der Pause zusammen und unterhielten sich. „Aus Russland kommen echt die geilsten Schlampen. Die machen dir alles. Fragt mal Kai, dem seine Mutter kommt doch auch von dort!“ Zum Glück hatte er die letzte Stunde mit Edward zusammen. Denn dieser würde bald gehen, um seinen Vater zu besuchen. „Lern du mal erstmal richtig sprechen, das heißt nicht ‚dem seine Mutter’, sondern ‚seine Mutter’ kommt aus Russland!!“ Ray hatte Partei für Kai ergriffen, er wusste nur allzu gut, wie der letzte Streit der beiden eskaliert war. „Und das ist auch noch sachlich falsch, denn meine Mutter ist ursprünglich Japanerin.“ Kai rieb sich über den Handrücken seiner linken Hand. Die Knöchel waren stark gerötet und die Haut an den Gelenken aufgeplatzt. Das kam noch von den Schlägen, die er die letzte Nacht ausgeteilt hatte. „Sag mal Edward, woher willst du das eigentlich so genau wissen? Die machen alles, sagst du... Hast du’s schon mal ausprobiert? Mann, hast du’s nötig...“ „Ja, ich war bei deiner Mutter, weißt du!“ Kai blitzte ihn wütend an. Ray war alarmiert und machte sich bereit, um seinen Teamleader gegebenenfalls mit einem Sprung davon abzuhalten, sich auf den Braunhaarigen zu stürzen. Doch plötzlich lag ein befriedigter Ausdruck in den rubinroten Opalen, was Ray auf unheimliche Art Unbehagen bereitete. Außerdem ging Kai diesmal nicht auf die Beleidigung ein. „Ey Edward, dein Vater...“ Edward blockte sofort ab: „Der liegt im Krankenhaus!“ „Ja, ich weiß...“ Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. „Er ist ein elender Feigling. Der will Polizist sein? Ha, hast du schon die Nachrichten gehört? Er kann froh sein, dass er von Krowawaia Boinia nicht kalt gemacht worden ist. Na ja, wahrscheinlich war er ihnen die Kugel nicht wert...“ Kai erinnerte sich grinsend zufrieden... Panisch krabbelte der Mann in Uniform vor Kai weg. Dabei rief er immer wieder „Nein, nein!!“ Er erkannte den Mann, er hatte ihn schon mal gesehen. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Es war Edwards Vater. Und jäh überkam ihn ein ungeheurer Drang nach Vergeltung, nach Rache. Darum stürzte er sich auf den Kriechenden und schlug ihn, immer und immer wieder. „Bliny! Was soll denn das!! Hör auf damit!“ Doch Kai sah immer nur Edwards Gesicht vor sich. Tala konnte ihn nur schwer von ihm trennen. Schnaufend vor Anstrengung schaffte er es schließlich, seinen Freund wegzustoßen. „Guck dir an, was du gemacht hast! Ich sehe blinde Wut in deinem Gesicht! Er ist ein Polizist, verdammt! Um den Wachmann neulich hast du so viel Tamtam gemacht, und jetzt prügelst du einen Mann – einen guten Mann! – halb tot! Was ist bloß mit dir los? SIEH MICH AN, WENN ICH MIT DIR REDE!!“ Kai zuckte zusammen. Dann grinste er amüsiert. „Ich würde gern Edwards Gesicht sehen, wenn er seinen Vater so sieht. Sein persönlicher Held, liegt hier zu Füßen des Blutba-“ Er fing sich eine gepfefferte Ohrfeige von Tala ein. „Wie redest du denn? Ziehst Unschuldige in deine Fehde mit ein – Ich versteh ja deinen Hass, aber ich hätte nicht gedacht, dass du so grausam sein kannst. Echt, das widert mich an!“ Tala sprach deutliche Worte, die von seiner Verachtung für Kais Handeln keinen Hehl machten. „...“ „Na?!“ „Ich... Du hast Recht... Es tut mir ... nein tut es nicht. Ich entschuldige mich nicht für mein Tun, isweni.“ „Dann sei wenigstens so anständig und schaff ihn in ein Krankenhaus oder ruf den Krankenwagen. Du bist echt bescheuert...“ Kai nickte. Er wählte die Notrufnummer. „Ja, hallo? Ich habe etwas Furchtbares gefunden. Auf der Hauptstraße 77 Nähe des Einkaufszentrums liegt ein bewusstloser Polizist. Oh, da kommt jemand, ich – Nein, ich will hier weg!!“ Einen aufgeregten Anwohner spielte er ziemlich gut. „Komm, bevor uns noch jemand sieht. Verschwinden wir.“ „Wenn er nicht durchkommt, dann bist du schul-“ Kai wirbelte herum, packte Tala und zog ihn bedrohlich zu sich heran. „Wag es nicht, das auszusprechen! WAG es nicht, hörst du?! Ich weiß es selbst! Aber das war es mir wert, verstehst du?! Er hat es verdient, kapiert?!“ „Ja, Edward vielleicht, aber nicht sein Vater, der kann nichts dafür. Ich erkenne dich kaum wieder...“ Der Silberhaarige senkte den Blick. Tala. Er hatte ja Recht, aber gestern war er nicht in der Stimmung gewesen, Einsicht zu zeigen. Außerdem hatte das so verdammt gut getan! Doch jetzt nagte das unangenehme Gefühl an ihm, dass er immer hatte, wenn er einen Unschuldigen verletzt hatte. Und auch Tala hatte er vor den Kopf gestoßen. War aus ihm wirklich so ein Monster geworden, dass nun langsam keinen Unterschied mehr zwischen gut und böse machte? Da stieß Ray Kai in die Seite und Ungläubigkeit spiegelte sich in seinen Augen: „Kai, wie kannst du so was sagen? Das war wirklich nicht nett! Als ob du mit diesen Attentätern sympathisierst!“ „Ach, was weißt du schon! Du mit deiner Nuttenmutter! Guck dich an! Mein Vater war tapfer, hat sich gewehrt. Aber nicht umsonst sind sie die meistgesuchten Verbrecher im Moment! Ich werde meinem Vater erzählen, wie du über ihn sprichst!“, erboste sich Edward und wollte gehen, als ihn Kais Stimme zurück hielt. „Auf dem Boden rum gekrochen ist er... wahrscheinlich“, setzte er schnell hinzu, „und hat gejammert und gefleht! Und du stehst ihm in Nichts nach. Ach ja, und überlege dir doch bitte mal andere Beleidigungen, langsam wird’s nämlich langweilig, nicht nur für mich, auch deine Freunde lachen nicht mehr, es ist einfach nicht mehr lustig... Edward, ich bitte dich inständig, werde erwachsen und versteck dich nicht mehr hinter der imposanten Erscheinung deines Vater, ja?“ „Na, wenigstens hab ich einen, der sich um mich kümmert. Denkst wohl, du kannst dir alles erlauben, nur weil du berühmt bist, was? Arschloch!!“ Edward rauschte aufgebracht aus dem Raum. „Musste das wirklich sein, Kai?“, seufzte Ray ergeben. „Warum gebt ihr mir immer die Schuld, eh? Er hat doch angefangen! Ständig bin ich der Buh-Mann! Fickt euch doch alle!“, fauchte Kai hitzig. Ray zuckte mit den Schultern. Er wollte ihm doch nur ins Gewissen reden. Aber da biss man bei Herrn Hiwatari anscheinend auf Granit! Es war reine Zeitverschwendung, also setzte Ray sich wieder auf seinen Platz. Max fragte ihn, ob er mit ihm die Aufgaben vergleichen könnte. Nickend schob er seine Notizen zu dem Blonden herüber. Dabei hatte er gedacht, dass sich die Wogen jetzt endlich glätten würden. Aber Kai schien noch gestresster als sonst. „Kai.“ Er reagierte nicht. Starr blickte er auf sein Heft. Schon wieder. ‚Schuldig!’ „Kai, hörst du mich?“ ‚Du bist schuld! ... Nur deinetwegen! ... Es ist alles deine Schuld! Du hast...! Du bist...! Allein wegen dir! Du bist schuld! Schuld, schuld, SCHULD!!’ „Kai, lies bitte deine Hausaufgaben vor!“ Das war der letzte Versuch. Aber erst, nachdem die Lehrerin vor ihm stand, bemerkte er sie, verstand, was sie von ihm verlangte und begann zu lesen. Langsam und deutlich stahlen sich die Worte aus seinem Mund. Doch er las ohne Sinn und Verstand, wusste nicht, was er las. In Gedanken befand er sich immer noch bei der letzten Nacht, bei den Männern, die zu seinen Füßen gelegen hatten, und dem vielen Blut. Auch während er da saß und las, er sah das Blut an seinen Händen. Es tropfte auf sein Heft und alles, was er anfasste, wurde mit Blut verschmiert. Angewidert hielt er inne und starrte auf das Stück Papier, das vor ihm lag. Dann ließ er es auf den Tisch fallen, rückte weg und stand auf. Es war wirklich widerlich. Aber warum reagierten dann die anderen nicht? Sahen sie es denn nicht? All das viele Blut! Tatsächlich konnte nur er es sehen. Der rote Lebenssaft der Männer, die er erschossen hatte. Außerdem das hilflose Flehen von Edwards Vater, dass sich im Hintergrund zu den Bildern mischte. Irritierte Blicke stachen ihm in den Nacken, die Lehrerin runzelte die Stirn. „Fühlst du dich nicht wohl? Willst du auf die Krankenstation? Ansonsten, lies doch bitte weiter, wir alle warten gespannt...“ „W-Wohl? Kranken...?“ Verwirrt sah er sich um und seine Blicke trafen die seiner verwunderten Mitschüler. Unkonzentriert fuhr der 16-Jährige sich durch die Haare. Das Blut war verschwunden. „Wo ist es hin?“ „Was? Kai, willst du dich setzen, du bist so blass!“ Zerstreut, wie er momentan war, setzte er sich erst, dann stand er wieder auf, rückte den Stuhl heran und nahm sein Heft wieder an sich. Langsam atmete er tief durch, um sich zu beruhigen. Dann begann er wieder zu lesen. „Gefühle sind unablässig und beständig in der menschlichen Psyche. Als körperliche oder seelische Empfindung werden sie als Erregung oder Entspannung wahrgenommen. Sie werden wesentlich vom vegetativen Nervensystem geleitet. Jeder Mensch empfindet anders und von Individuum zu Individuum sind Gefühle unterschiedlich ausgeprägt. Gefühle bestimmen auch den Charakter eines jeden Menschen. Doch sind wir deswegen weniger wert, die wir es nicht gelernt haben? Wir, denen gesagt wurde, Gefühle seien etwas Schlechtes? Gefühle gehören unterdrückt, sagte man, Gefühle sind Zeichen der Schwäche. Erziehung hin oder her, Gefühle gehören zum Leben. Hass, Liebe, Wut, Vertrauen, Geborgenheit, Eifersucht, sie alle beanspruchen ihren Platz im Kopf und Herzen eines jeden von uns. Was es bedeutet, diese zu knechten, kann niemand außer uns Wenigen, aber Unglücklichen, wirklich verstehen. Wir begreifen es ja selbst nicht. Doch wir taten es, uns selbst zuliebe. Eine Maske kann viel verdecken. Und wir wurden zu Meistern der Masken. Untereinander wussten wir sehr wohl, was jemand dachte und wirklich fühlte, wenn wir uns nahe standen, uns näher kannten, akzeptierten aber die Bedingungen. Es gehört viel Überwindung dazu, sich zu verstellen, und große psychische Kraft sowie starke Nerven. Man muss erkennen, wann und wie man welche Gefühle gezielt einsetzen kann und sollte. Das Gefühl wird zum Kalkül. Ich weiß es, ich muss es wissen, denn ich habe es gesehen.“ Er konnte froh sein, dass dies ein fiktiver Aufsatz sein sollte. Kaum einer wusste, wie echt seine Anspielungen waren, welches Ausmaß an Wahrheit diese Hausaufgabe beinhaltete. „Meinst du nicht, dass du an einigen Stellen etwas überzogen hast?“ „Nein, gar nicht. Außerdem ist das ja die Sicht einer Figur, die wirklich alles gesehen hat und sozusagen von der Hölle zurückgekehrt ist.“ Damit verdeutlichte er noch mal, dass er das nicht auf sich beziehen wollte. Ray biss sich auf die Unterlippe. Das hatte er nicht ausgedacht, das war er, Kai Hiwatari. Sollte es wirklich so dunkel in ihm aussehen? Auch Max und Tyson hatten anscheinend begriffen, denn ihre Mienen verrieten dem Schwarzhaarigen, dass er mit seiner Ansicht nicht alleine war. Noch einmal machte Kai den Mund auf. Er sah seine Lehrerin offen an und meinte dann: „Wer zu Hause kein Vertrauen und keine Geborgenheit geschenkt kriegt, wie soll er dann solche Gefühle weitergeben können?“ Darauf wusste niemand, nicht mal die Lehrkraft, etwas zu erwidern. Denn es stimmte, was Kai sagte. Wenn man solche Empfindungen nicht erfährt, sie nicht kennt, dann gibt es keinen Weg, diese an jemanden weiterzugeben. ~*~++~*~ Vokabeln Eto ne moj denj – Das ist nicht mein Tag Koneschno – sicher(lich), natürlich Bliny – Pfannkuchen, kann aber auch als Schimpfwort verwendet werden (als Nicht-Russe sollte man letzteres lieber bleiben lassen, weil die Gefahr besteht, das Wort falsch auszusprechen und sich die Muttersprachler dann eher köstlich amüsieren) Isweni – Tut mir leid / Entschuldigung Kapitel 20: Sag's nicht weiter ------------------------------ „Meinst du, er ist jetzt über den Berg?“ „Ich glaube nicht, Tyson. Irgendwas beschäftigt ihn, geh ihm lieber nicht auf die Nerven. Und das sage ich nicht, weil du für ihn eine Nervensäge bist, verzeih, aber ich meine, er braucht echt Abstand, Zeit zum Nachdenken!“ Auf Kennys ruhige Erklärung hin folgte Schweigen. Der Chef bastelte gerade an Rays Blade, um eine Verbesserung der Geschwindigkeit zu erreichen, dabei aber das Maximum an Kraft nicht herabzusetzen. Tyson saß ihm gegenüber, die Beine übereinander geschlagen und er lehnte sich zurück, während er ihm dabei zusah. „Ich werde trotzdem mit ihm sprechen.“ „Was?! Nein, lass das lieber, nicht mal Ray konnte...!!“ Doch Kennys Proteste verliefen im Sand. Hatte Tyson sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann war er nur schwer davon abzubringen. Der Blauhaarige lief also in die Küche, wo Kai am Esstisch saß und noch immer auf einen Zeitungsausschnitt starrte. Das tat er nun schon seit fast zwei Stunden. Allem Anschein nach war der Artikel oder was immer es war, schon ziemlich alt, so vergilbt wie er aussah. Tyson blieb im Türrahmen stehen. Zum wiederholten Mal strich Kai sachte über das alte Papier in seiner Hand. Daneben lag ein weiterer Artikel, sie waren sich ähnlich, wenn nicht sogar gleich, mit dem Unterschied, dass der andere wesentlich jünger wirkte. Kai hatte gedacht, er müsste es nie wieder sehen. Doch als er heute Morgen die Zeitung aufgeschlagen hatte, war es ihm sofort ins Auge gesprungen. Und er hatte gut daran getan, sogleich zur Schere zu greifen, damit den anderen der Anblick erspart blieb. Und ihm unangenehme Fragen. „Was willst du, Tyson?“ Er hatte ihn wohl bemerkt. Es wunderte ihn, dass Tyson so still war. Sowieso ließen ihn alle in Ruhe. Hatte das etwas mit seinem Aufsatz gestern zu tun? Er wusste es nicht. Zwar hätte er auch auf sein Zimmer gehen können, doch er wollte nicht allein sein. Nicht heute. Nicht, nachdem er das gesehen hatte. Wenn er alleine wäre, würde er den Erinnerungen verfallen. Das tat er dem ungeachtet jetzt auch, aber es hielt sich in Grenzen. Vor allem, da ab und zu einer seiner Teamkameraden vorbeischaute, sich etwas zu trinken holte und dabei ein paar Worte mit ihm wechselte. Die Küche, fand er, bildete das Zentrum und zu seiner Erleichterung schaffte sie genau die Nische für ihn zwischen Abgeschiedenheit und Kontakt. Ray hatte versucht, ein ernstes Gespräch zu beginnen, was Kai abgeblockt hatte. Er fühlte sich nicht in der Lage dazu. „Was studierst du da eigentlich die ganze Zeit so interessiert?“ Tyson kam auf ihn zu und lugte ihm über die Schulter. „Nichts weiter. Geh wieder trainieren oder was immer du tust oder machen wolltest.“ „Eigentlich wollte ich zu dir. Ich weiß, wir sind uns nicht besonders grün...“, seufzte Tyson resigniert und ging um Kai herum, um sich ihm gegenüber auf einem Stuhl niederzulassen. Kai lachte leise. „Ja, das ist wahr...“ „Magst du nicht trotzdem mit mir drüber reden? Vielleicht grade weil wir nicht so dicke sind?“ „Was ist denn das für ne Logik?!“ Der Blauhaarige zuckte mit den Schultern. Er streckte sich ausgiebig und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Erwartungsvoll sah er seinen Leader an. Verblüfft über soviel Gelassenheit blickte dieser zurück. Dann legte er seine Handfläche auf den neueren Artikel, auf den er das heutige Datum geschrieben hatte – der andere war 11 Jahre älter – und drehte ihn um. Er schob ihn zu Tyson hin, doch bevor er seine Hand zurücknahm, sah er dem Jüngeren eindringlich in die Augen. „Hör zu, verfall nicht in Panik. Und ich will auch nicht, dass du schreist oder sonst wie auf dich aufmerksam machst. Du sollst wissen, dass nicht wahr ist, was du da lesen wirst. Das ist Voltaires Werk. Ihr kennt ihn. Ein Dramatiker ohnegleichen. Er will mir wieder zeigen, wie witzig er sich selbst findet, okay? Also: Nicht schreien!“ Langsam gab er das Stück Papier frei. Bis auf einen Satz war die Nachricht genau identisch der, die Kai noch in der Hand hielt. Tyson rutschte auf seinem Stuhl vor und erschrak. Sein Blick fuhr sofort auf zu Kai, der still wartete. Der dreimalige Weltmeister hob den Zettel vorsichtig an und begann zögernd, stumm zu lesen. Zum 11. Todestag, aber noch immer in liebevollem Gedenken. Ein Abschied, der endgültig ist. Wir lernen, damit umzugehen. Und doch ist der Schmerz für eine Weile stärker als wir. Sophia Hiwatari * x.x.xxxx + x.x.xxxx Alexander Hiwatari * x.x.xxxx + x.x.xxxx Mit zitternden Fingern legte er den Zeitungsausschnitt wieder auf den Tisch und schob ihn zurück. Er hatte Kai versprochen, nicht laut zu werden. Wie konnte er auch, seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, als er anfing: „Aber... aber das... Wie kann das...“ „Ich sagte doch, das ist gefälscht. Ja, es sind die Namen meiner Eltern, aber... sie leben.“ Skeptisch zog Tyson eine Augenbraue hoch und Kai konnte es ihm nicht verdenken. „Kai, bist du dir sicher, dass du dir nichts vormachst? Ich meine, sie melden sich ja gar nicht bei dir!“ „Das brauchen sie auch gar nicht, ich weiß es einfach.“ „Ach so, aha.“ Also das war wieder typisch Tyson, so eine Reaktion konnte nur er bringen! Doch Kai war froh darüber. Mitleid brauchte er nicht. Aber es tat ihm gut, dass jemand fragte, jemand bei ihm war. Und wenn dies auch nur Tyson – nein, halt, das war gemein! In Gedanken tadelte er sich selbst dafür, es war nett von Tyson, zu ihm zu kommen. „Tut dir das nicht... weh?“ „Was?“ „Tut dir das nicht weh? Immerhin ist das ziemlich fies, weil Voltaire bestimmt weiß, dass du wenig Kontakt zu deinen Eltern hast...“ “Oh...“ Kai verstand. Er lächelte leicht. „Na ja, sicher tut es weh... Aber... Nach Freude ist Schmerz einer der wenigen Gefühle, die einem zeigen, dass man noch lebt, weißt du? Also muss ich schon ziemlich lebendig sein, meinst du nicht?“ „Wenn du das glaubst zu sein, warum bist du dann so leichenblass und hängst hier rum wie ein Häufchen Elend? Demnach müsstest du vor Energie nur so sprühen. Leben, das heißt Kraft, Lebensfreude, Feuer und Flamme sein... Aber du sitzt hier nur rum und starrst Löcher in die Luft. Wo soll das enden, Kai?“ Tyson glaubte schon, zu weit gegangen zu sein. Er sah Kai aufstehen. ~Also geht er jetzt...~ Entgegengesetzt zu seinem Glauben hielt Kai jedoch beim Kühlschrank und holte zwei kalte Cola-Dosen heraus, von denen er eine Tyson zuwarf. Dem Silberhaarigen wurde bewusst, das Tyson Recht hatte. Ausgerechnet Tyson, dem er von allen am wenigsten zutraute, was Vernunft und ähnliche Dinge anging. Wenn er genauer drüber nachdachte, hatte er dem Jüngeren ganz schön Unrecht getan, denn sie hatten schließlich beide zuwenig miteinander zu tun, als dass sie sich ein echtes Bild des jeweils anderen hätten machen können. Obwohl sie unter einem Dach wohnten. Von der Cola-Geste ermutigt, fragte Tyson: „Sag mal, nur rein hypothetisch, wenn deine Eltern jetzt aber wirklich irgendwie.. also wenn ihnen was zugestoßen ist, was...?“ Kai unterbrach ihn. „Tyson, das führt doch zu nichts. Hätte, wäre, wenn... Wir wissen nicht, was kommt, das einzig sichere ist die Vergangenheit. Und die liegt hinter uns, ob erfreulich oder nicht bleibt jedem individuell überlassen. Und ich weiß nicht, ob du jetzt darauf hinaus wolltest, aber: Ich kann dir sagen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Er kann Erlösung sein, weißt du... Der Tod ist nur schlimm für die Lebenden. Denn sie bleiben mit ihrer Trauer zurück. Und das ist... nun ja... mehr als ätzend.“ Ray kam verschwitzt aus dem Garten ins Haus. Er hatte mit Max trainiert, der ihm nun ebenfalls schnaufend ins Wohnzimmer folgte. „Ah, gut, dass ihr kommt, gebt mir mal eure Blades, meine Berechnungen sind nun abgeschlossen!“ Beide reichten Kenny ihre Blades. „Wo ist Kai? Sitzt er noch immer in der Küche und bläst Trübsal?“, fragte Ray und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. „Kai ist in der Küche...“, bestätigte Kenny nickend. „Und Tyson? Ist der oben?“ Max griff nach einer Wasserflasche zu seinen Füßen und trank gierig. Das Match hatte ihn durstig gemacht. Er reichte die Flasche an Ray weiter, während er auf eine Antwort wartete. „Tyson ist in der Küche...“, meinte der Chef gleichmütig und hantierte gerade an Draciel herum. „Das heißt, die beiden Streithähne sind zusammen dort? Hoffentlich noch nicht lange!!“ Kenny sah auf seine Uhr. „Och, jetzt schon an die eineinhalb Stunden. Scheinen sich ganz gut zu amüsieren.“ „Das glaub ich dir erst, wenn ich das sehe!“ Ray und Max schauten ungläubig zur Küche, wo zwei blaue Haarschopfe durch die offene Anrichte zu sehen waren. Gedämpftes Gelächter und leise Stimmen drangen zu den beiden herüber. Fragend starrten sich der Chinese und der Amerikaner an. Dann gingen sie langsam auf die Anrichte zu. Und sie trauten ihren Augen nicht, was sie sahen. „Kneif mich mal, Max...“ Tyson und Kai saßen über den Tisch gebeugt und hielten Karten in der Hand. „Du kannst den Trumpf nicht jetzt schon ausspielen, den musst du behalten, bis du ihn besser einsetzen kannst. Zum Beispiel, um mein Ass abzuwehren. Siehst du, so geht das.“ Kai nahm die Karten, die vor Tyson lagen, und legte sie beiseite. „Jetzt kannst du mich wieder angreifen. Aber sei gewarnt, ich werde mich wehren!“, grinste der Silberhaarige. „Also, mit der kleinsten Karte beginnen, sagst du? Na ja, gut, dann leg ich diese...“ „Aber Tyson, das ist doch schon wieder Trumpf! Herz ist Trumpf, das sag ich dir doch jetzt schon zum...!“ „Ja, ich weiß, aber was soll ich machen? Ich will dir ja auch noch ne reelle Chance lassen...“ „Das heißt, du hast noch drei weitere Trümpfe in der Hand?! Das glaub ich dir nicht!“ „Ist so!“ „Wehe du schummelst! Russen werden sehr ärgerlich, wenn sie beim Kartenspiel beschissen werden...“ Kai hatte noch so hochwertige Karten in der Hand, dass er Tysons Versuche leicht abblocken konnte. „So, wieder verloren, du bist jetzt siebenfacher Durak in Folge geworden. Reicht das jetzt?“ „Eine Revanche noch, ich kann das doch nicht so auf mir sitzen lassen, fast hätte ich dich gehabt!“ „Was macht ihr beiden da?“ Sprachlos vor Erstaunen, dass sich die beiden Erzrivalen zum Kartenspielen zusammengetan hatten, blieben Ray und Max vor der Anrichte stehen. „Uns war langweilig...“ „... und da hab ich Tyson ein russisches Kartenspiel beigebracht.“ „Ich glaubs nicht! Ihr seid ja bekloppt!“ Lachen erfüllte das Haus, so befreit und ansteckend, dass sie sich nur schwer erholen konnten. Kai ordnete schmunzelnd die Karten. Es tat ihm gut, bei ihnen zu sein. Sein Gemüt war stark angeschlagen. Lange hatte er sich mit Tyson unterhalten. Und ihm eingeschärft, dass dieser kein Wort darüber verlieren solle. Der 16-Jährige war sicher, sich auf Tyson verlassen zu können, er hatte sich während ihres Gesprächs von der Rationalität, die der Blauhaarige durchaus besaß, überzeugen können. Als Ray gegen Abend auf seinem Bett saß und sich noch kurz einige Vokabeln für den morgigen Test einprägte, trat Kai ins Zimmer. Der Schwarzhaarige blickte auf. „Hätte nie gedacht, dass du dich mal mit Tyson vernünftig unterhalten kannst!“ „Oh, das war eine Ausnahme, glaub mir – gerade erst hat er mir wieder verdeutlicht, warum ich das nicht schon früher getan habe.“ Kai schüttelte den Kopf. „Voller Ungeduld und Verlangen nach seinem verbesserten Dragoon hat er sein Blade genommen und ihn gestartet. Aber er wusste nicht, dass Kenny ihn losgeschraubt hatte, deswegen ist Dragoon in seine Einzelteile zersprungen. Tyson sammelt die Stücke gerade im Garten ein.“ „Wird er wieder ganz?“ „Sicher, er ist ja nicht kaputt, nur zerlegt...“ Der Silberhaarige ließ sich seufzend auf sein Bett fallen. Sein Zimmergenosse wandte sich nach einem Nicken wieder den Vokabeln zu. „Wirtschaftswachstum?“ Ray stutzte. Wieso fragte er ihn ab? „Ähm, economic growth?“ „Ein Unternehmenszweig? Armut und technologischen Rückstand bekämpfen?“ „Äh, ähm... a company’s subsidiary! Und, hm… fight against poverty and…” „To combat poverty and technological backwardness.” „Wolltest du nicht einen Spaziergang machen? Und wieso kannst du die alle? Ich seh dich nie lernen!!“ Ray warf sein Heft auf seinen Nachttisch und rollte sich auf den Bauch. Seine Beine überkreuzten sich in der Luft und wippten leicht vor und zurück. Er stützte seinen Kopf auf den Armen ab und sah Kai an. „Wenn ich nachts nicht schlafen kann, hab ich sonst nichts anderes zu tun. Und nein, heute bleib ich hier“, erwiderte dieser darauf. „Ach so, na dann wünsch ich dir eine gute Nacht und schlaf gut. Hoffe, du musst heute nicht lernen und kannst durchschlafen.“ Mit einem Zwinkern kroch Ray unter die Decke und kuschelte sich in sein Kissen. Kai wartete, bis er einen gleichmäßigen Atem vernehmen konnte und stand dann leise auf. „Gute Nacht, Ray.“ Er ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Es schäumte, als Kai Badesalz hinzufügte. Nachdem er sich ausgezogen hatte, stieg er in die warme Flut. Er hoffte, dass er so den Träumen entgehen konnte, weil das Einschlafen ihm an diesem Abend Unbehagen bereitete. Denn dass ihn unerwünschte Erinnerungen empfangen würden, dessen war er sich sicher. Anmerkung: Ja, aufmerksamen Lesern wird es aufgefallen sein, ich erwähnte das Kartenspiel „Durak“ schon im vorletzten Kapitel... meine Freundin hat es mir dieses Jahr im Juli beigebracht und seitdem bin ich verrückt danach. Und was Tyson passiert ist, nun ja.. ich war auch schon mal siebenfacher Durak, hab sieben Mal hintereinander verloren. Und gegen jemanden zu verlieren, der das Spiel schon mit Kindesbeinen beherrscht, ist auch nicht groß verwunderlich, oder? ^.~ Kapitel 21: Eine Blume im Wind ------------------------------ Max öffnete das Fenster. Er wollte die stickige Luft aus dem Klassenzimmer entlassen. Eine kühle Brise strich um sein Gesicht und er schloss entspannt die Augen, während einige Sonnenstrahlen ihn wärmten. Dann drehte er sich um und strahlte Tyson an. „Weißt du, meine Mum hat mir gestern geschrieben. Sie will in den nächsten Tagen mal bei uns vorbeischauen, weil sie sich aus beruflichen Gründen mit Mr. D. trifft. Ich hab ihr gleich zurück geschrieben, dass das in Ordnung geht. Das war doch richtig, oder? Ihr habt doch nichts dagegen?“ „Ich freu mich für dich, dass deine Mutter kommt aber... hättest du nicht gestern mit mir lernen können? Schließlich ist Englisch deine Muttersprache. Ich hab den Test bestimmt wieder versiebt...“ Lachend klopfte der Blonde seinem Freund auf die Schultern. „Ach was, Ty, ich hab mir deinen Test zwischendurch mal angesehen, das sah gar nicht so schlecht aus!“, munterte er ihn auf. Da trat Frau Nishi in den Raum und alle setzten sich auf ihre Plätze. „Guten Morgen, ihr Lieben!“ Lächelnd ließ sie ihren Blick durch die Klasse schweifen. „Guten Morgen, Frau Nishi...“, erklang es von den Schülern im Chor. Sie war beliebt für ihre freundliche und verständnisvolle Art. „So, gestern hab ich im Fernsehen eine Reportage über Jugendliche und ihre Träume gesehen. Und da kam mir in den Sinn, diese Umfrage bei euch mal durchzuführen. Ich meine, jeder hat doch Träume. Es gibt keinen halbwegs vernünftigen Menschen, der nicht von irgendetwas träumt. ... Ja, sagt mal... Was wollt ihr denn mal werden? Wovon träumt ihr denn?“ Durchaus hatte dieses Thema etwas mit Politik zu tun, denn Träume waren bekanntlich auch Zukunftswünsche, die das Leben der Jugendlichen bestimmte und je nachdem, zu was sich die Jugend ausbildete, entwickelte sich auch die kommende Gesellschaft. Hilary meldete sich zuerst und schwärmte: „Also, ich würde gern zwei Kinder haben, heiraten und einen wunderbaren Ehemann haben...“ Frau Nishi bedachte sie mit einem Lächeln: „Ja, sehr schön, Hilary. Und ihr anderen?“ Da gab es viele Ideen. Einige wollten Pilot werden, andere Bäcker oder Arzt – die Berufswünsche erstreckten sich über Jurist, Metzger, Tierarzt und Romanautor bis hin zu eher abwegigen Berufen wie z. B. Songwriter. „Also, wisst ihr, schreibt eure Wünsche doch auf einen Zettel und gebt eine gute Begründung für eure Entscheidung ab. Ach, und vergesst euren Namen nicht. Ich werde die dann nachher einsammeln.“ Eifriges Kratzen von Füllern und Kulis erfüllte den Raum. Frau Nishi ging die Reihen entlang und linste mal hier, mal da über die Schultern ihrer Schüler. Bei Kai blieb sie länger stehen. Er schrieb nichts. Statt des Stifts in der Hand, lehnte sein Kopf auf seiner Faust und er biss sich nachdenklich auf den Daumen. Die Lehrerin schwieg. Sie gab ihren Schülern gerne die Zeit, die sie brauchten. Kai hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was er werden wollte. Geld hatte er genug, er sparte, bis jetzt hatte er nicht vor, die Bladerkarriere aufzugeben. Außerdem blieb ihm ja immer noch die Anstellung, die er bis jetzt innehielt, er war ein guter Schütze, die Organisation würde ihn sicher noch brauchen, wenn er mit seinen eigenen Aufträgen fertig war. Träume hatte er nicht, jedenfalls fiel ihm nichts dazu ein, außer dass er Albträume verabscheute. Das Einzige, was er sich für die Zukunft wünschte, war seine Eltern endlich zu finden. Und dazu sollte er sich vielleicht wünschen... ja, jetzt hatte er etwas. Die Viertelstunde, die Frau Nishi ihnen zugestanden hatte, war nun um. Sie sammelte die Zettel wieder ein. „So. Gut. Ich mische die Zettel jetzt mal und nehme von oben, unten und aus der Mitte jeweils und lese das vor.“ Drei Blätter zog sie aus dem Stapel. Das erste hatte Tyson geschrieben. „Ich möchte mit meinem Team weiterhin erfolgreich sein. Und wenn ich einen Job brauche, möchte ich gerne Kendo-Lehrer werden und den Dojo meines Großvater weiterführen.“ Tyson wurde rot, als er von der Lehrerin gelobt wurde, dass das ein sehr vernünftiger und anständiger Traum sei. „Okay, der zweite Zettel: Würde gern Koch werden. Möchte meine Freunde immer sehen und irgendwann vielleicht heiraten. Wenn ich das richtige Mädchen dafür finde. Aber würde auch gerne etwas mit Kindern machen, z.B. Karate- oder Beybladetrainer. Ray.“ Auch Ray errötete leicht. „Mit Kindern arbeiten? Und vielleicht Koch? Ein schönes Ziel, ehrlich! Aber denk dran, dass Kinder oft ganz schön anstrengend sein können, ich spreche aus Erfahrung.“ Sie lächelte und zwinkerte Ray zu. Die Klasse lachte. Sie verstanden den Seitenhieb. Der dritte Zettel war in ordentlicher Schrift gehalten. Frau Nishi grübelte, dieses Schriftbild bekam sie nur selten zu Gesicht, denn der Besitzer schrieb nicht oft und gerne in ihrem Unterricht. Außerdem stand dort auch nicht viel. „Siebzehn. Kai.“ Fragend drehten sich einige Köpfe zu dem Blaugrauhaarigen um. Er sah sich gezwungen, zu erklären. „Na ja... Ich möchte gerne siebzehn Jahre alt werden. Bis dahin kann ich mir ja immer noch überlegen, was ich für Wünsche habe.“ „Also soll das heißen, du bist wunschlos glücklich?“ „Nein. Nur...“ ~Ich kann doch nicht sagen, dass ich nicht weiß, ob ich meinen siebzehnten Geburtstag überhaupt erlebe! Wir bewegen uns ständig an der Grenze zwischen Leben und Tod, Kugelhagel gehört zu unserem Alltag, Waffen, Gewalt... Das Blutbad kann auch uns selbst zum Verhängnis werden. Aber wir wussten, auf was wir uns da einließen. ~ „Hm, ich meine... es kann ja soviel passieren und so. Außerdem hab ich mir nie sehr viele Gedanken gemacht und vielleicht sollte man seine Zukunft in kleinen Schritten planen, also werde ich erstmal 17, bevor ich mir großartig überlege, was aus mir wird. Ich habe auch keine Lust, mir jetzt den Kopf über einen Berufswunsch zu zerbrechen, den ich später sowieso wieder verwerfe. Das wäre Zeitverschwendung.“ „Nun Kai, jedem das seine. Schade, dass du dir sowenig Gedanken um dich selbst machst. Für die nächste Stunde...“ Das Klingeln beendete die Stunde und unter dem Geraschel des Einpackens trug Frau Nishi ihnen noch schnell die Hausaufgaben auf. „Was geht eigentlich in deinem Kopf vor? Musst du dich durch solche Äußerungen eigentlich immer in den Mittelpunkt drängen? Die anderen haben schon Angst vor dir, halten dich für verrückt!“ Ray holte Kai ein, sie waren auf dem Weg in den Musikunterricht. „Ich mache das nicht mit Absicht. So denke ich einfach. Was soll ich machen, wollt ihr, dass ich mich verbiege? Dass ich mich anpasse? Wollt ihr, dass...“ Ihn durchzuckte ein plötzlicher Gedankenblitz. Anpassung. Emotionslose Masken. Die Abtei. Ein Stechen bohrte sich von hinten durch seinen Kopf bis nach vorne zu seiner Stirn. Er blieb unvermittelt stehen, stöhnte gequält auf und hielt sich, gekrümmt vor Schmerzen, den Kopf. „Hey, alles klar?“ Ray stand vor ihm und hielt ihm die Hand hin. „Hast du Kopfschmerzen? Ich hab wohl ne Tablette, warte...“ Der Schwarzhaarige kramte in seinen Taschen. Kai stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und hob den Blick. Er sah nicht viel, seine Sicht war verschleiert und ein undeutlicher Film vor seiner Pupille erschwerte ihm den Durchblick. „Lass mich... ich brauch nichts...“ Wankend und dabei einige jüngere Schüler anrempelnd und umwerfend fand er den Weg in den Musiksaal. „Wir hören nun ein etwas älteres Lied. Vielleicht kennt der eine oder andere es aber von seinen Eltern. Ich werde es einmal abspielen. Schreibt eure ersten Eindrücke auf, danach werden wir es zusammen interpretieren.“ Lehrerin Nagami legte die CD ein und drückte auf ‚play’. „Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden, und eine Hand die Deine hält. Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden, und dass dir nie die Hoffnung fehlt, und dass dir deine Träume bleiben und wenn du suchst nach Zärtlichkeit, wünsch ich dir Liebe ohne Leiden und Glück für alle Zeit-“** „Pah!“ Kai schlug die Hände auf den Tisch und stand auf. Gleich als er die ersten Zeilen des Refrains gehört hatte, schauderte es ihm. Er war ziemlich unhöflich, aber er war sowieso schon gereizt. Wieder hatte er diese Nacht kein Auge zugemacht, zu aufgewühlt war er gewesen. Seine Kopfschmerzen hatten sich keinen Deut gebessert und das Lied trug auch nicht gerade zu einer Hebung seiner Stimmung bei. Alle bisherigen Ereignisse in der Schule hatten ihm nur allzu deutlich gemacht, wie unwirklich ihm der Alltag im Gegensatz zu seiner Erziehung in der Abtei erschien. Anpassen wollte er sich nicht, das hatte er sich abgeschworen, als er die Mauern Moskaus hinter sich gelassen hatte. „Äh, wie meinen??“ Die Lehrerin war verwirrt. „Dieses Lied... Entschuldigen Sie mich bitte!“ „Hiwatari! Was fällt Ihnen ein?!“ „Tze.. Liebe ohne Leiden... lächerlich! Das gibt’s niemals, denn wenn es Liebe gibt, dann trifft doch irgendwann wieder das Leid zu. Das Schicksal kotzt dir voll auf die Lacklederstiefel!! Und von wegen ‚ewiges Glück’... genauso lächerlich! Niemand hat das Glück auf immer gepachtet. Ich weigere mich, mitzumachen!“ „Arbeitsverweigerung wird mit ungenügend bestraft, das weißt du?“ „Mir egal. Ich gehe. Tschüss!“ Kai rauschte aus dem Raum und knallte die Tür zu. Man spürte seine Wut, besonders als ein bösartiger Fluch zu hören war und etwas gegen die Wand klatschte. Anscheinend sah Kai immer noch nicht wieder einwandfrei. Ray und Max standen auf. „Entschuldigen Sie bitte, bitte verzeihen Sie sein Verhalten. Ihm geht es nicht sehr gut heute“, erklärte Ray schnell. Max fragte: „Dürfen wir nach ihm sehen?“ „... von mir aus. Aber wenn er nicht zurückkommen will, dann lasst ihn und kommt wieder. Dann werde ich mir das vermerken.“ Sie fanden Kai außerhalb des Schulhofes auf dem Bürgersteig sitzen. Dort rieb er sich mit zunehmender Intensität die Schläfen und schlug ab und zu gegen seine Stirn, um sich durch den Gegendruck Abhilfe von diesem bohrenden Schmerz zu schaffen. „Sie vermerkt das als Fehlverhalten, wenn du nicht wieder kommst...“ Ray ließ sich zu seiner Rechten nieder. Max stand links neben ihm und schabte mit dem Fuß über den Boden, schoss ein paar kleine Steine fort. „Vielleicht solltest du eine Tablette nehmen“, meinte der Blonde und sein Blick schweifte in die Ferne, „bevor du dich übergeben musst. Bestimmt hast du Migräne.“ „Hast du eigentlich geschlafen? Du bist schon wieder so blass und siehst so müde aus!“ Diese Fragen! Diese Nähe! Kai schüttelte den Kopf und drückte sich die Handflächen auf die Augen. „Können wir dir irgendwie helfen? Willst du was trinken? Oder...“ „Ich will nach Hause, verdammt! Nach Hause...“ Seine anfänglich laute Stimme wurde zum Ende hin immer leiser, bis der Wind seine Worte verschluckte. ~Mama, Papa... ich will zurück... will wieder klein sein... Mein Leben von vorn beginnen... Warum zeigt ihr euch nicht? Immer wenn ich glaube, euch näher zu kommen, verläuft eure Spur wieder. Wollt ihr mich nicht mehr?!~ Ray legte eine Hand auf Kais Schulter. „Sollen wir dich begleiten?“, fragte er sanft. „Ich will nach Hause... Und ich gehe jetzt.“ Er erhob sich und rieb sich die Augen. Seine Sicht war wieder klar, doch der monotone Schmerz blieb. Jetzt fühlte es sich an, als würde er sich langsam im gesamten Körper ausbreiten. Max stellte sich ihm in den Weg. „Und was ist mit dem Vermerk?“ Das war ihm egal. Sollte er doch einen erhalten, wen interessierte das? „Wir werden sagen, dass er sich übergeben hat, Max. Komm, lass ihn. Aber Kai, ich erwarte von dir, dass du dich bei der Lehrerin für deine unverschämte Art entschuldigst.“ „Ja ja...“ Das bedeutete soviel wie ‚Leckt mich!’ „Kai!!“, knurrte Ray böse. „Ja, mach ich, wenn dich das glücklich macht! Mann!!“ „Aua!!“ „Hab ich dir nicht gesagt, dass du nicht widersprechen sollst?!“ „A-aber die...“ „Sei still!“ Ein weinerlicher Schrei hallte durch die Küche der kleinen Kneipe, dem eine schallende Ohrfeige vorangegangen war. Vor ihren Augen wuchsen Beine wie Baumstämme in die Höhe. Ängstlich klammerte sie sich am Tischbein fest. Die Wucht des Schlages hatte sie zu Boden geworfen. „Shary, wasch dir das Gesicht und dann sieh zu, dass du wieder an die Theke kommst. Wir haben einige Gäste, die durstig sind. TU WAS ICH DIR SAGE, BALG!!“ Hurtig machte sie sich auf, sich die Tränen abzureiben. Dann beeilte sie sich, hinter den Tresen zu klettern und die Bestellungen entgegenzunehmen. Ob es ihr Spaß mache, wurde sie gefragt. Sie vertrieb den Kummer aus ihrer Stimme, indem sie ein paar Mal hustete. „Oh ja, ich helfe sehr gern! Das macht sogar sehr viel Spaß!“ Sie setzte ein gekünsteltes Lachen auf. Was sollte sie tun, etwas anderes blieb ihr nicht übrig. Wo sollte sie hin, wenn sie flüchten würde? Und er würde sie wieder finden. „Hier, bitte sehr, Ihre Fanta!“ Lange war er durch die Stadt gelaufen, durch viele Gänge, Straßen, Gassen. In die WG wollte er nicht, das war nicht sein Zuhause. Zu Tala wollte er nicht, erstens, weil sie sich gestern sozusagen gestritten hatten, und zweitens, weil er ihn nicht schon wieder stören mochte. Außerdem brauchte er Zeit zum Nachdenken, dazu brauchte er Freiraum. Und die Stadt stellte sich als idealer Zufluchtsort heraus, denn niemand sprach ihn im Feierabendverkehr an. Automatisch trugen seine Beine ihn weiter. Seine Beine ruhten auf einer kleinen Fußbank vor dem Sessel. Den Hörer schon in der Hand, wählte er eine lange Nummer. Jetzt brauchte er eine vertraute Stimme, eine sanfte, die ihn beruhigte, eine, die nicht Kais war. „Babuschka? Ich bin’s, Tala.“ „~“Moj maltschik! Kak u tebja dela?“~“ Der Rothaarige erzählte ihr von dem Streit mit Kai, auch wenn er nicht wusste, ob sie nun wirklich zerstritten waren. Ihre Stimme war Balsam für ihn, er wünschte sich zu ihr in eine Umarmung, ihm fehlte ihre Nähe. „~“Ach Tala... um einen Freund zu finden, muss man ein Auge zudrücken: Um ihn zu behalten – zwei. Kai ist eine schwierige Persönlichkeit, aber ich glaube nicht, dass es etwas gibt, das euch zwei zerrütten kann. Und euer jetziges Problem ist wirklich eine Lappalie gegenüber dem, was ihr schon durchgestanden habt. Und ihr seid Freunde, die fest zusammenhalten. Die Zeit hat euch schon jetzt so sehr zusammengeschweißt, dass eine Trennung unmöglich ist, sie würde euch innerlich umbringen. Du siehst ja schon jetzt, wie sehr dich eure kleine Meinungsverschiedenheit mitnimmt.“ Tala nickte. „Danke, Babuschka. Du hast mir geholfen. Am besten werde ich zu ihm gehen. Ach, und bevor ich’s vergesse: Kai und ich möchten dich einladen, uns mal zu besuchen!“ „~“Oh, ja gern, mein Schatz! Aber die Einzelheiten besprechen wir lieber später. Mir brennt die Suppe an. Und du, mach dich auf den Weg zu Kai!“~“ Vereinzelte Schluchzer drangen aus einer Seitengasse. Kai stutzte. Er sah sich um. Wie von selbst hatte er den Weg zu der kleinen Kneipe eingeschlagen. Er folgte dem leisen Wimmern zum Hintereingang und fand, wen er erwartete. „Guten Abend, Kleine!“ Erschrocken ließ sie das Glas fallen, das sie abwusch. Es zerbrach klirrend auf den Steinen. „SHARY!! Das zieh ich dir ab!“ Schnelle Schritte eilten auf sie zu. „Schnell, versteck dich, er darf dich nicht sehen!!“, flüsterte das Mädchen verängstigt und überhastet. Kai trat zurück um die Ecke, in den Schatten. „Mit wem redest du hier?“ Das Kind sammelte die Scherben auf. Der Wirt sah sich prüfend um, konnte aber niemanden entdecken. „Du machst heute länger, weil du das Glas zerbrochen hast! Verstanden?!“ Die Kleine nickte. Der Wirt stiefelte wieder davon. Noch lange hörte man ihn über das unfähige Kind wettern und fluchen. „Schneide dich nicht...“ Die sanfte Stimme ließ den vor Furcht angespannten Körper zusammenzucken. Kai nahm ihr die Scherben aus der Hand und sammelte die restlichen selbst ein. „Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Du solltest bei Gelegenheit darüber nachdenken, von hier abzuhauen. Bei dem solltest du nicht bleiben...“ „Er findet mich aber immer...“ Wieder half Kai ihr mit dem Abwasch. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden. Hier sah er, dass nicht nur er allein Probleme hatte, sondern dass es Menschen gab, denen es genauso dreckig ging wie ihm oder die es noch schlimmer traf als ihn. Als sie fertig waren, riss er ein Blatt von einem kleinen Notizblock ab und schrieb seine Adresse darauf. Den Zettel reichte er ihr. „Hier, da wohne ich. Wenn was ist, komm mal vorbei.“ Er wusste nicht, warum er das tat und ihr das sagte. Aber es fühlte sich richtig an. Die Rollläden waren alle heruntergezogen. Kai nahm sein Amulett hab und förderte den Hausschlüssel zu Tage, den er dort sicher verwahrte. Im Flur schien kein Licht. Im gesamten Haus herrschte völlige Dunkelheit. Kai rief Talas Namen in die Stille. Er suchte in allen Zimmern, zuletzt dort, wo der Rothaarige schlief. Doch er konnte ihn nicht finden. Unverrichteter Dinge schloss er die Haustür wieder ab und trottete enttäuscht zur WG zurück. Er hatte gehofft, ihn hier zu treffen. „Hm, keiner da... Dann geh ich halt wieder. Wo die wohl sind?“ Tala wunderte sich. Licht brannte zwar im Haus, aber keiner öffnete. Seltsam, da es noch gar nicht so spät war. Gerade, als er den Weg durch den Vorgarten nahm, um zurück zu Kais Elternhaus zu gehen, kam sein bester Freund ihm entgegen. Beide blieben stehen und starrten sich an. „Was machst du hier?“ Kai ging auf ihn zu. „Weiß nicht, ich hatte das Bedürfnis, dich zu sehen, weil...“ „Komisch, ich wollte dich eigentlich gar nicht sehen, bin schon den ganzen Tag unterwegs...“ Diese Äußerung versetzte Tala einen Stich. „...um mir aus dem Weg zu gehen?“ Er funkelte den Silberhaarigen an. Das Eisblau seiner Augen stach kalt durch die Schatten der Nacht. „Wenn ich dich so sehr störe, dann kauf ich mir ein Ticket und fahr schon morgen zurück zu meiner Großmutter! Nein, am besten jetzt gleich! Du bist so ein Arsch, ich reiß mir ein Bein für dich aus und du behandelst mich wie Dreck! Und ich wollte mich bei dir entschuldigen, dass ich nicht lache! Ach ja, und was ich dir schon immer mal sagen wollte: Du bist schuld!“ Das saß. Der Graublauhaarige schluckte hart. Das hatte er von seinem besten Freund, dem Menschen, den er am meisten vertraute, nicht erwartet. Tala stürmte an Kai vorbei und rammte grob dabei dessen Schulter. Noch nie hatte er Kai so kalt und abweisend angesehen. Noch nie war er absichtlich verletzend zu ihm gewesen, hatte immer Verständnis gezeigt. Vielleicht rührte das von der Nähe her, sie befanden sich seit Langem wieder in Reichweite, sahen sich fast täglich... Das konnte durchaus ein Grund sein, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Moment mal, hatte Kai da ein Zittern in der Stimme seines Freundes gehört? „Yuriy, warte!“ Er nannte ihn bei seinem richtigen Namen. Das zeigte, wie ernst und wichtig es ihm war, dass Tala anhielt. Widerwillig blieb dieser stehen. Der Rothaarige spürte die Hand des anderen an seinem linken Arm, die ihn herumdrehen wollten. Er riss sich los. Seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, als er seine Fäuste ballte und die Augen fest zusammenkniff. „Was denn noch?“ Da war es wieder, diese brüchige Stimme und das Beben in ihr. Kai ließ sich dazu hinreißen, um ihn herumzugehen, wobei er seine Hand von Talas Arm hinauf zu seiner Schulter führte. Tala war gekränkt, das spürte er ganz deutlich. „Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist...“ Verächtlich schnaubend wandte der Rotschopf sich ab. „Psalm 19,13... Meinst du, damit wird es besser? Kommst mit einem Bibelspruch daher und alles ist wieder gut?! Pah, du bist dir deines Tuns ganz gewiss bewusst, mach mir und dir doch nichts vor!!“ „Du heulst ja wie ein Mädchen...“ Tala riss die Augen auf. Mit einem wilden Knurren stürzte er sich auf Kai und rang ihn zu Boden. Der Silberhaarige verkreuzte die Arme schützend vor seinem Gesicht, kurz bevor Tala ihn schlug und immer wieder auf ihn eindrosch. Dann brach der Ältere über ihm zusammen und hielt sich die Hände vor sein Gesicht. Kai richtete sich wieder auf. Er umschlang den bebenden Körper und wiegte ihn sacht hin und her. Diesmal war er es, der Trost und Halt spendete. „Du hast mir verdammt weh getan, du blöder Wichser! Ich dachte, du... du...“ „Yuriy, verzeih mir... Das hab ich nicht beabsichtigt. Bitte verzeih mir!“ Der Jüngere nahm Talas Gesicht in seine Hände und zwang ihn so, ihn anzusehen. Mit den Daumen wischte er die Tränen weg, die er vergossen hatte. Dann gab er ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. „Wir sind starke Menschen und wir weinen nicht, wenn wir Probleme haben! Und jetzt komm, die Leute gucken schon komisch...“ „Welche Leute?“ „Spaziergänger, neugierige Nachbarn...“ „Hey, Kai, das hieß jetzt aber nicht, dass du mich abschießt, oder? Bei einigen italienischen Mafia-Clans bedeutet ein Kuss auf den Mund, dass der Geküsste umgebracht wird...“ „Für diesen Unsinn hättest du einen Arschtritt verdient, du Dumpfbacke! Was würde ich denn dann ohne dich machen? Ti samoje lutsche sto somnou mogo slu4itsa! Komm, gehen wir rein und... „.. feiern unsere Versöhnung?“ „Ahhh... Da, mit etwas Wodka ist die Welt in Ordnung!“ Tala goss sich noch einmal großzügig nach. Kai lehnte sich an seine Schulter und lächelte. Doch eins beschäftigte ihn sehr. „Sag mal, Tala, hast du das ernst gemeint? Dass du mir immer schon mal die Schuld geben wolltest?“ „Uhm, ja, ich wollte wissen, was du dann tust. Hast aber nichts gemacht, was war los?“ „Affe!“ „Mein Ernst!“ „Nein, der Wodka spricht aus dir, Iwanov!“ „Dann eben nicht, ich meinte das aber so. wenn du mir nicht glaubst, muss ich halt...“ Tala drückte Kai aufs Sofa nieder und griff ihn mit einer Kitzelattacke an. Kai wehrte sich lachend mit einem Kissen, womit er erfolglos auf den älteren einprügelte. „H-Hör auf, Iwanov! Das Wässerchen bekommt dir nicht gut!“ Federn stoben in die Luft. Einmal ertönte ein dumpfer Knall, dem ein Schmerzenslaut folgte. Kai hatte sein Knie gegen den Wohnzimmertisch gehauen. Sie balgten sich eine Weile weiter, unter Keifen und Lachen, bis Kenny verschlafen die Treppe hinuntergetorkelt kam. „Macht nicht soviel Krach, habt ihr schon mal auf die Uhr geschaut? Und – was in aller Herrgottsnamen tut ihr da?!“ „Schlaft ihr alle schon?“ „Ja. Nach dir zu suchen haben wir nach zwei Stunden aufgegeben. Scheinst dich ja gut von deinem Zusammenbruch heute Morgen erholt zu haben.“ Der Braunhaarige holte sich ein Glas Wasser. „Also, etwas leiser bitte, okay? Gute Nacht.“ „Zusammenbruch? Erzählst du mir nichts mehr?!!“ „Ich wollte dich nicht schon wieder belästigen. Außerdem hatte ich nur Kopfschmerzen. Kein Grund zur Panik.“ Plötzlich klingelte es an der Tür. „So spät noch?“, fragte Tala und zog eine Augenbraue in die Höhe. Kai zuckte mit den Schultern. Er wollte nachsehen. Es regnete stark und der Wind heulte und riss an den Blättern der Bäume. Der Blaugrauhaarige öffnete die Tür. „...“ „Lin!!“ Schnell zerrte er das vor Kälte schlotternde Kind in die warme Wohnung. „Du bist ja klatschnass! Was ist passiert?!“ Er kniete vor ihr nieder, drehte ihr Gesicht zu allen Seiten und musterte sie prüfend, ob jemand ihr etwas getan hatte. Hinter ihm trat Tala heran. „Ah, die Kleine aus der Seitenstrasse...“ Lin wich einige Schritte zurück, als sie den anderen Jungen erblickte. „Keine Angst, das ist Tala, mein bester Freund. Den kennst du schon, wir waren mal zusammen bei dir in der Bar.“ Sie nickte. Kai trug ihr auf, kurz zu warten. Dann hechtete er die Treppe hinauf in sein Zimmer. Tala legte eine Hand auf ihre Schultern und wies ihr den Weg ins Wohnzimmer. „Magst du Kakao? Bestimmt, ich werde dir einen warm machen, setz dich doch.“ Derweil kam Kai die Stufen wieder heruntergewetzt. Er brachte ein Handtuch und einen dicken Pulli von sich mit. Mit schnellen Schritten war er bei Lin, warf ihr das Frottetuch über und rubbelte ihre Haare trocken. „Zieh deine nassen Sachen aus. Sonst erkältest du dich noch.“ Sie nickte erneut und befreite sich von ihrer Jacke und ihrem Pullover, darunter trug sie ein Unterhemd. Die Kleidungsstücke trieften nur so vor Regen. Dafür nahm sie Kais Pullover an sich und Tala half ihr hinein. Er war viel zu groß. Der Rothaarige krempelte ihre Ärmel hoch. Wenigstens war er warm und trocken. Währenddessen besorgte Kai aus dem Gäste-WC einen Kamm und bürstete ihr Haar, während Tala ihr den warmen Kakao in die Hand drückte. Das Kind bedankte sich artig. Schweigend saßen sie nebeneinander. Die Jungen wechselten hin und wieder Blicke miteinander. „Willst du hier bleiben?“, fragte Kai schließlich. „Nein, ich kann nicht! Er sucht mich bestimmt schon, er wird mich auch finden... Ich wollte mich nur bedanken, dafür dass du mir heute schon wieder beim Abwasch geholfen hast und... und auch für die Schokolade... Mir hat noch nie jemand so was geschenkt!“ „Ich bin froh, dass es dir gefällt. Wie schmeckt sie denn?“ Lin gab ihm ein warmes Lächeln. „Sehr gut! Ich heb sie mir immer für besondere Gelegenheiten auf, wenn ich traurig bin oder besonders froh. Hab sie auch extra gut versteckt.“ Kai strich ihr sanft über die Wange und nickte. Das hatten er und Tala auch immer mit außergewöhnlichen Gegenständen getan. „Ich muss jetzt wieder gehen, sonst ist er böse...“ „Wenn er dir was tut, dann melde dich bei mir. Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen, ja? Du kannst immer zu mir kommen, wenn was ist.“ Das Mädchen stand auf und bedankte sich ein weiteres Mal bei den beiden. „Du willst doch wohl nicht wieder in den Regen hinaus?!“ Entrüstet stand Tala auf. Fragend sah Lin zu dem hochgewachsenen Jugendlichen hinauf. Kai kramte in einer Schublade in der Küche und fand bald darauf das, was er suchte. „Wir bringen dich natürlich nach Hause. In der Garage steht ein Wagen von Mr. Dickenson, für Notfälle. Ich denke, so ein Moment ist jetzt!“ Und kaum dass sie blinzeln konnte, fand sich das Mädchen mit den beiden Freunden in einem schwarzen BMW wieder. Die Heizung brummte, der Motor schnurrte behaglich und am liebsten wäre sie immer weiter gefahren, bis ans Ende der Welt. Dann aber hielt das Auto. Sie waren angekommen. Lin verabschiedete sich von ihnen. „Denk an meine Worte, Kleines, wenn was ist, musst du’s mir nur sagen, ok?“ Sie nickte und winkte ihnen nach, als sie davon fuhren. Wehmütig blickte sie hinterher. Dann machte sie sich eiligst daran, in ihr Zimmer zu gelangen. Immerhin, sie hatte jetzt Kais Pullover. Der würde ihr Kraft und Mut geben. ~*~++~*~ **Lied: Liebe ohne Leiden - Udo Jürgens und Jenny Vokabeln Moj maltschik! – Mein Junge! Kak u tebja dela? – Wie geht es dir? Ti samoje lutsche sto somnou mogo slu4itsa! – Du bist doch das Beste was mir je passiert ist Kapitel 22: Echo ---------------- „Sollen wir ihm nicht eine Karte schreiben?“ „Wieso?“ „Es ist immerhin 11 Jahre her…“ „Eben! Er glaubt sicherlich nicht mehr daran, also warum Salz in die Wunde schütten?“ „Und wenn doch?“ „Lass es lieber. Wir können das Risiko nicht eingehen.“ „… Und was ist mit der Kleinen?“ „Sie ist fort. Man wollte mir nicht sagen, wer sie zu sich genommen hat…“ „Wir haben einen Fehler nach dem anderen gemacht…“ „Und unsere Kinder müssen dafür bezahlen…“ ----- Kai blinzelte. Grell war das Tageslicht, in das er getaucht wurde. Wo war er? Mauern, Stacheldraht, Zäune, Hundegebell und ein großer Platz... kein Zweifel, er befand sich wieder dort. In der Abtei. Und das Training begann… Kai stapfte durch den Schnee. Er musste weiter gehen, vorankommen. Er wusste, dass Tala bereits mit diesem Training fertig war. Er hoffte, dass sein Freund nicht verletzt worden war. Aber jetzt galt es, erstmal selbst heil anzukommen. Am Anfang hatte er sich ja noch eingesetzt, für die Schwächeren und Jüngeren. Aber er konnte, durfte sich das jetzt nicht mehr erlauben. Wer dankte es ihm denn? Am Ende trug nur er wieder die Strafen dafür. Und doch… Da war dieses eine Mädchen, das er gerade überholt hatte. Es war nicht so schnell. Nein, es war geradezu langsam und kam gar nicht mit. Und das bei dieser Übung! Die Übung sah wie folgt aus: Es gab eine Start- und eine Ziellinie. Die Schüler sollten wegrennen und wenn sie schnell genug waren, das hieß, die Ziellinie erreichten, waren sie vor den Wachmännern sicher, die sie versuchten zu fangen. Das Ziel zu erreichen bedeutete aber, dass sie weiter bleiben durften, die anderen wurden aus der Abtei geworfen. Wenn sie Glück hatten… Denn die, die blieben, wurden zu noch härterem Training gezwungen, und wenn sie das nicht durchstanden, dann wurden sie völlig am Ende zurück nach Hause geschickt. Man nannte das Spießrutenlauf. Und das kleine Mädchen war viel zu langsam. Kai, der gerade neun Jahre alt war, entschloss sich, einen letzten Versuch zu starten, fasste es an der Hand und zog es mit sich. Die Soldaten schossen scharf und einige Kinder waren bereits verletzt. Aber so war das in der Abtei. Stillgestanden, losmarschieren, kämpfen. Wie in der Armee. Kai rannte so schnell ihn seine Beine trugen, das Mädchen flog förmlich hinter ihm her wie ein Blatt im Wind. Aber sie mussten weg. Da blieb es plötzlich stehen, ihre Hände flogen auseinander und sie fing unaufhörlich an zu weinen. Viel zu laut. Kai drehte um. Er versuchte es zu beruhigen, doch vergebens, es schrie sich die Seele aus dem Leib, schrie nach Mutter und Vater. Kai gab ihm eine Ohrfeige. Er bereute es sofort, aber das Mädchen war jetzt ruhig, es wimmerte nur noch… Kerzengerade saß er im Bett. Schweißgebadet. Schon wieder ein Albtraum. Leider war es alles andere als nur ein Traum. Es war bittere Realität. Sie kamen immer wieder, raubten ihm den Schlaf, den er dringend benötigte. Dieses Kind… es hatte das Gesicht der Kleinen gehabt, das Gesicht von Lin! Aber das war unmöglich, schalt er sich selbst, das konnte nicht sein. Er fantasierte nun schon, so weit war es also mit ihm gekommen… Kopfschüttelnd warf er die Beine aus dem Bett, vergewisserte sich, dass Ray noch schlief. Doch dessen Bett war leer. Was hatte den Schwarzhaarigen bereits so früh am Morgen aus den Kissen getrieben? Es war doch erst halb sieben… Kai erhob sich und schob den Vorhang zur Seite. Die Sonne schien und er trat auf den Balkon hinaus, der zum Garten zeigte. Unten, auf dem Rasen vor ihrem Beystadium, stand Ray und trainierte seinen Spin und seinen Abzug. Kai war beeindruckt von Rays Motivation, die er lange nicht mehr so intensiv wahrgenommen hatte. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Seine noch leicht raue Stimme, die er immer am Morgen hatte, klang unzufrieden und er verschränkte die Arme, als er sich vorbeugte und Ray zurief: „Das geht aber noch besser!“ Der Schwarzhaarige erschrak, Drigger schlingerte und prallte an der Außenkante des Stadiums ab. Der Blade landete zu Rays Füßen. „Mensch Kai! Du Motzkoffer! Nicht mal am frühen Morgen hat man seine Ruhe vor dir! Hättest du nicht noch ein wenig länger liegen bleiben können?“, meckerte Ray zurück und sah zu ihm auf. „Und weiterhin zulassen sollen, wie du stümperhaft versuchst, dich zu verbessern?“ „Halt die Klappe!“ Ray schnappte sich seinen Blade und stemmte die Hände in die Hüften. „Was hältst du von einem kleinen Übungsmatch, oh großer Meister Hiwatari?“ „Hm, gar nicht mal so eine schlechte Idee… Aber nicht, bevor ich keinen Kaffee hatte. In der Zeit könntest du ja weiter üben!“ Selbstgefällig grinsend zog Kai sich zurück. Das schien ein viel versprechender Morgen zu werden. „Und, was sagst du nun zu meiner Technik?!“, fragte Ray leicht süffisant. Das Match war unentschieden ausgegangen. „Anscheinend bist du es wohl, der noch viel an Übung bedarf, Kai! Denn das Einzige, was du zu trainieren scheinst, ist dein Ego!“ Feixend sprang er die Verandastufen empor und gesellte sich zu den anderen in die Küche an den Frühstückstisch. „Schon wieder so eine Schießerei am Bahnhof…“, murmelte Max und faltete die Zeitung zusammen, in der er bis eben noch gelesen hatte. „Die Welt wird nicht besser, Maxi!“, meinte Kai trocken und hockte sich vor den Mülleimer, um einen leicht schrumpeligen Apfel zu schälen. „Es müsste jemand der Polizei unter die Arme greifen, eine Art Bürgerwehr… Oder… na ja, das sind jetzt zwar Attentäter, aber… so was, was diese Krowawaia Boina-Typen machen…“, überlegte der Blonde leise. „WAS?! Ist dir klar, was du da sagst, Max?!“ Ray war entsetzt und starrte den Blondschopf mit wachsender Besorgnis an. „Das sind und bleiben Attentäter, wie kannst du nur meinen, sie täten Gutes?!“ Zwischen den beiden entbrannte nun ein hitziges Wortgefecht, jeder beharrte auf seiner Position. Tyson schaltete sich ein, wollte beruhigen, doch seine Worte wurden von den beiden bereits im Keim erstickt. Kai hörte sich ihre Argumente eine Weile lang an und aß gelassen den Apfel, dann ging er dazwischen. „Diese ‚Krowawaia Boina – Typen’ sind alles andere als Weltverbesserer, Max. Sie sollten kein Vorbild für irgendwas sein!“ „Genau das, was ich sage!“, pflichtete Ray ihm bei. „War ja klar, dass ihr wieder einer Meinung seid und du zu Ray hältst!“, beschwerte sich Max. „Doch ebenso wenig sind sie Attentäter, obwohl sie ähnliches tun. Sie verfolgen ein anderes Ziel als vielleicht angenommen. Gewöhnlich sind sie gewiss nicht. Und ihr solltet nicht darüber reden, wovon ihr keine Ahnung habt. Lasst dieses Team in Ruhe. Wir können froh sein, wenn sie nicht an die Weltherrschaft gelangen wollen…“ Sein Team musterte ihn skeptisch und Max und Ray starrten ihren Teamleader fassungslos an. Woher wusste er so viel darüber?! Aber Kai grinste nur verhalten und war bereits auf dem Weg in sein Zimmer, als Kenny ihn aufhielt. „Wohin willst du denn jetzt schon wieder?!“ „Wieso?“ „Na weil wir mit dir weggehen wollten. Und du kommst mit, egal was DU vorhast!“ „Aber Tala und ich…“ „Der kann ja unseretwegen mitkommen. Sowieso gibst du dich fast nur noch mit ihm in deiner Freizeit ab, wenn du uns nicht gerade beim Training schikanierst! Aber wir sind ein Team, und du gehörst dazu! Und deswegen unternehmen wir jetzt auch was zusammen!“ Tyson war aufgestanden und um den Tisch herumgegangen. Er war ein gutes Stück gewachsen und er und Kai befanden sich nun fast auf Augenhöhe. Jetzt baute sich der Jüngere vor seinem Leader auf. „Kapiert?!“ Kai zückte ergeben seufzend sein Handy. Das würde ja was geben! Kai lief nun also mit den Bladebreakers durch die Stadt. Er und Tala schlenderten am Schluss der Gruppe, beide mit den Händen in den Taschen. „Sag, wie haben sie dich breitschlagen können?“, fragte Tala dann nach einer Weile neugierig und musterte Kai interessiert. „Mit Teamgeist“, seufzte Kai und sein Blick galt Tyson, der sich just in diesem Augenblick umdrehte und ihn anlachte. Der Blauhaarige deutete auf einen Supermarkt. Er wollte hinein, sich etwas Kühles zu trinken besorgen. Die Jungengruppe folgte ihm. Ein großer LKW passierte sie und durch das laute Rauschen des Vorbeifahrens bemerkten weder der Rothaarige noch Kai die herannahende Gefahr. Es knirschte nur dumpf, so dass Tala aufsah. Er machte ein seltsames Loch in einem Straßenschild aus, das die Fußgängerzone ankündigte, und er konnte schwören, dass das vorher noch heil gewesen war. Gerade wollte er zum Sprechen ansetzen, da erstarrte er. Plötzlich – ein Schuss. Kai drehte den Kopf in die Richtung, aus der der Schuss kam, spürte mehr denn dass er hörte das Surren der Kugel. Als hätten sie sich abgesprochen schubsten beide Russen Kenny und Max in den schützenden Eingang des Supermarktes. Tala rollte sich über die Schulter ab, Kai sprang der Kugel katzengleich aus dem Weg und beide blieben synchron auf den Knien auf dem Straßenpflaster hocken. Der Silberhaarige sah wütend und berechnend zu einem leicht erhöhten Gebäude hinauf, wo er den Schützen vermutete. „Du kannst es also noch...“ „Wer ist da?!“ Tyson und Ray kamen wieder aus dem Laden gestürzt, sie halfen Kenny und Max auf die Beine. Dann drehten sie sich um und warfen ihre fragenden und erschrockenen Blicke auf Tala und ihren Teamleader. Kai richtete sich nun langsam auf. „Hab ich dich also gefunden...“, erklärte die dunkle Männerstimme lapidar. Es raschelte, und ein Mann, im langen, braunen Trenchcoat, vielleicht Mitte dreißig, trat aus dem Schatten einer Häuserfassade. Er schien nur Augen für Kai zu haben. „Wer will das wissen?“, fragte Tala barsch. Er war sofort an Kais Seite, sein Beschützerinstinkt, den er über Jahre hinweg für seinen besten Freund entwickelt hatte, ließ ihn auch dieses Mal nicht im Stich. Der Mann nahm den Cowboyhut mit der breiten Krempe ab und verbeugte sich belustigt. „Grischa Domovoi!“, riefen beide Jungen aus. „Stets zu Diensten. Aber nennt mich Grigorij, ich bin schließlich nicht mehr zwanzig.“ Die Bladebreakers verstanden das Ganze nicht. Sie hielten sich noch leicht verstört im Hintergrund auf und drängten sich aneinander. Einige Schaulustige waren schon stehen geblieben und besahen sich das Schauspiel. Es sah aus wie in einem modernen Western. Kai und Tala fassten schon allein aus Gewohnheit auf ihren Rücken. Doch sie waren nicht ausgerüstet. Keiner von ihnen hatte eine Waffe bei sich. Domovoi lachte. „Nun aber mal ganz ruhig. Kommt mit, ich will euch was zeigen.“ Der Mann drehte sich um und ging. Skeptisch sahen Tala und Kai sich an. Dann ließen sie das Team stehen und folgten Domovoi. „Findest du es nicht seltsam, dass er hier auftaucht?“, flüsterte Tala Kai ins Ohr. Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Ich will hören, was er zu sagen hat“, gab er ebenso leise von sich. Sie hielten an, als Domovoi sie ein paar Straßen weiter geführt hatte. Es war ein kleiner Hinterhof, mit einer Tür zu einem alten Gebäude. Solche Orte waren beide schon gewohnt. Domovoi schloss die Tür auf und alle drei Männer betraten nacheinander das Haus. „здесь.“ Hier. Domovoi reichte Kai einen Umschlag, Größe DinA5, und wartete. Kai öffnete den Umschlag, sah fragend auf, und sah dann hinein. Er holte ein Foto hervor. Als hätte er sich verbrannt, ließ er es fallen, wurde kreidebleich. „Was ist?“ Tala bückte sich, hob das Bild auf, das auf die bedruckte Seite gefallen war und schluckte. „Woher hast du das, Grischa!?“ „Haben mir deine Eltern selbst gegeben.“ Zu sehen waren Kais Mutter und sein Vater, der wiederum aber etwas verwackelt, da er wohl die Kamera neu justieren hatte wollen oder ähnliches und in dem Augenblick hatte wohl der Selbstauslöser abgedrückt. „Wann?!“, fragte Tala barsch und stellte sich hinter seinen Freund, dessen Knie zitterten, und legte eine Hand auf Kais Schultern. „Ist doch egal. Jedenfalls, ich stehe bzw. stand bis vor kurzem noch in Kontakt mit ihnen. Den kann ich aber jederzeit wieder herstellen. Nicht, ohne eine kleine Gegenleistung zu verlangen. Also, wenn du interessiert bist, Kai…“ „Grischa, ich warne dich, wenn du auch nur ein bisschen Anstand hättest--!!“ Doch Kai unterbrach Tala, tätschelte kurz dessen Arm und nickte ihm dankend zu. An Domovoi gewandt, meinte er: „Was wäre das für eine Gegenleistung?!“ „Geht nach Kroatien. Dort besorgt ihr mir….“ Beiden Jungen wurde der Auftrag nun sorgfältig erklärt und sie wurden in jedes Detail eingewiesen. Was sie zu erwarten hatten, wen sie dort antreffen würden und vor allem, was sie zu besorgen hatten. „Gut. Wann treffen wir uns dann wieder?“ „Ruft mich an. Ich geb euch eine Nummer…“ Tala speicherte sie in seinem, wie er es nannte, „Diensthandy“, das er eigens für solche Fälle angeschafft hatte. Er und Kai wollten nun gehen. „Ach, und Kai?“ Kai drehte sich noch einmal um. „Etot razgowor nikogda ne sushestwowal.“ Der Silberhaarige grinste. Natürlich, es gab nie Gespräche zwischen irgendwem – nicht in ihrer „Branche“. „Kakoi razgowor?“ Von ihm würde niemand etwas von diesem Gespräch erfahren. In seinem eigenen Interesse. „So, und wie wollen wir jetzt nach Kroatien kommen? „Ganz legal.“ Tala verstand den Jüngeren nicht. Daher sah Kai sich gezwungen, sich zu erklären. „Ich werde einfach Mr. Dickenson fragen.“ Der Rothaarige zeigte ihm einen Vogel. „Das glaubst du doch wohl selber nicht.“ Sie waren wieder an der WG angekommen und Kai schloss die Haustür auf. „Du wirst sehen…“, grinste er, doch sein Lächeln erschlaffte, als er die Polizei in ihrem Wohnzimmer vorfand, alle Jungen ebenfalls dort versammelt. Die Aufschrift auf den Rücken der Beamten war unverkennbar. „Was geht denn hier vor?!“ Einige Beamte drehten sich um und wandten sich den Neuankömmlingen zu. „Kommen Sie bitte mit auf die Wache… Es besteht der Verdacht, dass Sie sich mit einem international gesuchten Verdächtigen getroffen haben. Bitte folgen Sie uns, ohne weiteres Aufsehen zu erregen.“ „Ich glaub das nicht. Ich glaub das einfach nicht.“ Ray lief aufgebracht im Wohnzimmer auf und ab, so etwas nahm ihn immer sehr mit. Die Polizisten waren mitsamt Tala und Kai abgezogen. „Jetzt werden die schon wie Verbrecher behandelt!!“ „Dazu kommt: Wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, geraten wir, das heißt ihr als Team und die BBA unter enormen Druck“, erklärte Stanley Dickenson, der ebenfalls informiert und hinzugezogen worden war. „Sie reden beinahe so, als wären beide in Ihren Augen Verbrecher!“ Zornig blieb Ray stehen. In letzter Zeit war seine buddhistische Ruhe erschreckender Nervosität und aufbrausendem Temperament gewichen. Nicht, dass er nicht vorher auch temperamentvoll gewesen war. Aber er stellte es immer häufiger zur Schau. „Ray, es tut dir nicht gut, dass du in einem Zimmer mit Kai lebst. Langsam scheint er auf dich abzufärben“, bemerke Max trocken und musterte den Schwarzhaarigen kritisch. „Es ist nur, weil…“ „Leute, wir machen uns doch alle Sorgen. Kein Grund, uns gegenseitig zu zerfleischen.“ Die Lässigkeit, mit der Tyson das sagte, verblüffte die anderen. Doch der Blauhaarige fühlte sich sicher und seltsamerweise mit Kai verbunden, seitdem dieser ihm Einblicke in sein Privatleben gewährt hatte. Da drehte sich ein Schlüssel im Schloss herum und die beiden Subjekte des allgemeinen Interesses betraten den Raum, nachdem sie den Flur durchschritten hatten. „Mr. Dickenson, ich muss Sie da mal um etwas bitten, Sie und Tala, folgen mir bitte hinauf auf mein Zimmer.“ Der ernste Ton wirkte leicht arrogant, doch war Kais Stimme auch angespannt. Sie hatten sich bis eben einem Verhör unterziehen müssen. Das war gar nicht so einfach gewesen, wie er gedacht hatte. Sogar einen Lügendetektortest hatten sie über sich ergehen lassen. Und wieder einmal hatten sie es ihrer Ausbildung zu verdanken, dass sie sich nicht verrieten. Denn sie existierten nirgendwo offiziell in der Organisation, für die sie arbeiteten. Es war ihnen freigestellt, welche Aufträge sie von wem annahmen. Nur ab und an bestand Kontakt. Ansonsten bewegten sie sich relativ frei. Und nur in ganz extremen Fällen erhielten sie Rückendeckung der Organisation. Und das war hier noch nicht so. „Also…“, begann Kai, als sie sich in seinem Zimmer befanden, den neugierigen Blicken ausgewichen und er die Tür schloss. „Ich habe eine große Bitte an Sie. Genehmigen Sie mir einen Urlaub, eine ein-, nein besser zweiwöchigen Aufenthalt, um den Zusammenhalt im Team zu stärken und die Bladefähigkeiten zu verbessern. Es würde uns sehr gut tun. Das Problem ist nur die Schule, aber das werden Sie doch sicher hinkriegen, oder?“ Mr. Dickenson sah von Kai zu Tala. „Ich bin mir nicht sicher, aber du hast schon so große Rückstände in der Schule, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist…“ „Wann habe ich Sie das letzte Mal um etwas gebeten? Noch nie. Immer hab ich getan, was Sie von mir wollten!“ Kai war aufgeregt, nervös, denn Domovoi hatte ihm versprochen, dass er ihm Informationen über seine Eltern zukommen ließe, vielleicht säße auch ein Telefonat drin, hatte er gemeint. Eigentlich war es Erpressung, aber auf dieser Welt bekam man ganz einfach nichts geschenkt. „Ich habe mich sogar in ärztliche Obhut begeben, nur weil Sie das wollten! Schlagen Sie… Schlagen Sie mir also meine einzige Bitte in fast drei Jahren Zusammenarbeit nicht ab!“ Der junge Russe sah Dickenson fest an, er sprach ruhig und gefasst, vernünftig. Der Sponsor gab sich geschlagen. „In Ordnung. Du sollst deine Genehmigung bekommen. Breiten wir den Vorschlag gleich vor den anderen aus. Vielleicht ist es auch für dich ganz gut, aus allem heraus zu kommen, du scheinst einen Urlaub vertragen zu können, Kai.“ „Danke.“ Erleichtert atmete der Silberhaarige aus, was Mr. Dickenson stutzig machte. Seit wann war der Junge so umgänglich und dankte aufrichtig? „Ah, noch was: Es sollte so aussehen, als würde die Idee von Ihnen kommen. Und Tala kommt auch mit.“ „Natürlich Kai“, seufzte der BBA-Vorsitzende, er hätte es sich denken können. Irgendwo war immer ein Haken. Aber gut, wenn sich durch den zweiwöchigen Aufenthalt in einem anderen Land das Team näher käme, hätte das einen positiven Effekt auf die Presse und auf das Zusammenleben der Jungen. „Was wollte die Polizei eigentlich von euch?“, fragte er dann noch, als sie wieder ins Wohnzimmer gingen, um den anderen Bescheid zu sagen. Tala zuckte mit den Schultern. „Das wissen wir auch nicht. Scheinen uns aber wohl verwechselt zu haben.“ Der Rothaarige ließ sich in einen Sessel fallen. Kai sah zu ihm und brummte kurz. Es ging ihm einfach zu langsam. Sein Verlangen, noch mehr über seine Eltern zu erfahren, um ihnen endlich wieder nahe zu sein, nagte an seinem Wesen. Tala musterte Kai prüfend, dann ergriff aber auch schon Mr. Dickenson das Wort: „Meine Lieben! Ihr denkt sicher, dass etwas passiert ist, nicht wahr? Es ist alles in Ordnung, das war ein Missverständnis, eine Verwechslung. Kein Grund, besorgt zu sein.“ Der alte Mann hielt inne und lächelte seine Schützlinge an. Er setzte erneut zum Sprechen an, um eine Überraschung anzukündigen. „Ein Urlaub?!“ Ungläubig starrten vier Augenpaare Mr. Dickenson an, damit hatten sie nicht gerechnet. „Genau. Zwar habt ihr keine Ferien, ich werde aber bei eurer Schule eine Beurlaubung für diese Zeit beantragen. Bedenkt, dass ihr den Stoff aber nachholen müsst! Es ist eure Entscheidung.“ Als Dickenson Kais giftigem Blick begegnete wegen dieser eigenmächtigen Aussage, fügte er schnell hinzu: „Ich lege euch diese Art von Ferien aber sehr ans Herz. Es wird eure Teamfähigkeit stärken. Und außerdem könnt ihr euch selbst aussuchen, wohin es gehen soll.“ Ein Raunen ging durch den Raum und eine lautstarke Diskussion darüber begann, wohin denn die Reise führen sollte. Orts- und Ländernamen wurden durcheinander ausgerufen. „Moment, ich versteh ja gar nichts!“, lachte Mr. Dickenson. Er freute sich, dass die Idee auf Zustimmung stieß, freute sich für Kai, dass er sich doch schon recht kameradschaftlich entwickelt hatte. Der Graublauhaarige dagegen klatschte in die Hände, damit die anderen verstummten. „Kroatien.“ Sein schlichter Vorschlag stieß auf Unverständnis. Ray runzelte die Stirn und Max fragte: „Wieso denn ausgerechnet dahin?“ Der Sponsor schritt schnell ein, damit die Situation nicht eskalierte. Er erklärte, Kroatien sei eine gute Wahl, sie würden dann mit einem Bus über eine Fähre dorthin gebracht. „Warum nicht wie immer mit einem Flugzeug?“, maulte Tyson, da „Bus“ auch weniger Komfort bedeutete. „Weil die BBA vielleicht auch mal etwas sparen muss“, ergänzte der Teamleader der Bladebreakers nüchtern und fügte dann an: „Ach so, hat jemand was dagegen, wenn Tala mitkommt?“ ~*~*~+~*~*~ Vokabeln: Etot razgowor nikogda ne sushestwowal - Dieses Gespräch hat nie stattgefunden „Kakoi razgowor?“ - Welches Gespräch? Kapitel 23: Kroatien – Wir kommen! Teil 1: Anreise -------------------------------------------------- „Nun, wie gesagt, ich schlage vor, dass ihr mit dem Auto und einem Wohnwagen fahrt. Ist mal was anderes und auch erlebenswert. Außerdem bekommt ihr noch 3 Zelte mit, zu sechst in einem Wohnwagen ist das dann schon etwas eng“, zählte Mr. Dickenson seinen Plan auf. „Ich werde persönlich Chauffeur spielen. Na, was haltet ihr davon?“ Erwartungsvoll blickte der Sponsor in die Runde. „Öh…“ Seine Schützlinge blickten ihn verwundert an. „Wie kommen Sie auf diese Idee?“, fragte Ray schließlich. „Gefällt sie euch nicht?“ „Doch, es ist nur… sehr seltsam…“, meinte Max und zog beide Augenbrauen in die Höhe. „Okay. Ich hab mir halt nur gedacht, dass ihr Urlaub vertragen könnt. Die nächsten Wettkämpfe kommen bestimm. Und da kann so ein kleines Trainingscamp nicht schaden. Und in eurer Freizeit könnt ihr machen, was ihr wollt. So eine Erholungspause wird euch sicher gut tun. Was meint ihr nun? Besonders dir, Kai, lege ich diese Reise ans Herz, mach was draus, du als Teamleader!“ Verwundert hob der Angesprochene eine Braue an. Der Alte legte sich ja ganz schön ins Zeug und hatte sogar ein bisschen schauspielerisches Talent. Langsam nickte der Graublauhaarige. Nach einer längeren Pause ließ sich dann Tyson freudig vernehmen: „Also, ich finde das cool!“ Letztlich stimmten alle dem Vorschlag gänzlich zu, vor allem da es für sie zusätzliche Ferien bedeutete. „Gut, dann packt eure Koffer. Schon am Freitag soll es losgehen. Ich werde soweit dann alles regeln. Ihr hört von mir.“ An besagtem Tage standen die Bladebreakers vor dem Haus. Das Packen hatten sie über die Woche verteilt und mehr oder minder gut überstanden. Nun warteten sie auf Mr. Dickenson. Doch der einzige, der jetzt angerannt kam und mit heftigem Atem stehen blieb, war Tala. „Ey, sorry, dass ich so spät bin, der Bus steckte in ner Baustelle fest…“ „Hi Tala. Macht nix. Mr. D. ist auch noch nicht da“, klärte Max ihn auf. „Bist du auch so aufgeregt wie wir?“, fragte Tyson den Rothaarigen begeistert. „Oh ja, ich kann kaum erwarten, endlich unseren Kontak-“ „Тихо!“ Mit einem mörderischen Blick und eben geäußerten Wort – eher Zischen – brachte Kai Tala zum Schweigen. Er hatte gerade den gemieteten Wohnwagen an den von der BBA geliehenen Van ankoppeln wollen. Aber das vergaß er für einen kurzen Augenblick, als Tala so unvorsichtig war. „Schön dass du da bist!“ Kais Stimme klang leicht angespannt und er fuhr auf Russisch fort: „Pass auf, was du sagst! Du hättest dich fast verraten!“ „Da. Isweni.“ „Was kannst du denn jetzt nicht erwarten?“, fragte Tyson nach, der ungeduldig und verwirrt das Gespräch der beiden Russen verfolgt hatte. Kai wandte sich ab und der wieder der Ankopplung zu. „Hm? Ach so, ich meinte… unsere Bekanntschaft, also unseren Kontakt zu vertiefen. Sagt mal, wann fahren wir eigentlich?“ „Wenn Mr. D. da ist!“, erklärte der Blauhaarige bereitwillig und half Max dabei, dessen Reisetasche in den Kofferraum zu verfrachten. Da klingelte das Telefon im Haus. „Ich gehe!“, rief Ray und sprang die Stufen ins Haus hinauf. Kurz darauf kam er mit dem schnurlosen Telefonhörer in der Hand wieder zurück. Mr. Dickenson rief an. „~“Tut mir leid, ich kann leider nicht. Aber ich werde nachkommen. Ihr könnt ja schon vorfahren.“~“ „Aber… wer fährt uns denn dann?“, wunderte sich Ray. „~“Ein Angestellter der BBA… Ah nein, das geht ja auch nicht… Wollt ihr mit dem Zug fahren? Ich bringe den Wohnwagen dann nach. Aber ich weiß noch nicht, wann. Wir haben hier Probleme. Es tut mir ehrlich Leid, Jungs!“~“ „Ray, gib mir mal“, forderte Kai den Schwarzhaarigen auf und nahm den Hörer an sich. „Mr. Dickenson, Sie hatten uns diesen Urlaub versprochen. Und jetzt machen Sie einen Rückzieher. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber auch wir haben Termine, die wir einzuhalten haben. Außerdem freuen sich einige von uns auf den Strand und das alles. Sie haben uns auf den Urlaub heiß gemacht, es steht alles zur Abfahrt bereit – das sollen wir nun umsonst gemacht haben?! Das ist nicht unbedingt fair!“ Mr. Dickenson wollte Einwände erheben, doch Kais Argumente waren einleuchtend, und bevor er etwas sagen konnte, meinte der Teamleader: „Ein Vorschlag zur Güte: Wir unternehmen die Reise auf eigene Faust und rufen Sie an, wenn wir über sind. Dann können Sie ja nachkommen. Vielleicht sind Sie ja auch schon früher da. Ich weiß es nicht. Wir finden eine Lösung, irgendwie kommen wir schon nach Kroatien. Keine Sorge – wir werden Sie von unterwegs immer mal wieder anrufen.“ „~“Kai, meinst du wirklich, dass ihr das schafft?“~“ „Klar!“ Der Sponsor schien zu überlegen. Es behagte ihm nicht, sie alleine fahren zu lassen, aber letztlich waren Kai und Tala dabei. Und Ray. Kenny war auch sehr vertrauenswürdig und vernünftig. Und die beiden Russen hatten sicher schon genug Lebenserfahrung… Wie Recht er damit hatte, wusste Mr. Dickenson ja nicht, als er schließlich zustimmte. „~“Gut. Dann eine gute Fahrt. Ich versuche, so schnell wie möglich fertig zu werden. Viel Spaß!“~“ „Danke.“ Kai drehte sich zu seinem Team um, das sich um ihn versammelt hatte. Tala lehnte lässig am Auto und hob fragend eine Augenbraue. Kenny beschwerte sich, wie Kai denn nur immer so schroff mit ihrem Sponsor reden könne, während die anderen niedergeschlagen die Köpfe hängen ließen. „Was machen wir denn jetzt?“, jammerte Tyson betrübt und schoss einen kleinen Kiesel von den Pflastersteinen. Max stimmte mit ein: „Wie sollen wir denn jetzt nach Kroatien kommen? Menno… Das ist gemein!“ Doch ihr Leader schien davon unbeeindruckt er drückte Kenny nur den Telefonhörer in die Hand und bat: „Tala, schau mal eben hinten beim Wohnwagen, ob’s die Blinker tun…“ „Wie, du willst..?“ Kai nickte. Tala pfiff ehrfürchtig und ging grinsend seinem Auftrag nach. Als Kai noch die Seitenspiegel so eingestellt hatte, dass er gut sehen konnte, rief er sein Team zusammen. „So. Habt ihr alle Sachen zusammengepackt? Ist alles da? „Ja, das dürfen wir alles wieder auspacken…“, murmelte Max sichtlich enttäuscht. „Ray, check bitte, ob der Herd ausgeschaltet ist, die Fenster zu und die Wasserhähne verschlossen sind und danach schließ bitte die Tür ab“, wies der junge Russe den Schwarzhaarigen an. Dieser schlurfte leicht verwundert los. „Tala, hast du alles dabei?“, fuhr Kai ungerührt fort. „Jep, alles im Kofferraum verstaut. Ich hab noch Getränke mitgebracht, 1,5 l Wasserflaschen, 20 Stück. Die Fahrt wird sich ja über ein paar Tage hinziehen.“ Kai nickte. In dem Moment kam Ray zurück: „Toll, und jetzt?!“ Der Silberhaarige deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf den Van hinter sich. „Los, steig ein. Ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf!“ „Häh? Und dann? Sollen wir auf ein Wunder warten oder was?“ Tyson und den anderen drei Jungen war diese Aktion nicht ganz schlüssig. „Einsteigen, los!“, wiederholte Kai leicht gereizt. Konnten sie denn nicht mal das tun, was man ihnen sagte?! „Setzt euch irgendwo hin, ist mir egal. Wer aber auf den Beifahrersitz will, sollte Karte lesen können. Ich würde gerne Tala oder Ray neben mir wissen. Oder Wenn Kenny Lust hat?“ Nebenbei hatte Kai schon auf dem Fahrersitz Platz genommen und stellte gerade den Sitz ein. „Heißt das etwa, du fährst?!!“, entfuhr es Kenny, plötzlich verstehend. Alle außer Tala sahen ihren Leader entsetzt an. „Ja, was denkt ihr denn? So ein Unmensch bin ich auch nicht, dass ich euch Talas Fahrstil zumuten will.“ „Hey!“, rief Tala gespielt empört und knuffte Kai in die Seite. „Aber… Aber du bist doch erst 16! Ihr beide!!“, stotterte der kleine Braunhaarige. „Boah, ihr seid wohl echt coole Säue, dass ihr schwarz fahrt… hätte ich nicht gedacht!“, meinte Tyson bewundernd. Tala grinste: „Das war hoffentlich als Kompliment gemeint, Kleiner…“ Aber Ray und Kenny wurden mulmig zumute. Deswegen fragte der Chinese, ob auch alles mit rechten Dingen vorging: „Kannst du denn überhaupt fahren? Ich meine, hast du einen Führerschein? Nicht, dass ihr eine Straftat begeht!“ Kai seufzte genervt. „In Russland bringen meistens die Älteren den Jüngeren das Fahren auf abgelegenen Straßen bei. Wir haben zum Teil bei Boris-“ Tala unterbrach ihn knurrend: „Wenigsten zu etwas war er gut!“ „–und zum Teil bei einem guten Freund gelernt.“ Die anderen Jungen wussten nicht, ob sie jetzt deswegen weniger beunruhigt sein sollten. „Also habt ihr gar keinen Führerschein?“, hakte Kenny noch einmal genauer nach. „Doch, weil wir… eh… das haben wir beantragt und in Russland die Prüfung Anfang dieses Jahres gemacht.“ „Dann habt ihr aber ja noch gar nicht so lange Fahrerfahrung!“, meinte Kenny bestürzt. Tala schnaubte: „Oh doch, das glaub man!“ Und er dachte an die vielen Nachtschichten, auch als er und Kai noch für Biovolt und die Abtei gearbeitet hatten, in denen sie etwas liefern hatten sollen und sich dafür Autos ausgeliehen hatten. Kai dachte an den einen Ausflug mit dem Motorrad und das Gefühl der 112 PS des Landrovers unter der Motorhaube, als er einmal Tala besucht hatte. Doch schnell riss er sich von seinen Gedanken los. „Also, wollt ihr nun in den Urlaub fahren oder nicht?!“ Ein freudiger Ausruf seines Teams, einschließlich Kenny, beantwortete Kai die Frage und er nickte. „Gut. Dann geht es jetzt los.“ Letztendlich saß Tala neben Kai und sie konnten die Fahrt antreten. Die Bladebreakers waren gespannt und aufgeregt. So waren sie noch nie gereist. Außerdem kannten sie Kais Fahrkünste nicht. „Ray, schau mal, ob ich mit dem Wohnwagen aus der Kurve komme. Achte darauf, da zu stehen, dass ich dich auch sehen kann!“ Vorsichtig fuhr Kai den Wohnwagen aus der Einfahrt. Es war doch nicht so einfach wie er gedacht hatte. Als Kai hielt, damit Ray einsteigen konnte, bat Kenny ihn, sich seinen Führerschein einmal ansehen zu dürfen. Der Silberhaarige kramte in seinen Manteltaschen und gab Kenny schließlich das gewünschte Dokument. „Tatsächlich, ein echter Führerschein!“ Max, Ray und Tyson drehten sich zu ihrem ‚Chef’ und sie bewunderten die kleine, autorisierte Karte aus Plastik. „Bist du eigentlich schon mal mit Anhänger gefahren?“, fragte Tala Kai nun leise, er konnte seinem Freund die Konzentration aus dem Gesicht ablesen. „Nö. Aber so schwierig wird das auch nicht sein“, versuchte dieser seine leichte Unsicherheit zu überspielen, „Wenn die Straße geradlinig verläuft, dann werde ich mich auch daran gewöhnen können.“ Ihre Fahrt zum Fährhafen verlief relativ ruhig. Tyson versuchte seine gute Laune zum Ausdruck zu bringen und meinte: „Wie wäre es mit einem kleinen Liedchen?!“ Trotz Kais erschlagenden Seufzers stimmte er eines an, in das alle bis auf Kai mit einfielen. Er war schließlich der Fahrer und musste sich auf den Verkehr konzentrieren. „Fort, fort, fort und fort-“ „Boah, Tyson! Es gibt Terroristen, Chaoten und dich!“, unterbrach Kai das Lied gleich zu Anfang, doch das tat der Fortsetzung keinen Abklang. „Fort, fort, fort und fort An einen andern Ort! Nun ist vorbei die Sommerzeit, Drum sind wir Schwalben jetzt bereit Von einem Land zum andern Zu wandern Ihr, ihr, ihr und ihr, Ihr Leute lebet wohl! Ihr gabt zur Herberg euer Dach Und schützet uns vor Ungemach. Drum sei euch Glück und Frieden beschieden. Du, du, du und du leb wohl du schöner Ort Du hast in deinen Straßen oft verliehn, was unser Herz gehofft dein denken wir von Ferne noch gerne Ihr, ihr, ihr und ihr, Ihr Mücklein lebet wohl! Ihr habt uns oft recht satt gemacht Und uns mit manchem Schmaus bedacht. Lebt wohl! Auf Wiedersehen! Wir gehen.“ (*) Es klang recht witzig, wie die beiden Japaner, der Amerikaner und der Chinese das deutsche Wanderlied mit ihren verschiedenen Akzenten sangen. Dass deutsche Volkslieder sich in Japan allgemeiner Beliebtheit erfreuten, war sowieso verwunderlich. Tala grinste nur, er sang auch nicht mit, aber aus dem Grunde, weil er das Lied nicht kannte. „Wenn man das richtig bedenkt, Tyson, passt das Lied aber gar nicht zu unserem Urlaub! Das hätten wir eher auf der Rückfahrt singen können“, ließ sich Dizzys technische Stimme vernehmen. „Oh Kenny, du gehst auch nie ohne deinen Laptop außer Haus, oder?“, lachte Ray und mit fröhlichen Geschichten setzten sie ihre Reise fort. Sie fuhren durch die Stadt zum Fährhafen und nahmen die nächste Autofähre. Als Kai dann den Wagen geparkt hatte, bettelte Tyson: „Kai, können wir mal aussteigen? Ich muss mal!“ „Sicher! Kann nicht schaden, sich die Beine zu vertreten.“ So stiegen dann auch alle aus und das Team trennte sich. Sie hatten noch Zeit. Kai streckte sich. Da nahm Tala ihn beiseite. „Wie wollen wir das mit dem Kontaktmann machen? Wir können ihn ja schlecht am Strand ansprechen und dann den nächsten Kerl umnieten, den er uns als ‚Mitglied’ nennt. „ „Ich glaube sowieso, dass Domovoi uns verscheißert hat… Dem trau ich nicht. Hast du gemerkt, dass er uns fast ausschließlich kleine Fische einiger Yakuza-Clans genannt hat? Und die Zielperson, die wir nun suchen sollen… ich glaube, der steckt selbst in der Scheiße…“ Tala sah sich kurz um, nachdem Kai geendet hatte, und prüfte, ob jemand lauschte. „Wir können uns kurz einklinken und uns schlau machen. Wenn Domovoi gelogen hat, dann…“ „Egal… Ich will wissen, was er uns geben kann. Wir können ihn immer noch zur Rede stellen. Und der Kontaktmann darf unsere Gesichter nicht sehen. Wir werden uns verkleiden. Und zwar richtig. Du weißt, was ich meine.“ „Ja. Na gut, Kai. Aber ich habe den Eindruck, dass du langsam weich wirst.“ „Ich bin müde Tala, sehr müde…“ „Soll ich gleich weiter fahren?“ „Ach, so meinte ich das doch nicht. Jede Nacht gehen wir neuen Hinweisen nach. Wenn wir mal grade keinen Auftrag haben, müssen wir unseren Schlaf nachholen. Das ist sehr anstrengend. Und ich habe dich da mit rein gezogen… Das meine ich mit müde.“ „Ich verstehe…“ Tala sah auf das Meer hinaus, sie standen an der Reling, die Arme auf das Geländer gestützt. „Du weißt doch, dass ich dir damals versprochen habe, das mit dir zusammen durchzuziehen. Es ist mein freier Wille, Kai.“ Wieder musste er seinem Freund versichern, dass er ihm aus freien Stücken half. Noch während sie redeten, kamen die Bladebreakers aus dem kleinen Café der Fähre. Sie sahen sich suchend nach den beiden Russen um. „Aber… so langsam verliere ich die Hoffnung. Wir suchen schon so lange, drehen jeden noch so kleinen Stein um, aber kommen einfach nicht weiter. Wir finden sie einfach nicht! Vielleicht hat alles Hoffen nichts gebracht, vielleicht… ja vielleicht sind sie wirklich… und ich hab mir das damals nur eingebildet!! Wer tot ist, kann nicht… das geht nicht! Ich war klein, naiv…“ Endlich entdeckten die restlichen Jungen die beiden und rannten auf sie zu. „Hey Kai! Tala!“ Plötzlich erhob Tala seine Hand und gab Kai eine gepfefferte Ohrfeige. Ray, der der Gruppe voran lief, stoppte abrupt, so dass die anderen in ihn hineinliefen. „He, was soll das, Ray?!“, empörte sich Max, da er fasst seine Cola über sein Shirt gekippt hätte. „Tala…“, wisperte der Chinese und deutete auf den Rothaarigen, „er hat Kai geschlagen!“ „WAS?!“ Sie sahen zu ihrem Teamleader, auf dessen Gesicht sich ein deutlicher Handabdruck abzeichnete. „Tala hat richtig heftig zugeschlagen, ich hab’s gesehen!“, flüsterte Ray. „Und DEN nehmen wir mit? Na, der kriegt was zu hören!!“ Tyson wollte gerade losstürmen, da hielt Max ihn zurück: „Schau mal!“ „Wie kannst du nur!? So etwas zu denken!! Sie leben, verdammt! Und so lange du nicht aufgibst, SIE nicht aufgibst, besteht die Hoffnung, sie zu finden! Warum hast du plötzlich Zweifel? Warum?! Verdammt, du glaubst daran, seit du 6 bist!! Hör jetzt nicht auf damit!“ „Aber… wenn sie… das Blut… und alles… Als 6-Jähriger glaubt man auch an den Osterhasen!“ Tala packte Kai an den Schultern und schüttelte seinen besten Freund: „Wo ist der Kai geblieben, der Kämpfer, der, den ich kenne?!! Wo ist deine Zuversicht geblieben?!! Kai, ich sage dir jetzt was, hör gut zu: ICH. GLAUBE. DARAN. Wir werden sie finden, Kai, sie leben, das weißt du, das fühlst du. Ist doch so, oder?!“ „Ja.“ Kai sah seinen Freund mit glitzernden Augen an. Doch bevor er seinem Impuls folgen und sich einfach in Talas beschützenden Arme fallen lassen konnte, bemerkte er sein Team. „Wir haben Besuch“, erklärte er fast tonlos und wandte sich wieder dem Meer zu, während Tala sich umdrehte. Verstohlen wischte Kai sich über die Augen, denn sie brannten, als wollten sie Tränen vergießen. Er war wirklich schon nervlich ziemlich am Ende. Kein Wunder. Seitdem Tala und Kai sich zusammengetan hatten und gegen, Voltaire, Boris und deren Handlanger vorgegangen waren, um Kais Eltern zu finden, waren mittlerweile schon drei Jahre vergangen. Der Grund, warum sie so gut mit Waffen umgehen konnten, war einzig und allein die Tatsache, dass sie mit 10 Jahren in der Abtei in der Waffenkunde ausgebildet worden waren. Auseinander- und wieder zusammenbauen und putzen von Waffen und dergleichen. Auch der Umgang, das Beherrschen der Schusswaffe an sich, wurde ihnen aufs Schärfste eingebläut. Kais Gedanken drifteten ab. „Warum hast du Kai geschlagen?!“ Ray baute sich vor Tala auf, obwohl er einige Zentimeter kleiner war als der 1,80m große Russe. „Was? … Ähm… weil…“ „Ja, ich höre?!“ „Piss dich wegen ner kleinen Ohrfeige nicht so an, Ray! Er hat mich nur aufgeweckt! Mehr nicht!“, fuhr Kai plötzlich dazwischen. „Warum nimmst du ihn in Schutz? Du hast nicht geschlafen!“, entgegnete Ray bissig. „Aus meiner Verzweiflung, wenn du’s so genau wissen willst! Mein Gott, sei nicht so neugierig! Es ist MEIN Körper, ICH habe damit zu leben, ob Tala mich schlägt oder nicht!“ „Aber Kai!“ „SATKNIS!!! Frag nicht mehr! Nasch rasgowor sakonzin! Ich dreh ab!“ Kai fuhr sich wütend mit der Hand durchs Haar, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Tala und die Bladebreakers stehen. Er ging zurück zum Auto, um sich dort zu beruhigen. „Was hat er gesagt?“, fragten die anderen. Tala seufzte und sah dem Silberhaarigen nach. „Er sagte, ihr sollt nicht mehr fragen, er brauche jetzt seine Ruhe. Hört mal, er ist zurzeit nicht ganz auf der Höhe. Macht euch keine Sorgen, das gibt sich wieder.“ Der Rothaarige war froh, dass Ray durch Kais Auftritt eben seine Fragen vergessen hatte. Er besorgte sich zwei Tassen Kaffee und begab sich dann auch zurück zum Auto. Die Fahrt über die Landstraßen war gar nicht so schwer und ihre Route brachten sie fast problemlos hinter sich. Dann konnten sie endlich auf die Autobahn. Tala war ein guter Kartenleser und Navigator, das war bei ihnen nun schon fest eingespielt. Beide Russen taten so, als hätte es nie eine Auseinandersetzung gegeben. Also nahm das Team dies auch so hin. Es war jetzt vier Uhr am Nachmittag und sie hatten noch ein ganzes Stück Weg vor sich. „Es dauert aber schon sehr viel länger, mit dem Auto zu reisen“, bemerkte Tyson plötzlich. „Gut erkannt, Tyson!“, grinste Max. „Nein, ich meine, wir haben doch insgesamt nur zwei Wochen. Und eine davon brauchen wir bestimmt für die Hin- und Rückfahrt!“ Kai warf einen Blick in den Rückspiegel und suchte Tysons Blick. „Keine Sorge, so lange werden wir nicht brauchen“, meinte er. „Ach nein?“, fragte Tala und zog eine Augenbraue in die Höhe. Kai schaltete in einen höheren Gang, er wechselte gerade vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Spur. Dann erklärte er, wie er sich das vorgestellt hatte. „Pass auf, wir wechseln uns einfach ab. Ich fahr so lange, bis ich müde bin. Dann übernimmst du, Tala. Und während der eine fährt, schläft der andere. So können wir Zeit sparen. In Ordnung?“ „Da hab ich so nichts einzuwenden. Was ist aber mit navigieren?“, hakte Tala nach. „Dizzy.“ Kenny entfuhr ein überraschter Laut. „Ja, Kenny, wenn du erlaubst, würden wir dann nachts gerne Dizzy nehmen, damit sie uns die Route sagt. Wäre das für dich okay?“, fragte Kai und kniff die Augen zusammen. In einiger Entfernung fuhren die Autos immer langsamer, der vor ihnen betätigte sogar das Warnblinklicht. Auch Kai verlangsamte sein Tempo. „Ja, das ist kein Problem“, erwiderte Kenny, ergänzte aber, dass der Akku seines Laptops auch nicht ewig halte. Das Gespann geriet in stockenden Verkehr. „Nicht das auch noch!“, stöhnte Kai und konzentrierte sich vollends auf die Autos und LKWs vor, neben und hinter sich. Dann ging nichts mehr. „Rien ne va plus… pff...“ Die Jungen lachten über diesen Satz von Kai. „Ach, Tala, mach doch mal das Radio lauter!“, bat Max. Also drehte der Angesprochene die Musik etwas auf. Kai seufzte. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück, die Hände noch immer am Lenkrad. Tala nahm sich ein Kreuzworträtsel zur Hand und begann es zu lösen. Die anderen vier fingen an, im hinteren Teil des Wagens Karten zu spielen. Nach einer Stunde des Wartens seufzte Kai erneut, beugte sich nach vorn zum Lenkrad. Er sank etwas in seinem Sitz ein. Wie er das Warten hasste! Sein Kopf glitt immer mehr dem Lenkrad entgegen, bis er mit seiner Stirn schließlich darauf ankam. Dummerweise erwischte er die Hupe, die sofort losdröhnte und die Jungen zusammenzucken ließ. Tala sah zu ihm. „Kai?“ „Hn?“ „Bist du müde?“ „Hast du was zu trinken?“ „Klar. Hier, meine Wasserflasche. Trink sie leer, du hast heute noch kaum Flüssigkeit zu dir genommen. Nicht, dass du uns an Dehydrierung zusammenbrichst.“ „Danke.“ Kai leerte die Flasche in fast einem einzigen Zug. „Ist das ätzend“, meinte der Silberhaarige und gab Tala die Flasche zurück, „ich hasse Stau.“ „Mhm… vielleicht hab ich eine Idee.“ „Ach so?!“ Tala kramte in der Seitentür in einer kleinen Tasche: „Passt mal auf, ich hab ne Überraschung…“ Er förderte eine CD zu Tage und schob sie in den CD-Player des Autoradios. Sofort erfüllte wummernder Bass die Luft. Kai zuckte zusammen. „Was zum Teufel…! Tala, hast du wieder deine Technopampe aus dem Internet mitgenommen?“ Der Rothaarige schüttelte den Kopf, in dem Moment ertönte auch schon eine dunkle, tiefe und verstellte Stimme im brummigsten Russisch, das die Bladebreakers je gehört hatten. „Was ist DAS denn?!“ „Djet maross!“, meinten die beiden Russen vorn im Wagen einstimmig. Kai grinste. Er stand nicht auf Techno, aber dieser Track – als Lied konnte man das nun wirklich nicht bezeichnen – machte ihm irgendwie gute Laune. Er machte sich einen Spaß daraus, mit Tala um die Wette diese knurrende Stumme nachzuahmen und brach dann in Lachen aus, weil Tala die Tonlage fast genau traf. Dann endete der Track und ein Lied begann, in dem immer „ana“ vorkam, ana – das russische Wort für die dritte Person Singular: sie. „Wer ist denn diese Anna?“, fragte Tyson und lehnte sich etwas vor. Kai grinste: „Anna? Das ist Talas Freundin – die ihm die Hose voll gekotzt hat, als sie ihm einen runterholen wollte – AU!“ Der 16-Jährige lachte laut, nachdem er einen Schlag gegen seine Schulter von Tala empfangen hatte. „Das ist NICHT witzig!! Und außerdem hieß sie Ariana!“ Da stieß Kenny gegen Kais Sitz: „Schau, es geht weiter!“ „Na los, Kai, mach hin!!“ Kai hatte Mühe, das Auto so schnell anspringen zu lassen. Außerdem musste er mehr nach Gefühl fahren als sonst, weil sie ja noch den Wohnwagen hinter sich herzogen. „Ja, ja, hetz doch nicht so, wir haben Zeit genug!“ „Ach, jetzt auf einmal, oder was?“, lachte Tala und streckte ihm die Zunge heraus. „Willst du, dass ich abwürge oder was?“ „Und du dich blamierst? Hm… vielleicht?“ Kai stöhnte genervt, er fuhr wieder an. „Womit hab ich das verdient? Warum tu ich mir das eigentlich an?“ „Wir haben dich auch lieb, Kai!“, ertönte es glucksend vierstimmig von den hinteren Bänken und Tala biss sich auf die Faust, um sein Lachen zu ersticken. ~*~*~+~*~*~ Anmerkungen Тихо – Ruhe! / Sei still! Satknis – Halt’s Maul Nasch rasgowor sakonzin – Das Gespräch ist beendet. (*)Text: Hoffmann von Fallersleben ? Musik: nach der Melodie "Es es es und es" in " Schulgesangbuch für höhere Lehranstalten Kapitel 24: Kroatien – Wir kommen! Teil 2: Der Campingplatz – Sonne, Strand und…Training?! ------------------------------------------------------------------------------------------ „Die nächste Ausfahrt musst du raus. … Kai? Kai!“ Der Kopf des Silberhaarigen ruckte hoch und er nickte schnell. „Ja, hab ich gehört. Sag mal, Dizzy, wann kommt denn der nächste Rastplatz?“ Müde rieb sich der Sechzehnjährige über die Augen und warf einen kurzen Blick auf Tala, der mit dem Kopf am Fenster lehnte und schlief, während seine Hand Kennys Laptop fest auf seinem Schoß hielt. Dizzys Akku war noch voll aufgeladen, erst sehr spät hatten Tala und Kai sie in Anspruch genommen. „In etwa 20 Kilometern.“ Das war gut. Das konnte er noch schaffen, wenn er durchhielt. Er merkte, dass es immer schwieriger wurde, den Wagen zu lenken, denn die Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Es war dringend notwendig, mit Tala zu tauschen. Am Rastplatz angekommen, schaltete er den Motor aus und erlaubte sich, kurz zu verschnaufen. Dann erst beugte er sich zu Tala herüber und rüttelte sanft, aber bestimmt an dessen Schulter. „Hey, Tala! Können wir tauschen?!“ Die eisblauen Opale öffneten sich mühsam. Gähnend rieb der Rotschopf sich den Schlaf aus den Augen. „Wo sind wir?“ „Das wird Dizzy dir erklären. Ich kann nicht mehr. Fahr du weiter.“ Kai stieg aus und wechselte mit seinem Freund die Plätze. Auch er bugsierte Dizzy so auf seinem Schoß, dass sie dort wie eine kleine Königin thronte, und ließ seinen Kopf an die kühle Fensterscheibe sinken. „Okay, Dizzy! Sag an!“ Tala trat auf das Gaspedal und ruckelte los. Es war doch ein anderes Gefühl, mit Wohnwagen zu fahren, und er fragte sich, ob sie das ohne Schaden überstehen würden. Denn das Gespann beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Durch das Wechselsystem, das sich Kai und Tala ausgedacht hatten, schafften sie die Fahrt zu ihrem Wunschcampingplatz in nur 5 Tagen. Im Moment war es wieder Tala, der fuhr. Es war später Nachmittag und Kai hatte in seinen ‚Schichten’ immer wieder über die Stränge geschlagen. Dementsprechend war er auch müde und hing in den Seilen. Er hatte das Kinn auf seine Hand abgestützt und es schien, als sähe er aus dem Fenster, doch allen war bewusst, dass er schlief. Die Reise war sehr unbequem und anstrengend, auch für den Rest des Teams. Beide Russen, da war es ganz egal wer fuhr, erlaubten nur wenige Pausen, sie hatten schließlich ein Pensum zu schaffen, dass durch unwichtige Aufenthalte nur verzögert wurde. Mr. Dickenson hatte ihnen 15 Tage gegeben – nun waren fünf davon schon für die Fahrt geopfert worden. Auf keinen Fall aber wollten sie die restlichen 10 Tage verschwenden, sie hatten sich vorgenommen, diese Zeit zu genießen und erst dann wieder zu fahren. Ray las in seinem Istrienführer über bekannte und beliebte Orte und Aktivitäten. Plötzlich rief er: „Hey! Da kann man sogar Para-Gliding machen!! Und eine Mumie besichtigen! Das klingt spannend!“ Kenny, der sich nun wieder um Dizzy kümmerte, erklärte: „Also wenn, dann möchte ich unbedingt zu dieser Mumie. Das hat historischen Wert!“ Tala seufzte. Er hielt auf einem großen Platz. Ein riesiges Schild verkündete „Zelena Laguna“. „Also, wer will hingehen und nachfragen?“ „Ich mach das! Ich! Ich!!“ Tyson sprang auf, er wollte sich die Beine vertreten. Auch Max schloss sich ihm an, sie wollten sich erkundigen, ob dieser Campingplatz schon ausgebucht war. Die anderen stiegen auch aus und streckten sich. Das war jetzt schon der zweite, den sie anfuhren. Aber schon bald kamen der blonde Amerikaner und der Blauschopf mit enttäuschender Nachricht wieder. „Tut uns furchtbar traurig, kein Platz mehr da!“, äffte Tyson die Rezeptionistin nach. „Also gut, alles wieder einsteigen!“, wies Tala sie an. Murrend gehorchte ihm Kais Mannschaft, was ihn etwas wunderte. Sie fuhren weiter zu einem Campingplatz namens „Funtana“. „Diesmal gehe ich. Komm, Blondie!“ „Hey!“ Verärgert über den Spitznamen folgte Max Tala mürrisch. Er sollte dem Rothaarigen bei der Verständigung helfen, falls dieser mit seinem Englisch nicht weiter kam. Aber auch hier wurden sie nicht fündig, alles war voll. Doch der Mann am Schalter erklärte ihnen freundlich, dass sie es einmal bei ‚Valkanela’ versuchen sollten. Er schrieb ihnen sogar Name und Adresse auf. Erleichtert dankten sie und kehrten zum Team zurück. „Es geht noch mal weiter! Hoffentlich zum letzten Mal…“, ächzte Tala und ließ sich in den Fahrersitz plumpsen. Er sah zu Kai, der seelenruhig weiterschlief, als könnte ihn kein Wässerchen trügen. ~Der hat heute auch die Ruhe weg~, dachte er, als er den Motor anspringen ließ und weiter fuhr. „Ja, aber natürlich. Suchen Sie sich was aus und kommen sie dann zurück zur Rezeption!“ Begeisterungsjubel. Tyson, Kenny, Ray und Max stürmten los und erkundeten den Platz. Tala war unschlüssig, sollte er Kai nun wecken oder nicht? Er entschied sich dagegen, so ruhig hatte der Silberhaarige schon lange nicht mehr geschlafen und Tala brachte es nicht übers Herz, ihn aus seinen Träumen zu holen, schon gar nicht, da ein leichtes Lächeln dessen Lippen zierte. Also schloss er Kai im Auto ein und folgte den Bladebreakers. Er fand sie relativ schnell. Sie hatten einen Platz gefunden, der von einigen Pinien gerahmt war. Der Weg zum Waschhaus war nicht sehr weit, und es dauerte nur fünf Minuten zum Strand. Sie hatten wirklich einen Glücksgriff gelandet, dieser Campingplatz lag direkt am Mittelmeer, eine Seezunge gehörte noch mit zum Campingbereich. Ray fasste zusammen: „Okay, wir brauchen Platz für den Wohnwagen, den Van und drei Zweierzelte. Der Wohnwagen ist fünf Meter fünfzig lang, der Van drei. Wenn wir den quer hier drauf stellen, müsste das passen.“ Tala gab ihm Recht. „Ich hol dann mal den Wagen und Kai her.“ Ein viermaliges Grinsen verfolgte ihn, als er sich zurück zum Auto machte. „Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Tala fassungslos, denn Kai hatte sich keinen Millimeter gerührt. Der Rotschopf zuckte mit den Schultern und brachte das Gespann, nachdem er die Campingleitung informiert hatte, zu ihrem ausgesuchten Platz. Er musste häufiger rangieren als gedacht und als er den Wohnwagen endlich waagerecht zum Weg gestellt hatte, war er zufrieden, auch wenn dieser noch leicht schief stand. JETZT war es aber wirklich an der Zeit, Kai zu wecken. Und Tala fiel gerade eine sicherlich effektive, aber auch sehr fiese Methode ein. „Oh nein, wir haben den Wohnwagen verloren!!“ „WASS?!!“ Sofort war Kai hellwach, sah sich erschrocken um und musste sich orientieren, wo er sich befand. „Scherz…“ Tala griente diabolisch und fand sichtlich Gefallen an Kais verwirrtem Gesichtsausdruck, der sich langsam zu einem wütenden verzerrte. „Verdammt, musst du mich so erschrecken, du Vollidiot?!!“ Verärgert stieß er die Tür auf, stieg aus und knallte die Autotür zu. „Da kann die Tür aber auch nichts-“ „Halt die Klappe, Max! Und ihr, wischt euch das dämliche Grinsen aus dem Gesicht! Seht zu, dass ihr die Zelte da rauskriegt, und dann wird das Vorzelt aufgebaut!!“ „Und wir hatten uns schon Sorgen gemacht, er könnte sich zum Besseren verändert haben“, meinte Ray schnippisch und half seinen Freunden, die Zelte und die Vorzeltstangen aus dem Wohnwagen zu heben. Währenddessen kümmerten sich Tala und Kai um die Stabilisierung des Wagens, sie kurbelten die Stützen hinunter. Auf der Fahrt hatten sie alle abgemacht, dass niemand im Wohnwagen schlief, dass sie ihn nur zum Essen oder umziehen gebrauchen würden oder zum Zusammensitzen, wenn es regnen sollte. Höchstens wenn jemand von ihnen ernsthaft krank würde, sollte er dann dort schlafen. So wollten sie Streitigkeiten untereinander vermeiden. Alle waren mit diesem System einverstanden. Mittlerweile hatten sie es geschafft, das große Vorzelt aufzubauen. Der Teppich war ausgelegt, ein Frühstückstisch mit sechs Stühlen bereits aufgebaut und während Ray schon einige der Nahrungsmittel, die sie mitgebracht hatten, aus dem Auto holte und im Wohnwagen verstaute, fachsimpelten Tala und Kai über die fachgerechte Anwendung einer Gasflasche, die sie zum Kochen benötigten. In der Zwischenzeit begannen Max, Kenny und Tyson schon einmal damit, ihre Zelte aufzubauen. Es gab zwei Igluzelte und eines mit Spitzdach. Die drei Jungen halfen sich gegenseitig, die Igluzelte aufzubauen, Ray stieß auch zu ihnen und unterstützte sie dabei, danach kümmerten sie sich um das weitaus schwieriger aufzubauende Spitzdachzelt. „Also, Max und ich nehmen dieses Zelt hier, wenn’s Recht ist!“, verkündete Tyson lautstark, deutete auf eines der Iglus und bohrte einen Hering in den Boden. In stillem Einvernehmen einigten sich die übrigen Jungen auf eine Verteilung. Irgendwie war klar, dass sich Tala und Kai ein Zelt zusammen teilen würden. Zusammen erkundete das Team dann das Waschhaus und lernten eine ganz andere Welt kennen. Die Mentalität auf einem Campingplatz war eben doch etwas ganz anderes als die Atmosphäre in einem Hotel. Die zwei Russen verzogen sich nach dem Toilettengang in ihr Zelt zurück. Das verstanden die anderen, und sie nutzten die Zeit für einen ausgedehnten Spaziergang, da sie während der Hinfahrt kaum Gelegenheit gehabt hatten, sich die Beine zu vertreten. Am Frühstückstisch saßen sechs relativ gut gelaunte Blader. „Es ist ungewohnt, mal nicht mit Kai zu schlafen…“, meinte Ray gähnend und fuhr sich über das Gesicht. Alle Jungen hielten inne und starrten den Schwarzhaarigen an. „… äh… Ihr wisst, wie ich das meine!!“, versuchte Ray hektisch und mit viel Gestik zu erklären. „Ach so. Und ich dachte schon, ich wüsste da was nicht“, schmunzelte Kai leise und nahm sich ein Brötchen. Es war ein Nussbrötchen. Die hatten sie vom Bäcker hier am Platz geholt. „Hast du dir jetzt das letzte von der Sorte genommen?“, fragte Tala und suchte mit dem Blick in der Tüte nach einem weiteren Nussexemplar. „Mal probieren?“ Kai hielt ihm eine Hälfte seines Brötchens vor die Nase. Tala biss vorsichtig hinein. „Füttern wollte ich dich jetzt eigentlich nicht… Behalt’s.“ „Danke!“ Freudig machte Tala sich über die Brötchenhälfte her. Es war ruhig geworden, denn den anderen war dieses Verhalten der beiden Russen neu. Nur das Radio dudelte leise vor sich hin. „Ist was?“, fragte Kai beiläufig seine Teamkameraden und schmierte sich ein neues Brötchen mit Käse. „Nichts von Belang, Kai“, meinte Ray leicht verblüfft, dann erkundigte er sich: „Habt ihr euch schon irgendwas überlegt, was wir heute machen könnten?“ „Ich hatte da an Training gedacht, ist schließlich eigentlich eine Trainingsfreizeit – keine trainingsfreie Zeit“, antwortete Kai und schaute in die Runde. Ausnahmsweise widersprach niemand. „Okay. Also, macht euch fertig, nehmt eure Blades mit und in einer Viertelstunde treffen wir uns am Strand.“ Kai erwartete seine Schützlinge bereits. Leider bestand der Strand des Campingplatzes nur teilweise aus Sand, dort, wo er jetzt stand, lagen kleine Kieselsteine. Aber für sein Training befand Kai es für ideal. Einige Badegäste tummelten sich bereits hier und sahen den Jungen neugierig zu. Die Wassertemperatur war angenehm, stellte Kai fest, als er sich bückte und seine Hand hineintauchte. Es waren wohlige 26°C an der Luft, doch die Mittagshitze zog bereits herauf. Der Teamleader der Bladebreakers drehte sich nun um. „Da ich weiß, dass ihr hierher gejoggt seid, machen wir Kraftübungen. Zuerst kümmern wir uns um eure Rückenmuskulatur, dann Bauch, Beine, Arme, wieder Beine, Arme und wieder Rücken. Ein Kreislauf. Ich habe mir mal eine Liste gemacht. Tut euch zu zweit zusammen. Und jetzt folgt meinen Anweisungen: Der eine geht mit gegrätschten Beinen in den Liegestütz. Der Partner tritt zwischen die gegrätschten Beine, umfasst beide Oberschenkel und hebt sie in Hüfthöhe – Tala kommst du mal – etwa so.“ Kai machte die Übung soweit vor, wie er es eben beschrieben hatte, und erklärte von dieser Position weiter: „Dann umschließt man mit beiden Beinen den Körper des Partners, löst die Hände vom Boden und legt sie euch in den Nacken. Der Partner hilft euch, indem er die Arme leicht hebt und sich zurücklehnt. Das sieht dann so aus.“ Kai überkreuzte zum besseren Halt auch noch seine Beine in Talas Rücken. Die anderen Jungen sahen dem skeptisch zu. Tyson zog eine Augenbraue in die Höhe: „Das sieht … irgendwie… schwul aus!“ „Quatsch nicht! Mach das!“, wies Kai ihn und die anderen an, während er sich wieder löste und nun Tala die Trainingseinheit durchführen ließ. „Du bist ein Schinder, Kai!“, meckerte dieser leise, schaffte die Unit aber mit Leichtigkeit. Die Übung hatte viel mit Bauchspannung zu tun, aber auch mit Vertrauen. Und da sich die beiden Russen blind vertrauten, war dieses Training für sie ein Leichtes. Kai ließ Tala vorsichtig wieder los und sah sich dann die Versuche seiner Teamkollegen an. Es war eine schwierige Übung, das gab er zu, besonders für Kenny. Der Braunhaarige hatte sich dem Training angeschlossen, auch er wollte fit sein, obwohl er nicht bladete. In einem Team hielt man schließlich zusammen. Doch sein Trainingsrückstand könnte ihm zum Verhängnis werden, ebenso seine Größe. Kai brach die Übung ab. „Stopp. Wir machen jetzt nen Hahnenkampf.“ „Einen – bitte was?“, fragte Ray entgeistert und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Es war Tala, der erklärte: „Das ist ein Aufwärmspiel. Man verschränkt die Arme hinter dem Rücken und hüpft auf einem Bein. Und dann versucht man, seinen Gegenspieler durch Anrempeln zu Fall zu bringen.“ „Aha. Sag mal, wo kriegst du deine Ideen eigentlich immer her, Kai?“, erkundigte sich Max und fächerte sich mit seinem Shirt Luft zu. Der Silberhaarige winkte ab und stellte sich mit ihnen in einem Kreis auf. „Jeder gegen jeden.“ Die Leute am Strand wunderten sich immer mehr über den augenscheinlich bunt zusammengewürfelten Haufen von Jungen, die dort die seltsamsten Verrenkungen machten. „Kai, ist jetzt langsam mal Schluss? Die Leute gucken schon die ganze Zeit so komisch…“, quengelte Tyson. „Dir ist doch sonst auch nichts peinlich, also nörgele mir nicht die Ohren voll! Eine Übung noch, und dann geht’s an die Blades.“ Das klang wie Musik in den Ohren der Jungen. Sie fragten sich schon die ganze Zeit, wann sie denn endlich richtig loslegen würden. Kai winkte sie alle zu sich heran. „Ich teile euch jetzt auf. Max und Kenny, ihr bildet ein Team, dann Ray und Tala und Tyson, du kommst zu mir!“ Dafür erntete er erstauntes Gemurmel und skeptische Blicke. „Die nächste Übung sieht wie folgt aus: Einer von euch liegt auf dem Rücken, der andere befindet sich genau über ihm in Liegestützposition. Beide halten sich an den Händen fest. Das ist sehr wichtig, nicht dass ihr abrutscht. Dann strecken und beugen beide gleichzeitig die Arme. So entsteht eine Liegestützbewegung. Im tiefsten Punkt wird der Obere flüchtig den Brustkorb des Liegenden berühren. Es wird sehr kraftaufwendig sein. Ihr müsst euch sehr konzentrieren. Denn Konzentration ist gleich Kondition und andersherum. Soweit alles geklärt?“ Das einstimmige Kopfschütteln ließ ihn laut aufseufzen. „Komm her, Tyson, wir machen das vor…“ Sie suchten sich eine recht ebene Fläche, da Kai keine Lust verspürte, spitze Steine im Rücken zu haben. Er legte sich also in Rückenlage und erklärte Tyson, dass dieser sich genau über ihn stellen solle, in einer Position, als würde er Liegestützen machen. „Nicht auf mich, über mir!“ Kai deutete auf seine Handflächen. „Da fasst du an. Und wenn ich deine Arme nach oben drücke, beugst du sie. Und dann drückst du meine Arme runter. Denk dran: Rücken und Po sind eine Linie, wie ein Brett!“ Der Silberhaarige merkte, dass Tyson diese Situation nicht sehr behagte. Der Jüngere war unsicher, wusste nicht, wie er Kai anfassen sollte und diese Nähe war so… neu für ihn. „Pack zu, Tyson, ich bin nicht aus Porzellan!“, versuchte Kai ihn zu ermutigen. Dennoch zitterten ihre beiden Arme vor Anstrengung und Überbeanspruchung. Sie schafften es, diese Übung vorzuführen, wenn auch sehr langsam, aber sie hielten durch. Doch als Tyson abermals eine Liegestütze machen wollte, brach er den Blickkontakt mit Kai plötzlich ab, knickte mit einem Arm mehr ein als mit dem anderen und verlor den Halt. Unsanft stieß er Kai seinen Ellbogen in den Magen, worauf der Silberhaarige scharf die Luft einzog. „Tyson! Das kommt daher, weil du Angst vor mir hast!“ „Hab ich nicht!“ „Du hast Angst, dass du fällst, weil ich dich nicht halten kann. Wir tauschen jetzt die Positionen.“ „Aber ich hab nicht die Kraft wie du, dass ich dich… dann fällst du!“ Seufzend rollte Kai sich zur Seite, atmete tief durch und hielt sich die schmerzende Seite. Er sah auf die Uhr. Viertel nach Zwölf. In der Mittagshitze zu brüten war zwar nicht sehr angenehm, doch seinen Trainingsplan wollte er durchziehen. Er beendete also das Krafttraining. Dennoch klopfte er Tyson freundschaftlich auf die Schultern, ehe er zu den anderen ging. Zum Abschluss erklärte er ihnen untypischerweise seine Beweggründe über die doch recht unkonventionelle Art seines Trainings. „Wisst ihr, warum ich euch diese Übungen hab machen lassen? Sie fördern den Zusammenhalt im Team. Wenn ihr einander kennt, klappt es viel besser. Das habt ihr am Anfang gesehen, weil ihr mit euch vertrauten Menschen trainiert habt. Als ich euch aber ungewohnt aufgeteilt habe, gingen schon gleich die Schwierigkeiten los. Wir werden das jetzt öfter machen. Damit ihr euch aufeinander einstellt. Damit ihr euch aufeinander verlassen könnt. Das ist nicht nur aufs Beybladen bezogen. Nehmt euch das zu Herzen, es kann in jeder Lebenssituation hilfreich sein. So, und nun…“ Der Teamleader zog seinen Blade hervor und fingerte am Verschluss für den Bit-Chip. „Nehmt bitte die Bits heraus und verstaut sie sicher irgendwo. Wir werden nun ein paar Moves üben ohne Bit Beasts. Ihr müsst euch mehr anstrengen und konzentrieren. Diese Steine hier sind geradezu einladend dafür.“ Erschöpftes Schnaufen ließ sich vernehmen, aber niemand protestierte. Kai rechnete seinen Teamkameraden dies hoch an und gestand ihnen dann zu: „Das war’s dann auch für heute. Der Rest des Tages hiernach ist frei.“ „So, ich denke, damit ist es genug. Ihr könnt jetzt Schnitzel spielen“, meinte Kai und seufzte leicht vor Anstrengung. „Häh?“ Unverständnis kam ihm entgegen, verwunderte Blicke suchten den seinen, aber er winkte ab. „Egal.“ Doch dem Silberhaarigen kamen längst vergessene Bilder in den Sinn: Es war in einem Sommer an einem See in der Nähe, Kai und seine Eltern machten einen Badeausflug. Ungestüm rannte der kleine Junge von knapp vier Jahren auf den Badesee zu. Er rief lachend: „Mama, Mama! Guck mal, ich bin ein Schnitzel!!“ Damit stürzte er sich in die Fluten, kam kurze Zeit später wieder heraus, lief zu seinen Eltern und wälzte sich im Sand. Alexander und Sophia Hiwatari lachten lauthals. „Du Dreckspatz! Geh dich sofort waschen!“, meinte seine Mutter mild tadelnd und stupste seine Nase an. Kai lächelte leise, dann wandte er sich ab und stieg die Stufen hinauf, die zurück zum Campingplatz führten. Im Gegensatz zu seinen Freunden hatte er weder an Strandsachen noch an Schwimmbekleidung gedacht. Kenny, Max, Tyson und Ray suchten sich einen netten Platz halb im Schatten, halb in der Sonne aus. Sie wollten die freie Zeit genießen. Aber Kai und Tala mussten noch etwas besprechen und außerdem ihre Bermudashorts holen. „So blass wie wir sind, fallen wir bestimmt auf“, meinte Tala grinsend, als sie sich im Vorzelt hinter den Gardinen umzogen. „Deswegen lass uns doch ‚Urlaub machen’ und uns dann erst um den Auftrag kümmern…“ „Kann es sein, dass du diesmal selber kaum Lust hast oder versprichst du dir von diesem recht wenig?“ „Weder noch. Wir müssen uns nur noch besser vorbereiten als sonst. Denn diesmal sind wir nicht allein. Niemals dürfen Tyson, Ray, Max oder Kenny davon und von unserem Doppelleben erfahren. Niemals!“ Kai spukten noch immer die entsetzten und fassungslosen Worte Rays vor einigen Wochen bezüglich der Attentäter ‚Krowawaia Boina’ im Kopf herum – Das Duo, das er und sein bester Freund ohne Wissen eines Dritten bildeten. Tala reichte Kai leise seufzend die Sonnencreme, um ihn von seinen Sorgen abzulenken. „Hier, vergiss die nicht. Du weißt, dass Narben empfindlich sind“, meinte der Rothaarige und zog die Vorhänge zurück. Er kannte die Hintergründe, die zum Erschaffen des Drachens auf dem Rücken seines Freundes geführt hatten. „Dreh dich um, dann schmier ich dich gleich hier schon damit ein!“ Kai wusste, dass sein bester Freund viel Sonnenschutz benötigte, da er ein sehr heller Hauttyp war und noch dazu rothaarig. Außerdem würden ihrer beider Tattoos verblassen, wenn sie sich nicht um ausreichenden Sonnenschutz kümmerten. Nachdem sie sich nun also eingecremt hatten und Tala sicherheitshalber wieder ein Muskelshirt angezogen hatte, packten sie eine Tasche und schlenderten zurück zum Strand. Kai schirmte seine Augen mit der Hand vor der Sonne ab, um nach seinen Teammitgliedern Ausschau zu halten. „Da vorne winkt Kenny!“ Tala deutete auf ein winziges Persönchen etwa 100 Meter von ihnen entfernt. Dessen Brille reflektierte vereinzelt Sonnenstrahlen, die sie blendeten, aber es war unverkennbar, dass es sich um ihren ‚Chef’ handelte. Die zwei Russen erreichten die anderen schnell. Talas Blick wanderte fast schon sehnsuchtsvoll zu den Fluten. Noch nie hatte er so nah am Meer gestanden, in dem Wissen, dass er sich frei bewegen konnte und an nichts gebunden war. Er konnte einfach er selbst sein. Und das gefiel dem Rothaarigen sehr. Deshalb bemerkte er auch Kais Seitenblick nicht, ein verträumter Ausdruck trat auf sein Gesicht, er konnte den Blick einfach nicht von der für ihn atemberaubenden Aussicht lösen. Bis Kai ihm schließlich mit Gewalt die Tasche entriss, da er auf kein Wort reagierte. Verwirrt drehte er sich wieder zu den anderen um. Tala sah Kai dabei zu, wie dieser zwei Strandtücher ausbreitete und seine Flipflops abstreifte. Auch ihn zog es zum Wasser. „Sag mal, ist das deine Luftmatratze, Max?“, fragte Kai und deutete auf ein blaues Päckchen neben dem Amerikaner. „Ja, wieso? Was ist damit?“ „Nichts. Darf ich mir die mal ausleihen?“ Soviel Höflichkeit waren sie alle gar nicht gewöhnt von dem sonst so barschen Russen. Nickend nahm der Blonde das Päckchen an sich und reichte es an Kai weiter, der sich daraufhin in den Sand setzte und damit anfing, die Luftmatratze aufzupusten. Ihn dabei beobachtend sah Tyson sich unauffällig um. Er war zwar schlank – an einigen Stellen etwas pummeliger als die anderen – aber er fand sich grausam fett im Vergleich zu Kais muskulöser Statur, als dieser sich nun das T-Shirt auszog. Und kaum glaubte er, das sei nicht mehr zu toppen, entblößte Tala seinen gestählten Oberkörper. Gleichzeitig machte der Rothaarige damit aber auch auf das Tattoo auf seiner rechten Schulter aufmerksam. Und als Kai sich umdrehte, um ihn zum Wasser zu schubsen, staunten die Bladebreakers nicht schlecht: Kai trug ebenfalls eines, und es sah dem von Tala zum Verwechseln ähnlich. „Habt ihr gesehen?“, staunte Max und sah den beiden Freunden nach, wie sie erst zögerlich ins Wasser wateten. Ein Nicken seitens Kenny, Ray und Tyson beantwortete Max’ Frage, sie waren zu fasziniert vom Verhalten der beiden Russen und beobachteten Kai dabei, als er die Luftmatratze in die Wellen warf und anscheinend Tala dazu überreden versuchte, gänzlich einzutauchen. Der Rothaarige zierte sich noch etwas. Da zuckte Kai mit den Schultern, tat so, als ginge er an ihm vorbei, aber dann packte er Tala am Handgelenk, ließ sich in eine Welle fallen und riss seinen Freund mit in die Fluten. Schnell tauchte der Silberhaarige davon, um einem Racheakt zu entgehen. „Die Narbe von Talas Unfall ist ziemlich groß, nicht?“ Kenny ließ seine Feststellung für sich stehen und setzte sich eine Sonnenbrille auf die Nase, ehe er sich zurücklehnte und einem Buch widmete. „Sind euch die Striemen an Kais Rücken aufgefallen?“ „Entweder hast du so gute Augen oder ich so schlechte, ich hab nichts gesehen…“, meinte Max und streckte sich, als auch er sich zum Sonnen hinlegte. „Das Einzige, was ich festgestellt habe, ist, dass sie verdammt trainiert sind. Wenn ich da so an mir runter sehe…“, murmelte Tyson und piekste sich selbst in den Bauch. Ray schmunzelte und munterte ihn auf: „Ach Tyson, du darfst dich mit Tala und Kai nicht vergleichen. Die haben sich ganz andere Maßstäbe gesetzt, und ich denke mal, ihr früheres Training in der Abtei hat ihr Übriges getan. Du bist gut, so wie du bist!“ Mittlerweile hatte Kai es sich auf der Luftmatratze gemütlich gemacht und war weiter hinaus gepaddelt. Vorsichtig, um nicht ins Wasser zu fallen, setzte er sich auf, um sich dann auf den Rücken zu legen. Entspannt schloss er die Augen und ließ sich von der Sonne verwöhnen. Dabei bemerkte er nicht, dass Tala sich leise anschlich. Der Rothaarige schwamm fast lautlos auf seinen Freund zu. Kurz vor ihm tauchte unter, war mit zwei kräftigen Schwimmzügen direkt unter Luftmatratze. Ein freches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Er sammelte sich und mit aller Kraft stieß er seine Hände gegen die Luftmatratze. Mit einem erschrockenen Laut landete Kai platschend im Wasser, die Matratze segelte einige Meter davon. Prustend tauchte der Silberhaarige wieder auf, die Haare hingen ihm schwer ins Gesicht. Tala lachte. Er fing die Matratze ein und kehrte mit ihr zu Kai zurück, der sich wüst schimpfend seine Strähnen nach hinten strich und den Rothaarigen mit einem beleidigten Blick fixierte. Das sah sogar der ihm so nahe Stehende selten und er entschuldigte sich. „Kai, war doch nur Spaß!“ „Ich weiß.“ Verdutzt über die Antwort runzelte Tala die Stirn. „Du kannst echt gucken wie ein Dackel, weißt du das? Ich hatte schon fast ein schlechtes Gewissen.“ „Das war so beabsichtigt.“ Gespielt genervt holte Tala mit dem Wasserspielzeug aus und kloppte damit auf seinen besten Freund ein. Lange schon hatten sie nicht mehr so ausgelassen miteinander gespielt. Ja, gespielt war das richtige Wort. Eigentlich war ihr Verhalten äußerst kindisch. Doch auch diese Seite musste jeder einmal ausleben. Hätte das Team der Bladebreakers gesehen, welch Wasserschlacht sie veranstalteten, sie hätten sie nicht verstanden. Aber das taten sie ohnehin schon nicht mehr. Kai wirkte auf sie zuweilen sehr launisch und Tala – sie kannten den ehemaligen Anführer der Demolition Boys zu wenig, als dass sie aus ihm schlau werden könnten. „Lass uns zurückgehen. Nachher werden wir von den Strömungen noch abgetrieben“, meinte Kai und rieb sich das Wasser aus den Augen. „Deine Streifen, Kai…“ „Später.“ Tropfend entstiegen sie dem Meer und kamen zu den anderen. Kai schüttelte seinen Kopf wie ein Hund und spritzte die anderen nass. Damit störte er die heiße Diskussion der vier Blader und sie sahen auf. „Sorry!“ Kai hob entschuldigend eine Hand und gab Max dankend die Luftmatratze zurück. Max nahm die eben geführte Unterhaltung wieder auf: „Also, wer kocht denn nun?“ „Tala, weil der Kai eine gescheuert hat!“ Der Schwarzhaarige fixierte Tala mit einem undefinierbaren Blick. Eigentlich war er nicht nachtragend, doch diese Situation hatte er nicht vergessen können und musste es ihm sozusagen noch einmal unter die Nase reiben. Kai stöhnte genervt: „Musst du immer alte Geschichten aufwärmen?“ Aber Tala erklärte sich versöhnlich dazu bereit: „Schon gut. Ist kein Problem. Dann mach ich das heute.“ „Übrigens müssen wir noch einkaufen. Unsere Vorräte neigen sich dem Ende zu, will ich mal so sagen“, verkündete Ray mit Nachdruck. „Dann lass uns das doch heute Abend tun. So ab vier oder fünf Uhr“, schlug Kai vor und griff nach seinem Handtuch. Er setzte sich zu den anderen auf die große, karierte Picknickdecke. Tala tat es ihm gleich. Kais Angebot hörte sich nicht schlecht an. Zumal sie im Moment wirklich noch keine Lust zu irgendwas hatten. Abends würden sie sicher gut einkaufen können. „Was ist das denn?“ Ray richtete seine Aufmerksamkeit nun Kais Rücken zu, da er neben ihm saß. Er war mit seinem Finger über Kais Tattoo gestrichen, als dieser sich gerade die Haare trocknete und dabei hatte Ray etwas entdeckt, was ihn stutzen ließ. Mit seiner Berührung kitzelte er Kai leicht und schroffer als beabsichtigt fuhr der Leader den Schwarzhaarigen an: „Lass das, das siehst du doch wohl, was das ist!“ „Nein, ich meine das hier!“ Ray ließ sich nicht beirren und fuhr vorsichtig über die vernarbte Haut. Kai sog gepresst die Luft ein. „Da… hab ich mich als Kind verbrannt.“ „Das war sicher schmerzhaft, oder?“, fragte der Chinese mitfühlend. Kai zog eine Augenbraue in die Höhe. Diese Frage hätte er sich doch wirklich sparen können. „Hat das eigentlich eine besondere Bewandtnis, dass ihr beide den gleichen Drachen tragt? Nur mit dem Unterschied, dass es Spiegelbilder sind?“, mischte sich nun Kenny in das Gespräch ein und betrachtete interessiert Talas Bild auf der Schulter. „Nun, vielleicht… so was in der Art wie Freundschaft. Oder so“, meinte der Rothaarige achselzuckend. Unsicher schielte er zu Kai, der ihm zunickte. „Tat das Stechen nicht weh?“ „Na ja… es ging. Ist aber auch schon so lange her.“ ~Witzig~, dachte Tala, denn dasselbe hatte er damals gefragt, als Kai auf dem sterilen Tisch gelegen hatte. Und unter tränenden Augen hatte der Silberhaarige ihn angelacht und mit folgenden Worten geantwortet: „Noch nie waren Schmerzen so schön!“ Auch Kai musste wohl daran gedacht haben, sein Wissen und die Genugtuung von damals traten in seinen Blick. Das ~Blutbad~ erinnerte sich… Zwei Jungen von gerade mal 13 Jahren standen vor einem bedrohlich wirkenden Schaufenster. Große Poster und Fotos von grünen, aggressiven Schlangen stachen sofort ins Auge, ebenso unbekleidete Frauenbrüste auf muskulösen Oberarmen und verschiedene Schriftzüge, keltische Symbole oder andere Muster. Der Künstler wurde hoch gepriesen und er verstand anscheinend seine Arbeit. „Du bist sicher, dass du das machen willst?“, fragte der Ältere zweifelnd und beobachtete seinen Freund dabei, wie dieser fasziniert die Bilder betrachtete, seine Nase förmlich am Glas festdrückte. „Ja. Ich will es loswerden.“ „Dann lass ich mir auch eins machen!“ „Nein, Tala, das musst du nicht.“ Doch der Rothaarige schüttelte den Kopf: „Ich will es aber so.“ Also traten die Jungen etwas unsicher ein. Ein Klingeln kündigte sie an. Der Geschäftsführer sah hinter seinem Tresen hervor. Sein Laden war recht klein, im Moment hatte er nicht viel zu tun. Mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte er die beiden Kinder und fragte nach ihren Wünschen. „Wir hätten gerne ein Tattoo!“, erklärte Kai frei heraus. „Dafür seid ihr zu jung.“ Der Mann, selbst an den Armen tätowiert, nahm seine vorherige Beschäftigung wieder auf. „Zu jung?!“, wiederholte der Silberhaarige ungläubig. Er glaubte sich verhört zu haben. Jetzt wurden sie hier auch noch bevormundet? Natürlich waren sie zu jung – sie waren für alles zu jung, was man ihnen schon zugemutet hatte. Und nun stellte sich dieser Mann quer, jetzt, da Kai endlich einen Weg gefunden hatte, sich aus dem Griff seines Großvaters ein Stück weit zu befreien?! Extra deswegen hatten sie sich doch aus der Abtei geschlichen – etwa für nichts? „Wir haben Geld!“, versuchte Tala es auf diplomatischem Wege, denn Scheine waren immer gern gesehen, Geld regierte die Welt, das war auch ihnen bereits bekannt. „Ich tätowiere keine Kinder!“, betonte der Geschäftsinhaber noch einmal. Da platzte Kai der Kragen. Er riss sich seinen Pullover vom Körper und schrie: „Aber dafür – dafür sind wir alt genug, wie?“ Der Tätowierer sah erst beim zweiten Mal genauer hin. Verzerrtes Narbengewebe prangte auf der linken Schulter des Jungen, der sich soeben in seinem Geschäft entblättert hatte. Aber so etwas – fast einem Brandzeichen ähnlich – war ihm noch nicht unter die Augen gekommen. „Wenn Sie das wegmachen können, dann machen Sie das!! Bitte“, fügte Kai hinzu, der Verzweiflung nahe. „Das ist vernarbte Haut. Ich weiß nicht, ob das gut geht….“, warf der Mann ein. „Aber Sie würden es machen? Es soll ja nur die Narbe verdecken… Hauptsache man sieht nichts mehr davon…“ Der Mann führte sie in ein Behandlungszimmer. Das war schon fast ein Zugeständnis, sie zu bedienen. Er fragte, wie alt diese Narbe sei. „Sechs Jahre.“ Noch immer waren die Initialen seines Großvaters deutlich zu sehen, für die sich Kai so sehr schämte. „Gut, also wenn du diesen Ring und alles loswerden willst, dann empfehle ich dir dieses chinesische Symbol für Fledermaus, es würde die gesamte Narbe verdecken.“ Doch das gefiel Kai nicht. Er ließ sich noch weiter beraten, während Tala in einem anderen Vorlagenordner blätterte. Schließlich stieß er auf einen relativ schlichten, doch sehr eleganten Drachen. „Was ist damit?“, fragte der Rothaarige und zeigte Kai und dem Geschäftsführer das Foto. „Das wird sehr lange dauern. Aber es würde gehen. Ihr wisst, dass die Nadeln wehtun?“ Tala und Kai grinsten. Was waren die kleinen Stiche einer Nadel im Vergleich zu dem ungeheuren Gefühl der Freiheit, das sie später haben würden?! Das war der Anfang ihrer Karriere – der Start von Krowawaia Boina. ~*~*~+~*~*~ Anmerkungen: Wie, keine „Vokabeln“? :D Nein, diesmal nicht ;) Also, der Weg von Kioto nach bspw. Zadar an Kroatiens Küste entspricht einer Entfernung von 9360km. Ich war selbst einmal in Kroatien, mit Gespann, und wir haben von Deutschland nach Kroatien und einer Strecke von ca. 1500km 2 Tage gebraucht. Und das mit jeweils 4-6h Schlafzeit. Deswegen komme ich auf die Rechnung von 5 Tagen. Hm, und ich will mich ja auch gar nicht rechtfertigen, aber: Es ist ja auch nur fiktiv >.<“ Darum geht das, ja genau!!! xP Und ihr wisst gar nicht, wie viele Synonyme es für den Begriff „Klo“ bzw. „Klosett“ gibt… schlag das mal nach in eurem Wörterbuch oder Duden, das ist mir ins Auge gesprungen, als ich nach Synonyme für „klopfen“ gesucht habe… Sehr lustig  Weiterhin: „Stopp“ mit Doppel-P ist deutsch. Es ist grammatikalisch richtig. Danke, Rechtschreibreform, für ein weiteres sinnloses und dämlich aussehendes Faktum, das du uns beschert hast… (wenn ihr mich sehen könntet, würdet ihr sehen, wie ich die Augen verdrehe.) Kapitel 25: Kroatien – Wir kommen! Teil 3: Die Mumie(n?) -------------------------------------------------------- An dieser Stelle möchte ich die Moralkeule schwingen: Diese ganze Sache hier ist rein fiktiv. Der Alkoholkonsum der Charaktere in dieser Fanfiction ist überhöht und unrealistisch dargestellt. Die Autorin weist darauf hin, dass bei Saufgelagen mit hoher Prozentzahl und „Genuss“ in jedem Fall eine Schädigung (Leber, Gehirnzellen, Nieren) eintritt. Trinken ist nicht cool. Besoffen in der Ecke liegen und kotzen schon mal gar nicht. Auch wenn er gesellschaftlich anerkannt ist: Alkohol ist eine Droge. Er kann süchtig machen. Daher die Warnung: Nehmt das nicht auf die leichte Schulter und hütet euch vor dem so genannten Komasaufen. Was ihr letztlich macht, bleibt euch überlassen, ich wollt’s nur gesagt haben. Kroatien – Wir kommen! Teil 3: Die Mumie(n?) Seufzend ließ sich Ray im Liegestuhl nieder, blies sich eine lästige Haarsträhne aus der Stirn und verkreuzte lässig seine Beine. Nach einem ausgiebigen Frühstück waren die vier Blader träge und begannen den Tag sehr ruhig. „Was wollen wir heute eigentlich machen?“, fragte der Chinese und drehte seinen Kopf zu seinen Freunden. Tyson unterdrückte ein Gähnen und zuckte mit den Achseln. „Was haltet ihr denn davon, ich hab irgendwo in diesem Reiseführer gelesen, dass man in Vodnjan eine Mumie besichten kann! Was sagt ihr?“, schlug Kenny vor. „Ja, warum nicht, ich bin dafür“, erklärte Ray, „das wird sicher interessant!“ Auch Tyson war begeistert, ebenso Max, denn wann hatten sie sonst schon mal die Gelegenheit, eine echte Mumie zu sehen? „Wofür? Was wird interessant?“ Tala kam, gefolgt von Kai, ins Vorzelt hinein und trocknete sich mit den Ecken des Handtuchs, das über seine Schultern hing, das Gesicht ab. Aus seiner roten Mähne, die nun schwer herunterhing, tropften viele Wassertropfen auf den Frotteestoff, der die Feuchtigkeit begierig aufsog. Die beiden Russen waren in den frühen Morgenstunden Schwimmen gewesen. Zu keiner Zeit war das Meer klarer, die Ruhe entspannender und das Wasser erfrischender als um kurz vor sieben. Kai und Tala hatten schließlich Urlaub und waren keinesfalls so verrückt, schon um fünf aufzustehen. Nachdem Max ihnen von dem Vorhaben erzählt hatte, fischte Kai den Istrienführer aus einem Regal im Wohnwagen. „Hm… Vodnjan sagst du? Hier steht… die Mumie liegt in der St. Blasius. Das heißt in einer Kirche, genauer gesagt hinter dem Altar…“ „Wollt ihr damit sagen, dass ihr auch mitkommt?“, fragte Ray hoffnungsvoll, denn sie hatten schon öfter feststellen müssen, dass sie mit Japanisch nicht viel weiter gekommen waren. Tala dagegen hatte sich schon sehr häufig als Übersetzer betätigt. Kein Wunder, die slawischen Sprachen waren sich sehr ähnlich und Kroatisch und Russisch lagen nah beieinander. „Klar. Hört sich doch spannend an!“ Das Auto war startklar, bereit, dass sie alle einstiegen. Vorher jedoch besah Kai sich seine Truppe. Jeder der Jungen trug eine Skaterhose oder eine Abwandlung davon, dazu entweder ein Muskelshirt oder ein weites T-Shirt. Nur Ray fiel wieder aus dem Rahmen, er hatte sich ein traditionell chinesisches Oberteil ohne Ärmel ausgesucht. Seufzend warf Kai noch einige Jacken in den Kofferraum. „Wofür sollen die denn sein?“, fragte Tala und sprang hinter das Steuer. „Kirche…“, murmelte Kai nur und nahm kommentarlos auf dem Beifahrersitz Platz. Sie fuhren von ihrem Campingplatz hinunter. Hinter einer Kurve, das hatten sie schon oft gesehen, befand sich an der Straßenseite ein Restaurant und dort stand bis jetzt jedes Mal, als sie daran vorbei gefahren waren, ein Mann, der ein Spanferkel über einem Grill drehte. „So ein Schwein am Spieß sieht wohl lecker aus… Bevor wir fahren, müssen wir das unbedingt mal probiert haben!“, meinte Tyson und winkte dem Mann, der sie auf das Ferkel aufmerksam machen wollte und warb. „Ob das so lecker ist, wenn das hier an der Straße steht“, gab Kenny zu bedenken. „Ey… Dieser Winke-Heini geht mir auf den Keks!! Wir sehen die olle Sau doch, außerdem sind wir hier schon 5 Mal vorbeigefahren!!“, murrte Tala genervt. Der Wagen ruckelte einmal, Tala rührte aggressiv am Schaltknüppel herum. Da legte sich eine Hand beruhigend auf seine. „Hey… Komm mal runter. Wir haben keine Eile, reg nicht über die Ente da auf, okay?“ Rubine kreuzten seinen Blick. Der Rothaarige nickte langsam. „Leute!!! Schaut mal da! Das sieht unglaublich toll aus!“ Ray zeigte auf die rechte Straßenseite und deutete auf einen Aussichtsturm. „Das muss der Limski-Kanal sein“, erklärte Kenny mit Blick auf den Istrienführer. „Wollen wir anhalten und uns das ansehen?“ Nicht nur Max wollte die schöne Aussicht erleben. „Meinetwegen.“ Tala lenkte den Wagen auf einen Parkplatz. Sie stiegen aus. Ein großer hölzerner Torbogen war vor den Anfang eines geschlungenen Pfades gestellt worden, der hinauf zu einem hochsitzähnlichen Aussichtsturm führte. Durch diesen Eingang wollten sie nun alle stürzen. Doch sie wurden aufgehalten. Ein Mann rief ihnen etwas zu: „Oprostite!“ Die Jungen drehten sich um. „Kako molim? Ja vas ne razumjem. Ja govorim samo malo hrvatski”, erklärte Tala dem Wärter, der nun an sie herangetreten war. „Ah, wy gawaritje pa-ruski?“, fragte der Mann. Er hatte das anscheinend aus Talas Akzent und Dialekt heraus gehört. Das Team tauschte verwunderte Blicke aus. Sie waren mittlerweile an die Russische Sprache gewöhnt, weil Kai und Tala sich in diesem Urlaub oft genug in ihrem Zelt unterhalten hatten, leise zwar und sie hatten nur Bruchstücke gehört, aber es war durchaus zu verstehen gewesen. „Da. But do you speak English? Not all of us are Russian”, erwiderte der Rothaarige nun. “Of course. So, you want to get a ticket for the tower. That’s five Kuna for each of you.” “Das sind 30 Kuna gesamt!”, rechnete Kenny vor. „Und das sind ein bisschen mehr als 650 Yen, das ist doch nichts!“ Bereitwillig bezahlte Kai ihre Tickets und sie konnten endlich den Turm besteigen. Die Aussicht war wirklich atemberaubend. Es ging etwa 60 Meter in die Tiefe, nicht direkt vom Turm aus, denn der stand noch auf eine Anhöhe. Der Limski-Kanal trennte zwei gebirgige Waldstücke voneinander, das Wasser glitzerte im Sonnenlicht. „Wie hoch das hier ist!“, freute sich der Amerikaner und wirbelte von einer Seite der Plattform zur nächsten, um möglichst viel zu sehen. „Und wie windig… es ist erfrischend kühl hier oben“, fügte Ray an und stützte sich am Geländer ab, schloss die Augen und genoss die leichte Brise. Tala zückte seine Digicam und schoss mehrere Fotos. Tyson tippte ihm auf die Schulter: „Und jetzt von uns allen, ja?!“ Max drehte sich zu einem anderen Touristen um: „Excuse me, can you take a photo of all of us?“ „Gern!“ „Thank- Ach, vielen Dank!“, lachte der Blonde verlegen und zu sechst stellten sie sich für das Foto auf. Mit den Bergen, dem sonnigen Tag und dem blauen Himmel hatten sie eine sehr schöne Urlaubserinnerung. Sie würde ihnen sicher noch lange nachher gefallen. „Hey, wollen wir vielleicht auch noch zum Limski-Fjord hinunter? Wir müssten dazu ein kleines Stück fahren. Könntest du das übernehmen, Kai?“, fragte Kenny schüchtern und schaffte es, sich von diesem Istrienführer loszueisen, den er beinahe verschlang. „Tala fährt so… sorry, aber… grausig!“ „Okay.“ Ein Grinsen huschte über Kais Gesicht und er wandte sich an Tala. „Tapferer Rebell, sei nicht traurig. Du darfst wieder ans Steuer, wenn du dich abreagiert hast!“ „Wenn du keinen Freiflug in den Kanal willst, würde ich an deiner Stelle zusehen, dass ich Land gewinne!“, drohte der Rothaarige und ballte demonstrativ seine Faust. Aber Kai zwinkerte ihm einfach nur gelassen zu: „Ja lublju tebja to4e!“ Am Limski-Fjord angekommen, staunte die kleine Touristengruppe nicht schlecht. „Seht mal, da baden welche!“, rief Max erstaunt aus. Der Kanal war nun zum Greifen nah, es gab Bootsrundfahrten und sie hätten bequem auch ins Wasser springen können. Doch ein Blick auf die Uhr sagte ihnen, dass sie schon wieder weiter fahren mussten, wollten sie die Mumie noch besichtigen. So musste Tala auch einen Mann abwimmeln, der mit seinem charmanten „Hallo! Kommen mit, Panoramafahrt 1 Stunde!“ sie versuchte zu umwerben, aber dazu fehlte ihnen die Zeit. Schließlich machten sie sich wieder auf den Weg in Richtung Vodnjan. Leider verpassten sie die Ortseingangs- und Ausgangsschilder und fuhren viel zu weit. Sie waren schon längst wieder aus der Stadt heraus, als sie in eine Schafherde mitten auf der Straße gerieten. Umkehren mussten sie ohnehin. Aber all das waren Erlebnisse, die sie so schnell nicht wieder vergessen würden. Die Gassen innerhalb Vodnjans, die sie nehmen mussten, waren sehr eng. Kai hatte Schwierigkeiten und sorgte sich um die Außenspiegel. Die Jungen sahen aus dem Fenster. Farbe und Putz waren von den Wänden teilweise abgeblättert. Einerseits bot dies einen beklemmenden Einblick in die Stadt, andererseits zeugte das auch von ihrem besonderen Charme. Kai parkte auf dem Hauptplatz vor der Kirche. Tyson ging voran, gefolgt von Max, dann kamen Tala, Ray und Kenny und zuletzt Kai. Er zauderte, die Schwelle des Eingangstores zu überschreiten und sah hoch zu dem Mauerwerk im neobarocken Stil. Er blickte zurück zu einem Haus, das nach venezianischer Spätgotik gebaut worden war. Flaggen wehten in einer lauen Brise. Auch hier bröckelte der Putz. Kai gab sich einen Ruck und trat ein. Sofort veränderte sich seine Haltung, er ging sehr gerade und still. Seine anmutigen Bewegungen zeugten von dem Respekt, dem er diesen Ort zusprach, als er sich staunend wie die anderen zu allen Seiten drehte. Der Innenraum der Pfarrkirche war durch Arkaden gegliedert und einfach riesig. Nicht umsonst war er, mit einer Höhe von 25 Metern und einer Fläche von 1792m², der größte Istriens. An den Wänden hingen Bilder des Leidensweg Jesu, des Weiteren fanden sich an fast jeder Arkade Marienstatuen oder –bilder. Der Altarbereich war abgezäunt, der Altar selbst bestand aus Marmor und der Schmuck aus Blumen, Bildern und Kerzen. Links daneben befanden sich die Sakristeiräume, in dem das kleine Museum neben Sakralschätzen aus dem 5.-19. Jahrhundert auch die Mumien ausstellte. An der linken Seite machte Kai außerdem Beichtstühle aus. Er wirkte nachdenklich. Doch folgte er den anderen, die schon zu einer Dame am Eingang des kleinen Museums gegangen waren. „Wie viel kostet der Eintritt, um die Mumie zu sehen?“ „28 Kuna nur die Mumie. Mit Museum 38 pro Person.“ Ray meinte: „Also, mit Museum, oder? Wenn schon, dann aber auch richtig!“ Dem stimmten die anderen zu. Die Dame musterte die Jungen und erklärte Tyson dann, dass er so mit seiner Kleidung den heiligen Ort nicht betreten dürfe. Kai gab ihm die Autoschlüssel: „Hier, geh und hol dir ne Jacke.“ Das hatte er nämlich schon geahnt. „Wie alt seid ihr denn alle? Wenn ihr noch unter 18 seid, kostet euch der Eintritt nur 23 Kuna pro Person.“ „Wir sind 15 und 16. Sechsmal dann bitte.“ „Das macht 138. Danke. Bitte wartet noch einen Moment, da sind noch welche drin.“ Tala nickte und reichte jedem eine Eintrittskarte. Da sie noch Zeit hatten, warteten sie und besahen sich die Kirche von innen. „Schade, dass wir nicht fotografieren dürfen“, flüsterte Ray leise enttäuscht. Er war fasziniert von den Bildern und der Architektur. Kais Blick dagegen fiel auf die Opferkerzen rechts und links neben den Treppen zum Altar. Er kramte in seinem Portemonnaie, zückte acht Kuna und kaufte sich zwei Opferkerzen. Die zündete er bei den anderen an und stellte sie hinzu. Dann kniete er davor nieder, faltete die Hände und schloss die Augen. Lautlos bewegte er ab und an seine Lippen. „Was macht er da?“, fragte Ray verdutzt und wandte sich an Tala, der seinem besten Freund mitleidig lächelnd dabei zusah. „Beten. Für seine Eltern.“ „Echt? Sind sie etwa… tot?“ Betroffen betrachtete Ray seinen Leader. „Er erzählt nicht viel von sich. Aber du weißt es, oder? Mehr als wir auf jeden Fall.“ Tala schüttelte den Kopf: „Wenn er euch von sich aus nichts erzählt, dann werde ich ihm sicher nicht in den Rücken fallen. Tut mir leid, Ray!“ Der Chinese nickte. Das wäre auch Kai gegenüber nicht fair. Da aber fiel Ray die Empfangsdame auf, sie winkte der kleinen Gruppe, dass sie nun ins Museum konnten. Tala trat an Kai heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Kommst du?“ Kai nickte und stand auf. Gemeinsam besichtigen sie nun die jahrhundertealten Überreste der Vergangenheit. Tyson, Max, Kenny und Ray blieben gebannt vor den Mumien stehen. Insgesamt waren es vier, darunter der heilige Bembo und Nikola Bursa. Das war Kultur, wie sie ihnen gefiel. Tala betrachtete hinter ihnen die Fotos, Vasen, andere Reliquien und lateinische Schriften. Geschichte hatte ihn immer schon wahnsinnig interessiert. Dann kam auch er zu den Mumien. Die Informationen zu ihnen erhielten sie über eine Kassette, die abgespielt wurde. Die Frau am Eingang hatte es in ihrer Sprache neu aufgelegt. Kai lief langsam den Rundgang ab. Aber an der leisen Unterhaltung seiner Teamkollegen beteiligte er sich nicht, denn er ging hinaus und setzte sich in einen der Beichtstühle. Er wusste nicht, ob diese Kirche noch so funktionierte oder nur noch Touristenattraktion war. Außerdem hatte er noch nie gebeichtet. Doch er wollte es einfach mal versuchen. „Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt….“ Der Vorhang fuhr zur Seite und eine männliche Stimme fragte: „Womit hast du gesündigt, mein Sohn?“ Kai erschrak. Er hätte nicht gedacht, dass dort wirklich jemand saß. Tief durchatmend richtete er sich gerade auf. Da er nicht wusste, wie er fortfahren sollte, meinte der Priester: „Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit.“ Der Junge seufzte schwer. „Ich habe noch nie gebeichtet, Pater.“ „Erzähl mir, was dich bedrückt, mein Sohn.“ „Ich habe in den letzten drei Jahren 27 Menschen umgebracht, 11 lebensgefährlich verletzt und 3 krankenhausreif geprügelt.“ Er hörte auf der anderen Seite ein erschrockenes Nach-Luft-Schnappen. „Du bist nicht auf dem Pfad der Tugend, versuche, Gott in dir zu finden und auf ihn zu vertrauen.“ „Kann er mir Kraft geben?“ „Das kann er. Du musst ihm vertrauen. Deine Sünden sind schwerwiegend. Es war nicht recht, was du getan hast. Mein Sohn, sei standhaft und besonnen, der Herr wird dich führen. Jede Abweichung vom Pfad der Tugend kann eine Prüfung für dich und deinem Verhältnis für den, der da war, der da ist und der immer sein wird bedeuten.“ Kai wusste nicht, ob ihm das nun wirklich etwas brachte. Oder ob er sich jetzt besser fühlte. Hilfreich war ihm dieses Gespräch nicht gewesen. Dennoch fühlte er sich ein Stück freier als zuvor. „Ich bereue, dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Erbarme Dich meiner, o Herr“, meinte Kai, doch fiel ihm noch etwas ein, was er hastig dazwischen warf: „Aber wenn ich nicht damit aufhören kann? Es passiert nicht immer absichtlich, aber ich weiß, dass es wieder geschehen wird. Kann ich Vergebung erwarten?“ „Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. Ego te absolvo a peccatis tuis in nómine Patris et Fílii et Spíritus Sancti."()* „Diese und alle meine Sünden tun mir von Herzen leid. Mein Jesus, Barmherzigkeit.“ Beide endeten mit einem Amen. Kai trat unzufrieden aus dem Beichtstuhl heraus. Tala wartete bereits und empfing ihn mit einem überraschten Blick. „Wie kann er mir die Absolution versprechen? Wie darf er mir die Sünden vergeben?“, zischte er dem Rothaarigen auf Russisch zu und verschwand aus der Kirche. ~Na das war wohl ein Griff ins Klo…~, dachte Tala und bekreuzigte sich ob seiner Gedanken sofort entschuldigend. *** „AU! Verdammt, das tut weh!“ „Dann beweg dich halt nicht so!“ Tala und Kai hatten sich, nachdem sie wieder am Campingplatz angekommen waren, von den anderen verabschiedet und gemeint, sie wollten noch etwas trainieren. Die anderen wollten da lieber noch mal zum Strand hinunter gehen und die Sonne genießen. So hatten es die Russen leicht gehabt, unbeachtet ins Waschhaus zu gelangen. „Du weißt aber schon, dass du dir deine Kriegsbemalung nicht ins Gesicht schmieren darfst?“ „Ja, leider. Aber einen Abend wird das schon in Ordnung gehen.“ Auch Dranzer gefiel er so viel besser. Der Phönix erschien und gurrte zufrieden. „Ja, dass du auf Talas Seite stehst, war mir klar!“ „Wenn ich jetzt noch Wolborg rufe, dann steht es 3:1. Armer, kleiner Kai!“, grinste Tala und kniff dem Silberhaarigen in die Wange. Unwirsch schlug dieser nach seiner Hand. Sie hatten sich eine Einzelkabine mit Dusche und Waschbecken ausgesucht. Kai saß auf der gefliesten Ablage neben dem Waschbecken, vor ihm stand Tala. „Warum muss ich eigentlich die Frau sein?!“ Ein Mädchen in ihrem Alter, das auf ihren Bruder wartete, lauschte der Unterhaltung und bekam ganz rote Ohren. „Weil du kleiner und zierlicher bist als ich, deshalb. Also stell dich nicht so an!“ Kai schwieg beleidigt und verschränkte die Arme. „Wir hätten zwar auch Schnick-Schnack-Schnuck spielen können, aber dabei schummelst du ja immer!“ „Gar nicht wahr!“, beschwerte sich Kai, wurde dann aber wieder ernst. „Zum Glück konnten wir uns loseisen. Aber was, wenn sie uns gefolgt sind?“ „Hör doch mal auf zu blinzeln und so böse zu gucken, ich hab das noch nie gemacht und das ist echt anspruchsvoll!“, meinte Tala ärgerlich, ging gar nicht auf Kais Einwände ein. Dem Jüngeren dagegen tränten schon die Augen, da Tala ihm gerade die Augenbrauen zupfte. Was taten sie nicht alles für einen Auftrag! Jetzt fühlte der Rothaarige sanft über Kais Wange. „Hm…“ Er kramte in der kleinen Kulturtasche und zückte einen Nassrasierer und Wachsstreifen. „Dein Grinsen macht mir Angst, Tala…“ Kai lehnte sich automatisch etwas zurück gegen den Spiegel, weg von ihm. „Keine Sorge, aber wir wollen deine Haut doch so glatt wie einen Kinderpopo haben, richtig?“ „So, fertig!“ Begeistert und mit sich selbst zufrieden trat Tala von seinem ‚Kunstwerk’ zurück. Kai hopste vom Waschbecken und begutachtete sein Gesicht im Spiegel. Seine Wangen und seine Halspartie waren dank der Wachsbehandlung komplett gerötet, seine Augen von den Tränen geschwollen. Er hatte zwar während des Prozederes keinen Mucks von sich gegeben, war dafür aber jedes Mal zusammengezuckt. „Gott!“, war seine einzige Reaktion. „Ja, ich wusste schon immer, dass du zur Eitelkeit neigst…“, grinste Tala und fing sich für seinen Kommentar eine Kopfnuss ein. „Jedenfalls…“, der Rothaarige rieb sich seinen leicht schmerzenden Hinterkopf, „sind jetzt deine Beine dran…“ „Das kann ich schon selber, vielen DANK!!“ Kai schob Tala energisch aus der Kabine und knallte ihm dann die Tür vor der Nase zu. „Also, ich besorg dann jetzt die Tönung, danach geht’s ans Eingemachte!“ Tala hörte nur noch das ihm allzu bekannte Grummeln, was ihm bestätigte, dass Kai gehört hatte. Er bemerkte für sich, dass sein silberhaariger Freund bei diesem Auftrag sehr viel auf sich nahm. Aber schließlich ging es um Kais Eltern. Seufzend machte sich der breit gebaute Russe auf den Weg in den nächsten Supermarkt. Leise schlich Tala zum Auto. Entweder waren die Waffen in einem versteckten Fach unter den Fußmatten bei der Rückbank oder eben im Wohnwagen verstaut, hatte Kai gesagt. Er selbst hatte nicht danach suchen wollen, in seinem Aufzug. Tala sollte ihn am Waschhaus abholen, er hatte sich in der Kabine eingeschlossen und wollte erst dann wieder herauskommen, wenn sie kaum Aufsehen erregten. Der Rothaarige hatte extra eine kleine Tasche mitgenommen. Er hoffte nur, dass Kai soviel Weitblick besessen hatte, nicht die größten Revolver mitzuschleppen. Sie wussten nicht genau, wie sie vorgehen sollten, was die sicherste Methode war. Denn jetzt mussten sie auf ihre Sicherheit achten, sie konnten sich kein Risiko leisten, denn würden sie verletzt oder gar Schlimmeres, könnten sie sich verraten. Die Bladebreakers waren sehr aufmerksam. „Was machst du da, Tala?“ Der Rothaarige fuhr erschrocken herum. Gut, dass es dunkel war und Kenny seine Aufmachung nicht so deutlich erkennen konnte. „Ich äh… hab meinen Perso irgendwo verloren, ich such ihn grad.“ „Soll ich dir helfen?“ „Nein, das geht schon, danke.“ Fieberhaft überlegte der Russe, wie er Kenny am besten abwimmeln konnte. „Wollt ihr uns vielleicht begleiten? Gleich fängt hier auf dem Platz so ein kleines Festival an, mit Tanz und Musik. Das wollten wir uns nicht entgehen lassen“, fragte der Brünette und wandte sich Richtung Vorzelt. „Tut mir leid, aber wir haben vor, das Nachtleben in der Stadt zu erkunden!“ Endlich, Tala hatte gefunden, was sie brauchten. Er zögerte nicht und stopfte alles, was er fand, in die Tasche. Kenny verabschiedete sich: „Nun, wenn ihr euch ständig von uns absetzen wollt, bitte…“ Es klang traurig und verbittert, aber damit konnte sich Tala nicht befassen. „Bis morgen!“ Kai war ziemlich schlecht gelaunt, als Tala ihn abholte und sie gemeinsam Richtung Stadt liefen, sogar für seine Verhältnisse. Aber wer konnte es ihm verübeln? Schließlich wollte keiner freiwillig als Frau getarnt in eine Disko dieser Sorte gehen. Doch zugunsten ihres Auftrages, um ihren Kontaktmann zu treffen und sich an ihn heran zu tasten, biss Kai widerwillig in die sprichwörtliche Zitrone. „Komm schon, Kai, lächle mal!“ Der Silberhaarige sah zu Tala. „Ich fühle mich unwohl! Der Rock ist so kurz! Nachher rutscht noch was darunter hervor!“ „Das passiert schon nicht, dafür hast du doch diese sexy Strumpfhose! Außerdem gefallen mir deine Haare.“ Kai hatte es geschafft, seine wilde Mähne zu bändigen und sie so zu frisieren, dass sie in seidigen Wellen auf seine Schultern herab fielen. Das dezente Make-up ließ ihn feminin erscheinen und der sanfte Braunton schimmerte hübsch im gelben, schwachen Licht der Straßenlaternen. Kai trug einen schwarzen Mini zu Lack-High-Heels mit Riemchen, darüber ein gelbes Top, das sein Tattoo verbarg und sich von seinen farbigen Kontaktlinsen in grün besonders abhob. Keineswegs waren sie so leichtsinnig, auch nur den kleinsten Teil ihrer wahren Persönlichkeit darzubieten. Selbst Tala hatte eine schlichte Farbe für seine sonst eisblauen Saphire ausgesucht und er war nun schwarzhaarig. Sie waren schon fast am „Cat’s Eye“ angekommen, einem angesagten Club in der Innenstadt im Erwachsenenmilieu. „Hier, ich hab dir sogar die kleine Taschenpistole mitgebracht, du kannst sie hinter das Strapsband klemmen an deinem Oberschenkel.“ Selbst diese kleine Waffe konnte starke weiche Schutzkleidung durchdringen. Eigentlich war sie ein Spielzeug für hochrangige Offiziere, sie war klein und leicht genug, um nicht aufzufallen, wenn sie getragen wurde. „Oh, toll!“ Kais Sarkasmus war schon grenzwertig. Er stellte seinen Fuß auf einem Fahrradständer ab, schob den Rock hoch und versteckte das Pistolchen. „Ich sterbe in diesen Schuhen, Tala! Auf dem Rückweg trag ich die nicht, das schwör ich dir!“, maulte er dann. „Du bist verdammt attraktiv, wenn du deinen Arsch so rausstreckst. Bitte entfern dich nicht zu weit von mir.“ Tala machte sich Sorgen, er fürchtete, dass Kai in seinem jetzigen Outfit mehr als nur angebaggert werden würde. Kai richtete seine Kleidung wieder und hakte sich bei ihm unter. Sie passierten die Security-Männer im Eingangsbereich. „Und bleib in deiner Rolle“, erinnerte der Rothaarige ihn noch. „Keine Angst, mein Hase, ich bleib dir treu. Du bist der mit dem Geld und ich bin deine Süße…“ Tala schlug ihm grinsend auf den Hintern. „Dann such dir das richtige Opfer aus und hör dich um, Schatz.“ Kai warf Tala eine Kusshand zu, zwinkerte und verschwand, als Tala kurz wegsah, im Getümmel. Der Rothaarige musste zugeben, dass sein Partner durchaus heiß wirkte. Die Blicke der anderen Männer, die er auf sich zog, sprachen für sich. Aber Tala würde sich jetzt zuerst an der Bar etwas unterhalten. Mal sehen, was sich ergeben würde… „Nein, wirklich?“ Kai kicherte gekünstelt. Das schien aber nicht aufzufallen. Irgendwie war er an die Falschen geraten und kam nicht mehr weg. Ein Drink nach dem anderen wurde ihm spendiert, kaum war ein Glas leer, stand schon das nächste vor seiner Nase. So viel wie jetzt hatte er lange nicht mehr getrunken und noch war kein Ende in Sicht. Wie gut, dass er so trinkfest war! „Süße, du hast uns noch immer deinen Namen nicht genannt…“, säuselte eine erregte Männerstimme nahe seinem Ohr und eine Hand streichelte seine Schenkel, fuhren langsam zur Innenseite. Kai überkam eine Gänsehaut vor Ekel. „Ich bin Nadja – und kein Girl für eine Nacht.“ Er lächelte und schob die Hand ausdrücklich weg. Er bezirzte sie und war gleichzeitig bestimmend. Doch anscheinend war gerade auch dies das Reizende an ihm. Er entschuldigte sich. Über zwei Stunden hatte er hier nun schon vergeudet und von Tala war auch keine Spur. Er musste hier weg. Leicht torkelnd fand er den Weg zu einem Stehtisch weit entfernt von der Lounge, in der er vor Zigarettenqualm kaum noch Luft bekommen hatte. Kurz schloss er die Augen, ehe er begann, seine kleine Handtasche nach seinem Handy abzusuchen. Sein Sichtfeld war schon stark eingeschränkt. Wütend fluchte er. „Na, na! Wer wird denn da so böse sein?“ Die Stimme war sanft. Überrascht hob er den Kopf. Er kannte seinen Gegenüber nicht. Hastig zog er den Reißverschluss der Tasche wieder zu und wollte gehen. Doch der blonde Mann hielt ihn auf. „Darf ich dir einen Drink spendieren? Ist jetzt wirklich keine dumme Anmache…“ „Nein gar nicht, im nächsten Atemzug möchtest du mir nämlich erklären, dass du unbedingt Kinder willst und den Weltfrieden, nicht wahr?“ „So in etwa hatte ich mir das gedacht.“ Beide grinsten. „Gut. Dann darfst du.“ „Ich bin übrigens Jesco.“ Er gab ihm die Hand. „Nadja.“ ‚Verdammt, wieso gehst du nicht ans Handy?’, dachte Tala nervös. Er hatte recht schnell ihren Kontakt gefunden und saß mit ihm in einem hinteren, abgeschirmten Bereich, der nur VIPs zugängig war. Sie regelten gerade die Finanzen. Tala klappte einen silbernen Koffer auf. Wie in diesen kuriosen Mafia-Filmen war er gefüllt mit Geld. Der Jugendliche zeigte dem Mann im seriösen braunen Anzug vor ihm die vereinbarte Summe. Im Gegenzug erhielt er eine dicke Aktentasche. Tala inspizierte den Inhalt, las flüchtig alles durch. Genauso wie sein Vertragspartner das Geld zählte. Dann überreichte man ihm auch noch einen Karton, gerade mal so groß wie ein handlicher Bestseller-Roman. „Was ist da drin?“ „Das weiß Domovoi schon. Gib es ihm einfach. Er wird sich freuen. Ich bin sehr zufrieden mit ihm, sag ihm das.“ Tala nickte und schüttelte dem Mann die Hand, stand dann auf. „Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt meine Freundin suchen, sie hätte Sie bestimmt gerne kennen gelernt. Ich habe sie aber leider in der Menge verloren.“ „Vielleicht kann ich dir da behilflich sein. Wir haben Zugriff auf die Überwachungskameras.“ Der Ältere schnippte mit den Fingern und ihm wurde ein Notebook gebracht. Tala suchte den Bildschirm nach Kai ab. „Und, siehst du sie irgendwo?“ „Nein… Moment… das könnte sie sein…“ Kai lachte herzlich. Er hatte sich schon lange nicht mehr so gut amüsiert, und es war auf eine besondere Art befreiend, dass es nicht Tala war, der ihn zum Lachen brachte. Fast schon vergaß er, weshalb er eigentlich hier war und dass er sich als jemand anderes ausgab. „Willst du vielleicht mit mir tanzen, Nadja?“, fragte Jesco überraschend. Das holte Kai in die Realität zurück. Er senkte den Blick. „Du wirst das bereuen. Ich will immer führen.“ Doch Jesco kam näher und legte einen Arm um seine Taille. Mit der anderen Hand streichelte er Kai über die Wange. Er zog ihn fest an sich heran. Kai gefror zu Eis, stand steif in der Umarmung. Was sollte er denn jetzt tun, ohne sich zu verraten? Er kannte diese Haltung, wollte Jesco ihn etwa küssen? Bloß nicht! Kai wackelte mit dem Fuß und tat so, als sei er umgeknickt. Dabei stieß er Jesco von sich, brachte wieder Abstand zwischen sie. „Entschuldige, ich gehe mir etwas Eis holen.“ Gekonnt humpelnd und entschuldigend lächelnd machte Kai sich auf zur Bar. Er atmete tief durch. So etwas durfte ihm nicht noch einmal passieren! Talas Augen weiteten sich. Was tat der Typ da? Irgendetwas schüttete er doch in Kais Cocktail! „Wo ist das?“, fragte er seinen Vertragspartner und deutete auf den Bildschirm des Notebooks. „Das müsste nahe dem Eingang sein.“ Der junge Russe nickte, dankte und stand auf. Anscheinend musste er bei seiner ~Perle~ einmal nach dem Rechten sehen. „Geht’s wieder?“ „Ja.“ Auf den leichten Schrecken und die Spannung von eben trank Kai seinen Martini leer. Er fasste an seine Stirn. Ihm war schwummrig. Alles drehte sich. Hatte er soviel getrunken? Das war ihm in dem Maße noch nicht passiert. Er hielt sich am Tisch fest. Dabei bekam er nicht mit, wie Jesco ihm noch etwas bestellte, aus einer kleinen handlichen Flasche unbemerkt noch etwas beimixte und es ihm dann vor die Nase hielt. „Möchtest du ein Glas Wasser?“, fragte er scheinheilig besorgt. „Danke.“ Kai trank es in einem Zug leer. In dem Moment ergriff der Schwindel gänzlich von ihm Besitz. Jesco war natürlich zur Stelle und fing ihn rasch auf, zog ihn an sich. „Besser, ich bring dich nach Hause, was?“ Da tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Als er sich umdrehte, krachte ihm eine Faust hart wie Stein ins Gesicht. Es knirschte vernehmlich. „Scheiße, Mann! Was soll denn das?!“ „Nimm sofort deine dreckigen Wichsgriffel von meiner Freundin!“ Tala hatte alles mitangesehen, auf dem Monitor sowie real. So schnell ihn seine Beine trugen, war er herbeigeeilt. Und in ihm kochte eine Stinkwut. Darüber, dass Kai nicht aufgepasst hatte. Darüber, dass dieser Wichser vor ihm seinem besten Freund etwas ins Glas geschüttet hatte. Jetzt packte er Kai am Arm und zog ihn unsanft zu sich hinüber. „Halt deine Hackfresse oder du hast mein Knie dort sitzen, wo es dir besonders weh tut!“ Tala spuckte Jesco auf die Schuhe und wischte sich die mit dem Blut seines Kontrahenten verschmierte Hand an seiner Hose ab. Dann schritt er forsch von dannen, Kai im Schlepptau. „Oh schau mal, Pinguine!!“, rief dieser plötzlich, als sie Richtung Küche zum Hinterausgang liefen. „Nein, Kai, das sind die Kellner und Bediensteten hier, reiß dich zusammen!“, zischte Tala und führte den stark Wankenden durch den Raum. „Ich weiß, aber sie sehen aus wie Pinguine… als hätten sie einen Stock verschluckt!“ „Kai, sei jetzt still oder ich verliere meine Geduld, ehrlich!“ Und Kai blieb stumm. Als die kühle Nachtluft sie empfing, war es, als schlüge ein Vorschlaghammer auf ihn ein. Nun knickte er wirklich mit seinen Absätzen um, riss sich eine Laufmasche und fiel auf die Knie. „Verflucht! Ich hasse diese Schuhe!“, lallte Kai wütend und riss sich die Sandalen kurzerhand von den Füßen und schmiss sie weit von sich auf eine Wiese. „Mensch…“, fing Tala an, doch er zeigte Mitleid. Lächelnd hockte er sich neben Kai. „Ich trag dich. Komm.“ Der normalerweise Rothaarige half Kai wieder auf die Beine. Es wäre sinnlos, ihn selbst gehen zu lassen, gerade gehen konnte Kai nämlich schon längst nicht mehr. Und das sollte etwas heißen! Also trug er ihn wie eine Braut Richtung Campingplatz. Kai lehnte seinen Kopf an Talas starke Schulter. Er kam sich in diesem Moment wahnsinnig unfähig, weibisch und kindisch vor. Aber Tala schien das nichts auszumachen. „Ja tebja lublju, Yuriy, snajesch ti eto?“ „Da, ja snaju.“ Er verstand ganz genau, was Kai meinte. *** „Was ist das hier für ein Lärm?“ Schlaftrunken kam Ray ins Vorzelt. Kai saß am Tisch, den Kopf auf die Arme gebettet, und stierte auf den Boden. Es war früh am Morgen, vielleicht gerade vier oder fünf Uhr. „Hat Kai gesoffen?“, fragte der Schwarzhaarige Tala und deutete auf seinen reglosen Leader. In weiser Voraussicht hatte ihn der Rothaarige beim Waschhaus, wo sie ihre Wechselkleidung deponiert hatten, umgezogen und das Make-up entfernt. Er hatte sie beide soweit wieder hergerichtet, dass sie wieder wie Kai und Tala aussahen. „Unter anderem“, beantwortete Tala Rays Frage und breitete eine leichte Decke über Kai aus. „Aber ich denke, es waren K.O.–Tropfen oder ähnliches, jemand hat ihm was in den Drink geschüttet.“ „Was? Und wenn es etwas anderes war?“ „Glaub ich nicht… Außerdem kann er sich kaum an irgendwas erinnern und wirklich ansprechbar ist er auch nicht.“ „Das trifft auch auf jedwede andere Droge zu…“ „Mir is’ schlecht…“, meldete sich auf einmal Kai zu Wort. Er versuchte aufzustehen, schwankte stark und riss fast den Stuhl mit sich zu Boden. Ray war sofort bei ihm und stützte ihn, Kai aber warf sich auf alle Viere. „Schnell, einen Eimer!“, rief Ray, als er merkte, dass Kai zu würgen begann. Hektisch sah Tala sich um, konnte aber keinen Eimer entdecken. Er griff zum erstbesten Behälter, den er sah und hielt ihn unter Kai. Keine Sekunde zu spät. Kai erbrach sich in die Bratpfanne. Stirnrunzelnd sah Ray zu Tala. „Hättest du nicht etwas anderes finden können?“ „Keine Zeit!“ „Gut, dass die anderen das nicht sehen.“ Mitfühlend hielt Ray seinem Leader die Haare aus dem Gesicht und streichelte seinen Rücken. „Nicht..“, flüsterte Kai. Die Berührung, die sanfte Streicheleinheit sorgte für einen erneuten Brechreiz. „Besser, wir packen ihn gleich auf die Liege. In unser Zelt kommt er heute nicht mehr“, erklärte Tala und seufzte. Aber immerhin: Krowawaina Boina hatte einen weiteren Auftrag erfolgreich erledigt. ~*~*~+~*~*~ Vokabeln Ja, das sind sie wieder, unsere geliebten Vokabeln ^^ Diesmal sogar mit Kroatisch, gut ne? Oprostite! [kroatisch] - Entschuldigung „Kako molim? [kroatisch] - Wie bitte? Ja vas ne razumjem.[kroatisch] - Ich verstehe Sie nicht. Ja govorim samo malo hrvatski [kroatisch] - Ich spreche nur wenig Kroatisch. Ah, wy gawaritje pa-ruski - Ach, sprechen Sie Russisch? „Ja lublju tebja to4e!“ - Ich liebe dich auch! „Ja tebja lublju, Yuriy, snajesch ti eto?“ - Ich liebe dich, Yuriy, weißt du das? „Da, ja snaju.“ - Ja, das weiß ich. Hinweise zu den Währungen: 1 Euro sind ca. 7,127 Kuna. 1 Euro sind auch etwa 155 Yen (Stand Donnerstag, 25. September 2008) Übrigens: Die Angaben zu der Kirche St. Blasius sind echt. Ich mag meinen Istrienführer ;) ()* So spreche ich dich los von deinen Sünden im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und: jaa… mein Vokabular an Schimpfwörtern… mal ein bisschen verpulvern hier XD Das passte doch zum Ambiente oder? Das sollte es nämlich. Ansonsten pflege ich mich gesittet zu unterhalten. … =D Kapitel 26: Oh Schreck - Oma ist weg!! -------------------------------------- „Du hast gesagt, die Tönung hält nur eine Nacht, nach einmal Waschen ist die wieder raus!!“, wetterte er und fluchte anschließend im vulgärsten Russisch, das Tala je gehört hatte. „Tja, das kann schon mal passieren.“ Der immer noch brünette Kai bekam einen Tobsuchtsanfall. Sein rothaariger Freund hielt sich währenddessen einfach nur die Ohren zu. Jede freie Minute hatte Kai an diesem Morgen damit zugebracht, sich die Haare zu waschen. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, als er alleine stehen und den Weg zum Waschhaus ohne Hilfe gehen konnte. Er hatte seine Teamkameraden die Zelte abbauen lassen, wobei Tala sie tatkräftig unterstützt und erklärt hatte, warum es ihrem Teamleader so dreckig ging. Dabei unterschlug er natürlich bestimmte Aspekte ihres nächtlichen Treibens in der Diskothek. Als Kai mit seinem Wutausbruch fertig war und Luft holen musste, warf Tala unschuldig ein: „Ja und was soll ich sagen? Ich hatte schwarze Haare!“ „Du Knallkopf hattest eine Perücke!“ „Sah trotzdem dämlich aus.“ „Mein ganzes Team macht sich lustig über mich wegen diesem Scheiß!!“ „Das tut es doch ohnehin, mit oder ohne gefärbte Haare.“ „Talaa!!!!“ Dieser lächelte belustigt. Er war sehr erleichtert, dass es Kai wieder soweit gut ging, dass er sich so aufregen konnte. Zwischenzeitlich hatte Tala wirklich Sorgen um seinen besten Freund gehabt. Denn Kai konnte sich nicht mehr an die Zeit zwischen dem Moment, in dem Tala ihn von dem Typen losgeeist hatte und dem Augenblick erinnern, als er aufgewacht war. Das alles war von einem schwarzen Loch verschlungen worden. Er hatte Kai gefragt, doch alles, was da war, war ein gewaltiger Erinnerungskrater durch die K.O. - Tropfen. Verfluchtes Teufelszeug! Vielleicht sollte Krowawaia Boina in Erwägung ziehen, dieses Mittel irgendwie vom Markt zu schaffen? Doch diese Vorstellung war utopisch. Als Tala ihm erzählte, was Kai in dem Zustand so alles von sich gegeben hatte, konnte dieser das nicht glauben. „Nein, das hab ich nicht gesagt!!!“ „Doch hast du!“ „Oh Gott!“ „Der hat damit nichts zu tun…“ „TALA!“ „Ja ich weiß, wie ich heiße.“ „Du treibst mich in den Wahnsinn!“ „Zum Glück holt Dickenson uns mit dem Flugzeug ab. Wenn Kai oder Tala noch fahren müssten…“ „Besonders Kai… der hat immer mehr Ähnlichkeit mit der Mumie in der Basilika!“ Die Gruppe lachte. „Ja, ja… lasst mich doch alle in Ruhe!“ Noch immer hatte Kai Kopfschmerzen und ihm war speiübel. Und dann auch noch in einen Flieger setzen! Na Prost Mahlzeit… Kai setzte sich ans Fenster, die blaue Kotztüte auf dem Schoß. „Also, jetzt sag doch mal: Wieso hast du dir deine Haare gefärbt?“, fragte Max zum wiederholten Male. Es ließ die Bladebreakers nicht los, dass Kai so einen Schritt gewagt hatte. „Wenn Mr. D. dich sieht, kriegt er sicher den Schock seines Lebens. Du siehst Hilary von hinten total ähnlich…“ Kai hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich normal zu stylen. Sein Haar hing teils schlaff hinunter, teils stand es in jegliche Himmelsrichtung ab, so wie immer. „Er hat eine Wette mit mir verloren. Fragt mich nicht, worum es da genau ging, weiß ich auch nicht mehr…“, erklärte Tala, denn Kais Nerven waren bis zum Anschlag gereizt. Als sich die anfängliche Unruhe bezüglich Kais neuer Frisur gelegt hatte – es war ja nun wirklich ein ungewohnter Anblick – wandte Kai sich leise auf Russisch flüsternd zu Tala um. „Ich hatte doch eine TK mit, oder?“ „Jaa, die gute alte Tula, Korovin… die wir seinerzeit von Boris gemopst haben… Weißt du das noch? Wie der sich aufgeregt hat…“ Tala lachte. Aber Kai jagte die Erwähnung dieses Namens einen Schauer über den Rücken. Er wollte fragen, ob Tala alles weggepackt hatte, doch der Rothaarige nickte, bevor sein Freund überhaupt den Mund aufmachen konnte, wusste bereits, worauf Kai hinaus wollte. Lange betrachtete der Ältere seinen Freund. Auch an seine Loyalitätsbekundung ihm gegenüber konnte Kai sich nicht mehr erinnern. Schade, wie Tala fand. „Warum hast du sie eigentlich nicht eingesetzt, sag mal?“ „Ich weiß nicht, vielleicht wollte ich kein Aufsehen erregen, vielleicht war ich einfach zu betrunken…“ „Und das von dir…“ Tala lächelte. Seufzend lehnte Kai seinen Kopf an dessen Schulter und schwieg. Das Flugzeug startete. Im großen Lagerraum waren der Van und der Wohnwagen untergekommen. Am Fenster flogen Wolken vorbei, es sah aus, als flögen sie durch Watte. „Hast du mit Babuschka gesprochen?“ „Das letzte Mal, als wir beide uns gestritten hatten.“ „Du wolltest, dass sie dich besucht, nicht wahr?“ Der Rotschopf gab einen unzufriedenen Ton von sich. Er vermisste seine Großmutter. Kai kannte ihn genauso gut wie dieser ihn kannte. Beide erinnerten sich gern an die Zeit zurück, als sie ihre Kindheit bei Anna Ivanow verbracht hatten. Der Gedanke an sie brach jäh Erinnerungen vom Zaun. Sie steckten sich gegenseitig mit Anekdoten an. „Ja und weißt du noch, als meine Oma auf dem Klo festsaß?“, lachte Tala. „Ach ja, ihr hattet auf eurem Hof dieses verrückte Schaf... Das, von dem Kostja damals gejagt worden ist, richtig?“, fragte Kai und musste ebenfalls grinsen. „Genau das!“ Die beiden Freunde brachen in Gelächter aus und in Talas Augenwinkeln bildeten sich Lachtränchen. „Sie… sie ist auf das Plumpsklo auf dem Hof gegangen, als der dumme Schafsbock Freigang hatte. Ehrlich, dieses Schaf war schlimmer als jeder Wachhund!“ „Und dann saß Babuschka im Winter drei Stunden auf der Toilette fest, weil sie den Wassereimer vergessen hatte! Ich find das immer noch zu geil, dass der Angst vor Wasser hatte!“ „Ja, gegen Mistgabeln hat er sich blutend, aber erfolgreich durchgesetzt.“ „Oder gegen Kostja… der ist doch nicht schnell genug auf den Zaun geklettert und dann musste deine Oma das Schaf mit so einer Harke verscheuchen. … Das sah sehr schmerzhaft aus, als das Tier Kostja genau in den Magen gerammt hat…“ Sie schwelgten in ihren Erinnerungen. Die anderen drehten sich manchmal zu ihnen um, doch störten sie die angeregte Unterhaltung lieber nicht. „Hm, aber Kostja… ist nachher erschossen worden“, gab Tala nachdenklich von sich. „Ja… Bei dem Jagdausflug“, bestätigte Kai. „Er war mein bester Freund… vor dir natürlich…“ „Es tut mir leid, Yura…“ Kai hatte ihn mit seinem russischen Kosenamen angesprochen. Er legte eine Hand auf Talas Arm und streichelte ihn kurz. „Ach ja… meine Oma…“, sagte Tala. Es hörte sich sehr melancholisch an. Kai verstummte. „Sie fehlt dir, nicht wahr?“ Tala nickte stumm und sah aus dem Fenster. Er hatte bald Geburtstag. Und Kai eine Idee… „Sagst du mir noch mal, warum die Menschen solche Mordinstrumente entwerfen? Was soll das?“ Ray legte angewidert die Zeitung zur Seite, in dem er soeben einen Artikel verfolgt hatte. Seit einem Tag waren sie wieder in Japan, in ihrem Haus in Kioto. Sie mussten einiges an Lernstoff nachholen. „Weil Menschen schlecht und grausam sind, von Natur aus schon“, erwiderte Kai hinter ihm und begann, Kaffee zu kochen. Eigentlich hatte er gute Laune. Er und Tala hatten Domovoi erreichen können. Und dieser hatte versprochen, Kais Eltern eine Nachricht zu übermitteln. Dass sie sie suchten. So war Kai also im Moment noch guter Dinge und bereit, sich auf die Schule zu konzentrieren. Nur ohne Kaffee ging das nicht. Die Hausaufgabe ihres Literaturlehrers war kein Pappenstiel, zumal sie so lange gefehlt hatten. Er wollte es aber durchziehen. Das Bild, das Domovoi ihm gegeben hatte, hing nun hinter einer Glasscheibe in einem Rahmen an der Wand. Ray war schon sehr erstaunt, den ersten so persönlichen Gegenstand Kais im Zimmer „ungeschützt“ vorzufinden. Sonst räumte der penible Russe alles akribisch aus den Augen der anderen. Anscheinend ließ er sich langsam auf sein Team ein. Vielleicht war das auch eine positive Auswirkung des Kurztrips nach Kroatien. Alles war denkbar. Jetzt jedenfalls musste Kai nur noch seine Hausaufgaben in Literatur erledigen, dann noch ein Telefonat tätigen, womit er dann das passende Geschenk für Tala in einer Woche erhielt, und dann war alles im Lot. Hoffte er. Seit Langem schon hatte er kein so unbeschwertes Gefühl mehr mit sich getragen. Wirklich toll! „Wem gehört eigentlich das ganze Grünzeug hier?“ „Tyson. Er hat sich selbst auf Diät gesetzt. Seit er euch gesehen hat, will er abspecken.“ Kai sah Ray überrascht an. „Dummer Junge. Braucht er doch gar nicht!“ „Und das von dir? Das ist ja schon beinahe ein Kompliment!“, meinte Ray erstaunt. „Komm schon, das siehst du doch ebenso!“ „Aber ich nicht!“ Kai fuhr herum. Dort stand Tyson in der Tür, an einer Selleriestange kauend. Kai schüttelte den Kopf. „Ihr seid so trainiert... Ich habe zum ersten Mal gesehen, warum du die Legitimation besitzt, uns herumzuscheuchen, obwohl wir dich kaum was machen sehen. Jetzt weiß ich warum: Du brauchst das nicht.“ „Tyson, ich bin nicht privilegierter als ihr. Ich bin euer Teamleader aufgrund meiner Erfahrung und meines Verantwortungsbewusstseins, wegen meines Wissens und…“ „Danke, Kai, ich glaube wir haben jetzt verstanden, warum du über uns herrschst…“, unterbrach ihn Ray grinsend. „Na das hoffe ich doch. Und jetzt seht zu, dass ihr arbeitet, damit wir uns nächste Woche endlich mal wieder dem Training widmen können.“ Kai schnappte sich einen Apfel, seine Kaffeekanne und verschwand auf seinem Zimmer. Sie hatten nämlich eine Trainingspause angesetzt, um ihren schulischen Rückstand aufzuholen. Deshalb also ging nun jeder seinen Aufgaben nach. Und jeder erledigte sie auf seine eigene Weise mit viel Gewissenhaftigkeit. Nach diesem Wochenende, an dem sie vom Urlaub zurückgekehrt waren, erkämpfte sich der lange erfolgreich verdrängte Schulalltag die Vormachtstellung im Hause „Bladebreakers“. Was durchaus außergewöhnlich war, denn normalerweise drehte sich in der WG im wahrsten Sinne des Wortes alles nur um Beyblade. „Max! Hast du mein Vokabelheft gesehen? Wir haben doch gelernt?!“ „Nein, Ray, bei mir im Zimmer liegt es nicht. Frag mal Kenny!“ Es herrschte pures Chaos. Natürlich hatten die Jungs ihre Taschen nicht gepackt und alles auf die letzte Minute verschoben. Dass sie eine halbe Stunde später dennoch pünktlich im Unterricht saßen, grenzte beinahe an ein Wunder. „So… Da ich euch als Vorübung für das Theaterprojekt gebeten hatte, eine kleine Vorstellungsrunde über eine von euch erfundene, fiktive Person vorzunehmen, hoffe ich, ihr seid vorbereitet. Na dann lasst mal hören!“ Herr Watase schien gespannt. Er war ein Forderer, aber auch ein Förderer und er liebte es, Talente zu entdecken. Kai meldete sich freiwillig. Er hatte die Nase voll davon, von den Lehrern aufgerufen zu werden, in dem Glauben, sie täten ihm etwas Gutes, stellten ihn dabei aber unbeabsichtigt vor der Klasse so hin, als sei er unzuverlässig und mache seine Hausaufgaben nie. Und in der Schule galt das ungeschriebene Gesetz oftmals: Angriff ist die beste Verteidigung! Je nachdem, wie man das auslegen wollte. „Ah! Ja, Kai, dann trag mal vor!“ Der Silberhaarige erhob sich. Im Bewusstsein, dass er mit Sicherheit wieder ein Mal provozieren würde, las er vor: „Hallo, ich heiße Kaine. Für viele sieht mein Leben prächtig und funkelnd aus. Ich aber weiß es besser. Nicht einmal meine Freunde wissen, was ich meine. Mir geht es gut, im Moment zumindest. Wer weiß, wie das morgen schon wieder aussieht? Meistens wache ich morgens mit dem abgesuckten Gefühl auf, dass ein weiterer Tag vorbeigehen wird, ohne dass ich das erreicht habe, was ich mir zum Ziel gesetzt habe. Lange Zeit habe ich gedacht, ich schreite durch eine Nacht ohne Morgen, durch einen langen Tunnel, an dessen Ende kein Licht warm und hell erstrahlt. Denn ich bin alleine. Ich bin nicht liiert, was mir andererseits aber auch einiges an Zeit und Ärger erspart. Obwohl ich an jedem Finger ein Mädchen haben könnte, das wäre kein Problem für mich. Klingt das eingebildet? Wie auch immer. Zum Glück habe ich meinen Bruder. Der hört sich immer meine Sorgen an. Ihm erzähle ich alles. Er weiß alles von mir. Und er ist es, der mich trösten muss. Der mich immer wieder aufpäppelt. Und was gebe ich ihm? Viele sagen von mir, dass ich ein arrogantes, eingebildetes Arschloch bin. Da haben sie Recht. Ich weiß es ja selbst. Es ist meine…“ Kai hielt inne. Er schluckte. Gestern, als er den Aufsatz geschrieben hatte, war es ihm viel leichter gefallen, das Wort auf Papier zu bringen. Er legte sein Heft auf den Tisch. Er konnte es nicht aussprechen. Noch nicht. Kai starrte die Buchstaben aus blauer Tinte an. Sie entsprachen nicht mehr dem, was er gedacht hatte, das sie mitteilen könnten. Er entschloss sich, zu improvisieren und sah zum Lehrer auf, dann ließ er seinen Blick durch das Klassenzimmer schweifen, bis er sich am Anblick der rauschenden Blätter der Bäume verfing. „Hier endet seine Geschichte. Kaines Maske bröckelt. Er will sich weiter verstecken. Davor, wieder verletzt zu werden. Schnell wird jemand verurteilt, der nicht regelkonform handelt. Doch was dahinter steckt, wird oft übersehen. Kaine… würde gerne die Zeit zurückdrehen und dahin zurückkehren, als seine Welt noch in Ordnung war. Aber er kann und will die Liebe nicht erzwingen, die er sich wünscht. Ihm ist es lieber, wenn ihn alle hassen. Mit Hass kann er mittlerweile besser umgehen. Daran hat er sich gewöhnt. Denn er hat Angst, die zu verletzen, die ihn mögen.“ Kai machte erneut eine Pause. Seine Mitschüler starrten ihn gebannt an. Gänsehaut kroch ihrer aller Rücken hinunter. Kai strich sein Heft glatt und klappte es anschließend zu. „Seine letzten Worte würden folgende sein: ‚Ich empfehle niemanden, mich zu mögen. Ich werde es nicht erwidern. Doch wenn es jemanden gibt, der so für mich empfindet, dem möchte ich von Herzen danken. Und so wird dies meine Abschiedsrede sein, ehe ich in jenes Reich abtauche, in das seinerzeit die mir wichtigsten Personen gegangen sind. So lebt wohl und vergesst mich, ich bin es nicht wert, dass sich an mich erinnert wird.’“ Nachdem Kai geendet hatte, setzte er sich wieder hin. Nur zaghaft klopften seine Mitschüler auf die Tische. Sie wirkten irritiert. Selbst Kai schien nicht zufrieden mit sich, er hatte den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht, den er immer hatte, wenn ein Move einfach nicht funktionieren wollte. Das war Ray aufgefallen. Der Schwarzhaarige wollte sich gerade bemerkbar machen, da sah Kai ihn direkt an. Ein paar Sekunden verstrichen. Erst dachte Ray, Kai würde ihn anlächeln, aber das tat er nicht. Stattdessen lächelte Ray und nickte ihm aufmunternd zu. Es war okay. „Nun mal ganz ruhig – Langsam, was… Ich… Hey, beruhige di-“ Kai strich sich über das Gesicht. „Yura… Yura, hey – ROT SAKROI verdammt noch mal!“ Er stand etwas abseits vom Schulhof, geschützt hinter ein paar Birken. Tala hatte ihn angerufen. Er schien aufgelöst. Nicht, dass er heulte. Aber er redete so schnell auf seiner Muttersprache, dass Kai Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. „Du kannst also Babuschka nicht erreichen. Yura, das wird wohl seine Gründe haben. Glaub mir, mit ihr ist alles in Ordnung.“ „~“Willst du mich verarschen, Kai?! Seitdem wir wieder in Japan sind, versuche ich sie zu erreichen. Sie geht nicht ans Telefon! Oh ich verfluche den Tag, als ich ihr von dem Handykauf abgeraten habe!!“~“ Kai schmunzelte. Er wusste, warum Anna Ivanow nicht zu erreichen war. Aber er konnte es Tala nicht erzählen. Das sollte eine Überraschung sein. „Yura, du vertraust mir doch, oder nicht? Wenn ich dir also sage, dass du dir keine Sorgen machen brauchst, dann tust du das doch auch nicht, oder?“ „~“Was für ein Spiel treibt ihr mit mir?“~“ „Versprichst du es mir?“ „~“… Versprochen.“~“ Kai lächelte. Er versicherte Tala ein weiteres Mal, dass es wirklich keinen Grund gab, sich zu sorgen. Es tat ihm Leid, Tala so in Ungewissheit und Angst zu versetzen. Nachdenklich kehrte er in die Aula zurück, wo der Literaturkurs für eine Aufführung probte. „Ich möchte, dass in diesem Theaterstück die ganze Klasse involviert ist. Jeder soll eine Aufgabe übernehmen. Ob nun Souffleuse, Techniker oder Schauspieler. Jeder muss irgendwas machen. Überlegt euch, was ihr gut könnt, was euch liegt und kommt dann zu mir, um das mit mir abzusprechen!“, erklärte Herr Watase, der auch den Literaturkurs leitete. Nach etwa einer Viertelstunde war jeder Schüler versorgt. So auch Kai. Entgegen seinem Wunsch, sich mit der Technik zu beschäftigen, hatte er ein Los ziehen müssen und dabei leider verloren. So hatte er einen Part mit Raphael erhalten. In Zweier- und Dreierteams sollten sie eine kleine Szene vorbereiten. Kai verzog das Gesicht. Er verfiel wieder in seine alte, mürrische Rolle, denn Theaterspielen wollte er partout nicht, hatte alles daran gesetzt, um in das Black Men Team zu gelangen. Kais Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Dabei hatte er gedacht, so langsam würde es wieder mit ihm bergauf gehen… Jetzt aber wollte Raphael unbedingt die Figur übernehmen, die in dem kurzen Stück sterben sollte. Kai war das nur recht. Sie hatten keine genauen Regieanweisungen bekommen. Durch improvisieren sollten die Schüler aus sich herausgehen und sich mit ihrer Rolle vertraut machen. Jedenfalls hatte Herr Watase sich das so gedacht. Kai sollte neben dem „sterbenden“ Raphael ihm dabei zusehen. Und er sollte sich möglichst so verhalten, als wenn es Wirklichkeit wäre. So lag also Raphael am Boden und „starb“, während Kai mit verschränkten Armen daneben stand und unbeteiligt auf ihn niederblickte. Da schritt Herr Watase ein: „Nein, nein, nein! So geht das nicht! Ihr müsst schon mehr Bewegung in die Sache bringen! Etwas mehr Spannung! Mehr Spiel!“ Die Jungen wiederholten daraufhin die Szene. Raphael legte sich ins Zeug: „Oh nein! Ich bin getroffen!“ Er sank auf die Knie. „Mein Leben ist beendet! Ich sterbe! Bald holt mich der Sensenmann! Oh dieser Schmerz! Ich werde zugrunde gehen! Oh ja“, rief er mit unheilsschwangerer Stimme und fiel um, „Gevatter Tod ist schon nah...“ Kai verdrehte die Augen und unterbrach ihn unwirsch: „Verdammt, jetzt verreck doch endlich, du Spinner!“ „Hu?!“ „Kai! Benimm dich!“, schalt ihn sein Lehrer. „Ach, ist doch wahr! Außerdem sollten wir doch improvisieren, oder nicht?!“ Herr Watase seufzte schwer und kratzte sich am Kopf. Dieser Junge war einfach unberechenbar. Und so schwierig! Kai moserte weiter: „Die Szene ist schlecht. Oder besser gesagt, deine Umsetzung!“ „Ach ja?!“ „Natürlich. Wo bist du denn getroffen worden?“ Raphael deutete auf seine Brust Kai trat an ihn heran und piekte ihm mit dem Zeigefinger auf die Stelle des Herzens. „So. Hier, ja?“ Er schnaubte verächtlich. „Ein Schuss oder Stich ist sofort tödlich! Das weiß doch wohl jeder!“ „Dann zeig uns doch mal, wie das aussieht, wenn du das so genau weißt, Klugscheißer!“, forderte Raphael. „Gut.“ Es folgte ein Rollenwechsel. Raphael stand nun neben ihm und sollte Kai zusehen, wie dieser starb. Tyson war es, der so tat, als würde er Kai erschießen. Er zeigte mit dem Zeigefinger auf seinen Leader, sagte kurz „Peng!“ und das war Kais Stichwort. Er schleuderte sich nach hinten und blieb regungslos liegen. Nichts Großes eben, wie er dachte, eben so, wie er es schon zigmal gesehen hatte. Ein Raunen ging durch die Aula. Kai stand auf und klopfte sich den Staub ab. Dann meinte er: „Je nach Kaliber der Schusswaffe ist der Rückstoß stärker oder schwächer. Das ist gemeinhin bekannt. Auch die Durchschlagskraft einer Kugel hängt davon ab. Niemand stirbt auf die Weise wie Raphael. Das ist eher die Vorstellung eines Hypochonders, der letztendlich dann aber doch nicht stirbt, aber sie müssen ja immer so übertreiben.“ Raphael, dadurch peinlich berührt, knurrte leise: „Und wenn ein Dolch oder Schwert mich durchbohrt hätte?“ „Hättest du dich denn gewehrt?“ „Ja, wahrscheinlich schon!“ „Na gut, dann zeig ich’s dir. Komm schon Raphael, erstech mich! Das ließ dieser sich nicht zweimal sagen. „Mit Vergnügen!“ Kai umfasste seine Hand, wehrte sich gespielt. Dann ließ er ihn zustechen, ging zu Boden. Er krümmte sich noch kurz zusammen, versuchte die imaginäre Blutung zu stillen, indem er die Hand darauf legte. Aber er ließ seine Bewegungen verlangsamen, bis er sich schließlich nicht mehr regte. „Mehr ist da nicht. Der Tod ist nichts großartiges, langwieriges, wie es in vielen, besonders Action-Filmen weisgemacht wird!!“ ~*~*~+~*~*~ Vokabeln Rot sakroi – Halt den Mund Sagt mal… hat sich mein Schreibstil irgendwie verändert? Wenn ja, positiv oder eher negativ? Das interessiert mich nämlich, weil ich schon so lange nicht mehr hieran gearbeitet habe und ich ja eigentlich auch dazu gelernt haben müsste, von daher… (Mir gefallen nämlich auch einige frühere Formulierungen nicht mehr, ich glaube, ich werde das alles noch mal überarbeiten^^°°) Kapitel 27: Lin --------------- Ein Mädchen stand auf einer Brücke. Diese war abgesperrt und Streifenwagen sowie Polizisten, jedoch auch Schaulustige standen um den Ort des Geschehens herum. Sie jedoch sah in die reißenden Fluten des Flusses unter ihr hinab. Das Rauschen des Windes und der Wellen klang wie Musik in ihren Ohren. Der Wirt des heruntergekommenen Gasthauses, bei dem sie gearbeitet hatte, stand hinter ihr und redete auf sie ein. Da die Polizisten dachten, er sei ihr Vater, hielten sie die Menge der Schaulustigen hinter der Absperrung zurück. Sie waren zu beschäftigt um zu verstehen, wovon der Mann sprach. Darüber hinaus hielten sie mit Absicht Abstand, denn ein Familienangehöriger würde wohl mehr Glück dabei haben, das Kind zurückzuholen, als ein Fremder. „Max… für dich extra auch in einer Sprache, in der du das verstehst: I won’t give a fuck on that!“ „Wow Tyson, sorry, Mann! Nur weil ich dir sage, dass du nicht zu dick bist – das ist doch kein Grund, sich so aufzuregen!“ „Hört doch auf, mir da reinreden zu wollen, es geht doch gar nicht darum, ob ich so schlank wie Kai bin oder nicht!!“ „Ach nein? Und warum imitierst du dann Kai auch schon in der Ausdrucksweise? So wie du Max grad angefahren hast, hätte man meinen können, das käme von Kai!“, mischte sich jetzt auch Ray ein. Der Teamleader selbst seufzte schwer und hielt sich aus dem Zank heraus. Bereits zwei Wochen waren seit ihrem Kurztrip nach Kroatien vergangen. Und abgesehen von ihrem Auftrag hatte Kai sich im Stillen auch davon versprochen, damit etwas für das Team zu tun. Seine Jungs sollten trainieren und sich näher kommen, damit sie sich besser aufeinander verlassen konnten. Er hatte gedacht, das würde funktionieren. Aber er hatte, so wie es ihm mittlerweile schien, alles nur noch schlimmer gemacht und eher das Gegenteil bewirkt. Tyson hatte eine Diät nicht nötig. Kai würde ihm das aber auch nicht ausreden, denn ein wenig Obst und Gemüse würden dem jungen Japaner nicht schaden. Die Gruppe befand sich gerade auf dem Heimweg von der Theater-AG, deren Bühnenstück langsam Formen annahm. Es dämmerte bereits und Kai wollte schnellstmöglich ins Haus zurückkehren. Auf seinem Schreibtisch wartete noch eine Menge Arbeit, darunter auch ein zehnseitiger Essay über die Verwendbarkeit einfachster Hilfsmittel im Training für optimale Balance zwischen Geschwindigkeit und Kraftaufwand. Den wollte er lesen, um das Training für die nächsten Tage zu konzipieren. Er verlangsamte seinen Schritt jedoch, denn der Menschenauflauf, den er an der Meiji-Brücke ausmachte, war ihm nicht geheuer. Auch sein Team blickte erstaunt auf und unterbrach den Streit. Verwundert gesellten sie sich zu der Menge und versuchten einen Blick auf den Grund dieses Staus zu erhaschen. „Das machst du doch eh nicht!“ Lin indes fasste nach dem Geländer und kletterte auf die breite Stahlplatte hinauf. „Glaubst du das wirklich, Otosan?“ „Ja Shary, denn du hast nicht den Mut dazu. Du bist feige. Aber wenn du meinst, dass du springen kannst, dann zeig es mir. Tu es!“ Das kleine Mädchen hatte deutliche Spuren von Tränen im Gesicht, jedoch weinte es nicht mehr. „Na los, mach doch, wenn du dich traust!“, stachelte Yoshio Taniguchi sie weiter an. Er war der Wirt, bei dem sie arbeiten musste. Und er entsprach bei Weitem nicht dem, was man anhand seines Namens von ihm erwarten würde. Die jungen Blader hatten sich bis zur ersten Linie der Absperrung herangekämpft. Und mit einem Schrecken erkannte Kai das kleine Mädchen, das dort im Begriff war, sich das Leben zu nehmen. „Was ist das? Will das Kind etwa...?“, fragte Tyson entgeistert. „Nun werde ich meinen Eltern folgen!“ Lin lächelte leicht. Dann ließ sie sich nach hinten fallen. Entsetzt hastete Kai unter der Absperrung durch. Doch ein Polizist hielt ihn auf. „Du kannst hier nicht durch, hier-“ „LIN!!!“ Kai riss sich von dem Beamten los, sprang über das Brückengeländer und stürzte hinterher. Fassungslos standen Tyson, Max, Ray und Kenny da und starrten ihrem Teamleader nach. Taniguchi trat an das Geländer heran. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Lippen, dass er rasch fortfegte, als er die Hand eines Polizeibeamten auf seiner Schulter spürte, die ihn tröstend wegführen wollte. „Ich konnte ihr nicht helfen, sie wollte unbedingt gehen. Und wenn es ihr Wunsch war, sollten wir sie gehen lassen… Armes Ding“, heuchelte er diesem sein Mitleid. Die Brücke war mittelhoch, unter ihr floss ein recht breiter und tiefer Fluss. Doch an dieser Stelle war die Strömung besonders stark. Kai sah Lin nur wenige Meter unter sich fallen und er sah, wie sie auf der Wasseroberfläche aufprallte, mit dem Rücken zuerst, und dann von den Fluten verschlungen wurde. Er hoffte inständig, dass sie das überlebte, als er selbst die Wasseroberfläche durchbrach. Diese war fast so hart wie Beton. Zu seinem Schutz hatte er seine Arme vor dem Kopf verschränkt. Er ging relativ tief unter. In der Dunkelheit unter Wasser suchte er die Kleine. Hektisch sah er sich um. Er wurde von der Strömung mitgerissen. Da endlich entdeckte er sie. Sie trieb gen Grund. Mit mehreren kräftigen Schwimmzügen erreichte er sie. Er schlang seine Arme um ihren leblosen Körper. Lin schluckte viel Wasser. Kai kämpfte sich mit aller Kraft nach oben durch, das Kind fest im Arm. Es war sehr anstrengend, doch sie mussten die Oberfläche bald erreichen. Endlich hatte er es geschafft. Gierig sog er die Luft ein. Seine Beine wurden langsam taub und das Gewicht des Mädchens drückte ihn oft unter Wasser. Trotzdem versuchte er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, sich und Lin sicher an Land zu bringen. Die Fluten trieben ihn immer weiter ab. Seine Arme fühlten sich an, als würden sie mit Blei gefüllt. Nur noch wenige Meter trennten die beiden vom rettenden Ufer. Der Junge sammelte seine letzten Kraftreserven und erreichte dann endlich den Deich. Er hievte erst Lin hoch, danach sich selbst. Behutsam legte er sie auf dem Gras ab. Er beugte sich über sie, öffnete ihren Mund etwas, hielt ihr die Nase zu und begann mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung. Seine warme Atemluft drang bis in ihre Lunge vor und stieg wieder auf. Das so entstandene Vakuum löste in ihr einen Würgereiz aus. Sie drehte sich zur Seite und spuckte einen riesigen Schwall Wasser aus. Kai klopfte ihr auf den Rücken. Plötzlich riss sie ihre Augen auf und hustete stark. Langsam erhob sie sich und auf allen vieren kniend spie sie weiter, bis sie das gesamte Wasser ausgespuckt hatte. Keuchend blickte sie hoch und starrte Kai an. Wassertropfen perlten von seinen Haaren, er atmete heftig, lächelte sie aber zärtlich an. In ihren Augen bildeten sich Tränen. Dann schmiss sie sich ihm bitterlich weinend in seine Arme. „Ach Lin, meine kleine Lin…“ Sie schluchzte. Kai hielt sie fest. „Nicht böse sein! Es tut mir leid! Bitte nicht böse sein!“ „Vergiss was der Kerl gesagt hat. Es ist feige, sich aus dem Leben stehlen zu wollen, indem man sich selbst umbringt. Wirklich mutig ist, sich seinen Problemen zu stellen und sie zu lösen!“ Beruhigend strich er durch ihr nasses Haar. „Hör zu: Um das Leben wegzuwerfen, ist es doch viel zu wertvoll. Hast du denn an die gedacht, die dich vielleicht lieb haben und dich mögen?“ Lin schüttelte den Kopf. Aber Kai lächelte freundlich. „Das dachte ich mir. Überleg mal: Wenn du gehst, dann bleiben die, die dich echt gern haben, alleine zurück und sind ganz furchtbar traurig.“ Das Mädchen schniefte: „Aber ich habe doch niemanden, der mich mag... Niemand würde mich vermissen...“ „Doch, Lin. Du hast mich. Und ich würde ganz doll traurig sein, wenn dir etwas passiert und ich dich nie wiedersehen könnte. Du darfst dich nicht aufgeben und musst durchhalten. Denn wenn du kämpfst und stark bist, dann kannst du alles schaffen, was du erreichen willst. Schließlich haben deine Eltern sich etwas dabei gedacht, dass sie dir das Leben geschenkt haben. Du bist ihnen wichtig. Das darfst du nicht vergessen.“ Er machte eine kurze Pause und ließ sie seine Worte verarbeiten. Dann fragte er sanft: „Hast du das verstanden?“ Lin nickte und drückte sich ganz fest an Kai. Das Licht der untergehenden Sonne reflektierten sich in seinen Augen und ließen seine Iris geheimnisvoll funkeln wie rote Rubine, als Kai sagte: „Ich werde dich mitnehmen! Ab jetzt passe ich auf dich auf!“ Lins Augen wurden groß. Kai fügte hinzu: „Du musst nicht mehr ins Lokal und arbeiten. Du wohnst jetzt bei mir. Ich werde auf dich aufpassen, jetzt und immer.“ Vor lauter Glück begann sie wieder zu weinen. Kai drückte sie, dann nahm er sie auf den Arm und ging mit ihr zusammen den Deich hoch. Oben wurden sie bereits von einem Krankenwagen und seinem Team empfangen. „Mein Gott, ich dachte du stirbst!!“, rief Tyson und lief Kai entgegen. Alle hatten der wagemutigen Rettungsaktion beigewohnt und den Kampf der beiden im Fluss mit angesehen. Sanitäter eilten herbei und schlangen Decken um Kai und den vor Kälte zitternden Körper Lins. Der anwesende Notarzt schickte sie in den Rettungswagen zur Untersuchung. Doch Kai ließ sich nicht anfassen. Er übergab Lin den Sanitätern, denn er wollte nur, dass es ihr gut ging, selbst blieb er draußen. Wie durch ein Wunder hatten beide keine größeren Verletzungen davon getragen. „Kai!!“ Der Silberhaarige fand sich urplötzlich in einer innigen Umarmung wieder. Das war ihm etwas unangenehm, denn es war nicht eine einzelne Person, sondern gleich mehrere. Kenny, Max und Tyson drängten sich um ihren Leader, wollten ihn nicht loslassen. Ray hielt sich im Hintergrund. Mit sorgenvollem Blick betrachtete der Chinese Kai und seufzte erleichtert. „Hey! Lasst mich mal los, was sollen die Leute denken! Max! Tyson! Chef!!!“ Kai drückte sie schließlich von sich, rieb sich die Arme. Er fröstelte. Aber nicht wegen der Kälte sondern auf Grund des Körperkontakts. „Ich bin doch ganz nass!“ „Das ist uns egal! Kai… Das war so mutig von dir!“, meinte Max und seine blauen Augen strahlten ihn ehrfürchtig an. „Und so bescheuert. Du … du hättest…“, begann Ray und trat heran. Seine Stimme zitterte leicht. „Wollen Sie mitfahren?“, unterbrach ein Sanitäter den Schwarzhaarigen und Kai nickte. Er stieg in den Krankenwagen und setzte sich neben Lin auf die Bahre. Da sie noch immer schwer atmete, war sie an ein Sauerstoffgerät angeschlossen worden. Anscheinend war alles gut gegangen. Man hatte ihren Rücken untersucht, doch der Aufprall hatte wohl keinen größeren Schaden verursacht. Kai stupste sie leicht an. Lin schloss die Augen und lehnte sich an seine Seite. Seufzend legte Kai einen Arm um ihre Schultern und hielt sie fest. Sie war eingeschlafen. So wurden beide nach Hause gefahren. „So, da wären wir. Falls irgendwelche Beschwerden auftreten sollten, melden Sie sich bitte umgehend bei Ihrem Hausarzt.“ Kai bedankte sich und weckte Lin auf. „Wir sind da. Dein neues Zuhause!“ Er stieg aus dem Wagen, hob das Mädchen auch hinaus und trug sie zum Haus, während er erzählte. „Hier ist es oft durcheinander, unruhig und laut, aber ich denke, du wirst viel Spaß haben. Meine Freunde beißen nicht!“, zwinkerte er. In ihrer Gegenwart verhielt er sich aufgeschlossener, sie wirkte ähnlich auf ihn wie Tala. Zwar kannte er sie bei Weitem nicht so lange und gut wie seinen besten Freund, doch irgendwas war da, was ihn mit ihr verband. Er wusste nur nicht, was es war. Aber es war da. Nach ihrem Besuch in der WG hatte er nichts mehr von ihr gehört. Ein paar Mal noch hatte er sich in ihrer Nähe herumgeschlichen, etwas anderes tun als sie stumm zu beobachten konnte er jedoch nicht. Schon längst hatte er sie aus ihrem Gefängnis holen wollen. Denn seit ihrer ersten Begegnung spukten die Worte seiner Mutter wie ein Echo in seinem Kopf herum. Es gab einmal eine Zeit, in der Hilfsbereitschaft noch etwas wert war. Und ich finde immer noch, dass sie etwas wert ist. Allein aus diesem Grund schon musste er helfen. Und – vielleicht bildete er es sich ein, doch sie erinnerte ihn an seine Mutter. Besonders wenn sie lächelte. Sie waren fast bei der Haustür angelangt, da spürte Kai die Anwesendheit einer Person hinter sich. Yoshio Taniguchi hatte sie bis in den Vorgarten verfolgt. Und er war wütend, sehr wütend sogar. „Ich lasse dich nicht gehen, Shary!“, brüllte er. „Es wäre mir ja egal gewesen, wenn du im Wasser verreckt wärst, doch dass du jetzt hier wohnen sollst, das lasse ich nicht zu! Du bist nicht das Aschenputtel, das zur Prinzessin wird, nur weil so ein dahergelaufener Bursche den Prinzen mimt!! “ Kai setzte das Mädchen ab und würdigte den Wirt keines Blickes. Lin fasste ängstlich nach seiner Hand und schaute zu ihm auf. Doch Kais Ignoranz schürte nur Taniguchis Zorn. Er zog seinen kleinen Revolver aus seiner Hosentasche. „Bleib stehen, Hurensohn! DU nimmst sie mir nicht weg!“ Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, feuerte er einen Schuss Richtung Tür ab, haarscharf an Kais Kopf vorbei. Kai drehte sich nun um. „Willst du sie umbringen?“ Die Waffe drohend erhoben, trat Taniguchi auf sie zu. Als Antwort auf die Frage packte er Lin, zog sie zu sich und hielt ihr den Revolver an die Schläfe. Kais Mundwinkel zuckten, er hatte plötzlich Angst, fürchterliche Angst um Lin. Mittlerweile war jedoch das Team ebenfalls angekommen. Verdutzt blieben Kais Freunde stehen. Und Taniguchi war förmlich eingekesselt. Abwechselnd richtete er seine Waffe auf Lin und Kai. Letzterer ging langsam auf ihn zu. „KEINEN SCHRITT NÄHER!! ICH BRING EUCH ALLE UM!!“ Er schoss zweimal in die Luft. Das Weiß seiner Augen trat unnatürlich hervor und er blickte wie irr umher. „Weg da!“, herrschte er dann Ray an, der ihm im Weg stand. Doch weder Ray, noch die anderen drei dachten daran. Sie rührten sich nicht. „Das Mädchen ist nicht Ihr Eigentum, Sie können nicht einfach so mit ihr machen, was Sie wollen!“, erklärte Ray und etwas Entschlossenes trat in seinen Blick. „WAS sagst du da? AUS DEM WEG!!“ Taniguchis Hand bebte vor Zorn, er zog den Abzug an. Der Schwarzhaarige aber hielt an seinem Standpunkt fest. „Nein.“ „RUNTER!!!“, schrie Kai und keine Sekunde später flogen zwei Kugeln nur knapp über ihre Köpfe hinweg. Kai hatte an der Haltung und der Art, wie Taniguchi den Revolver hielt, ganz genau gewusst, was er tun würde. Das war extrem knapp gewesen. Doch nun stand Yoshio Taniguchi niemand mehr im Weg, sein Fluchtweg war frei. Lin weinte nicht einmal. Kai wollte hinterher. „Keinen Mucks, du Scheißer!“ Kopfschüttelnd bedeutete Lin ihm, dass es hoffnungslos war. Sie hatte sich über die schönen Stunden mit Kai gefreut und natürlich wäre es wunderbar gewesen, hier mit ihm zu wohnen und bei ihm zu bleiben, aber sie fand sich damit ab, dass sie jetzt wieder gehen musste. Brutal wurde das Mädchen von Taniguchi am Kragen gepackt, er hielt ihr die Waffe wieder an den Kopf und schleifte sie hinter sich her. „He, Arschloch!“ „Wie hast du mich genannt?“ Manisch drehte dieser sich um. Da traf ihn ein Stein in den Magen. Er jaulte auf, hielt sich den Bauch und sank auf die Knie. Sterne tanzten vor seinen Augen und er übergab sich auf dem Rasen. „Lin, komm schnell her!“ Das Mädchen rannte los. Kai hatte einen Beetbegrenzungsstein aufgehoben und Taniguchi damit zielgenau getroffen. Doch kurz bevor Lin Kai in die Arme fallen konnte, richtete sich dieser halb wieder auf und kroch auf allen Vieren in ihre Richtung. „Arschloch, ja?“ Er schoss blindlings in ihre Richtung, seine Schmerzen vernebelten ihm die Sicht. Und Lin stand direkt in der Flugbahn! Kai schnappte sich ihren Arm, zog sie zu sich und drehte sich vor ihren Körper. Und das in einem so atemberaubenden Tempo, dass es ausreichte um sie vor der Kugel zu beschützen. Doch dann ging er in die Knie. Er stöhnte leise auf. Eine Kugel steckte in seiner rechten Schulter, hatte sich tief ins Fleisch gebohrt. Aufgehalten wurde die Patrone durch den Knochen seines Schulterblattes. „Na du Pisser? Hast du nun genug?“ Er kam auf Kai zu und richtete die Waffe auf dessen Kopf. „Gib mir die kleine Schlampe, dann verschwinde ich auch von hier!“ „Erstens…“ Kai richtete sich wieder auf, darauf bedacht, Lin weiterhin vor ihm abzuschirmen. Er hatte schon Schlimmeres durchstehen müssen. „Sie ist keine Schlampe. Zweitens bist du irre, total wahnsinnig…“ „DU! Du wagst es..!?“ Der Finger Taniguchis zog sich fester um den Abzug. Kai kümmerte das wenig. „Und drittens…“ Er packte ihn brutal am Arm, trat fast gleichzeitig in dessen Hüfte und drehte den Arm so, dass die Waffe zu Boden fiel. Ein furchtbares und Ekel erregendes Knacken durchbrach die angespannte Stille, die aufgekommen war. Taniguchi schrie vor Schmerzen auf und fasste nach seiner Hand. Kai hatte ihm das Gelenk gebrochen. „Tja, drittens… Ist das hier jetzt wohl meine…“ Er ließ seinen Gegner los und hob die Waffe auf. Mit einem emotionslosen Gesicht drehte Kai sich wieder um. Er nahm die letzten drei Kugeln aus der Trommel und steckte sie in jede dritte Kammer. Dann drehte er die Trommel und ließ sie wieder einrasten. „Was hältst du von einem kleinen Spiel… Eine Runde Russisch Roulette vielleicht?“ Kai hatte den Spieß umgedreht und hielt nun seinerseits Taniguchi den Revolver an die Schläfe. Dieser schluckte hart, gab sich aber gelassen. „Tze, soll ich jetzt Angst haben? Du bist noch ein Kind, was willst du schon ausrichten?! Das bringst du doch eh nicht!“ „Ach nein?“ Kai lächelte grausam. Er zog den Abzug an und… drückte ab. Ein leises Knacken. Die Kammer war leer gewesen. Taniguchis Herz hatte vor Angst einen Aussetzer. „So. Nun ist eine Kugel in der Kammer. Das wirst du ja wohl logischerweise nachvollziehen können. Du bleibst jetzt hier sitzen! Kenny, ruf die Polizei!“ Dann drehte er sich zu Lin um, die sich die Hände auf die Ohren gelegt und die Augen zugekniffen hatte, und sprach ihr gut zu. Schon sah Taniguchi darin eine Chance, da er dachte, Kai würde nur bluffen, und wollte sich auf ihn stürzen. Aber Kai schoss blind hinter sich ein Loch in den Boden, zwei Zentimeter vor den Füßen des Wirts. „Ich habe es doch gesagt! Und jetzt bleib da gefälligst sitzen!“ Als die Polizei kam und den Mann festnahm, übergab Kai auch die Waffe an einen Polizisten. Dickflüssiges, fast schwarzes Blut sickerte durch seine Wunde an der Schulter, doch er nahm es kaum wahr, außer einem fortwährenden Brennen durch die Verletzung. Ray und Kenny wurden kurz vernommen, ihre Aussagen festgehalten. Max erzählte einer jungen Polizistin gerade, wie heldenhaft Kai sie alle gerettet habe und was für ein toller Kerl er doch sei. Ray runzelte die Stirn. Er ging langsam auf seinen Leader zu. „Oh meine arme Tochter! Wie muss sie doch leiden, dass mir solch ein Unrecht angetan wird! Was wird denn jetzt nur aus meiner armen, kleinen Tochter werden?“ Noch auf der Krankenbahre jammerte Taniguchi lauthals unter mehrmaligem Würgen. Wenigstens hatte Kai ihm unsägliche Schmerzen zugefügt. Kai verdrehte genervt die Augen. Wirklich, an diesem Kerl war ein wahnsinnig talentierter Dramatiker verloren gegangen. „Keine Sorge, wir werden uns darum kümmern“, erklärte ihm ein weiterer Polizist, der sich dann, nachdem sie Taniguchi Handschellen angelegt und die Türen des Krankenwagens hinter ihm geschlossen hatten, an die Bladebreakers und somit auch an Lin wandte. „So. Na dann, komm mal mit. Du darfst im Polizeiauto mitfahren, und dann suchen wir dir einen netten Onkel und eine liebe Tante, bei denen du wohnen darfst, ja?“ Lin ging automatisch einen Schritt von dem Polizisten weg. Sie stand wieder neben Kai und suchte den Halt seiner warmen Hand. Diese war zwar blutüberströmt und klebte, dennoch hielt sie sich fest. Sachte schüttelte sie den Kopf, sah zu Kai auf. Und dieser konnte nur mit Mühe seinen Blick von der Heckscheibe des Rettungswagens lösen. Er wollte diesen Mann unbedingt hinter Gittern wissen. Unbewusst projizierte er zusätzlich noch seinen Groll gegen Boris auf diesen Mann, er fühlte sich beinahe in einem Déjà Vue gefangen. „Da muss wohl ein Irrtum vorliegen“, erklärte er schließlich. „Sie ist nicht seine Tochter. Ihr Name ist Lin. Lin Hiwatari und insofern meine kleine Schwester.“ Überrascht hielt Ray in seinem Schritt inne. Was war in bloß in ihn gefahren?! ..-..-..-.. Liebe Leser! Drückt mir die Daumen, ich muss am 17.8. mein Graecum machen. Daher wird wohl erst Anfang September ein neues Kapitel hochgeladen werden. Ihr könnt gespannt sein ;) Ach so, und ne kleine Anmerkung: Yoshio bedeutet „rechtschaffener Mann“. Deswegen entspricht er nicht seiner Namensbedeutung. ;) Kapitel 28: Der Wolkenmann -------------------------- Es war sehr anstrengend gewesen, den Papierkram ordnungsgemäß zu erledigen, so dass Kai nun als Erziehungsberechtigter aufgeführt wurde, vor allem, da er selbst ja noch minderjährig war. Kai hatte Bürokratie schon immer gehasst. Wieso konnten sie nicht akzeptieren, dass er sie von jetzt an als seine Schwester ansehen würde und er bis zu ihrer Volljährigkeit für sie verantwortlich war?! Aber er verstand, dass alles im gesellschaftlichen Miteinander seine Ordnung haben musste. „Es ist wirklich sehr nett von euch, dass ihr mich unterstützt, Leute…“ Vorsichtig ließ er sich im Wohnzimmer in einen Sessel nieder. Dabei vermied er mit Bedacht, sich anzulehnen, sie hatten seine Wunde erst vor ein paar Stunden behandelt und vernäht. Lin dagegen schlief in Kais Bett. Man hatte ihr während seiner OP ebenfalls ein Schlafmittel verabreicht, da sie so erschöpft war. Kais Team verstand nicht, warum ihr Leader sich so für dieses Mädchen engagiert hatte. Sie vermuteten einen tieferen Hintergrund für Kais Motiv. Und eine Frage danach ließ auch nicht lange auf sich warten. „Ist sie wirklich deine Schwester?“ Ruhig legte sich der Blick eines bernsteinfarbenen Augenpaars auf Kai. Dieser musterte Ray gelassen. Hinter seiner Stirn arbeitete es bereits unermüdlich. Er fragte sich, wie seine Teamkameraden nach all dem, was sie gesehen hatten, so ruhig bleiben konnten. Es musste doch völlig grotesk für sie sein, dass Kai mit einer Waffe so selbstverständlich umging. Oder hatten sie es gar nicht bemerkt? Innerlich wappnete er sich für jede Frage und war auf der Hut, was er ihnen sagte. „Nein. Nicht, dass ich wüsste“, gab er Ray schließlich Auskunft. „Sie braucht ein eigenes Zimmer und ein Bett. Wenn du das wirklich wahr machen willst und sie bei dir aufnimmst“, meinte Max. Der Blonde war sich über Kais Absichten noch nicht ganz sicher und es irritierte ihn, dass sich Kai so selbstverständlich des kleinen Mädchens angenommen hatte, obwohl er auch gleichermaßen völlig aus dem Häuschen war und seinen Leader für einen wahren Lebensretter hielt. „Ich kenne sie schon etwas länger. Sie ist mir aufgefallen, als ich nachts nicht schlafen konnte und einen Spaziergang gemacht habe. Der Typ hat ihr einen anderen Namen gegeben und sie wie eine Dienstmagd behandelt. Das war mir damals schon ein Dorn im Auge, denn er ging mit ihr so um wie seinerzeit Boris uns behandelt hat, zumindest, wenn er gute Laune hatte“, knirschte Kai bitter. „Also ist es dir ernst. Sie soll hier wohnen?“ „Das halte ich für das Beste. Immerhin bin ich jetzt ihr Erziehungsberechtigter. Jedoch, wenn ihr dagegen seid – werde ich mich in der Nähe um eine Wohnung bemühen und mit ihr dorthin umziehen. Das soll jetzt keine Drohung sein, aber ich werde sie nicht alleine lassen. Besonders nicht nachdem, was sie heute erleben musste. Sie wollte sich umbringen – mit sieben!“ Nachdenkliches Schweigen erfüllte den Raum. Würde ein Kind ihren Alltag beeinträchtigen? „Sich um sie zu kümmern, ist ein großer Schritt, Kai. Bist du sicher, dass du die Verantwortung für sie übernehmen kannst?“, fragte Ray und klang dabei sehr sachlich. Kai runzelte die Stirn. „Immerhin“, fuhr der Schwarzhaarige fort, „bist du ein ziemlich launischer und unausgeglichener Mensch.“ Rumms – das saß. Kai war baff, dass der Chinese ihm das so frei heraus vor den Kopf stieß. Er hörte Tyson scharf die Luft einziehen. Noch immer lag der geduldige und fast schon unheimlich ruhige Blick Rays auf ihm. „Du bist ein Mysterium, Kai. Mal bist du der besonnene Kapitän des Teams, dann wieder ein aufbrausender Sturkopf und dann wiederum auch sehr zerbrechlich.“ Ray wandte seinen Blick nicht ab, dafür aber Kai. Der Silberhaarige knetete seine Hände, starrte auf den Teppich. Zum ersten Mal, seit er diesem Team beigetreten war, hatte endlich einer den Mut, das auszusprechen, was, wie er vermutete, alle von ihm dachten. „Du willst stark sein. Du bist es auch. Aber kannst du es auch für zwei sein?“, bohrte Ray weiter. Tyson wollte einschreiten: „Ich glaube das reicht je-“ „Danke Ray.“ Verdutzt sah Tyson ihn an. Warum bedankte Kai sich bei ihm, Ray hatte ihn doch nur verunsichert? „Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Es wird bestimmt nicht leicht werden, aber du kennst meine Hartnäckigkeit.“ Für zwei stark sein. Lachhaft. Als ob er das die ganzen Jahre über nicht gewesen war. Gut, Tala war ihm immer mehr Stütze gewesen statt dass er den Rothaarigen hätte beschützen müssen. Da er sich aber geschworen hatte, nicht mehr all seine Probleme auf Tala abzuladen, musste er nun ganz einfach stark für drei sein. Er konnte es schaffen. „Weder werde ich es versäumen, mich um euer Training zu kümmern, noch mich in der Schule hängen lassen, und das alles, obwohl ich mich gleichzeitig um Lins Wohl sorgen werde.“ Kai würde das Training weiterhin so gewissenhaft koordinieren wie bisher. Er wollte es ihnen beweisen. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, welche Lasten er im Laufe seines jungen Lebens bereits auf seinen Schultern getragen hatte. „Gut.“ Ray stand auf, musterte Kai noch einmal mit einem ernsten Blick. Diesmal hielt Kai dem stand. Und plötzlich breitete sich ein warmes Lächeln auf den Lippen des Chinesen aus. ‚Du Dreckskerl!’, dachte Kai nur, als es ihm aufging. Ray hatte ihn prüfen wollen! Und als hätte dieser Kais Gedanken gelesen, erhob er sich leichtfüßig vom Sofa und ging auf ihn zu, grinsend. „Na dann räumen wir wohl mal die Rumpelkammer auf!“, entschied Tyson und krempelte seine Ärmel hoch. „Stimmt, das Zimmer neben unserem, Kai. Da ist allerhand Platz für ein Mädchen, auch wenn sie mal älter wird!“, zwinkerte Ray ihm zu und blieb vor ihm stehen. Kenny und Max sahen sich kurz an und standen dann auf. „Also an die Arbeit, Jungs! Kai, du kommst mit mir, ein Bett aussuchen. Noch haben die Möbelhäuser auf“, meinte der Chef mit einem solchen Nachdruck, den Kai von dem jüngsten und eher unscheinbarsten Mitglied in seinem Team nie erwartet hätte. Sowieso hatte Kai mit soviel Enthusiasmus und Tatendrang nicht gerechnet. Er hätte ohne sich zu beschweren alles alleine gemacht. Und nun… Sein ungläubiger Blick sprach Bände. „Jetzt guck nicht so. Was hast du denn gedacht? Natürlich helfen wir dir. Wir sind schließlich ein Team! Und Freunde…“, erklärte Max, vor Begeisterung strahlend. „Und alleine wirst du es wohl kaum schaffen, eine Matratze hoch zu tragen, mit deiner kaputten Schulter.“ Lächelnd beugte sich Ray vor ihm hinunter und hielt ihm beide Hände zum Aufstehen hin. „D-Danke“, stotterte Kai, noch immer fassungslos über soviel Hilfsbereitschaft. Was ging hier vor, war er im falschen Film? Natürlich wusste er, dass sein Team sehr barmherzig war und einem Mensch in der Not ohne Fragen halfen. Noch immer starrte er Ray an, bis ihm bewusst wurde, dass er kurz davor war, sein Gesicht zu verlieren. Der Chinese half ihm schließlich auf die Beine und klopfte freundschaftlich auf seine unverletzte Schulter. „Ach, aber eins noch.“ Kai hatte es geahnt. Jetzt würden sie wissen wollen, warum er schießen und dabei so unberührt bleiben konnte! „Kannst du bitte aufhören, dich ständig zu verletzen? In zwei Wochen findet ein Turnier statt. Und es wäre schlimm, wenn du nicht antreten könntest“, sagte Ray sanft. „Ja… Ich versuche mein Möglichstes.“ Irritiert sah er seinem Team nach, das sich an der Treppe aufteilte. Tyson, Max und Ray würden sich um das Zimmer kümmern, es putzen und aufräumen, Platz schaffen für ihre neue Mitbewohnerin. Kenny wartete auf ihn. „Kommst du, Kai? Ich habe schon Mr. D. angerufen, er holt uns gleich ab.“ Kai nickte langsam. Er kniff sich selbst in den Arm, um zu überprüfen, ob er wirklich nicht träumte. Das alles erschien ihm so surreal! „Oh Mann… Ist ja eklig…“ Tyson öffnete als erstes die Fenster, um die stickige Luft zu vertreiben. Er war schon mit dem Gesicht in ein Spinnennetz geraten und wischte sich die Fäden aus der Nase und den Augen. Max hielt einen Staubsauger bereit. Mit seinen etwas mehr als 18m² war das Zimmer nichts Besonderes. Ein hässliches Regal aus Metall säumte die linke Wand, auf dem sehr viel Krempel lag, wie Ray mit einem Blick erkannte. Außer einem ordentlichen Großreinemachen hatten sie hier wohl nichts zu tun. „Lasst uns überlegen, ob wir hiervon noch irgendwas gebrauchen können, alles andere werfen wir weg.“ Max stöpselte den Stecker ein und begann zu saugen. Doch der Staub hatte sich tief in die Fasern eingefressen. „Haben wir eigentlich noch diesen Teppichreiniger?“, fragte er Ray. Dieser kniff die Augen zusammen, während er überlegte und das Regal leer fegte. „Ich glaube schon. Aber das können wir erst zum Schluss benutzen. Vorher muss alles raus hier“, bestimmte der Chinese schließlich und hustete, weil er viel Staub aufwirbelte. Tyson stieg währenddessen über den Staubsauger hinweg und ging in die Küche, um ein Glas und ein Blatt Papier zu holen. Er hatte in der Ecke eine dicke, schwarze, langbeinige Spinne entdeckt. Die wollte er lieber im Garten aussetzen als sie zu töten. „Wir sollten etwas leiser sein, damit die Kleine nicht aufwacht“, meinte Max. Der Blonde nahm die alten Gardinen ab und beugte sich aus dem Fenster, um sie auszuklopfen und anschließend in ihre Wäschetonne zu stopfen. Ray nickte. Er hatte alle Gegenstände vom Regal geräumt und schob den Haufen in die Mitte des Zimmers. Dann begann er, das metallene Regal auseinander zu schrauben, denn hier hatte es nichts mehr zu suchen. Vielleicht könnten sie es ja noch für den Garten gebrauchen. „Es war schon irgendwie unheimlich, oder?“ „Was meinst du, Max?“ „Kai! Wie er das gemacht hat – er war total cool, jeder andere hätte doch vor Angst das gemacht, was dieser Mann wollte!“ „Hm…“ Max konnte Rays Gesicht nicht sehen, die langen Ponyfransen des Schwarzhaarigen verdeckten seine Augen. Als dieser keine Anstalten machte, zu antworten, redete der Amerikaner weiter. „Und er hat sich für das Mädchen fast geopfert! Und wie er dann die Waffe in der Hand hielt, das sah aus wie im Film!!“ „Er ist ein großes Risiko eingegangen, Max!“ Ray erhob die Stimme. In seinem Kopf tobten noch die Bilder. Starr vor Schreck hatte er nur neben ihrer Gartenhecke liegen können, nachdem Kai ihnen zugebrüllt hatte, sie sollten in Deckung gehen. Von dort aus hatte er beobachtet, wie der Kampf zwischen dem Fremden und Kai weiter gegangen war. Ray war längst nicht so lässig und entspannt, wie er es eben im Wohnzimmer vorgegeben hatte. Seine Finger zitterten und er ballte sie zu Fäusten. „Ich hatte Angst um ihn! Da war überhaupt nichts Cooles dran! Und er – er geht damit um, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht! So… so alltäglich! Und ich habe seinen Blick gesehen, als er dem Mann den Arm gebrochen hat. Kalt. Total teilnahmslos!“ „Vielleicht ist er wirklich damit vertraut.“ Überrascht fuhren Ray und Max herum und erkannten Tyson, der die Spinne nach draußen gebracht hatte. Der junge Weltmeister hob den Zeigefinger. „Erinnert ihr euch noch an unsere erste WM? Da hatten sie alle – jeder von den Demolition Boys – Starter, die aussahen wie Waffen. Mr. D. war doch damals so sauer, als er das gesehen hatte. Weil sie alle Teilnehmer damit eingeschüchtert hatten. Vielleicht…“ „Du kannst doch einen Starter nicht mit einer echten Pistole vergleichen!“, rief Ray und tippte sich an die Stirn. „Shhh, Jungs, denkt doch an das Mädchen! Lasst sie schlafen!“ Sie verstummten. Tyson sah auf den Flur hinaus. Es blieb ruhig. Also half er Max, den Teppichreiniger auf dem Boden zu verteilen, während Ray die gestapelten unnützen Dinge in einem Sack sammelte, um sie gleich nach draußen in den Müll zu bringen. „Wir sollten sie endlich bei ihrem Namen nennen. Sie ist von jetzt an ein Teil von uns“, meinte er ruhig und schrubbte mit einer Bürste die Flecken aus den Teppichfasern. „Lin Hiwatari…“, murmelte Max. „Das ist zu groß, Kenny. Für ein so kleines Mädchen reicht ein zwei Meter mal neunzig Bett!“ Kai seufzte. Er hatte keine Ahnung, wie das Zimmer ausgemessen war. Aber Kenny erstaunte ihn immer wieder aufs Neue. Vorhin hatte er einfach Dizzy hochgefahren, die eine genaue Raumaufteilung ihres Hauses in ihren Daten gespeichert hatte, maßstabsgetreu. Kai wollte gar nicht wissen, was sonst noch auf der Festplatte des Chefs versteckt war. So wussten sie wenigstens, wie groß die Möbelstücke sein durften. Denn Kenny hatte Kai gerade von einem Großeinkauf überzeugt. Lin musste zur Schule gehen, also brauchte sie neben dem Bett einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Schrank für ihre Kleider. Und vielleicht noch das ein oder andere Regal. Seufzend ließ Kai sich auf ein Jugendbett nieder. Er hätte nie gedacht, dass es so lange dauerte, ein Zimmer einzurichten. Mittlerweile hatten sie die Kinderzimmer hinter sich gelassen und befanden sich in der Jugendstilabteilung. „Kenny, hör mal. Können wir nicht einfach schon so ein fertiges Zimmer mitnehmen?“ Er deutete einmal rund um sich selbst. „Das ist gar keine so schlechte Idee. Du musst dir nur eines aussuchen und ich gleiche dann mit Dizzy die Daten ab, ob das alles ins Zimmer passt.“ Na endlich! Kai stieß einen Stoßseufzer aus und machte sich nun daran, ein gesamtes Jugendzimmer zu finden, dass seinen Vorstellungen entsprach und hoffentlich auch Lin gefiel, während Kenny sich mit einem Verkäufer unterhielt und abmachte, dass sie sich einen kleinen Sprinter für den Transport der Möbel ausliehen. Der einzige Brillenträger des Teams beobachtete Kai, sah, wie dieser sich wirklich Gedanken um das Zimmer machte und sogar die Betten prüfte. Die Situation war für seinen Geschmack schon etwas skurril… Da winkte Kai ihm aber schon und er schüttelte die lästigen Gedanken ab. Die müden, grünen Augen weiteten sich ungläubig. Das Kind fuhr herum und starrte Kai und die anderen, ihr noch fremden Jungen an. Das konnte nur ein Traum sein. Und wenn dem so war, wollte sie nie mehr aufwachen. „Ich verstehe nicht… Wie… ich…?“ Kai bedachte das stotternde Mädchen mit einem sanften Blick, der den anderen verborgen blieb und legte seine Hände auf ihre Schultern. Dann drehte er sie herum und führte sie ins Zimmer. „Dies ist jetzt dein eigenes Reich. Kenny und ich haben dir was zum anziehen besorgt. Hoffentlich passt es dir.“ Er öffnete den Kleiderschrank und zeigte ihr den Inhalt. Außerdem holte er ein Kleid heraus, das mit einem Rosenmuster bestickt war und rosa eingefärbt. „Und.. und wenn dir das hier gefällt, dann kannst du das zu deiner Einschulung tragen. Du wirst nämlich zur Schule gehen. Gleich morgen werde ich dich anmelden.“ Lin sah sich um. Von nun an würde sie hier leben. Hier bei Kai. In diesem großen Zimmer. Diesem wunderschönen Zimmer! Es wirkte noch etwas kahl und unpersönlich, doch das war Lin egal. Dicke Krokodilstränen flossen über ihre Wangen. Sie wischte sie sich schluchzend weg, konnte damit den Tränenstrom aber nicht stoppen. Dann rannte sie los und umarmte Kai, drückte ihr Gesicht fest an seinen Bauch, versteckte sich so vor allen Blicken. Etwas hilflos sah Kai auf zu seinem Team, bevor er Lin etwas unbeholfen den Kopf tätschelte. Er legte das Kleid beiseite, nahm ihr Gesicht in die Hände und strich die Tränen fort. Dann hob er sie hoch und setzte sie auf dem Bett ab. Sie trug noch immer ein weites T-Shirt von ihm als Nachthemd. „Schlaf jetzt etwas, in Ordnung? Wenn etwas ist – Ich bin direkt ein Zimmer neben deinem. Ray schläft auch dort. Das ist der mit den schwarzen Haaren.“ Lin nickte und schniefte. Kai stellte sein Team einen nach dem anderen vor. Danach kam jeder zu ihr, wechselte ein paar Worte und wünschte ihr eine gute Nacht. Zum Schluss blieb Kai übrig. „Kai… warum.. warum machst du das alles für mich? Warum bist du so lieb zu mir?“ „Du hast mich daran erinnert, was meine Mutter mir früher mit auf den Weg gegeben hat. Und außerdem: ich hab dich gern.“ Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das hatte, soweit sie sich erinnern konnte, noch niemand zu ihr gesagt. Kai strich ihr durchs Haar und deckte sie zu. Er drückte ihr einen Plüschtiger von etwa 50cm Länge in den Arm, den er, als er ihn gesehen hatte, einfach hatte kaufen müssen. „Спокойной ночи, мой маленький ангел.“ Ein letztes Mal lächelte er ihr zu, bevor er das Licht löschte und aus dem Zimmer ging. Doch kurz vor dem Schließen der Tür hörte er ein leises „Spasiba, ti to4e“ von ihr. Er stutzte, lugte noch einmal ins Zimmer. Lin hatte die Decke bis zur Nase hochgezogen, das Stofftier fest an sich gepresst. Sie schien langsam einzuschlafen. Nachdenklich ließ er die Tür still ins Schloss fallen. Vokabeln Спокойной ночи, мой маленький ангел. (Spokojnoj no4i, moj malenkij angel) – Gute Nacht, mein kleiner Engel. Spasiba, ti to4e – Danke, du auch Alles, was ihr zu bemängeln habt, wird schnellstmöglich verbessert! ;) Kapitel 29: Die Ereignisse überschlagen sich: ein unerwarteter Rückfall ----------------------------------------------------------------------- So langsam kam der Sommer in die Stadt. Die Sonne ließ sich viel öfter und länger blicken und erwärmte die Erde mit ihren hellen Strahlen. Wie auch an diesem Abend. Tala hatte Kai begleitet, um Lin an der örtlichen Grundschule anzumelden. Man hatte erst am späten Abend Zeit für Kai gefunden, da es sich nicht früher einrichten ließ. Nun war alles geklärt und Lin würde schon in der nächsten Woche am Unterricht teilnehmen dürfen. Kai hoffte, dass sie sich schnell einleben konnte und gut mitkam. Immerhin konnte sie schon schreiben und rechnen, das hatte sie zwangsläufig bei ihrer Tätigkeit in der Kneipe gelernt. Und er wünschte sich für sie, dass sie diese Zeit vergessen und nun eine fröhliche, glückliche Kindheit leben konnte, was ihm selbst verwehrt geblieben war. „So. Du hast also nun Familienzuwachs bekommen?“, fragte Tala und schob dabei seine Hände tief in die Hosentaschen. Gemeinsam schlenderten sie den Schulflur entlang. „Sie kann russisch.“ Der Rothaarige warf ihm einen seltsamen Seitenblick zu. „Oh wunderbar. Sie kann russisch, dann muss sie ja zu dir gehören!“, meinte er sarkastisch und verdrehte die Augen. „Tala, du hast sie doch kennen gelernt!“ „Ein Grund mehr, sie bei dir einziehen zu lassen.“ Kai blieb stehen und sah ihn an. Tala ging unberührt weiter. Er stapfte regelrecht, schien seiner Wut, die Kai unbegreiflich war, durch festes, rasches Aufstampfen Abhilfe zu schaffen. „Kann es sein, dass du eifersüchtig bist?“ Nun stoppte der Ältere der beiden Freunde doch und fuhr herum. „Hörst du mir eigentlich zu? Du kümmerst dich lieber um wildfremde, streunende, herrenlose Kinder, als dass du dir mal Gedanken darüber machst, was mit Babuschka geschehen sein könnte!“ „Tala, ich…“ „Still, Kai, ich will es nicht hören. Sie könnte tot sein und ich weiß es nicht. Und auf all deine Beteuerungen scheiß ich!“ „Ich habe gestern mit ihr telefoniert.“ „WAS?!“ „Ihr Telefon ist kaputt. Es kann erst in einigen Tagen repariert werden.“ „Und warum ruft sie dich an und nicht mich?“ „Weil du hier nicht im Telefonbuch stehst. Sie hat sich von einer Telefonzelle aus gemeldet. Und im Telefonbuch steht die Adresse der Bladebreakers, aber nicht deine.“ „Wieso sagst du mir das nicht?!“ „Du lässt mich ja nicht ausreden…“ Kai ging auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht zärtlich in die Hände und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. „Es ist schlimm mit dir. Du regst dich auf, dass ich dir das nicht erzählt habe – aber wenn ich es doch getan hätte, dann hättest du gemeckert, warum ich das nicht schon viel früher gesagt habe.“ Lächelnd tätschelte er Tala die Wange. Er sah in seinem Blick, dass sich in den blauen Opalen die Erleichterung über die Nachricht widerspiegelte. „Tut mir leid…“ Plötzlich flackerte das Licht stark und erlosch. Überrascht sahen beide Freunde auf. Da hallte ein unverständlicher Ruf über den nun schlecht erleuchteten Flur. Es war eindeutig eine Männerstimme, auf die prompt eine weitere antwortete. Instinktiv drehten sie sich mit dem Rücken zueinander, um dem jeweils anderen den Rücken freizuhalten. Kais Nackenhaare stellten sich auf. Er spürte Gefahr. Tala fühlte einen kühlen Lufthauch, wollte sich ducken, doch es war zu spät. Die Wucht des Schlages riss ihn von den Füßen. Überrumpelt taumelte er zur Seite, die Wand hielt ihn auf. „Tala!“ Kai wurde straff am Kragen gepackt und auf die Knie gezwungen, Sekunden später spürte er einen kalten Lauf an der Schläfe. Krowawaia Boina wusste nicht, wie ihnen geschah. Blut lief über Talas Gesicht, er wurde hochgezerrt und in Richtung der Toiletten geschleift. „Ihr kleinen Schwuchteln… Ich reiß euch eure süßen Russen-Ärsche auf!“, säuselte der sehr stämmige und bullige Mann Tala ins Ohr und schubste ihn auf die Klobrille. „Festmachen!“, befahl er unmissverständlich. Er schnallte dem Rothaarigen eine Handschelle um und kontrollierte, dass Tala sie auch an der anderen Hand stramm einrasten ließ und drückte die Schelle letztlich selbst zu. Tala erkannte den Kerl. Gehörte er nicht zu den Leibwächtern um Masami Kurai? Er war sich sicher, ihn dort schon mal gesehen zu haben. Oder…? Sie hatten doch alle umgebracht! Und woher wusste dieser Typ, wo sie sich aufhielten? Der junge Russe blinzelte. Ein Namensschild. Ivan? „Erst wollte ich euch beide umbringen, aber nun bringe ich ihn um, deinen süßen, kleinen Lover – und du darfst zusehen.“ Talas Augen weiteten sich. Nein! „Ti mudak hujew, Wanja!!!“ Hart und schnell verpasste dieser Ivan ihm mit dem Griff einer Beretta einen kräftigen Hieb gegen seinen Kopf. Tala stöhnte, seine Stirn machte eine zusätzlich schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Toilettendeckel. „Da staunst du, oder? Wir haben nun den Auftrag, uns an Krowawaia Boina zu rächen. Mhm… Ich hätte nicht gedacht, dass die beiden taffen Killer sich gegenseitig die Stange halten…“ Ivan lachte dröhnend auf. Dann bellte er ein lautes „Dawai“ in die Richtung seines Komplizen und überließ den Jugendlichen seinem Schicksal. Also doch. Als Kai damals ihr Geheimnis preisgegeben hatte, musste zumindest dieser Mann noch gelebt haben. Und wenn sie sich an ihnen rächen wollten, bedeutete das wohl, dass ein Familienmitglied Kurais dahinter steckte. Wahrscheinlich ein Sohn… Tala bekam vom vielen Denken starke Kopfschmerzen. Er hörte Kais Schreie, während sein Freund fortgeschleift wurde. Die Rufe nach seinem Namen verstummten, als sie Kai auf den Schulhof geschleppt hatten. Es waren zwei Männer, körperlich vom gleichen Schlag: bullig, kräftig, schwer. Sie würden Kai auf dem Schulhof hinrichten, ungeachtet der Tatsache, dass Kinder die Leiche und den Tatort am nächsten Morgen sehen würden. Davor hatten diese Männer gar keine Skrupel. Panik erfasste Tala. Er war an das Klo gefesselt. Verfluchte Keramikschüssel! Er zog und zerrte an dem Eisen, das ihn hielt. Kai hatte das nicht verdient, besonders nicht jetzt. Lin brauchte ihn. … Er brauchte ihn. Ja, er war sich nicht sicher, ohne Kai leben zu können. Seit jeher stand der Silberhaarige ihm zur Seite, ohne es zu wissen. Immer wieder hatte Kai ihm beteuert, wie viel er ihm bedeutete, wie sehr er ihm half, wie dankbar er war, dass es Tala gab, dass Tala sein bester Freund war, dass sie sich überhaupt kennen gelernt hatten. Doch in Wahrheit brauchte Tala Kai wie keinen zweiten. Sie waren Seelenverwandte, nicht nur wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Tala hatte Kai von Anfang an gemocht und nicht umsonst hatte er sich die Mühe gemacht, sich mit ihm anzufreunden. Kai wusste gar nicht, wie gut er Tala eigentlich tat! Würde einer von ihnen sterben, der andere täte es auch, wie es Talas Großmutter oftmals sagte. Wie sehr er es jetzt bereute, sich vorhin mit ihm gestritten zu haben! Und wie dumm ihm der Grund vorkam! Ja, er war sauer gewesen, dass Kai sich scheinbar keine Gedanken um seine Oma machte. Aber er musste zugeben, ein klein wenig neidisch war er auf das Mädchen schon. Sie könnte ihm den Rang ablaufen, Kai würde sich vielleicht nur noch um sie kümmern und ihn immer öfter versetzen… Lächerlich, Kai war sein Freund, schalt Tala sich selbst in Gedanken. „Er würde mich nie im Stich lassen…“, murmelte er schwerfällig. Verdammt, er musste ihn retten!! Das Eisen seiner Fesseln schnitt sich tief in sein Fleisch, das Blut lief unablässig von seinen Handgelenken. Zwischen Haut und Handschellen befand sich kaum Spielraum. Tala stemmte seine Beine gegen die Fliesen und zerrte laut schreiend am Keramiktopf. Der Wasserkasten ruckte, irgendwann gab das Rohr nach. Eine Wasserfontäne spritzte ihm entgegen, durchnässte ihn von Kopf bis Fuß. Doch seine Gedanken kreisten einzig und allein um seinen besten, wirklich besten Freund. Mit einem letzten wütenden und gleichzeitig verzweifelten Schrei schaffte Tala es schließlich, er riss die gesamte Keramikvorrichtung aus ihrer Verankerung. Da er sich im ersten Stock befand, schleppte er das Klo hinaus auf den Flur. Durch das Fenster konnte er die Angreifer im Hof ausmachen. Kai kniete vor ihnen und blickte sie wild an. Der Schalldämpfer hatte bereits eine dunkle Druckstelle an seiner Stirn hinterlassen. Tala öffnete das Fenster und kletterte auf den Sims. Tief atmete er durch. Dann warf er die abgetrennte Toilette auf Ivan, der Kai mit der Waffe bedrohte, er selbst sprang fast zeitgleich auf den anderen hinunter. Überrascht riss Kai die Augen auf, duckte sich aber rechtzeitig. Ein Schuss löste sich aus der Waffe, als das Keramik auf den menschlichen Schädel traf. Die Kugel trat in die Rinde einer weit entfernt stehenden Buche ein. Tala prallte mit seinem gesamten, durch die Fallbewegung noch vergrößerten Gewicht auf den Körper unter ihm auf. Am Boden rollte er von diesem herunter und spie röchelnd Blut. Kais Henker war sofort tot. Schädelbasisbruch. Kai sprang auf, klatschte Tala ein paar Mal ins Gesicht. Aber der Rothaarige hatte sein Bewusstsein verloren. Da regte sich der andere Kerl. Hektisch entriss er der Leiche die Waffe und erledigte ihn mit zwei Schüssen. Dann durchsuchte er beide Männer nach Identifizierungsmerkmalen. Aber außer der Visitenkarte eines Hotels und zwei falschen Ausweisen – das erkannte er, weil er selbst einen besaß, der aber weitaus besser gefälscht war – konnte er nichts Besonderes finden. Also schnappte er sich Tala, warf ihn über die Schulter und verschwand mit ihm vom Tatort. Später würde er die Polizei verständigen. Jetzt hatte sein Freund für ihn oberste Priorität! „Was haben die sich nur dabei gedacht?!“ Kai murrte gefrustet, während er den Verband um Talas Handgelenke fixierte. „Wer war das überhaupt? Was wollten die von uns? Und wie zur Hölle konnten die uns finden?“ Tala zuckte mit den Schultern. Sofort ächzte er auf. Hoffentlich hatten sie erst einmal Ruhe vor weiteren Rückschlägen. Auch ein Team wie das ihre machte sich Feinde, obwohl oder gerade weil sie Profis waren. „Ich hatte…“, begann er, brach jedoch jäh ab. Er lag auf seinem Bett in Kais Elternhaus und ließ sich in die Kissen sinken. Ihm dröhnte der Schädel. „Ja?“ Kai setzte sich zu ihm aufs Bett, fuhr sanft durch das rote Haar. Doch sein Handy unterbrach sie. „Ich geh kurz ran, okay? Vielleicht ist es mein Team.“ Tala nickte. Sein Freund verließ den Raum. Nach nur ein paar Minuten kehrte er allerdings schon wieder zurück, breit grinsend. Tala hatte sich nun sein Geburtstagsgeschenk redlich verdient, er brauchte seine Babuschka, die ihn bemutterte und umsorgte. Kai schmunzelte beim Gedanken daran. Lange müsste er ja nicht mehr warten. „Was?!“ Tala klang gereizt. „Ach nichts. Also, was wolltest du vorhin sagen?“ Ich hatte Angst um dich. „Nichts.“ Kai lächelte wissend. Er vermutete, dass Tala seinen eigenen Geburtstag in zwei Tagen vergessen hatte. „Leg dich hin, versuch zu schlafen. Ich sehe nachher noch mal nach dir, bevor ich zur WG fahre, in Ordnung?“ ------- Ti mudak hujew, Wanja – Du schwanzlutschendes Arschloch, Wanja Soo... Neues Spiel, neues Glück. ;) Im Großen und Ganzen bin ich zufrieden. Problem für mich sind immer noch die Actionszenen, die sich ohnehin an einen gewissen Film orientieren. Wer ihn kennt, wird es vielleicht entdeckt haben. Ansonsten sind in diesem Kapitel auch Anspielungen versteckt, die gewissen Leser (ne, [[StrichSama_Chris]]? :D ) bestimmt erkennen. Wenn nicht, dann hab ich nen Knick in der Optik. Die Vorschläge, die mir in den letzten Kommentaren gemacht wurden und auch die Hinweise habe ich versucht einzubauen, ebenso habe ich die älteren Kapitel überarbeitet. Wie gesagt, alles, was ihr bemängelt, wird schnellstmöglich verbessert (es sei denn, ich schieb das auf meine künstlerische Freiheit) So, genug gequakt, ihr seid fürs Erste entlassen ;)) Kapitel 30: Überraschung! ------------------------- Das gelbe Taxi hielt vor dem unscheinbaren Haus in einer ruhigen Wohnsiedlung. Der Fahrer stieg aus und half einer alten Dame aus dem Wagen. Außerdem trug er ihr den schweren Koffer bis vor die Tür. Sie gab ihm dafür ein üppiges Trinkgeld, obwohl sie ihren dunkelblauen Trolli selbst hinter sich her zog. Noch einmal sah sie auf den kleinen Zettel in ihrer Hand. Ja, hier war sie richtig. Sie nickte sich selbst zu. Dann drückte sie lange und energisch den Klingelknopf. Keine Minute später stand sie einem sehr quirlig wirkenden, blauhaarigen Japaner gegenüber. „Ja bitte?“, fragte Tyson und musterte die ihm unbekannte Frau. Sein Blick fiel auf ihr Gepäck und ihm stand ein deutliches Fragezeichen im Gesicht. Die Besucherin schmunzelte. „Guten Abend. Wohnt hier ein gewisser Kai Hiwatari?“ Natürlich konnte sie japanisch. Wenn auch nicht ohne Akzent, aber sie war zu verstehen. „Tyson? Wer ist da?“, hörte sie von weitem eine weitere Jungenstimme rufen. Kurz darauf steckte ein Blondschopf die Nase zur Tür heraus. „Ähm… Sie fragt nach Kai.“ „Oh, äh… Warum hast du sie noch nicht reingebeten?!“, tadelte Max seinen besten Freund und trat beiseite. „Kommen Sie herein. Ich such mal nach Kai!“, bot der Amerikaner sich an und bedeutete Tyson, die Koffer in den Flur zu tragen. „Kai ist in seinem Zimmer und schläft.“ Max zuckte zusammen, als Ray unvermittelt auftauchte. Niemand hatte ihn kommen hören. ~Wirklich, ein sonderbarer Haufen~, dachte Anna Ivanow und schmunzelte weiterhin, als sie der Einladung nachkam und Tyson die Tür hinter ihr schloss. „Wie, er schläft? Es ist doch erst acht!“ „Da müsst ihr ihn schon selber fragen, warum er im Bett liegt. Aber ich mache das nicht“, meinte der Schwarzhaarige, denn er fand, dass Kai müde und seltsam zerzaust ausgesehen hatte. Wer wusste schon, wo er sich wieder herumgetrieben hatte. Anna räusperte sich. „Entschuldigt die späte Störung. Wenn ihr erlaubt… möchte ich gerne nach ihm sehen.“ „Klingt es zu forsch, wenn ich frage, wer Sie sind?“, fragte Ray. „Nein, keineswegs. Mein Name ist Anna Ivanow.“ Im Nu waren alle drei Augenpaare auf sie gerichtet. „Ivanow… Wie Tala Ivanow?“, fragte Tyson sicherheitshalber nach. „Tala…?“ Irritiert sah sie Tyson an. Sie kannte keinen Jungen mit einem solchen Namen. Ray kam der verwirrten Situation zur Hilfe. „Ray, Max, Tyson“, stellte er sich und die anderen beiden nach der Reihe vor, in dem er mit dem Finger auf sie deutete, „ich bringe Sie nach oben. Folgen Sie mir.“ Als die beiden vor der Zimmertür standen, klopfte Anna und trat ohne zu zögern ein. Aber Kai lag nicht, wie von Ray angenommen, im Bett, sondern saß an seinem Schreibtisch. Langsam drehte er sich auf seinem Stuhl zu den beiden um. Gerade wollte er sich über die Störung beschweren, als er sie erkannte. „Dobrij wjetscher!“ „Babuschka!“ Sofort war er aufgesprungen, um Anna die Hand zu schütteln. Aber Talas Großmutter zog ihn in eine feste Umarmung und drückte ihn an ihr Herz. „Warum denn so förmlich, Solnyschka?“ Kai errötete leicht. Es war ihm unangenehm, vor Ray von ihr so genannt zu werden. Dennoch lächelte er zufrieden. „Kak dela? Hattest du eine gute Reise?“ „Wenn man die harten Sitze im Zug ignoriert… Weiß Yura wirklich nichts davon, dass ich da bin?“ „Net. On daschje prawilna wolntschtsja. No eta dolschna wyt neoschidannostju. I, paschaljusta, ne pygasja, esli ti widisch ego.Wtschera i nas wyla diskyssija. Aber du kennst uns ja.“ „Kai… Ihr sollt doch vorsichtig sein…“ Hinter ihnen räusperte sich Ray. Den hatten sie ganz vergessen! „Komm, Babuschka, ich stelle dir mein Team vor, so wie sich das gehört.“ „Also sind Sie doch mit Tala verwandt!“, stellte Tyson schließlich fest. Sie hatten sich um den Wohnzimmertisch geschart, jeder mit einer dampfenden Tasse Tee vor sich. Für die Bladebreakers wurde es immer turbulenter: Erst nahm Kai dieses Mädchen auf, dann kam Talas Oma… Für Ray waren das alles Anzeichen dafür, dass keiner von ihnen Kai wirklich kannte. Das stimmte ihn traurig, als es ihm klar wurde, denn er fand es schade. Auf der anderen Seite war er aber auch froh, dass sich das langsam zu ändern schien. „Mh, Kai? Кто этот Tala?“, fragte Anna ihren von ihr so angesehenen Enkel. „Ach, damit ist Yura gemeint.“ „Sto? Patschemu?“ „Mhm, ich weiß nicht mehr genau. Ausgegangen ist alles von einem Streich Yura gegenüber. Wir haben ihn mit einem frechen Spitznamen geneckt. Und irgendwie ist daraus dann Tala entstanden. Seitdem stellt er sich selbst als Tala vor und alle kennen ihn darum auch nur unter diesem Namen.“ Langsam verwirrte ihn diese Namensgeschichte schon selbst. Sein Team hatte bei ihrer kleinen Unterhaltung schon den Faden verloren, allein durch die Tatsache, dass Kai sowie seine Oma japanisch und Russisch gleichsam mischten, und das sogar in einem Satz. Es hörte sich zwar lustig an, aber sie als Außenstehende verstanden den Zusammenhang nicht. „Und Sie machen jetzt Urlaub oder wollen Tala einfach nur so besuchen?“, fragte Ray, der seine Neugier über ihren Besuch nun nicht länger verbergen konnte. „Oh…“, lächelte Anna mit so einer Wärme in ihren Augen, die die Jungen tief berührte, „hat Kai euch das gar nicht erzählt?“ „Nein, was erzählt?“, platzte Tyson heraus und sah Kai beinahe strafend an. „Tut mir leid, es ist doch wohl etwas stressiger geworden als geplant. Babuschka, ich hatte noch keine Gelegenheit, es ihnen zu berichten“, entschuldigte sich Kai bei ihr und seinem Team. „Stressig ist noch untertrieben, werter Herr Hiwatari. Total chaotisch trifft es wohl eher!“, erklang die bechernde Digitalstimme aus Kennys Laptop und alle bis auf Kai lachten, denn der verzog das Gesicht. „Okay, okay! Also als erstes: Ich habe Babuschka eingeladen, zu kommen. Denn Yura – nein, Tala – Yura… Ach, jetzt bin ich schon ganz durcheinander!“, ärgerte sich Kai. „Mein Enkel hat morgen Geburtstag. Und laut Kai soll ich sein Geschenk sein.“ Die Bladebreakers gaben überraschte Töne von sich. „Tala hat morgen Geburtstag?!“ „Wie alt wird er denn?“ „Er ist acht Monate älter als ich, also wird er 17“, meinte Kai. „Und er rechnet sicher nicht damit, seine Großmutter zu sehen. Darum dürft ihr ihm gegenüber nichts verraten! Und nichts andeuten!“ „Dann gibt’s doch sicher eine Überraschungsparty, oder? Sind wir eingeladen?“, fragte Tyson frei heraus und grinste. Anna klatschte in die Hände. „Natürlich!“, verkündete sie frohgemut. „Wird sich ja wohl nicht vermeiden lassen, wenn wir hier feiern…“, murmelte Kai, ohne dass ihn jemand verstand. „Wir sollten dann aber auch ein Geschenk besorgen, Tyson“, erinnerte Ray ihn und strafte ihn mit einem tadelnden Blick, dass er sie selbst eingeladen hatte. So etwas machte man doch nicht! „Oh, dazu solltet ihr morgen noch genügend Zeit haben, oder Kai? Da fällt mir ein: Ich würde mir gerne eure Küche ausleihen, um einen Kuchen zu backen.“ Anna lachte, als sie die überraschten Gesichter sah. Noch nie hatte jemand versucht, den Ofen zu was anderem zu gebrauchen, als Tiefkühl-Pizza aufzutauen. In dem ganzen Trubel, der Kai schon fast Kopfschmerzen bereitete, weil er so weit gar nicht gedacht hatte, fiel niemandem von ihnen auf, wie sich kleine Füße ihren Weg bahnten. Erst als warme Hände nach Kais Schultern grapschten, bemerkte Kai, dass Lin ohne Scheu auf seinen Schoß kletterte. „Na, Kleine, du sollst doch schlafen. Haben wir dich geweckt?“, fragte er sie leise. Doch Lin schüttelte den Kopf. „Ich kann noch nicht schlafen.“ Die Kinderstimme weckte Annas Interesse. „Sieh mal einer an. Wer ist denn dieses hübsche Mädchen?“ Die alte Frau beugte sich zu ihr hinunter und streichelte ihr mit mütterlicher Zärtlichkeit über die Wange. „Kai hat sie adoptiert.“ „Falsch, er hat sie als seine Schwester eintragen lassen!“ wieder entfachte sich wie von selbst eine hitzige Diskussion zwischen Tyson und Max. Kai fasste sich an den Kopf. „Das ist Lin. Ich erzähls dir später, Babuschka.“ Anna nickte und sah zu den wild diskutierenden Jungen. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen. „Du kannst nicht schlafen, hm? Komm mit, ich mach dir eine heiße Milch und dann erzähle ich dir eine Geschichte, ja?“ „Mh, das ist sehr nett von Ihnen…“ „Du kannst mich ruhig Oma Anna nennen!“, lachte die alte Frau und hielt ihr die Hand hin. Fragend sah Lin zu Kai. Doch als dieser ihr zunickte, ergriff sie sie, zwar zögerlicher als sie zuvor zu Kai gekrochen war, ließ sich aber dennoch in die Küche mitnehmen. Kai seufzte. Perfekte Planungen würde es in seinem Leben wohl doch nie geben. Obwohl er immer nach Perfektion strebte. Seine Fingerspitzen durchzuckte es plötzlich. Er verspürte großen Drang, die Balance zwischen seinem Blade und seiner Technik noch weiter auszubauen. Also verließ er seine Truppe, um noch ein wenig im Garten zu trainieren. Ray folgte ihm. „Ray.“ „Kai.“ Der Silberhaarige grinste angriffslustig. Ray erwiderte es nicht minder frech. „Lass sehen, was du drauf hast.“ „Richte dich schon mal auf eine von Kennys berühmten Predigten ein. Wenn ich mit dir fertig bin, wird er dein Blade flicken müssen!“ ~**~~**~ Vokabeln: Dobrij wjetscher! – Guten Abend! Solnyschka – Kosename, ähnlich dem deutschen „Sonnenschein“ Kak dela? – wie geht es dir (ugs.) On daschje prawilna wolntschtsja. No eta dolschna wyt neoschidannostju. I, paschaljusta, ne pygasja, esli ti widisch ego.Wtschera i nas wyla diskyssija. (Он даже правильно волнуется. Но это должно быть неожиданностью. И, пожалуйста, не пугайся, если ты видишь его. Вчера у нас была дискуссия.) – Er macht sich sogar richtig Sorgen. Aber es soll ja eine Überraschung sein. Und bitte erschrick nicht, wenn du ihn siehst. Wir hatten gestern eine Auseinandersetzung. Кто этот Tala? – Wer ist dieser Tala? Sto? Patschemu? – was? Warum? Kapitel 31: Backe, backe Kuchen! -------------------------------- Mensch, Mensch, Mensch… Dieses Kapitel ist mir trotz der Leichtigkeit, die es verkörpern sollte, doch sehr schwer gefallen. Vielleicht verlerne ich durch die doofen Hausarbeiten, wie man schöne FFs schreibt… Ich werde Guilty außerdem von Grund auf noch einmal neu überarbeiten, an Formulierungen feilen und so. Aber das hat noch Zeit. Und eine Frage hab ich auch noch: Warum fallen einem immer gerade dann Ideen für Kapitel und Storys ein, wenn man keine Zeit hat, sie niederzuschreiben bzw. sich eigentlich auf etwas anderes konzentrieren müsste?! Immer in der Klausurenphase! Mann… Frustrierend, nicht? Ich sollte vielleicht öfter einfach in den Garten gehen, da bekam ich sonst immer meine Ideen. Beim Gärtnern. Okay. Satis est. Backe, backe Kuchen! Schon früh hörte Kai mit seinem empfindlichen Gehör jemanden in der Küche herumwerkeln. Geschirr und Besteck klapperten, leise Stimmen drangen zu ihm ins Zimmer hinauf. Er rieb sich die Augen, setzte sich auf. Ray schlief noch. Ein Blick auf dessen Wecker sagte ihm, dass es erst sieben war. Normalerweise hatte er für diese Uhrzeit längst Training veranschlagt. Aber nicht heute. Denn heute musste eine Überraschungsparty geplant werden. „Also Lin, sag mal: Nuss oder Schokolade?“ Nachdenklich starrte das Mädchen Anna Ivanow an. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, seit sich Talas Großmutter gestern des Mädchens angenommen hatte. „Oh, das ist schwer… Das schmeckt bestimmt beides sehr gut…“ „Ja, das tut es!“, lachte Anna. „Schokolade!“, gähnte Kai mit vorgehaltener Hand und suchte sich eine Kaffeetasse aus dem Schrank. Es war Samstagmorgen und alle seine Jungs schliefen noch, wie er gerade festgestellt hatte. Gut für ihn, denn er konnte sie ohnehin nicht um sich herum gebrauchen, wenn er selbst müde war. Zu seinem Ärgernis war er nämlich ziemlich geschlaucht. „Das ist Talas Lieblingskuchen.“ Anna nickte auf Kais Erklärung hin. Das stimmte. Aber sie stemmte die Hände in die Hüften, während sie den Silberhaarigen prüfend musterte. „Wie siehst du denn aus, Kai? Hast du dich noch nicht gewaschen? Pfui, schäm dich! Geh duschen, ich koch dir schon deinen Kaffee!“ Die resolute alte Frau scheuchte ihn aus der Küche. Er begab sich also grinsend auf den Weg zur Treppe, doch Lin, die ihm hinterher gelaufen war, erreichte ihn noch am Ärmel und brachte ihn durch energisches Zupfen zum Stehen. „Du, Kai? Tala – ist das der Junge, der mal hier war, als ich auch hier war?“ „Ja, das ist er. Und weil er heute Geburtstag hat, wollen wir ihn überraschen.“ „Oh! … Okay!“ Sie rannte wieder davon und Kai hörte noch, wie sie begeistert‚Oma Anna!’ rief, bevor er den Rückweg ins Badezimmer antrat. Oh ja… Diese Überraschung würde gelingen. Tala würde Augen machen! Tala wachte ungewöhnlich früh auf. Alles tat ihm weh. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen, tastete dann nach seinem Handy. Keine SMS. Was hatte ihn dann geweckt? Seine Kopfschmerzen? Durst? Er entschied sich, sich noch einmal auf die Seite zu drehen, zog die Decke höher und versuchte zu schlafen. Nach zwei weiteren Stunden vergeblichen Dösens reichte es ihm. Wieder sagte ihm der Blick auf sein Handy, dass niemand ihm geschrieben hatte. Aber es war auch erst halb acht. Vielleicht ja nach einer ausgiebigen und belebenden Dusche? Also machte er sich fertig. Doch auch danach hatte ihm noch niemand zu seinem Geburtstag gratuliert. Gut, was hatte er auch erwartet, niemand wusste, wann er Geburtstag hatte und viele scherten sich auch gar nicht erst darum. Aber zumindest von Kai hätte er gehofft, dass er daran gedacht hatte. Oder seine Großmutter, die immerhin auch seine Handynummer besaß. Eigentlich. Seitdem, was Kai ihm gestern erzählt hatte, machte er sich zwar etwas weniger Sorgen, aber es ärgerte ihn dennoch, dass er sie seit Tagen schon nicht mehr erreichen konnte. Vielleicht hatte Kai ihn einfach vergessen. Schließlich gab es zurzeit viel zu tun im Hause Bladebreakers und es herrschte große Aufregung, weil dieses Mädchen namens Lin dort eingezogen war. Ja, Kai hatte ihn in dem Trubel bestimmt nur vergessen, er würde sich sicher später melden. Vielleicht schlief sein bester Freund ja auch noch! Tala beschloss, einen Spaziergang zu machen, um sich abzulenken. Zwar hatte er sonst nie großen Wert auf seinen Geburtstag gelegt, aber da hatte er auch immer ein liebes Wort von seiner Oma oder Kai erhalten und das hatte gereicht. Wie schnell Kleinigkeiten einem doch plötzlich fehlen konnten… Ein gellender Schrei hallte durch das Haus. Überrascht sahen Lin und Anna auf. Kai hob nur kurz den Blick von dem Blatt Papier, auf dem er schrieb, aber auch nur, um nach seiner Kaffeetasse zu greifen. Schon trampelte jemand wie ein Rhinozeros die Stufen herunter und keine drei Sekunden später stand Tyson wutentbrannt in der Küche. Lin quietschte auf, als sie ihn sah. Schnell schlug sie die Hände vor ihr Gesicht und drehte sich um. „Wer hat so kalt geduscht?“, schnaufte er atemlos und versuchte mit seinem leidend-anklagenden Blick Kai zu erdolchen. Das misslang jedoch kläglich. Noch dazu hatte er sich nicht mal abgetrocknet, so dass sich unter ihm nun eine mittelgroße Pfütze ansammelte. „Tyson, bedeck dich, es sind Damen anwesend!“, murrte Kai und hielt ihm ein Trockentuch vor seine Blöße. Talas Oma aber lachte. „Junge, ich habe in meinem Leben schon so viele nackte Hintern und Pimmelchen gesehen, da kommt es auf einen mehr auch nicht an.“ Kai stieg plötzlich die Schamesröte ins Gesicht. „Babuschka!!“ „Ja was denn? Dafür muss man sich doch nicht schämen!“, meinte sie lapidar und schob ungerührt den Kuchenteig in den Ofen, den sie und Lin gemeinsam gemacht hatten. Tysons meldete sich wieder zu Wort: „Zum Teufel, Kai, warum duscht du nicht bei dir?!“ „Da war grad Ray drin.“ „Argh!“ Tyson raufte sich die Haare und stapfte hinauf in sein Zimmer. Als er verschwunden war, legte Kai eine Hand auf Lins Schopf und zerwuschelte ihr neckisch das Haar. Lin kicherte leise. „Ich geh dann jetzt einkaufen. Wie groß soll die Torte noch mal sein, aus der du springen wolltest, Babuschka?“ Talas Oma schnappte mit einem Trockentuch nach ihrem Ziehenkel und scheuchte den lachenden Jungen hinaus. Pure Langeweile und starke Schmerzen hatten ihn vor etwa zwei Stunden auf das Sofa im Wohnzimmer gedrängt. Tala zappte sich durch die verschiedenen TV-Kanäle. Niemand hatte sich bei ihm gemeldet. Nicht mal die zwei ihm wichtigsten Menschen auf der Welt. Es war enttäuschend. Vorhin hatte er sich dazu entschlossen, ein paar Ibuprofen-Schmerztabletten einzuwerfen. Sie wirkten jetzt langsam. Er stellte einen Musiksender ein und drehte die Lautstärke auf. So hörte er das Telefon nicht, dass sich anscheinend totbimmeln wollte. Auch auf die Hausklingel, die eine halbe Stunde später permanent gedrückt wurde, reagierte er nicht. Erst als ihn eine warme Hand sacht an der Schulter berührte, wurde blitzschnell wach, packte den vermeintlichen Einbrecher und überwältigte ihn in nur Sekunden. „Au… Danke für die stürmische Begrüßung… Sag mal, bist du schwerhörig oder was?“ „Oh… Du bist es, Kai. Sorry.“ Tala kletterte von dem zu Boden geworfenen runter, der sich daraufhin ächzend aufrichtete. Aber rasch fasste er sich wieder und beschwor seinen Freund mit folgenden Worten eindringlich: „Yura, ich brauch deine Hilfe. Zieh dir was an und komm ganz schnell mit!“ „Ich bin angezogen.“ Kai musterte ihn von oben bis unten. „Ja, in deinem schlimmsten Schlabberlook. Komm, zieh dich um, es ist wirklich wichtig!“ „Was ist denn bitte so wichtig, dass ich mich dafür erst in Schale werfen muss?“, brummte der Rothaarige. Ehrlich, erst so unsanft geweckt und dann herumkommandiert werden, ohne dass sein bester Freund ihm zuvor gratuliert hatte, da war er schon mehr als pikiert. „Das wirst du schon sehen! Komm! Dawai, dawai!“ Murrend schlurfte Tala also doch nach oben und beugte sich der Vitalität, die Kai an den Tag legte. Der Silberhaarige wartete derweil schon draußen vor der Haustür und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Tala würde noch zu seiner eigenen Überraschungsparty zu spät kommen! „Entschuldigen Sie bitte, wir kommen aus der Nachbarschaft, und ähm… wir fragen uns schon seit einiger Zeit, was hier los ist…“ Eine Gruppe Nachbarn war vorbeigekommen und an Kai herangetreten. Dieser blickte sich irritiert um. „Was?!“ „Nun… Das Haus steht schon sehr lange leer und in dieser Zeit hat es niemand betreten… Früher gehörte es ja einem wirklich freundlichen Ehepaar, weißt du… Und sie hatten so einen niedlichen kleinen Sohn!“ „Oh, ja… Also das… Das Haus wurde verkauft. Die Familie ist weggezogen. Mein Kollege und ich sehen hier ab und zu nach dem Rechten.“ Das Lügen fiel Kai leicht, doch es war nicht ganz so einfach, die damit verbundenen Erinnerungen zu unterdrücken. Aber er schaffte es, die fürsorglichen Nachbarn zu beruhigen und bedankte sich für ihr Interesse. Dann endlich kam Tala. „Hat auch lange genug gedauert. Komm. Ich hab mir sogar den Wagen ausgeliehen.“ Der Rothaarige murrte etwas Unverständliches. Kai grinste in sich hinein. Je mürrischer und verbiesterter sein Freund wurde, umso gelungener würde hinterher die Überraschung sein. „Toll. Jetzt bin ich hier. Und was soll ich hier? Es ist ja auch tote Hose, da hätte ich auch vor dem Fernseher sitzen bleiben können.“ Kai dirigierte seinen nörgelnden Freund ins Wohnzimmer und drückte ihn in einen Sessel. Der verzog das Gesicht, während Kai sich am CD-Player zuschaffen machte. Plötzlich dudelte die nur allzu bekannte Melodie von Happy Birthday aus den Boxen und fast zeitgleich mit der Sängerin setzten die Stimmen von Max, Tyson, Kenny und Ray ein, die hintereinander ins Wohnzimmer marschierten. Allen voran trug Max eine wunderschöne Torte mit Zuckerguss und 17 gezündeten Wunderkerzen. Die Verwunderung bei Tala hätte nicht größer sein können. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ Sie schüttelten ihm alle die Hände. Zuletzt lief Lin auf ihn zu und überreichte ihm ein großes Päcken in Geschenkpapier. „Das ist von uns“, erklärte sie dazu und zeigte auf die Bladebreakers und sich. Tala wusste gar nicht was er sagen sollte. Er nuschelte ein leises Dankeschön und traute sich kaum, das Geschenk zu öffnen. „Du musst nicht so zaghaft sein. Es wird nichts kaputt gehen!“, ermunterte ihn Ray. Also riss Tala das Geschenk auf. „Was… wie… woher habt ihr das gewusst?“ In der Hand hielt er ein ganzes Sammelsorium von Gewicht- und Verteidigunsringen, verschiedenen Pflegemitteln für Blades und andere Aufbaumaterialien. „Wir haben dich lange nicht mehr bladen sehen. Wird mal wieder Zeit, was?“, grinste Tyson breit. „Soll das eine Herausforderung sein?“ „Na, und ob!“ Tala besah sich das Set noch einmal. Sie hatten an alles gedacht und nichts ausgelassen. Der Chef musste alles kontrolliert haben. „Vielen Dank.“ Und Tala meinte es aufrichtig. „Willst du mein Geschenk gar nicht sehen?“, fragte Kai über seine Schulter hinweg. Grinsend zeigte er auf die Tür, die sich langsam öffnete. Zum Vorschein kam Anna Ivanov und betrat den Raum. Binnen Sekunden wurde es totenstill im Zimmer. Tala starrte seine Großmutter ungläubig an. Dann blickte er zu Kai. Der kniff ihn in den Arm und nickte ihm zu. Ja, es war die Wahrheit, sie stand wirklich wahrhaftig vor ihm. „Babuschka…“ „Moi maltschik… Komm her…“, lächelte Anna und breitete die Arme aus. Mit einem Kloß im Hals stand Tala auf. Er hatte sich solche Sorgen gemacht und jetzt war sie hier… Sie war wirklich hier! Er umarmte sie fest, ihr ihm wohl bekanntes und beruhigendes Parfüm stieg ihm in die Nase. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Kai hatte es gewusst. Er hatte es geplant. Deswegen hatte er sie nicht erreichen können! „Gefällt dir mein Geschenk?“ Besagter war herangetreten und legte seine Hand auf Talas Schulter. „Du Bastard! Das ist das schönste Geschenk, was du mir je gemacht hast! Trotzdem bist du ein verfluchter Bastard!“ Ihm fiel das Sprechen schwer und er schwankte zwischen Lachen und Weinen. Kai klopfte ihm auf die Schulter. „Ja ich weiß. Aber ich fühl mich gut dabei.“ Das brachte Tala und alle anderen zum lachen. Und für diesen Abend wich Tala seiner Großmutter nicht mehr von der Seite. Kapitel 32: Könntest du bleiben… -------------------------------- „Bist du dir sicher, dass du das kannst?“ Anna Ivanov und ihre beiden Enkel saßen im Wohnzimmer von Kais Elternhaus und diskutierten ihre zukünftigen Schritte. Vor ihnen standen drei dampfende Tassen mit Pfirsichtee und seit sehr langer Zeit kroch der Geruch von Frischgebackenem wieder durch das Haus. „Dasselbe hat mich Ray auch gefragt.“ Kai seufzte. Lin war in der Schule, er hatte frei wegen einer Zeugniskonferenz. Darum hatten sie sich entschlossen, jetzt zu reden. Seit seinem sechsten Lebensjahr waren diese beiden Menschen hier neben ihm die einzigen Vertrauten. Vor ihnen konnte er seine Bedenken ohne weiteres darlegen. Doch Kai wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten. Wenn er aber jetzt nicht mit ihnen sprach, machte ihn das nur verdächtig. Anna und Tala durchschauten ihn mit Leichtigkeit. Und nur Tala las zuweilen in ihm wie in einem offenen Buch. „Ich will es zumindest versuchen. Lin ist doch auch schon sehr selbstständig. Und auch, wenn ich ihr ein Höchstmaß an Kindheit bieten möchte, wird sie die Anfänge ihrer Erziehung nicht vergessen können. Nicht so schnell jedenfalls.“ „Kai… Hast du daran gedacht, wie es ist, wenn sie mal älter wird? Noch ist sie ein Kind, ein kleines Mädchen. Aber was, wenn sie erst 12 oder 14 Jahre alt ist? Dann hat sie andere Bedürfnisse als jetzt.“ Talas Großmutter sah ihn eindringlich an. Der Graublauhaarige glaubte schon zu wissen, worauf sie hinaus wollte. „Wer erklärt ihr gewisse Dinge? Sie wird in die Pubertät kommen, so wie ihr auch. Wer klärt sie dann auf? Sie ist ein Mädchen. Sie wird ihre Periode bekommen.“ Kai und Tala erröteten synchron und sahen peinlich berührt zu Boden. Natürlich wussten sie das und was es bedeutete. Aber auch die beiden Russen waren nur Teenager, die eigentlich noch mitten in der Pubertät steckten und denen dieses spezielle Thema leicht unangenehm war. Babuschka fuhr ungerührt fort: „An wen soll sie sich dann wenden? Ihr seid ein reiner Männerhaushalt. Sie hat keine weibliche Bezugsperson, die sie aber mit Sicherheit bräuchte. Und wer weiß, ob ihr in sieben Jahren überhaupt noch als Team zusammenwohnt. Du bist dann auch schon 23.“ „Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich so lange lebe…“, murmelte der Silberhaarige leise. Daraufhin kniff Tala ihm ins Bein. „Sag so was nicht!“, schimpfte er, „Du hast jetzt eine große Verantwortung. Du hast dich ihrer angenommen – du kannst und darfst sie nicht hängen lassen. Schließlich war es doch das, was du wolltest, oder nicht? Du hast für sie zu sorgen, also hast du auch darauf zu achten, dass du am Leben bleibst.“ Kai nickte, wusste er doch die Fürsorge zu schätzen, die beide ihm entgegenbrachten. Ergeben seufzte er und nahm sich einen Keks, den er in den Tee vor sich tunkte. „Ach, Jungs!“ Babuschka ließ sich zwischen ihre Enkel plumpsen und zog sie beide in ihre Arme. „Was würde ich nur ohne euch zwei machen…“ „Hier, der Schlüssel.“ Tala legte Kais Hausschlüssel auf dem Wohnzimmertisch ab. Heute Abend schon würden er und seine Großmutter zurück nach Russland fahren. Sie besuchten Kai vor ihrer Abreise jedoch noch einmal in der WG seines Teams. „Hast du alles ausgemacht und so?“ Sie sprachen leise miteinander, denn Ray, Tyson und Babuschka hatten sich gerade in der Küche getroffen, von der aus man bequem ins Wohnzimmer blicken und auch lauschen konnte. Es trennte sie schließlich nur ein Fenster und eine Theke voneinander, Türen hatten sie nicht. Das mochte vielleicht modern aussehen, aber es hatte den Nachteil, dass das Wohnzimmer manchmal noch tagelang penetrant nach gewissen Gewürzen roch, wenn sie gekocht hatten. „Natürlich. Hab auch alles dreimal kontrolliert, ob auch alles zu ist. Ich bin doch zuverlässig.“ Tala ließ sich neben seinem besten Freund nieder. Dieser steckte den Schlüssel ein. Er würde ihn sobald es ging zurück bringen. Plötzlich hörten sie, wie Tyson lautstark protestierte: „Ich nehme keine Kohlenhydrate mehr zu mir! Nein, Ray, die machen fett!“ „Junge! Ach, komm, kein Problem, ich koch dir für heute Abend etwas extra. Ich mach dir einen Salat!“, erklärte Anna Ivanov hilfsbereit. Jetzt war es Ray, der deutlich zu hören war, denn er musste heftig lachen. Tala schüttelte den Kopf und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Kai zog die Beine an seinen Körper und machte es sich neben ihm gemütlich, indem er seinen Kopf auf Talas Schoß bettete. Nach einer Weile strich der Rothaarige ihm gedankenverloren durchs Haar. Mit geschlossenen Augen folgte Kai den Berührungen und genoss diese vertraute Geste. Sie hassten es beide, voneinander getrennt zu sein, besonders jetzt, nachdem sie so viel Zeit miteinander hatten verbringen können. „Weißt du… Bei dir fühle ich mich einfach geborgen… Wenn du da bist, kann ich offen sein. Wenn ich alleine mit ihnen bin, dann… ist es so anstrengend. Dann bin ich angespannt.“ Tala fuhr mit den Streicheleinheiten fort. Er war ein guter Zuhörer. „Ich habe immer das Gefühl, meine Maske aufrechterhalten zu müssen. Und ich habe mir doch geschworen, keine mehr zu tragen. Aber manchmal ist es so, als ob sie dahinter blicken können. Und das will ich nicht.“ „Es ist klar, dass deine Teamkollegen neugierig sind. Du bist anders als sie. Ich kann mir gut vorstellen – besonders bei Ray –, dass sie merken, dass du ihnen etwas verheimlichst.“ Es war ein Abschiedsgespräch. Tala konnte nicht mehr bleiben. Auch er hatte in Russland schulische Verpflichtungen. Auch er wollte seinen Abschluss machen. Als bester Freund verstand Kai das. Tala seufzte und richtete sich auf, weitete die sanften Berührungen auf Kais Rücken aus. „Und weißt du auch, warum das so ist? Die Geschichten, die wir nie jemandem erzählen, sind die interessantesten.“ „So.. die Plätzchen kühlen gerade ab.“ Anna Ivanov kam aus der Küche und legte die Schürze beiseite. „Möchte jemand probieren?“ Drei Wochen waren seit Talas Geburtstag schon wieder vergangen – drei Wochen, in denen sich die Bladebreakers in ihr neues Alltagsleben mehr oder weniger eingelebt hatten. Lin stellte ihr Leben weit weniger auf den Kopf als befürchtet. Was Kenny, Max, Ray und Tyson jedoch nicht wussten, sondern höchstens erahnen konnten, war, dass die meiste ‚Arbeit’ an Kai hängen blieb. So wie jetzt. Lin hatte mit ihren sieben Jahren bereits in der zweiten Klasse anfangen dürfen. Und der erste Rutsch an Klassenarbeiten war nun durch. Das Mädchen stand jetzt mit ihren Heften und Notenscheinen vor Kais Zimmertür und überlegte, ob sie zu ihm gehen sollte oder nicht. Aber die Worte ihres Klassenlehrers ermahnten sie dazu, ihn doch aufzusuchen. Zaghaft klopfte sie an und trat sofort ein. „Kai?“ Dieser arbeitete gerade an einer Hausaufgabe über die Meiji-Zeit. Er hob kurz die Hand, damit Lin verstummte. Das Mädchen wusste, dass sein Zeichen nur bedeutete, dass er seinen Gedanken nur eben zu Ende führen wollte. Sein Füller kratzte leise mit einigen schnellen Strichen über das Papier, dann drehte Kai sich zu ihr um. „Da, Angelotchok, sto ti hotschis?“ Er hatte die Angewohnheit begonnen, sie gelegentlich auf Russisch anzusprechen, denn er wusste, dass sie ihn verstand. Zwar hatte er sie gefragt, woher sie das konnte, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt, hatte keine Antwort gewusst. Sie tat es ganz einfach. Und sie verstand auch nur wenige Sätze. Das aber wollte Kai noch ein wenig ausbauen. „Mhm… Wir haben die Arbeiten wieder gekriegt… Und Noten dafür.“ „Prawda? Na, dann zeig mal her. Komm.“ Obwohl sie wusste, dass Kai nicht streng zu ihr war, schon gar nicht wegen Noten, fühlte sie dennoch eine gewisse Furcht in sich aufsteigen und deshalb übergab sie ihm ihre Hefte sehr angespannt und zögerlich. Kai öffnete ihre Hefte nacheinander. Dafür, dass sie später als die anderen eingeschult und sofort in die zweite Klasse gekommen war, sahen ihre Noten doch sehr annehmbar aus. Kai nickte anerkennend. „In Mathe eine zwei, sehr schön Lin!“ Das Mädchen nestelte am Rock ihrer Schuluniform herum. Mathe war für sie leicht, schließlich hatte sie in dem Lokal auch richtig rechnen lernen müssen. Kai sah sich auch ihre Notenscheine an. Dort hieß es weiter: Japanisch gut, Sport befriedigend, Kunst befriedigend, Musik ausreichend, Naturkunde mangelhaft, Gesellschaftskunde ungenügend. Die letzten beiden Fächer machten den Sechzehnjährigen stutzig. Das war nicht gut, nein. Lin krampfte ihre Hände in den Stoff ihres Rockes und wartete angespannt auf seine Reaktion. „Lin…“ Beim Klang ihres Namens zuckte sie zusammen. „Was ist denn da passiert?“ Seine enttäuschte Stimme war wie eine Ohrfeige für sie, schlimmer noch. „Komm mal her, Kleine.“ Kai zog sie auf seinen Schoß. „Haben wir nicht genug zusammen geübt?“ „Ich hab das gar nicht mit dir gelernt, weil du ja nicht so viel Zeit hast und du immer so müde bist und ich wollte dich nicht… stören.“ Das Problem, das hinzukam, war, dass ihr auch das Politikverständnis und der Stoff der ersten Klasse fehlten. Diese Dinge hatte sie während ihrer Zeit in der Kneipe weder lernen noch entwickeln können. „Musst du die Arbeiten nachschreiben?“ „Nein, ich brauch nur deine Unterschrift.“ Kai tätschelte ihr den Unterarm. „Die kriegst du natürlich. Aber Lin, ganz ehrlich: Du musst mit solchen Sachen zu mir kommen. Auch wenn du meinst, ich hab keine Zeit. Ich bin immer für dich da. Und sollte es mir mal wirklich grad so gar nicht passen, dann können wir auch mal Ray oder die anderen fragen. Was meinst du dazu? Dann muss so was nicht noch mal passieren.“ Das Mädchen lehnte ihren Kopf an seine Brust und seufzte erleichtert, dass sie nicht bestraft worden war. Ihre Erziehung in der Kneipe war noch immer tief in ihr verwurzelt. Kai spürte das – und er konnte sie verstehen. Seinen Abtei-Drill aus längst verdrängter Zeit ließen ihn auch heute noch reagieren und Dinge tun, die für andere unverständlich waren. Aber im Moment tröstete Kai Lin, strich ihr sanft über den Rücken. „So, jetzt helfe ich dir bei der Berichtigung. Die schreibst du bitte ordentlich in dein Heft. Und dann unterschreib ich das. In Ordnung, Solnyschka?“ Sie nickte, sprang von seinem Schoß, stob mit kindlichem Eifer davon in ihr Zimmer und machte sich dann sofort ans Werk. Kai schmunzelte einen Moment und wartete kurz. Dann stand er auf, schloss die von ihr offen gelassene Tür wieder und seufzte schwer. Es war nicht so leicht, wie er allen Glauben machen wollte. Er war allein. Tala hatte zusammen mit Anna Japan verlassen und war wieder zurück in ihre russische Heimat gefahren. Er hatte Kai noch gewarnt und ihm geraten, es langsam anzugehen. Außerdem hatte er angeboten – da er das ohnehin regelte – fürs Erste keine Aufträge mehr anzunehmen, zumindest so lange, bis sich Kais neues Leben wieder in für seine Verhältnisse geordneten Bahnen eingependelt hatte. Denn er und Kai lebten von der Routine, ohne sie wäre es kaum möglich, ihr Doppelleben aufrecht zu erhalten. Wenn im Alltag alles nach Plan lief, konnten sie prima im Geheimen agieren. Das klappte aber nicht, solange sich die ‚ganze Lin-Geschichte’, wie Tala es betitelt hatte, noch nicht eingespielt hatte. Und sie durften auch nicht unvorsichtig werden. Das wäre in ihrem Metier fatal. Kai sah auf sein Heft: Die Abschaffung des Ständesystems fand in der Meiji-Zeit unter dem großen Kaiser Mutsuhito statt. Er ließ nun Geldsteuern einführen, die die mehrheitlichen Steuerabgaben in Naturalien ablösten. Obwohl von Rechtswegen die oberste politische Gewalt wieder dem Tenno zugesprochen worden war, wurde in der Realität Japan oligarchisch von wenigen ehemaligen Samurai regiert. „Wen interessiert dieser Scheiß?“ Blöde Lernerei. Aber wie gut, dass es Wikipedia gab. Ja, ja, die Artikel darin waren fein! Der Junge rieb sich über das Gesicht. Sein Blick fiel auf die Wand. Neben seinem eigenen Stundenplan hingen da noch der von Lin und ein WG-Aufgabenplan. So hatte er immer im Blick, wer was noch zu tun hatte. Und mit Ärger stellte er fest, dass er heute für die Einkäufe zuständig war. Mit einem Blick auf den Bücherstapel über leistungsförderndes Konditionstraining und Hilfestellungen zu trickreichen Partnerangriffen erfasste ihn ein erschlagendes Gefühl von Erschöpfung. Seufzend raffte er sich auf. Es half ja alles nichts, die Einkäufe mussten erledigt werden. Bevor er ging, sagte er seiner Schwester kurz Bescheid. „Oh, kann ich mit?“ „Nein, Liebes. Das muss heute schnell gehen und du musst noch deine Hausaufgaben machen. Streng dich bei den Haikus ordentlich an.“ Sie zog zwar einen Schmollmund, widmete sich dann aber wieder ihrem Schreibtisch und ihrem Heft. Kai schnappte sich im Vorbeigehen den Einkaufszettel vom Kühlschrank und zog dann los. Er musste sich beeilen, wenn er heute mit seinen Jungs noch eine neue Aufwärmübung ausprobieren und das Training anlaufen lassen wollte. Auf dem Weg in die Stadt machte er noch einen kurzen Umweg zu seinem Elternhaus, um den Schlüssel wieder in der Kommode seiner Eltern zu verstauen. Eigentlich hatte er keine Lust dazu. Denn es erinnerte ihn nur wieder an einen weiteren Abschied. Dieses lästige Gefühl des Alleinseins verstärkte sich, als er dann ins Haus eintrat. Immer noch hing der Geruch der Plätzchen in der Luft. Kai beeilte sich. Er wollte nicht länger als nötig hier verweilen, auch wenn er nun wieder, dank Tala, erfreuliche Erinnerungen mit diesem Ort verband. „Leute, kommt her. Ich habe eine neue Aufwärmübung für euch, sie heißt ‚Henne und Habicht’. Hört zu.“ Während Kai erklärte, saß Lin auf dem Stapel an Holzscheiten, den die Bladebreakers im Garten lagerten und lauschte. Sie würde gerne mitmachen, wollte das Training aber auch nicht stören. „Irgendwie hab ich das noch nicht so ganz verstanden“, meinte Ray und blinzelte verwirrt. Kai rollte mit den Augen. Er winkte Lin heran. „Also noch mal, pass auf: Ihr stellt euch hintereinander auf. Der, der am Anfang der Schlange steht, ist die Henne. In diesem Falle Lin. Sie beschützt ihre Küken – das seid ihr – vor dem bösen, listigen Habicht – mich – der die Küken auffressen will. Der Habicht versucht, das letzte Glied der Kette zu fassen, die Henne muss ihn davon abhalten. Schafft der Habicht es dennoch, sich ein Küken zu packen, stellt er sich ans Ende der Reihe und die Henne ist dann der nächste Habicht.“ Sehr spät am Abend schleppte Kai sich hundemüde von der Dusche ins Bett. Direkt nach dem Training war er nach oben verschwunden. Er hatte nicht einmal mehr Hunger und erschien auch nicht zum Abendbrot. Das war nicht in Ordnung und das wusste er selbst, aber er konnte einfach nicht mehr. Und drei Tage Pause wie beim letzten Burnout konnte er sich diesmal nicht leisten. Doch nachdem er sich auf sein Bett hatte fallen lassen, fand er zu seiner Erleichterung sehr rasch in den Schlaf. „Nur der Sieg ist unser Leben. Vernichte unseren Feind! Nur der Sieg ist unser Leben. Vernichte unseren Feind! Nur der Sieg…“ Der schreckliche, monotone Singsang in Militärmanier hallte von den hohen Massivsteinwänden der Abtei wider. Boris lief im Stechschritt durch die Reihen der jungen Blader, die ihre Effizienz beim Starten steigern sollten. Während sie also die Reißleine zogen, mussten sie immer und immer wieder dieselben Worte rufen. So wurden sie auf ihr Ziel gedrillt. Abseits der Menge saß ein rothaariger Junge im Schnee, vor ihm mehrere zerbrochene Bladeteile. Ein weiterer Junge hockte sich neben ihn. „Komm, lass uns das schnell richten, bevor Boris was merkt!“ „Wenn Wolborg kaputt ist, werde ich den Kampf heute Nachmittag verlieren. Du weißt, was das heißt.“ Ein kurzer Blickwechsel unter den beiden verriet dem jeweils anderen mehr als jedes Wort. Angst. Doch gerade das war hier draußen gefährlich. Zu Freunden wurden sie hier nicht erzogen. „Du wirst gegen mich antreten. Ich war im Büro von Deduschka. Ich habe es gehört.“ Plötzlich hörten sie schwere Schritte in ihrem Rücken herannahen. Hastig packte der Rothaarige die Überreste seines Blades zusammen. „Ihr zwei schon wieder! Für meinen Geschmack steckt ihr zu oft die Köpfe zusammen. Überrascht, Kai?! Die Abtei hat 1000 Augen!“ Boris trat nah an sie heran und zog sie harsch auf die Beine. „Habt ihr nichts zu tun? Ivanov, verschwinde zum Training! … Du nicht, Kai!“ Verwundert blieb der Silberhaarige stehen und sah seinen Ausbilder an. Dieser holte einen schwarzen Blade aus seiner Manteltasche. „Ich weiß dass du immer nach Perfektion strebst.“ Kai schnaubte: „Welcher ernsthafte Beyblader tut das nicht?!“ Boris ballte die Hand zur Faust. Aber er hatte Anweisung, den Enkel seines Chefs heute nicht zu züchtigen. Er sollte im Vollbesitz seiner Kräfte sein. So musste der Oberaufseher der Abtei in den sauren Apfel beißen und über Kais freches Mundwerk hinwegsehen. „Mit diesem Blade wirst du heute Nachmittag bei deinem Match siegen. Es ist perfekt. Black Dranzer ist perfekt! Du kennst ihn, nicht wahr? Dein Großvater hat ihn dir schon öfter gegeben. Mit ihm wirst du die höchste Stufe von Perfektion erlangen!“ „Vielleicht verbringe ich aber lieber mit der Suche nach der besten Balance zwischen Blade und Technik mehr Zeit als mit ihm?! Ich bin kein dummer Anfänger, der auf falsche Versprechungen reinfällt! Ich nehme den Stinkeblade nicht!“ Das war nun doch zuviel. Alles durfte sich selbst der Enkel des Abteileiters nicht erlauben. Boris schlug zu, mit geballter Faust in Kais Gesicht. „Du wirst diesen Blade nehmen!“ Kai sah dem aufgebrachten Boris nach. Er hielt sich die blutende Nase. „Verflucht seist du, Black Dranzer!“ Wütend kickte er den Blade weit von sich und ließ ihn achtlos im Schnee liegen. „Du sollst mit Black Dranzer gegen mich antreten.“ Der trockene Tonfall Talas ließ Kai sich von seinem Bett erheben, auf dem er bis eben gelegen und sich geistig auf das kommende Match vorbereitet hatte. Er sah, dass Tala den schwarzen Blade auf seinen Tisch ablegte. „Warum hast du ihn mitgebracht? Ich hab ihn extra verloren.“ „Tritt mit ihm gegen mich an.“ „Nein.“ „Du sollst es. Also mach es auch.“ „Nein! Bist du verrückt?!“ „Bist du es?!“ Eine Durchsage unterbrach ihren Streit. Gleichzeitig kündigte sie ihr Match an. „Nimm ihn. Dein Ungehorsam wird Boris auf den Plan rufen.“ „Ich nehme Dranzer.“ Tala stampfte wild mit dem Fuß auf und fauchte: „Verdammt, Kai! Hast du so wenig Vertrauen in mein Können?!“ „Du unterschätzt die Macht von Black Dranzer! Ich kann nicht mehr klar denken, wenn ich ihn benutze! Ich würde auf dich keine Rücksicht nehmen!“ „Ich will auch gar nicht, dass du das tust!!“ Kai stapfte an Tala vorbei, zu dessen Bett, auf dem Wolborg lag und nahm diesen an sich. Dann schmetterte er ihn auf den Boden. Wolborg zersprang an den Bruchstellen, die Tala sorgsam zusammengeklebt hatte. „Spinnst du?!“ Sofort kniete Tala am Boden, sammelte die Einzelteile auf und drückte Wolborgs Reste an sich. „DAMIT wolltest du gegen mich antreten? Wenn er schon von so einem Schubs zerbricht? Vergiss es!“, schrie Kai ihn an. Er setzte zu einer weiteren Schimpftirade an, verstummte aber, als er Talas verletzten Ausdruck sah. So ungeschützt seine Gefühle darbieten konnte er sich nur leisten, wenn sie unter sich waren. Schweigend starrten sie einander an. Bis Kai schließlich seufzte. „Pass auf, wir machen es so: Ich nehme den schwarzen Blade, du kannst dafür meinen haben“, schlug er vor. „Wie? Ich soll mit Dranzer gegen Black Dranzer kämpfen? Bist du bescheuert? Wenn ich gerade noch nicht an deinem Verstand gezweifelt habe, dann tue ich es jetzt!“ Doch Kai hielt seinem Freund die Hand hin und half ihm, aufzustehen. „Quatsch doch nicht. Du steckst Wolborgs Bitchip in meinen Blade und ich mache es so mit Dranzer.“ Und um seinen Plan zu unterstreichen, trennte Kai den Bitchip des schwarzen Phönix’ von dem gleichfarbigen Kreisel. „Das wird rauskommen. Das fällt doch auf. Es wird rauskommen – und wir werden bestraft.“ „Wir werden doch sowieso bestraft. Entweder der Verlierer oder wenn wir ein Unentschieden schaffen, wir beide, weil sich keiner von uns durchsetzen konnte. So werden wir wenigstens… na ja…“ „Zur Recht bestraft?“, half Tala nach und tat es dem Graublauhaarigen nun mit Wolborg gleich. Schließlich betrachteten sie die Früchte ihrer Arbeit. „Vielleicht werden wir für unsere erfinderische Leistung ja sogar belohnt?“ „Kai… glaubst du auch, dass Boris Ballett tanzt?“ Ein zweites Mal ertönte die Durchsage, dass sich alle Schüler für den Kampf zwischen Kai und Tala in der Trainingshalle einfinden sollten. Der Rothaarige umklammerte Kais blauen Blade fest. Tief atmete er durch. Sie nickten einander zu. Ihre Masken saßen wieder perfekt. „Wir sehen uns in der Folterkammer!“ Nota: Freie Bildung für euch ;) Wen es interessiert, was Kinder so in Japan lernen und wie das Schulsystem aufgebaut ist, dem kann ich folgende Seite empfehlen: http://web-japan.org/kidsweb/explore/german/germany/de_schools.html Nun, wahrscheinlich wird das System in Wirklichkeit wohl noch etwas komplexer sein, aber so kann man sich einen Überblick verschaffen. Fand ich ganz hilfreich. :) Und für Oberschulen speziell: http://web.me.com/h_ishimura/Deutschlandseminar/Berichte_%C3%BCber_Japan_files/2-07a%20Japanische%20Oberschulen.pdf Als ich das überflogen hatte, hab ich mir gedacht, dass ich das nicht so penibel in diese Geschichte einbaue. Zwar möchte ich es möglichst realitätsnah gestalten, aber ich hab schon in den ersten Kapiteln von Schule gesprochen und mir solche Informationen anzueignen versäumt, bitte seht mir das nach. Und vllt interessiert ja jemanden das hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Japans#Die_Meiji-Zeit (entgegen Kais Meinung, dass das höchstens Wayne interessiert :D) Einige werden sicher wieder wissen wollen, woher ich diese merkwürdige Übung habe, die Kai sich immer ausdenkt. Ich muss den Quatsch selber machen XD Vokabeln: „Da, Angelotchok, sto ti hotschis?“ – Ja, Engelchen, was willst du? Prawda - Hier: So?, Ach wirklich? Solnyschka – „Das Sonnchen“, entspricht in etwa unserem Kosenamen „Sonnenschein“ Kapitel 33: Schatten der Erinnerung ----------------------------------- Atemlos keuchten beide Kontrahenten sprichwörtlich aus dem letzten Loch. Keiner von ihnen wollte sich die Blöße geben, vor diesem Publikum zu versagen. Sie konnten es sich auch schlicht nicht leisten. Und darum schenkten sie sich nichts. Auch aus dem Grund, den jeweils anderen nicht zu beleidigen. Mit Samthandschuhen wollten sie von dem anderen niemals angefasst werden. Dies war bereits der 47. Kampf zwischen ihnen. Keiner der beiden hatte in ihrer Lehrzeit einen Sieg gegen den anderen erreichen können. Und auch dieses Match ging schließlich unentschieden aus. Kai knickten die Beine weg, erschöpft fiel er auf die Knie, während Tala noch stehen konnte. Ihre Blades jedoch kreiselten unregelmäßig, bis sie nur noch eierten. Dranzer und Wolborg stießen sich noch ein letztes Mal an, dann kippten sie um. Tala fischte beide aus dem Stadium, ging um die kleine Arena herum und hielt den schwarzen Blade Kai entgegen. Auch wollte er seinem Freund aufhelfen, doch bevor Kai die ihm dargebotene Hand nahm, sah er aus dem Augenwinkel, dass Boris wutschnaubend auf sie zugestürmt kam. Rasch sah er Tala in die Augen, bevor er ihm unwirsch und heftig die Hand wegschlug und alleine auf die Beine kam. „Ich brauche deine Hilfe nicht!“, schnauzte er sofort, als Boris in Hörweite war. Der Abteileiter hatte beide Blader schnell erreicht, packte sie am Kragen und zog sie auseinander. „Was sollte das werden?!!“, polterte Boris auf der Stelle los. „Ihr kämpft, wie Mädchen mit ihren Puppen spielen!! Es ist eindeutig, ihr versteht euch zu gut!!“ Kai spürte ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Magengegend und auch Talas Herz machte einen unglücklichen Hüpfer. Hoffentlich wurden sie nicht in getrennte Zimmer gesteckt! Von dieser Furcht ließen sie sich jedoch nichts anmerken, sie funkelten sich nur an wie gewöhnliche Rivalen. „Ein wahrer Beyblader darf sich von Loyalität und Freundschaft nicht verblenden lassen!“, rief Boris laut und herrisch zu den versammelten Jungen und Mädchen, die sich den Kampf hatten ansehen müssen. Hier war jeder ein Einzelkämpfer. Und so wurden sie erzogen. „Nur der Sieg ist unser Leben, vernichte unseren Feind!“, murmelte Tala dann leise. „Du sagst es. Du bist ein Soldat deiner Macht, Ivanow! Du hast keine Freunde! Die brauchst du nicht – die braucht ihr alle nicht!“ „Weil du nie welche hattest, Saftsack…“, entfleuchte es dem Rothaarigen, laut genug, dass es sogar Kai hören konnte, der seinen Kopf ruckartig in Talas Richtung hob. Boris wandte sich ihm ebenfalls zu. So unvorsichtig war Tala noch nie gewesen. Der Griff in seinem Nacken verstärkte sich, er wurde nach vorne gedrückt, Boris führte ihn der Menge vor und drehte ihm einen Arm schmerzhaft auf den Rücken, dass es knackte. Doch Talas Lippen entwich kein Schmerzenslaut. „Stell nie wieder meine Autorität in Frage!!! Ich warne dich, Tala, du solltest meine Geduld mit dir nicht überstrapazieren!“ Boris hatte wirklich vor, Tala den Arm zu brechen. Als Kai das erkannte, schritt er ein. „Nicht, Gaspadin!!“ Der Silberhaarige hielt Boris’ Arm fest und hinderte ihn an seinem Vorhaben. „Was soll das?!“, herrschte dieser ihn an. „Willst du jetzt genauso respektlos werden?!“ Kais Gedanken überschlugen sich, während er fieberhaft nach einer Ausrede suchte und gleichzeitig seiner Stimme das Zittern entziehen musste, um glaubwürdig und emotionslos zu wirken. „Er… ist der Einzige, der mir gewachsen ist. Er ist von Nutzen. Mach ihn mir nicht kaputt. Er ist ein wehrhafter Gegner für mich! Gaspadin Voltaire sieht es auch so!“ Boris hörte genauer hin. Sofort lockerte sich sein Griff, was Kai sehr erleichterte. Dann grinste der Enkel Voltaires süffisant. „Er ist mein Püppchen, du kannst ihn dir ja vornehmen, wenn er mir nichts mehr nützt. Aber solange er mir noch etwas entgegen zu setzen hat im Kampf, darf ich mit ihm spielen. Frag Gaspadin Voltaire. Er lässt mir diese Freiheit.“ Jetzt ließ Boris Tala endlich gänzlich aus seinem Griff frei. Der Rothaarige konnte sich wieder aufrichten und sah zu Kai. Dieser wandte sich nun mit einem verächtlichen Blick an seinen Freund. „Und du – glaub ja nicht, dass ich mich für dich hier einsetze. Ich tue das nur für mich. Denn außer dir kann mir hier niemand das Wasser reichen. In deinem eigenen Interesse sollte es liegen, dass das auch so bleibt. Sieh zu, dass du zum Training kommst!“ Tala nickte hastig und verließ die Beyblade-Bowl. So wirkte es zumindest nach außen hin so, als bestünde zwischen beiden ein hierarchisches Verhältnis. Aber Tala hatte die Warnung erkannt. Sie beide hatten viel zu trainieren, damit sie zusammen bleiben konnten. Damit sie hier überlebten. Denn niemand durfte wissen, dass sie sich so nahe standen. „Kai.“ „Ja, Gaspadin?“ Die Wucht des Schlages, auf den er nicht vorbereitet war, riss ihn fast von den Füßen. „Ich sagte dir, du solltest mit Black Dranzer kämpfen! Du hast die Bitchips vertauscht!! Warte nur, wenn ich mit dir fertig bin, wird dir Hören und Sehen vergehen, du nutzloses Balg!“ Mit einem Schlag schlug sie die Augen auf. Sie atmete stark. Ein Alptraum hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Hektisch sah sie sich um. Das Zimmer war dunkel. Lin schob ihre Bettdecke zurück und stand auf. Sie fröstelte, als ihre nackten Füße das kalte Linoleum berührten und sie leise über den Boden tapste.Vorsichtig tastete sie sich zur Tür vor und öffnete diese. „Kai?“ Ihre zaghafte Stimme verlor sich in dem ebenso dunklen Flur. Da sie wusste, dass Kais Zimmer nur wenige Schritte von ihrem entfernt lag, ging sie, sich mit einer Hand an der Wand entlang tastend, nach rechts. Als sie einen Türrahmen spürte, suchte sie den Griff und drückte die Tür fast lautlos auf. Da sie nicht wusste, wo sich der Lichtschalter befand, lief sie still durch die Dunkelheit. Unerwartet stieß sie mit ihrem Fuß gegen etwas hartes, sie stolperte und fiel. „Au...“ Plötzlich wurde es hell, das Licht ging an. Durch das Poltern war Kai aufgewacht. „Meine Güte, was-?“ Er sah überrascht auf den Boden. Dort wimmerte Lin leise. „Angelotchok? Was machst du denn hier?“ Kai schob sich aus dem Bett, noch leicht vom Schlaf benommen, und kniete sich neben das kleine Mädchen. „Ich kann nicht schlafen... Ich hab geträumt... geträumt...“ Lin schniefte und zog die Nase hoch, während sie ihr Knie hielt. Es war keine besonders schlimme Verletzung, aber zusammen mit dem Traum kamen die Tränen. Sie konnte nicht erzählen, was sie geträumt hatte, sie wusste nur noch, dass es schrecklich gewesen war. Sachte strich Kai ihr über den Kopf. „Hast du schlecht geträumt?“, fragte er sanft, mehr rethorisch. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie mitreißend Albträume waren. Sie verfolgten auch ihn manchmal selbst im Wachzustand. „Was’n los?“, vernahmen die beiden da eine verschlafene Stimme aus der Richtung, wo Ray schlief. „Nichts. Schlaf nur weiter“, erwiderte Kai ruhig. Dann wandte er sich wieder an Lin, die noch immer recht verloren und verängstigt wirkte. „Möchtest du hier schlafen?“ Lin sah beschämt zu Boden. „Ich will ja ein großes Mädchen sein und keinen Ärger machen, aber... aber...“ Dicke Krokodilstränen kullerten ihre Wangen hinunter. Es war, als würde eine große Last von ihren Schultern fallen. Bei Kai fühlte sie sich so geborgen! Und das beruhte sogar auf Gegenseitigkeit. „Du machst keinen Ärger. Und du darfst ruhig ein kleines Mädchen sein und Angst haben. Ich bin doch da! Ich pass doch auf dich auf!“, erklärte Kai ihr sanft. „Dann... Dann möchte ich bei dir schlafen!“ Kai lächelte sie liebevoll an und nickte ihr zu. „Na, krabbel schon rein!“ Das Mädchen ließ sich das nicht zweimal sagen und Kai folgte ihr. Zärtlich deckte er sie zu, bevor er sich hinter sie legte. Sie kuschelte sich nah an ihn, fasste nach seiner Hand und zog sie über sich, so dass er sie im Arm hielt. Kai lächelte und zog sie zu sich. Lin war ihrem Bruder so nahe, dass sie seinen Herzschlag hören konnte. Sie lauschte. Es war so beruhigend. Noch dazu murmelte Kai ihr leise, sanfte Worte ins Ohr: „Мой маленький ангел, Твой сияющий свет всегда находит меня. Твоя улыбка равняется самому светлому мерцанию. Без тебя не находи никакой отдых’. Так как ты являешься мой маленький ангел, это тй!“** Bald schon schlief sie sie in seinen Armen ein. Das kleine Gedicht, dass er ihr aufsagte, beinahe vorsang, hatte ihm damals seine Mutter kurz vor dem Einschlafen vorgesungen. Er konnte sich nur noch an den Text erinnern, die Melodie war ihm über die Jahre abhanden gekommen. Ray schielte zum anderen Bett herüber und freute sich, dass Kai auch so einfühlsam sein konnte. Diese zärtliche Seite war dem Schwarzhaarigen unbekannt. Kai konnte boshaft sein, aufbrausend, schnippisch – aber er war auch loyal und aufopferungsvoll. An ihrem Leader gab es soviel zu entdecken! Doch Ray war zu müde, um darüber länger nachzudenken und weilte schon kurz darauf wieder im Land der Träume. Kai dagegen wartete die regelmäßigen Atemzüge ab, ehe er sich vorsichtig über sie beugte. Er sah auf das Kind hinab, auf das im Schlaf engelsgleiche, entspannte Gesicht. Zwar waren die Spuren der Tränen noch sichtbar, doch sie selbst waren versiegt. Kein Schluchzen kam mehr über ihre Lippen, kein Beben erzitterte mehr ihr Schultern. Der Albtraum war vorüber. Erleichtert atmete er aus. Anscheinend fiel sie, im Gegensatz zu ihm, nicht so schnell in einen erneuten bösen Traum. Und falls doch, so war er ja da, er passte schließlich auf sie auf. Es tat gut zu wissen, dass er gebraucht wurde. Vokabeln Angelotchok - Engelchen ** (selbst ausgedacht übrigens, eigens für diese FF!!) Moj malen’kij angel[otchok] - Mein kleiner Engel Twoj sijatnij swet menja wsegda naidjot - Dein strahlendes Licht findet mich immer Twoja uljbka kak swetnij merzat’ - Dein Lächeln gleicht dem hellsten Schimmer Bez tebja ja ne najdu pokoju - Ohne dich find ich keine Ruh’ Potomu-sto moj malenkij angel, eto ti! - Denn mein kleiner Engel, das bist du! Kapitel 34: Fanservice ---------------------- In den unterirdischen Karzern waren das Schreien und die lauten Schluchzer unerträglich. Zumindest für jemanden mit gesundem Menschenverstand. Doch die dicken Steinwände verschluckten jeden Laut, der an die Oberfläche hätte kommen können. „Für jeden Schrei bekommst du einen Schlag mehr!“, brüllte Boris, der großes Gefallen an seiner Aufgabe als Henkersknecht fand, den Jungen vor sich an. Dieser steckte bis zur Hüfte in einer mittelalterlichen Folterkonstruktion: Ein zur Züchtigung eigens konstruierter Stuhl, der vorn eine runde Öffnung hatte, durch die der Knabe mit dem Oberkörper voran hatte kriechen müssen, bis die Öffnung sich um seine Lenden schloss. Boris hatte sich auf dem Stuhl niedergelassen, dem Jungen das Hinterteil entblößt und prügelte mit einem kurzen Reisigbesen darauf ein, bis die Haut dunkelte und aufplatzte und das Blut die Beine hinab rann.*1 Der Junge würde tagelang nicht sitzen können. Voltaire zog hinter sich die Tür zu und setzte sich in seinen Ohrensessel, der vor seinem Kamin im Wohnzimmer stand. Ihm gingen die Worte seines Enkels seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Lange schon hatte er überlegt, wie er Kai abermals ins Straucheln bringen könnte. Schließlich nahm er seinen Telefonhörer und wählte bedächtig und mit arglistigem Vergnügen die ihm bekannte Nummer. Das konnte doch nicht so schwer sein. Ray konnte es schließlich auch. Aber es machte ihn nervös, dass eben jener hinter ihm stand und dauernd fragte, ob er ihm nicht helfen könne. „Ich werde ja wohl noch ne Waschmaschine anstellen können, jetzt lass mich doch mal!“, murrte Tyson und schüttete weißes Pulver in den dafür vorgesehenen Schacht. Danach drückte er willkürlich ein paar Knöpfe. „Oh-oh, Tyson… Wenn jetzt was einläuft… Da sind auch Kais Sachen drin, der macht dich einen Kopf kürzer!“ Gerade wollte der Blauhaarige zu einer Antwort ansetzen, da hörten sie einen wüsten Schimpfruf und kurz darauf Kais zornige, aber beherrschte Stimme, die nach Kenny verlangte. Fragend sahen sich Ray und Tyson an, dann stiegen sie neugierig die Treppe aus dem Keller hinauf ins Wohnzimmer. „Mhmmm… Funktionsausfall irreparabel.“ „Ja, und was heißt das jetzt?“ „Das sagen sie dir immer dann, wenn sie den Geist ganz aufgeben. Im Klartext: Dein Computer ist im Arsch, Kai.“ „Nein, Kenny, mach mich jetzt nicht schwach!“ Es war nicht irgendein Computer, es war Kais Laptop, den er für seine nächtlichen Operationen und Aufträge brauchte. „Kannst du den nicht irgendwie reparieren? Kenny, ich brauch den wirklich!“ „Nun… vielleicht.. wenn du mir dein Passwort gibst, kann ich mich einloggen und..“ „Nein! … Ich meine … das geht nicht. Da sind persönliche Daten drauf!“ „Ich werde schon nicht in deinen Akten und Ordnern schnüffeln, Kai!“ „Ja, aber nachher gehen Daten verloren. Das geht nicht.“ „Für solche Fälle sollte man immer Sicherungskopien anfertigen“, meinte Kenny nur und zuckte mit den Schultern. „Dann kann ich dir nicht helfen.“ Kai seufzte. Mit dem Laptop unter seinem Arm ging er zum Telefon, um Tala anzurufen. Der war in technischen Belangen, besonders was Computer betraf, mindestens genauso versiert wie Kenny. Doch gerade, als er den Hörer in die Hand nahm, klingelte dieses. „Hiwatari?“ „~“Und wen hast du, der dich liebt?“~“ Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber dass sein Großvater sich so direkt an ihn wandte, war neu. Selten suchte er die direkte Konfrontation. Trotzdem verschwendete Kai keinen Gedanken an das Warum. „Едь к аде!“ Wütend knallte er den Hörer auf. Auf Rays Frage, wer das gewesen sei, antwortete er mit einem „Niemand Wichtiges.“ Ob ein solches Verhalten seinem Erzfeind gegenüber Konsequenzen trug, würde sich schon früh genug zeigen. Ein paar Tage später klingelte es frühmorgens an der Tür. Doch anscheinend schien der Besucher nicht lange warten zu wollen, denn kurz darauf schwang die Tür schon von selbst auf. Es war Mr. Dickenson, der frohgemut in die Wohnung trat und nach seinen Schützlingen rief. Diese kamen, mehr oder weniger willig, da sie ihren Schlaf unterbrechen mussten, in die Küche geschlurft, in der sich ihr Sponsor bereits selbstverständlich einen Kaffee gekocht hatte. Der Teamleader schleppte sich als Letzter heran, in eine leichte Sommerdecke gewickelt. Er hatte auf dem Sofa übernachtet, da er seit dem Absturz seines Laptops allabendlich mit Tala telefonierte, um ihn wieder flott zu kriegen. Gestern dann war ihnen dabei der Durchbruch gelungen, aber es hatte so lange gedauert, dass Kai noch während des Telefonats eingeschlafen war. Als Beweis zierte der Abdruck des Hörers seine Wange, zur leichten Belustigung seines Teams. Der Teamleader rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah zerknittert zu Mr. Dickenson. „Kai! Ich habe lange nachgedacht und eine super Idee!“ Der Silberhaarige war nicht ganz von der Super-Artigkeit des ihm noch unbekannten Einfalls ihres Sponsors überzeugt. „Ich habe mit der Schulleitung gesprochen und vorgeschlagen, dass du eine Hausaufgabenbetreuung für die Grundschüler übernimmst! Na? Was hältst du davon?“ Mr. Dickenson strahlte ihn an. Kai fiel aus allen Wolken. Das sollte ihm auch noch aufgebürdet werden? Wie sollte er wieder Aufträge annehmen können, wenn er nun nicht mehr nur Trainer war, sich um seine eigenen schulischen Leistungen sowie die von Lin kümmerte, sondern auch noch Nachhilfe geben sollte?! Dabei hatte er doch gerade mit Tala besprochen, wieder Aufträge entgegenzunehmen, sich wieder auf die Suche zu machen, sein Doppelleben wieder in den Griff zu bekommen. „Ich vergaß: Schlafen wird ja völlig überbewertet!“, knurrte Kai als Antwort und schüttelte den Kopf. „Ja, aber… ich hielt das für eine gute Idee! Außerdem könnte Lin auch daran teilnehmen. Es würde dich nur eine oder zwei Stunden am Tag kosten. Außerdem wird das dein Image enorm aufbessern! Und was glaubst du, wie positiv das in deinem Lebenslauf auffällt! Du willst doch vielleicht auch mal studieren, hierzulande an einer Universität oder, was ich mir bei dir auch gut vorstellen könnte, an einem College im Ausland.“ Nachdem Mr. Dickenson Lin erwähnt hatte, hörte Kai schon nicht mehr hin. Das klang schon besser. Lin würde Freunde finden, ihre Hausaufgaben machen… Kai könnte seine ebenfalls rasch verfassen, wenn die Schüler keine Fragen hatten… „Ich will es eine Woche versuchen, danach entscheide ich mich, okay?“ Der Patron der Bladebreakers hatte mit mehr Widerstand gerechnet, mit mehr Überzeugungskraft, die er hätte einsetzen musste. Umso mehr freute ihn nun Kais Antwort. „Super! Es wird dir bestimmt auch Spaß machen. Ich werde es gleich an die Schulleitungen deiner und der Grundschule weiterleiten. Dreimal in der Woche müsstest du-“ „Zweimal. Ich hab ja auch noch ein Privatleben!“ „Seit wann denn das?“, stichelte Tyson frech, weil er es liebte, Kai zu provozieren. „Immer schon gehabt. Vielleicht finde ich ja ein Mädchen toll und möchte sie kennen lernen und mich mit ihr treffen? Schon mal drüber nachgedacht?“ Diese Antwort nahm Tyson den Wind aus den Segeln. Er öffnete zwar den Mund, schloss ihn aber ungebraucht wieder. Ray und Max lachten. Mr. Dickenson nickte wohlwollend und notierte sich etwas in seinen dicken Notizblock. „Gut, ich freue mich sehr, dich so prächtig entwickeln zu sehen, Kai. Ach so, noch was: Bereite dein Team auf das nächste Turnier vor. Es findet in eineinhalb Monaten statt.“ Mr. Dickenson schlürfte seinen Kaffee. Kai nickte nur müde, wickelte die Decke fest um sich und verabschiedete sich. Das waren ja herrliche Aussichten! Am selben Abend noch telefonierte Kai mit Tala und erzählte ihm von seinen neuerlichen Aufgaben und Pflichten. Zwischendurch kam Ray immer mal wieder in ihr Zimmer und verließ es danach kurz. Er schien aufzuräumen. Kai hatte es sich an seinem Schreibtisch gemütlich gemacht und lauschte entspannt Talas Worten in seiner Muttersprache, in der er selbst auch antwortete. „~“Ich dachte, du hättest wieder ein geregeltes Leben? Du stopfst es dir ja schon wieder so voll, willst du überhaupt noch schlafen?“~“ „Passt schon. Ich meine, wenn Lin in dieser Fördergruppe ist, die ich betreuen soll, hab ich doch schon gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen –“ „~“Wie nett du das ausdrückst…“~“ „ – und ich denke, dass da bald Routine einkehren wird. Probleme hab ich nur im Hinblick auf das Turnier…“ Am anderen Ende der Leitung war es kurze Zeit still. Es schien, als würde Tala nach den richtigen Worten suchen, was eigentlich nicht oft vorkam. „~“Manchmal glaube ich, du hättest es bei den Demolition Boys besser gehabt. Ich hab jetzt jedenfalls nicht so einen Stress wie du.“~“ Kais Antwort kam ein wenig schneller als die seines Freundes. „Aber die Demolition Boys gibt es nicht mehr. Da fällt mir was ein: Wir brauchen einen Blader mehr in diesem Turnier, willst du nicht mitmachen?“ „~“Ich bin doch gar nicht im Training, wie stellst du dir das vor?“~“ „Na, komm doch einfach hier her! Wir zwei machen unser eigenes Trainingslager auf! Und Mr. D. regelt das sicher mit deiner Schule und alles! Ich mein, du und ich, wir sind doch ein eingespieltes Team! Wenn wir das Training organisieren… Oh bitte!!“ Aufgeregt drehte der Silberhaarige sich auf seinem Bürostuhl einmal um sich selbst, da er sich allein wähnte. Tala lachte in den Hörer. Kai war ja richtig Feuer und Flamme von dieser Idee. Er fragte sich nur, wessen kindliche Art da auf seinen besten Freund abfärbte. „~“In Ordnung, da du so drauf bestehst. Ehrlich gesagt, freu ich mich schon auf ein paar Matches gegen dich!“~“ Grinsend nahm Kai die Herausforderung an. Sie verabredeten sich für den folgenden Abend am Bahnhof, Kai wollte ihn dann abholen. Während des Gesprächs bemerkte er nicht, dass Tyson Ray einen Besuch abstattete, um ihn etwas wegen der Hausaufgaben zu fragen. Der Blauhaarige kam nicht umhin, etwas zu lauschen. Zwar verstand er nicht viel, aber gegen Ende fing Kai unfreiwillig an, Japanisch und Russisch zu mischen, bedingt dadurch, dass er Tysons und Rays Stimmen als Hintergrundgeräusche unbewusst wahrnahm. Außerdem war er so langsam müde geworden. Er gähnte. Die letzten Sätze kamen ihm auf Japanisch über die Lippen, in einer Sanftheit, die mehr denn sonst irgendwas seiner Müdigkeit zuzuschreiben war. „Gut, bis morgen. Ja, natürlich warte ich auf dich. … Wirklich? Besser ist das. Ich schreib dir gleich ne SMS. Schlaf gut.“ Kai legte auf und streckte sich, kratzte sich dann genüsslich den Hinterkopf. Tyson beobachtete seinen Teamleader eine Weile, ehe sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Was war das denn eben? Hast du etwa ein Date?“ Kai fuhr herum, jetzt erst wurde er sich Tysons Anwesenheit bewusst. Er musterte sein Gegenüber misstrauisch, entschied sich dann für eine kleine Neckerei. Was hatte er zu verlieren? „Als ob ich dir das auf die Nase binden würde, Tyson…“ Sofort stürmte der genannte Wirbelwind aus dem Zimmer und verkündete auf seinem Weg lauthals: „Kai hat ein DATE! Kai hat ein DATE!!“ Seufzend sah der Silberhaarige ihm nach. Er ging ins Bad, um sich rasch die Zähne zu putzen, damit er sich dann endlich in die Federn werfen konnte. Ray folgte ihm und ließ sich auf dem Wannenrand nieder. „Stimmt das?“, fragte der Schwarzhaarige neugierig. Kai wandte sich ihm mit von Schaum bedeckten Lippen zu und schüttelte belustigt den Kopf. Mit der Zahnbürste noch im Mund erklärte er Ray seinen Plan, Tala für das Turnier in ihr Team aufzunehmen. Zwar verstand Ray nur die Hälfte, nickte dann aber und erhob sich wieder. „Kai? – Ich finde es gut, wie du… Ach, vergiss es.“ Lächelnd brach er ab, hob die Hand zum Gruß und ließ den anderen im Bad allein. Kai spuckte aus. „Was war das denn jetzt?“ ~Genau das, wonach es sich anfühlt, Kai. Du fängst an, alles richtig zu machen. Und sie bemerken das.~ Dranzers wohlig gurrende Stimme jagte Kai einen Schauer über die Haut. Natürlich wusste er auch, dass es seinem Phönix auch gefiel, dass er sich schon eine geraume Zeit nicht mehr in Gefahr begeben hatte. Doch das würde sich bald wieder ändern, denn Kai hatte schon einen weiteren lukrativen Auftrag im Sinn, nicht in finanzieller Hinsicht, jedoch glaubte er, dieser würde ihn nun endlich einen richtigen Anhaltspunkt in seiner Suche liefern. Tala hatte vorgeschlagen, ein Kobe-Rind zu entführen, lebendig, und es außer Landes zu bringen. Der Auftraggeber dieses ungewöhnlichen Wunsches hatte gute Kontakte zu einer Organisation in Amerika, die eng mit einer weiteren russischen Organisation im Untergrund zusammenarbeitete. Kai und Tala wussten, dass die russische bereits mehrmals versucht hatte, Indizien gegen die Abtei zu sammeln, jedes Mal aber gescheitert war, wenn sie zu nah an Voltaire oder Boris gekommen waren. Aus diesem Grund versprachen beide sich auch viel dadurch, dass sie ihrem neuen Auftraggeber sozusagen einen kleinen Gefallen taten. Bezahlt wurden sie natürlich, aber vermutlich konnte er ihnen auch genau sagen, wo sich Kais Eltern aufhalten könnten. Und dafür ein Kobe-Rind zu stehlen, war ja beinahe schon lächerlich, auch wenn auf diesen besonderen Kühen Exportverbot bestand. Was Kai, nebenbei bemerkt, ziemlich albern fand. Es war ja nur eine Kuh. Er hatte sich im Internet den aufgezeichneten Beitrag eines TV-Nachrichtensenders über diese Rinder angesehen. Wie die verwöhnt wurden: Massage, besonderes Futter – und all das nur, um später als außerordentlich teures Steak zu enden. Müde schüttelte Kai den Kopf. Als er aus dem Bad kam, warf er einen raschen Blick auf die mit den Stundenplänen zugekleisterte Wand über seinem Schreibtisch. Morgen würde er zum ersten Mal diese Nachhilfestunde abhalten. Aufgeregt oder nervös war er überhaupt nicht. Nur wie kam Mr. Dickenson eigentlich immer auf solch abstruse Ideen? Und warum musste ausgerechnet er, Kai, der Leidtragende dieser Geistesblitze sein? So. Jetzt saß er hier. Vor ihm eine Reihe aufmerksamer Kinder, die ihn mit großen Augen anstarrten. Die Frage, die in ihren Augen brannte, hatte er schon erkannt, ohne dass sie sie stellen mussten. Und wie befürchtet kam sie auch prompt von einem aufgeregt wirkenden Jungen, der beinahe über seinen Ranzen stolperte, als er auf Kai zulief, ein großes Blatt in der Hand. „Kann ich ein Autogramm haben?“ Kai sah auf das Papier, dann in die Runde, wo beinahe alle mit Blättern raschelten, im Begriff, aufzustehen und ihn ebenfalls mit diesem Anliegen zu bestürmen. Er sollte das nicht tun. „Setz dich bitte wieder hin.“ Kai stand auf und stellte sich vor die gut 10 Schüler, musterte jeden von ihnen eindringlich. „Ihr kennt euch untereinander alle? Fein. Ich weiß bis jetzt weder eure Namen, noch wo ihr Schwierigkeiten habt. Vermutlich komme ich nun einmal in der Woche zu euch, um euch bei euren Schwierigkeiten zu helfen. Lernen müsst ihr selbst. Doch bei Problemen, die ihr selbst nicht lösen könnt, fragt ihr mich.“ Mahnend ging sein Blick durch die Klasse. „Ich werde hier keine Autogramme geben. Hier, in dieser Klasse und auf dem gesamten Schulgelände bin ich euer Betreuer. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr wisst wer ich bin und ich freue mich, dass ihr an einem Souvenir von mir interessiert seid. Aber wir möchten hier zusammen üben und uns verbessern. Am Ende jeder Stunde gebt ihr mir eure Übungszettel zur Korrektur. Wenn ihr die wieder bekommt, habt ihr sozusagen ein Autogramm darauf. Ich muss die nämlich unterschreiben. Und wenn ihr euch anstrengt, überleg ich mir was Nettes für euch.“ Er zwinkerte Lin kurz zu, die ihn angrinste. Sie hatte ihm am Morgen einen Vorschlag unterbreitet, nach dem er der Übungsgruppe doch als Anreiz Tickets für das Turnier schenken könnte. Die Idee gefiel ihm ziemlich gut, so dass er sie im Hinterkopf behielt. Im Anschluss an seine kleine Rede verteilte er nun die Übungsblätter und ließ sich von einem der Schüler einen Sitzplan zeichnen. „Wenn Fragen sind, versucht sie erst untereinander zu klären. Aber leise! Und wenn ihr nicht weiter kommt, meldet euch. Ich komme dann zu euch.“ Kai setzte sich und schlug sein Mathebuch auf. Erstaunlicherweise gingen ihm seine eigenen Aufgaben leicht von der Hand. Erst nach einer halben Stunde meldete sich eine Schülerin. Kai erhob sich. Die Frage war rasch geklärt. Als er zurück zu seinem Pult gehen wollte, fiel ihm ein Atlas ins Auge. Dem Impuls einer Eingebung folgend schnappte er sich das große Buch und trug es zu seinem Arbeitsblatt. Warum sollte er sich nicht schon auf seinen neuen Auftrag vorbereiten, wenn er dafür Zeit hatte? Und das, was er jetzt tun würde, war mitnichten auffällig. Er zog mit einem Bleistift eine leichte Linie von der Mitte der USA zur Mitte Japans. Mit Blick auf den Maßstab der Karte rechnete er die Entfernung aus, Luftlinie natürlich. Das ergab 14250km. Interessanterweise lagen China und die USA noch weiter auseinander, nach seiner Rechnung 18266 km. Kai vertiefte sich in das Studium der Karte. Er suchte nach unscheinbaren Städten in Küstennähe. Oder zumindest nach Städten, in denen es nicht auffiel, wenn sie ein Tier transportieren würden. Vielleicht sollten sie so ein Rind erst einmal außer Landes bringen, nach Russland zum Beispiel. Oh, das schien ihm eine gute Strecke zu sein. Von Vladivostok nach Eureka in Kalifornien betrug die Luftlinie nur 7982,148km. Aber die Stadt war nur per Flugzeug über den Flughafen Arcata-Eureka zu erreichen. Sie schien keinen Hafen zu haben. Kai seufzte. Im Grunde machten sie viel zu viel Aufhebens darum, eine einzelne Kuh zu verschiffen. Aber der Kunde war bekanntlich König und er sollte bekommen, was er verlangte. Von den Kindern unbemerkt schickte er Tala eine SMS mit den Informationen, die er sich soeben verschafft hatte. Wenn sein Freund bei ihm ankam, würden sie schon eine gute Lösung finden. Tala hatte ihn noch nie hängen lassen. „Gebt bitte jetzt eure Übungsblätter ab. Es ist egal, ob ihr noch nicht fertig seid. Nächste Woche machen wir weiter. Eure Eltern holen euch gleich ab.“ Kai sammelte die Hausaufgaben seiner Schützlinge ein. Eigentlich war der Job hier doch nicht so schlecht wie zuerst angenommen! „Und, wann kommt dein Date? Stellst du sie uns auch vor?“, begrüßte Tyson als Erster Kai, als dieser mit Lin den Hausflur betrat und sich lässig die Schuhe von den Füßen streifte. „Lin – Geh mal eben und tritt Tyson von mir vors Schienbein, ja? Hast meine Erlaubnis.“ Das Mädchen machte große Augen, doch als Kai ihr zunickte und in Tysons Richtung deutete, trat sie zögerlich auf den Blauhaarigen zu. Dann sah sie ihm unverwandt ins Gesicht und Tyson blickte verdutzt auf die Kleine herab, bis sie mit dem Bein ausholte. „Verdammt, Kai! Das ist Anstiftung zur Körperverletzung!“, fluchte Tyson und sprang zurück. Lin grinste und ließ ihren Fuß wieder sinken. Sie hatte das versteckte Lächeln auf Kais Lippen durchaus bemerkt, Tyson dagegen war es entgangen. Fröhlich wirbelt Lin einmal um sich selbst, streckte sich jauchzend und lief ins Wohnzimmer. Tyson sah ihr nachdenklich hinterher, dann wandte er sich wieder an seinen Teamleader: „Warum musst du mich eigentlich immer perforieren, Kai?“ Der Angesprochene unterdrückte ein Lachen, dieser Versuch endete jedoch in einem vergnügten Grunzen. „Perforiert, mein Lieber, ist das, was es dir erleichtert, Blätter aus deinem Collegeblock zu trennen. Was du meinst, ist ‚provozieren’. Und ich tue das, weil es mir Spaß macht.“ Doch bevor der Jüngere etwas darauf erwidern konnte, rief Lin aus dem Wohnzimmer, Kai solle zu ihr kommen. „Wollen wir einen Test machen?“ „Was denn für einen Test?“ Der Silberhaarige setzte sich zu ihr aufs Sofa und sah fragend den großen Notizblock an, der auf ihrem Schoß ruhte. „Wen hast du ganz doll gern? So wirklich, wirklich lieb?“ Das war leicht, Kai überlegte gar nicht lange, wunderte sich nur über die Frage. „Tala.“ Lin ließ sich den Namen von ihm buchstabieren, setzte den von Kai darüber und begann, die Buchstaben durchzustreichen und sie durch Zahlen zu ersetzen. Fasziniert sah Kai ihr dabei zu, wie sie anhand der Zahlen eine zweistellige Summe ausrechnete und dahinter ein Prozentzeichen setzte.*² Dann wiederholte sie diese ganze Prozedur noch einmal, diesmal aber mit Talas Namen über dem Seinen. Die Ergebnisse waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. „Also, pass auf!“ Das Mädchen hockte sich auf die Knie und drehte sich zu ihm. „Dein Prozentsatz beträgt nur 12. Der von Tala ist viel höher.“ Kai sah auf das Blatt. „Aha. Und das sagt mir jetzt was?“ „Na ja… Wir spielen das immer in der Pause. Das sind deine Chancen, die du hättest, weil du ihn doch magst! Ich glaube, das zeigt, wie gut ihr zusammen passt. Wie gern ihr euch habt.“ So langsam begann Kai zu verstehen. Er schmunzelte. Die Grundlage für eine erfolgreiche Beziehung hing also von den Namen ab – na, hätte er das doch nur früher gewusst! „Also meinst du, ich soll ihn mal fragen, ob er mich auch mag? Ob er mit mir gehen will?“ „JA!“ „Auch wenn er ein Junge ist?“ Sie stutzte. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Hinter ihrer Stirn schien es angestrengt zu arbeiten. „Ich… ich weiß nicht. Ich glaube, das funktioniert doch nicht… Nicht bei Jungs!“ Kai lachte auf. „Geh und mach deine restlichen Hausaufgaben. Übrigens hat Hiromi angerufen, ob du mit ihr spielen möchtest.“ „Oh, cool! Bringst du mich zu ihr?“ „Wenn deine Aufgaben alle erledigt sind.“ Frohgemut nickte sie und verschwand in ihrem Zimmer. Noch immer schmunzelnd schüttelte Kai den Kopf. Sein Blick fiel auf den Block. Aus reiner Neugier versuchte er dieses Spiel mit Talas richtigem Namen. Aber er vergaß immer irgendwo einen Buchstaben und schließlich gab er entnervt auf. Es genügte ihm, zu wissen, dass sich Talas Zuneigung in einem Bereich von 83-92 Prozent befand. Just in diesem Augenblick klingelte Kais ‚Diensthandy’. „Wenn man vom Teufel spricht…“, murmelte Kai grinsend und nahm den Anruf entgegen. Tala kündigte an, dass er in gut zwei Stunden im Bahnhof eintrudeln würde. Entspannt lehnte sich Kai zurück. Das hieß, er könnte noch schnell duschen und sich vom Schulmuff befreien. „Ja, ich werde pünktlich sein. Oh, und weißt du was?!“ In Kais Stimme schwang ein vergnüglicher Ton mit. Er war verboten gut drauf im Moment. Tyson, der gerade das Wohnzimmer passierte, nickte ihm nur kurz zu. „Den Berechnungen zufolge liebst du mich mehr als ich dich.“ Jetzt spitzte Tyson aber die Ohren. Und Kai wusste, er wurde belauscht, auch wenn Tyson sich alle Mühe gab, das so heimlich wie möglich zu tun. „Das erklär ich dir später. Keine Sorge, Liebling, ich hole dich pünktlich ab. Für meinen Schatz tu ich doch alles!“ Anmerkungen *1 Gab es wirklich, besonders in Klosterschulen und den frühen Stadtschulen, bis ins 18. Jh. ca. Wurde zur Disziplinierung und Züchtigung eingesetzt. Prügelstrafe war Gang und Gäbe. Melanchthon z. B. wurde für jeden Lateinfehler mit der Rute geschlagen. Nachzulesen in: Max Bauer, Sittengeschichte des Deutschen Studententums, Dresden 1926 *² Ich hab das wirklich mal ausgerechnet. Das ist witzig. Und egal, welchen Namen ich verwende, Tala oder Yurij – Tala liebt Kai immer prozentual mehr XD Ihr könnt das ja mal nachprüfen, wenn ihr die Rechenweise kennt. Was für ein lustiges Kinderspiel :D Едь к аде – Fahr zur Hölle! Kapitel 35: Kuhnapping à la кровавыа война ------------------------------------------ Wer es gesehen hat: Das vor ein paar Tagen hochgeladene Kapitel “Und alles ist aus…“ war natürlich ein Aprilscherz. Wenn auch etwas verspätet. Tut mir leid. Aber ich wollte mal wieder was hochladen und war mit diesem hier noch nicht fertig.^^°° Ich hoffe, die Länge dieses Kapitels entschädigt für den Schrecken, den ihr bekommen habt. Bitte nehmt es mir nicht übel. Oh, und lest euch bitte auch meinen Autorenkommentar am Ende durch. Dieses Kapitel enthält ob seiner Länge 3 Widmungen von 3 Szenen an 3 verschiedene Leute, findet raus, wer das ist :) Und auch sonst gibt es wieder wissenswerte Links zu Webseiten, für Nachfragen zu Details u. ä. Ansonsten: Have fun!! ^^ Skeptisch hob er eine Augenbraue in die Höhe. „Bist du betrunken?“ Doch die Stille in der Leitung sagte ihm, dass der andere bereits aufgelegt hatte. Tala kam sich schon ein wenig verarscht vor. Liebling?! Schatz?!!! Wollte er ihn ärgern? Aber er nahm es erstmal einfach so hin, wie Kai ihn nannte und schob sein Handy in die Hosentasche. Zwei Stunden später stieg er aus dem Zug. Kyoto Station war unglaublich groß. Dass Kai es immer wieder schaffte, ihn sofort zu finden, war erstaunlich. Aber vielleicht stach er auch einfach aufgrund seiner Größe, seiner Statur und seines feuerroten Haares aus der Menge heraus. Tala drehte sich um. Dort leuchtete der riesige Kyoto Tower in den Nachthimmel hinein. Das sah wirklich imposant aus. Eine Weile starrte er dieses Gebäude an. Auf eine angenehme Art erfüllte es ihn mit entspannter Gelassenheit, dass er nun hier in Japan war. Er musste zugeben, anfangs hatte er es für eine diffuse Idee gehalten, doch da Kai darauf bestanden und er sich dem Wunsch seines Freundes schließlich gebeugt und sich sofort auf den Weg gemacht hatte, gefiel ihm der Gedanke immer mehr. Endlich wieder an einem Turnier teilnehmen. Endlich wieder bladen! Natürlich, in Kroatien hatte er auch am Training teilgenommen. Aber seine alte Form hatte er noch nicht wieder gefunden. Tala verfluchte sich im Stillen, als er feststellen musste, dass das Training in der Abtei ihm wirklich etwas gebracht hatte. „Willst du da Wurzeln schlagen?“ Tala drehte sich um. „Komm endlich!“ Kai nahm ihm grinsend den Koffer ab. „Wir werden das Kind schon schaukeln. Ich bin so froh, dass du mitmachst!“ „Und ich erst“, lachte Tala leise und folgte seinem Freund zum Taxi. Der Fahrer war so freundlich und half ihnen beim Verstauen des Gepäcks. Kai drückte Tala einen nun bereits vertrauten Schlüssel in die Hand. „Es ist alles für deine Ankunft vorbereitet. Ich hab sogar den Kühlschrank aufgefüllt!“ „Das klingt vielleicht… Solange du den Wodka nicht vergessen hast, ist alles in Ordnung.“ Der Rothaarige grinste breit und schnallte sich an. „Du weißt, dass du noch minderjährig bist?“ „Hat mich mein Alter je daran gehindert, etwas Verbotenes zu tun?“ Das verschmitzte Grinsen wurde noch eine Spur breiter. Den Rest der Fahrt schwiegen sich beide an. Nicht, weil sie nichts zu sagen hatten. Sie brauchten sich ganz einfach nichts zu sagen. Kai ließ den Taxifahrer zwei Straßen vor seinem Elternhaus halten. Sie stiegen aus und liefen den restlichen Weg dorthin. „Nachdem wir das Turnier gewonnen haben, können wir uns entspannen. Das Rind besorgen wir kurz vorher.“ Tala musste daraufhin lachen. „Du glaubst also, du hast die Mannschaften, die dort antreten werden, so gut wie in der Tasche?“ Kai sah ihn erschüttert an. „Nicht nur ‚so gut wie’, sondern es steht definitiv fest, dass wir nicht verlieren.“ „Wer sagt dir das?“ „Ich sag das. Aber erzähl das nicht meinem Team. Tyson kriegt sonst einen Höhenflug, der sich negativ auf seine Motivation auswirken würde.“ Kai schob nachdenklich seine Hände in die Hosentaschen und fügte hinzu: „Außerdem: Was soll schon geschehen? Mit dir an meiner Seite… Es gibt keinen Gegner, der es mit uns beiden aufnehmen kann. Es soll, so wie ich Mr. Dickenson verstanden habe, zum Teil auch Kämpfe geben, die als Zweierteam ausgeführt werden. Ich werde beim Training selektieren, wer von den Jungs zusammenpasst. Aber es sollte dir ja wohl klar sein, dass du und ich ein Paar sind.“ Tala nickte grinsend. Er legte einen Arm um Kais Taille und zog ihn an sich. „Sicher doch, малыш…“ Und um seinem Handeln die Krönung aufzusetzen, drückte er Kai in frisch verliebter Manier einen Kuss auf die Schläfe. Kai erstarrte augenblicklich zur Salzsäule und blieb wie festgefroren stehen. Tala ging ungeniert weiter. Erst als ungefähr 10 Meter sie voneinander trennten, drehte er sich zu Kai um. „Was ist los? … Fühlst du dich überrumpelt?“ Der Rothaarige lachte laut. „Da ‚du und ich ein Paar sind’“, zitierte er Kai wörtlich, „dachte ich, das sei angemessen!“ „Du Volldepp! So meinte ich das nicht. Und das weißt du genau!“, schimpfte Kai mit kräftiger Stimme los und stapfte hinter Tala her, der bereits den Weg des Vorgartens hinter sich gebracht hatte. Als Kai ihn endlich eingeholt hatte, gluckste Tala noch immer leicht und hatte Mühe, die Haustür aufzuschließen. „Hör endlich auf!“, murrte Kai und stieß ihm in die Seite. „Lass uns jetzt einfach planen, wie wir das Rind bekommen. Ich übernachte heute hier.“ In Reih und Glied hatten sich die Bladebreakers im Garten vor ihrem Teamleader versammelt. Dieser schritt ihre Reihe entlang. Vor ihnen kreisten ihre Blades. Kai musterte jeden von ihnen sehr genau. „Jetzt.“ Ein ganz ruhiger Befehl. Irritiert sahen die fünf Jungen auf. Sie verstanden nicht. Aber der Befehl ging auch nicht an sie. Tala startete seinen Blade und griff alle von der Seite an. Da Tyson, Max, Kenny und Ray sich von Kais irreführendem Befehl hatten verunsichern lassen, kamen ihre Blades ins Straucheln. Kai schalt seine Teamkameraden: „Konzentriert euch. Werdet eins mit eurem Blade, mit eurem Bitbeast. Nehmt das Turnier ernst! Es sind viele viel versprechende Jungblader dabei, die es dem Altmeister zeigen wollen. Es wird nicht leicht. Lasst euch nicht durch das verunsichern, was um euch herum passiert. Es zählt nur euer Kampf, alles andere ist nebensächlich.“ „Und trotzdem kam Tala von der Seite!!! Das kam von außen! Und auf alles Äußere sollen wir doch nicht achten!“, verteidigte Tyson sich in gewohnter Lautstärke. Kai rieb sich die Schläfen. Noch fünf Wochen bis zum Turnier und sein Team war seiner Meinung nach nicht mal ansatzweise bereit für das, was sie erwarten würde. Zumindest ließ er sie das jedes Mal aufs Neue deutlich spüren. „Stärke kommt von innen, Tyson. Du musst es dahin bringen, dass du in einem Kampf sowohl voll auf deinen Gegner fokussiert bist als auch, dass du mitkriegst, wenn du in einen Falle gelockt wirst.“ Talas Worte überraschten die Gruppe. Kai sah dankbar zu seinem besten Freund, als dieser sich neben ihn stellte, eine Hand tröstend auf seine Schulter legte und mit der anderen Wolborg auffing. Der Rothaarige fügte hinzu: „Kai hat gesagt, dass einige Kämpfe zwei gegen zwei ausgetragen werden. Es kann gut sein, dass eure Gegner versuchen, euch gegeneinander aufzubringen oder euch zu verwirren. Ihr müsst in der Lage sein, das zu durchschauen.“ „Das ist aber leichter gesagt, als getan“, gab Ray zu bedenken und seufzte schwer. Der Chinese bückte sich und hob Drigger auf, um ihn erneut in den Starter zu stecken und abzuziehen. „Die einzige Möglichkeit, ein Bit Beast zu sehen, ist, an ihre Existenz zu glauben. Und so müsst ihr auch an eure Stärke glauben! Ihr macht jetzt Einzeltraining. Jeder sucht sich eine Ecke des Gartens und übt dabei, sich voll auf sein Bitbeast einzulassen“, ordnete Kai an. Er selbst nickte Tala zu, mit ins Haus zu kommen, um sich eine Strategie zur Verbesserung des Trainings zu überlegen. Der zunächst lockere Dialog der beiden Freunde entwickelte sich im Verlauf des Gesprächs immer mehr zu einer hitzigen Diskussion. „Нет! Я не буду применять этот метод, Юра! Если мы сделаем это, мы не лучше, чем-“ „что мы должны делать это именно так, das sage ich ja gar nicht. Это только в этом: Из-за обучениемы были so gut! Selbst du не можешь отрицать это!“ „Wir können ihnen aber nicht das Abteitraining zumuten!“ Erregt standen die beiden sich wie Kontrahenten gegenüber. Die Stimmung war drückend. In dem Moment kam Max ins Wohnzimmer und ächzte: „Boah is das warm hier, kaum auszuhalten… Und so stickig... Und was macht ihr beiden eigentlich hier?“ Kai rollte genervt mit den Augen und erwiderte in einem von Ironie getränkten, leichten Singsang: „Lass es mich mit den Worten aus einem Film sagen: Uhh~, es ist so heiß hier drin, das liegt wohl daran, dass Yakuza in der Nähe sind!“ Tala starrte ihn an: „Du hast „Girls United“ gesehen?“ „... Du ja anscheinend auch!“ Beide grinsten einander an, während Max nur ratlos von einem zum anderen blickte. „Dass du auch mal Filmzitate bringst – Kai, das rührt mich zu Tränen!“, schluchzte Tala gespielt und packte sich ergriffen an die Brust. Kai boxte ihm gegen die Schulter. Er nahm einen dicken Filzschreiber und blätterte ihr Flipchart um, das sie eigens für das Turnier gekauft hatten. Es war Kennys Idee gewesen, die Strategien so festzuhalten. Typisch für einen Analytiker wie ihn. „Na gut. Dann schieß mal los, wie du dir das gedacht hast!“, meinte der Silberhaarige und nickte in Talas Richtung, um sich die Übungen zu notieren. Dabei schrieb er die Namen und die Veränderungen in Kyrillisch, zum einen, weil es ihm schneller von der Hand ging und zum anderen, damit seine Kameraden nicht wussten, woher sie ihre Ideen bezogen. Das war besser für sie. Zufrieden starrte Kai auf das Flipchart mit den verschiedenen Übungen und Strategien, die Tala und er sich in den letzten Tagen ausgedacht hatten. Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen. Ein bisschen Drill konnte nicht schaden, wie Tala meinte, und überhaupt glaubte Kai, viel zu weich im Umgang mit seinen Teamkollegen geworden zu sein. Back to the roots hieß die Devise, wenn sie nun wirklich das Turnier für sich bestreiten wollten. Doch es gab auch noch ein Leben neben dem Training, und auch das forderte seine Aufmerksamkeit. So wie heute. „Guten Morgen, Lin! Aufstehen!“, rief Kai gutgelaunt und schüttelte leicht an der Schulter des Mädchens, um sie aufzuwecken. Er war am gestrigen Abend bei ihr eingeschlafen, weil sie einen Albtraum gehabt hatte. Lin aber zog die Decke über den Kopf und murrte. Da stand Kai auf und zog die Jalousien hoch. „Aufstehen, Lin!“ „Net! Ja ne hotschu...“ „Da, ti hotsches!“ Sie konnte russisch, genau wie er. Seit sie in der ersten Nacht seinen Gute-Nacht-Gruß erwidert hatte, wusste er es bereits. Kai hatte begonnen, Nachforschungen über die Kleine anzustellen. Wo sie herkam, wie sie bei diesem schrecklichen Mann gelandet war und warum sie keine Eltern hatte, die auf sie aufpassten. Doch sie waren noch nicht beendet. Das Einzige, was er wusste, war, dass ihr seine Muttersprache in die Wiege gelegt worden. „Angelotchok, so kenn ich dich ja gar nicht! Warum willst du denn nicht aufstehen?“ Kai setzte sich auf die Bettkante. Lins Verhalten wunderte ihn, denn sie ging eigentlich immer sehr gern zur Schule. Er hatte sie sogar bei einer AG in der Schule angemeldet, in der sie Russisch lernen konnte und sie hatte ihm nicht widersprochen, stattdessen die Idee mit Freuden angenommen, denn es klang so ‚vertraut’, wie sie ihm erzählte. Zärtlich strich Kai über ihr Haar. Das Mädchen seufzte und murmelte leise: „Da sind so doofe Jungs immer... die stehen in der Pause auf dem Schulhof und gucken so böse. Die machen mir Angst.“ Kai schlug die Decke zurück und zog sie aus dem Bett. „Solange sie nur da stehen, tun sie dir doch nichts, oder? Ignoriere sie einfach.“ „Was heißt das?“ „Ignorieren? Dass du so tust, als wären die nicht da.“ Der Junge ging zur Tür. „Zieh dich an, wasch dich und kämm dir die Haare. Ich bring dich gleich zur Schule.“ Fröhlich pfeifend lief er die Treppe hinunter in die Küche, schnappte sich zwei Toasts, die gerade eben aus dem Toaster sprangen, und schmierte sie für Lin zum Frühstück. Die Schulbrote, die er bereits gestern Abend vorbereitet hatte, steckte er ihr mit einer Brotdose in den Rucksack. Kai hatte sich, zumindest was sein Sozialverhalten und sein Wesen zu Lin betraf, sichtlich verändert. Sein Leben schien einen neuen Sinn bekommen zu haben und endlich in geordneten Bahnen zu verlaufen. Dennoch, das rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, seit er mit Tala den Trainingsplan erstellt hatte, durfte er nicht so weich werden, dass die Leistung des Teams darunter litt. Als sein kleiner Engel, immer noch verschlafen, die Küche betrat, gab er ihr eine dampfende Tasse Milch und goss Tee für die anderen in deren Tassen. Kurz darauf trudelte auch schon der Rest des Teams zerknittert und müde ein. Kai richtete gerade den Rock und den Kragen von Lins Schuluniform. „So Leute, ich fahr früher, muss noch eben an der Grundschule vorbei. Bis später!“ Etwas verwirrt starrten sie dem Wirbelwind hinterher, der doch eigentlich ihr mürrischer Teamleader war. Aber die Bladebreakers waren zu zerschlagen vom Training, als dass sie sich näher mit der heutigen Situation auseinandersetzen konnten. Kai verschwand mit Lin in der Garage und setzte das ebenfalls noch immer müde Mädchen auf die Stange seines Fahrrades. Dann fuhren sie los. Die Jungen, von denen Lin erzählt hatte, standen gleich zu Anfang des Schulhofes und musterten die einzelnen Schüler sehr genau. Kai, der das bemerkte, nahm die Hand seiner kleinen Schwester, wie er sie liebevoll nannte, und geleitete sie zum Eingang. Dort verabschiedete er sich von ihr: „Also, pass auf dich auf. Und denk dran, die Jungs da kochen auch nur mit Wasser. Und jetzt rein mit dir!“ Lächelnd gab er ihr einen leichten Schubs und Lin winkte ihm noch nach, als er sich auf sein Fahrrad schwang und seinen Schulweg antrat. Kai zuckte zusammen. In seiner Hosentasche vibrierte etwas – sein Handy! „Entschuldigen Sie, darf ich austreten?“, fragte er seinen Mathelehrer höflich. „Wie? Oh, ja, ja, gehen Sie nur, bevor noch ein Unglück geschieht!“ Seine Mitschüler lachten, während Kai den Klassenraum verließ. Draußen auf dem Flur holte er sein Handy hervor und antwortete auf den Anruf einer unbekannten Nummer. „Hallo?“ „~“Guten Tag. Mein Name ist Koji Naara. Spreche ich mit Kai Hiwatari?“ „Ja, der bin ich.“ „~“Nun, könnte ich Sie zu einem Gespräch einladen?“~“ „Von mir aus. Wann denn? Und wer sind Sie überhaupt?“ „~“... Am besten sofort. Ich bin Schulleiter an der Sakura Elementary School. Es geht um Ihre Schwester.“~“ Sofort machte Kai sich auf den Weg, scherte sich nicht mehr darum, sich vom Unterricht abzumelden. Er wusste nicht, worum es ging, aber wenn er als Ansprechpartner angerufen wurde, konnte es sich nur um etwas sehr Wichtiges Handeln. Sonst wurden doch Erziehungsberechtigte nicht benachrichtig, oder? Im Handumdrehen war er an der Grundschule angekommen. Im Direktionsbüro warteten bereits Lin und der Rektor. „Oh mein Gott! Solnyschka! Was ist passiert?! Wer war das?!“ Der Schulleiter erhob sich. „Also, Sie sind Herr Hiwatari? Nun, ich werde es Ihnen erklären: Sie hat sich geprügelt.“ „Geprügelt?!“, wiederholte Kai ungläubig. Er stand zwischen dem Direktor und Lin und sah leicht zweifelnd abwechselnd von einem zum anderen. „Jawohl. Und sie ist sich keiner Schuld bewusst! Sie hat sich grundlos mit ein paar Jungen des vierten Jahrgangs auf dem Boden gewälzt, wie mir diese mitteilten. Nur mit Mühe konnten die Aufsicht führenden Lehrkräfte die Kinder voneinander trennen“, erklärte der Rektor weiterhin. Lin zog eine trotzige Mine. Ihr Haar war zerzaust, der sonst so ordentlich geflochtene Zopf fiel langsam auseinander, die Strähnen hingen wild durcheinander. Sie hatte ein aufgeschlagenes Knie, eine kleine Schürfwunde am Ellbogen und Dreck im Gesicht und an den Armen. „Was?“ „Gar nicht wahr!“ Schmollend sah die Kleine ihren Bruder an. „Das waren nämlich die Jungs von heute morgen! Die haben Erias Apfel weggeworfen, ihr das Frühstücksgeld weggenommen und sie herumgeschubst!“ Kai musterte sie prüfend: „Und dann?“ „Eria ist ins Gras gefallen und hat geweint. Und dann hab ich mit den Jungs geschimpft. Die haben aber dann gesagt, ich bin eine doofe Kuh. Und ich soll den Mund halten und ihnen auch mein Geld geben.“ Sie atmete noch heftig, Kai sah ihr an, dass sie wütend war. „Und was hast du gemacht?“ „Ich hab sie geschubst und gesagt, sie können...“ Lin errötete. Der Sechzehnjährige beugte sich zu ihr hinunter, hockte sich vor ihr nieder und nahm ihre kleinen Hände in seine. „Ja?“ „... ‚Ihr könnt euch ins Knie ficken!’, hab ich gesagt!“ Sie schämte sich sehr dafür. Kai war überrascht und erschrocken zugleich. Aber Lin sprach hastig weiter: „Na ja, und dann... dann haben die sich auf mich geworfen und wollten mich verhauen!“ Sie machte eine Pause. „Aber ich hab mich gut gewehrt!“, erklärte sie schließlich mit einer Spur von Stolz in der Stimme. Kai verbarg sein Gesicht hinter seinem Arm und seinem Knie, seine Schultern bebten vor unterdrücktem Lachen. Er räusperte sich, um sich wieder einigermaßen zu beruhigen. Dann hob er den Blick und sah sie ernst an. „Lin“, begann er, „ich möchte nicht, dass du so etwas noch mal sagst. Versprichst du mir das?“ Seine Schwester nickte. „Sehr schön. Und am besten gehst du jetzt in die Klasse der Jungs und entschuldigst dich!“, schlug der Direktor vor. „Nein. Die Jungen entschuldigen sich bei ihr und Eria!“ Kai stand auf. „Eine einseitige Erklärung ist nun wirklich nicht urteilsfähig, oder? Sie haben sich nur die Geschichte der Jungen angehört. Ich weiß, es steht Aussage gegen Aussage, aber ich schlage vor, wir setzen uns alle noch einmal gemeinsam zusammen und unterhalten uns über diese Geschichte. Und Lin?“ Das Mädchen wusste, was er von ihr erwartete. „Herr Direktor, es tut mir Leid, dass ich Ihnen so viel Ärger gemacht habe, aber es war so ungerecht! Und ich wollte nicht, dass Eria wegen denen traurig ist.“ Kai lächelte und streichelte über ihr Haar. „Wie Sie sehen, bereut sie ihre Tat ja auch. Lassen Sie uns einen Termin ausmachen, am besten auch mit den Eltern der anderen Kinder, auch Erias. Wäre Ihnen heute Abend recht?“, fragte Kai diplomatisch. Der Rektor bejahte: „Nun gut. Dann werden wir es so handhaben. Auf Wiedersehen. Bis heute Abend dann, um 19.30 Uhr im Klassenraum 2-A.“ Zusammen verließ das Geschwisterpaar nach diesem Gespräch die Schule. Im Sekretariat hatten sie ein Heftpflaster für Lins Knie erstanden und mit einem Taschentuch und viel Wasser den Dreck aus ihrem Gesicht und von ihren Händen entfernt. Außerdem hatte Kai ihren Zopf ganz gelöst und mit den Fingern versucht, die Knoten zu lösen, so dass sie jetzt weniger zerzaust aussah. „Du musst wohl oder übel erst mal nach Hause, so wie du aussiehst... Aber ich hab mich nicht abgemeldet… Was ist, willst du mit in meine Schule?“ Kai zwinkerte ihr zu. „Oh ja, bitte! Darf ich mit?“ „Hm, aber nur unter einer Bedingung: Sag mir mal, woher du diese Wörter kennst. Wer hat dir die denn beigebracht?“ Lin druckste etwas herum, bevor sie mit der Sprache rausrückte. „Also?“ „Na jaaa.... Du warst das.“ „Was, ich?!“ „Ähm... ja. Du sagst das ziemlich oft, so am Telefon oder so... oder zu Tyson...“ „Oh...“ Jetzt musste Kai sich etwas einfallen lassen, aus dieser Pattsituation einigermaßen erfolgreich herauszukommen, um seinen Vorbildstatus nicht zu verlieren. „Ja gut, ich darf das aber sagen, und du nicht. Wenn du so alt bist wie ich, dann darfst du das vielleicht auch sagen. Aber Mädchen sollten nicht so böse fluchen.“ Kai nahm sie mit in seine Klasse und erklärte ihr Auftauchen mit gewissen Problemen in der Grundschule. Lin verhielt sich tadellos. Und weil das alles so überaus einwandfrei klappte, entstand in Kai immer mehr der optimistische Glaube daran, dass er bald wieder soweit war, ein geregeltes Doppelleben in Routine leben zu können. Und das veranlasste ihn, in freudiger Erwartung ihres neuesten Coups zu schwelgen. „Kai? Komm mal, es ist Post für dich gekommen!“, brüllte Max durch das gesamte Haus, weil er nicht wusste, wo sich ihr Teamleader aufhielt. Es dauerte nicht lange und der Gerufene erschien an der Tür. Vor ihm stand der Briefträger, schwer atmend, denn er hatte die Lieferung, die Kai bestellt hatte, bereits aus dem Postauto gehievt. Kai unterschrieb den Erhalt seiner drei Pakete und eilte hinaus, um sie ins Haus zu tragen. Der Postbote staunte nicht schlecht, mit welcher Leichtigkeit es dem Jungen gelang, die Kisten hochzuheben. Er selbst wischte sich noch immer den Schweiß von der Stirn. „Max, ruf die anderen in den Garten. Und dann ruf Tala an, er soll auch herkommen.“ Kai rieb sich die Hände. Wunderbar, dass seine Bestellung schon heute angekommen war! Als er alle Kartons nach hinten gebracht und auf dem Terrassentisch abgestellt hatte, ratschte er schnell mit einem Messer die Kartons auf und zeigte seinem Team, was sich darin verbarg. Er holte eine Weste hervor, die aussahen wie Munitionswesten aus dem US-amerikanischen Fernsehen. „Was ist das?!“, fragte Tyson neugierig, aber auch leicht skeptisch. Kai antwortete ihm bereitwillig: „Das sind Gewichtswesten. Die werden wir beim Training tragen, damit können wir unsere Kraft und Ausdauer verbessern. Wir haben noch genau viereinhalb Wochen bis zum Turnier. Die Gewichte werden wir stetig steigern. Fürs Erste fangt ihr mit den Gewichtsmanschetten an den Handgelenken an. Später schnallt ihr euch die an die Füße. Ach, und wenn ihr mit dem Einlaufen fertig seid, dann nehmt die Hanteln.“ „Wo kriegt man so was überhaupt her?!“, fragte Ray ungläubig und stöberte in den anderen Kartons, die gefüllt waren mit weiteren Fitness- und insbesondere Kraftgeräten. „Ich hab mal ein wenig eingekauft. Die BBA ist mir da sehr entgegengekommen!“, grinste Kai. Natürlich hatte er auch einige seiner eigenen Beziehungen spielen lassen, um noch andere, sehr spezielle Trainingsgeräte zu ergattern. Kai reichte Tala, der mittlerweile eingetrudelt war, eine der Westen und zog sie sich selbst mit Leichtigkeit an. Die Jungen staunten darüber nicht schlecht, denn als Tyson übermütig eine aufheben wollte, da es bei Kai so leicht ausgesehen hatte, musste er mit Verdruss feststellen, dass sie schwerer war als er gedacht hatte. „Das müsst ihr euch so vorstellen wie bei der Armee. Da tragen sie auch die volle Ausrüstung und laufen damit ihren 30km Marsch“, meinte Kai und half Tyson beim Anziehen der Weste. „Willst du aus uns etwa Soldaten machen?!“, rief Tyson entsetzt. Synchron huschte sowohl bei Kai als auch bei Tala ein Schatten über das Gesicht. Kai gab darauf keine Antwort außer: „Es wird euch nicht schaden. Los geht’s.“ Den Bladebreakers wurde keine Gnade zuteil. Kai schlüpfte in seine alte Rolle des unnachgiebigen Paradefeldwebels hinein, die ihm so vertraut war wie ein alter, bequemer Schuh. Dennoch dachte er rational und baute die Kondition und Kraft seiner Kameraden nachhaltig auf. Die Gewichtswesten bedeuteten eine zusätzliche Belastung beim Laufen und allen übrigen Übungen. Kai duldete nicht, dass sein Team sich, sofern er es nicht ausdrücklich anordnete, während des Trainings der Westen entledigte. Diese waren ausgerüstet mit vier Gewichtstaschen, in die vier Granulatsäckchen a zweieinhalb Kilogramm verteilt werden konnte. Das hieß, jede Weste wog, vollständig beladen, zehneinhalb Kilogramm, was die Jungen mit sich herumschleppen mussten. Kai hatte vor, das Gewicht in den nächsten Wochen auf zwanzig Kilogramm zu erhöhen. Das konnte er seinen Kameraden guten Gewissens zumuten. Er selbst und Tala fingen bereits mit diesem hohen Gewicht an. Sie beide wollten bis auf 35kg erhöhen. Dazu trug Kai beim Training und sowieso immer schon seinen weißen Schal, der aus einem bestimmten Material bestand, in das Gewichte eingewebt waren, so dass er zwei Kilo mehr als alle anderen mit sich herumtrug. Der Silberhaarige rief sein Team nach dem Warmlaufen noch einmal zusammen. Er verteilte an jeden jeweils ein Paar Hand- und Fußgelenkgewichte. Diese waren variabel verstellbar. So konnte Kai individuell je nach Fortschritt entscheiden, wie viele kleine Gewichtseinheiten einzutragen waren. Bis zu 1,4 Kilogramm pro Seite war möglich. „Die Fußgewichte tragt ihr beim Laufen. Ja, Max, zusammen mit der Weste. Für den Anfang tragt ihr die Westen nicht, wenn ihr Übungen mit euren Blades macht. Dafür werdet ihr euch die Handgelenkgewichte umschnallen. Ich werde euch so lange damit triezen, bis ihr die Gewichte gar nicht mehr spürt.“ „Warum willst du uns so quälen?“, keuchte Tyson, der sich auf die Knie fallen ließ. So viel zusätzliches Gewicht belastete ihn doch. „Tyson, willst du gewinnen oder nicht? Um der Beste zu werden, muss man die Besten schlagen!! Deine Gegner sind heiß darauf, uns wegzufegen. Aber das lassen wir uns nicht gefallen! Denn wir werden gewinnen! Hat jemand irgendwas dagegen einzuwenden?!“ Niemand widersprach dem Teamleader. Dieser wiederum nickte auf die stumme Zustimmung hin und befahl dann, Liegestütze zu machen. Schon wollte Tyson wenigstens einwenden, dass Kai doch auch mal mitmachen solle, als dieser sich die Fuß- und Handgelenkgewichte bereits umschnallte und sich zu seiner Mannschaft begab, um die Liegestütze vorzumachen. Tala tat es ihm gleich und gesellte sich an seine Seite. „Wer die normale nicht kann, macht Mädchenliegestütz!“, sagte Kai, während er selbst die militärische Form ausführte. Nach dem gesamten Aufwärmprogramm folgten Übungen mit dem Starter. Kai wollte, dass sie schnell wurden. Es war ihm egal, wie langweilig die Trockenübungen waren. Er wollte Fortschritte sehen. Täglich hatten sie nur wenige Stunden zur Verfügung, was der Schule zuzuschreiben war. Aber diese wenige Zeit wollte er voll ausnutzen. Und es war ihm auch egal, wenn sie dafür noch bis in die Nacht hinein in der Dunkelheit trainieren müssten. Kai würde sein Team sehr gut vorbereiten. Mehr noch als das. Aber durchaus waren Pausen gestattet. Ob es nur Gejammer war oder ob sie ernstlich verschnaufen mussten, konnte Kai sehr genau unterscheiden. Und so unterbrach er das erste intensive Training nach guten zwei Stunden. Sofort entledigten sich Max und Tyson der Gewichtsbandagen. Kenny sah aus, als bräuchte er ein Sauerstoffzelt. Wie in Kroatien machte er auch jetzt beim Training mit, da er ein vollwertiges Mitglied des Teams war, wie er stets zu sagen pflegte, wenn jemand ihn fragte, warum auch er sich dieser Tortur unterzog. „Chef, ich brauch dich nachher mal bei den Aufzeichnungen.“ Auf diese Weise konnte Kai Kenny etwas schonen, der nun wirklich kaum Kondition hatte – definitiv aber welche aufbauen würde – ohne ihn zu kränken. „Sag mal, Kai“, keuchte Ray, der sich mit dem Rücken an den Stapel Holzscheite lehnte und kraftlos die Bandagen von seinen Handgelenken löste, „woher hast du das alles? Das war doch sicher teuer. Womit hast du das bezahlt?“ „Ach, das ging schon… Im Dutzend ist ja eh alles billiger. Ich hab dafür nur 34.000 Yen bezahlen müssen. Und die BBA beteiligt sich sogar daran.“* Währenddessen hatte Tala sich auf den Weg gemacht und erfrischende Getränke für alle aus der Küche geholt. Er verteilte kalte Coladosen an alle. Als er Tyson eine reichte, sah dieser ihn an. Es zischte, als der Japaner die Dose öffnete. „Weißt du noch…“, begann er plötzlich an Tala gewandt, „was du mir bei unserem ersten Match während der ersten Weltmeisterschaft gesagt hast?“ Tala musste nicht lange überlegen. Er sah hinaus auf die Nachbargrundstücke und ließ sich dann neben Tyson nieder. „Wir sind in einer anderen Dimension. … Als unsere Bitbeasts kollidiert sind, haben wir das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrochen und sind hier gelandet, um unser Match zu beenden!“** Überrascht, dass der Rothaarige es noch wortwörtlich wusste, starrte Tyson ihn an. Kai mischte sich nun auch in das Gespräch ein, er war neugierig. „Sag mal… Hast du das eigentlich nur gesagt, um Tyson zu verängstigen?“ Tala sah seinen besten Freund an. Kein Lächeln war in seinen Zügen zu erkennen, als er antwortete, nicht einmal ansatzweise. „Hm… vielleicht. Du weißt doch, da stand ich noch in gewisser Weise unter der Fuchtel von Boris. Aber… jetzt, da ich mir das so überlege… Was war das doch für ein Schwachsinn.“ Kai nickte. Die Risikobereitschaft Talas damals rechnete er ihm hoch an. Auch während der damaligen WM hatten sie bereits gegen die Abtei gearbeitet. Sie hatten schon so viele Hürden gemeinsam bezwungen… Kai stand auf. „Austrinken, weitermachen!“ Mit neuem Elan scheuchte er seine Jungs auf. Zwei Übungen wollte er noch durchziehen, dann war für heute Schluss. Am Ende schlurften Ray, Max und Tyson ausgelaugt zur Terrasse. Kenny händigte ihnen je einen kleinen Koffer aus, in dem sie die Utensilien für das Training unterbringen konnten. „Ach, dafür hast du das Geld gebraucht!“ Ein erstaunter, jedoch zufrieden wirkender Mr. Dickenson betrat den Garten durch die kleine Seitenpforte. Ihm blickten nur erschöpfte Bladebreakers entgegen. Der Sponsor dachte bei diesem Anblick für sich, dass Kai seiner Verantwortung und seinen Pflichten mehr als gerecht wurde. Hoffentlich schonte er seine Kameraden aber noch genug, dass sie bei dem Turnier nicht zusammenklappten. Der Sponsor des Teams bemerkte jedoch die subtile Fürsorge unter Kais strengem Blick und harschen Befehlen. Der junge Russe kümmerte sich. Auf seine ganz eigene Weise, die nicht jedem offenbar wurde. Nur wer genau hinsah, erkannte das Gedankenkonstrukt hinter den rauen Anweisungen. Und Stanley Dickenson wähnte sich glücklich, dass er dieses erkennen konnte. Es war der perfekte Trainingsplan. Nicht nur, dass er sie voranbrachte, nein, viel besser noch: Abends fielen Ray, Kenny, Max und Tyson todmüde ins Bett. Sie waren zu ausgelaugt, um Fragen zu stellen. Das war die beste Zeit, um sich um die Verwirklichung des Rinderraubes zu kümmern. Gemütlich saßen die beiden Freunde auf dem Sofa im Wohnzimmer von Kais Elternhaus. Um sie herum lagen Vergrößerungen von Karten, Fotografien von Kühen und diverse leere Chipstüten verteilt. Talas Laptop brummte leise geschäftig auf dem Tisch. „Das ist ja ein Witz, von der Entfernung her!“, freute sich der Rothaarige, nachdem er sich die Route im Internet hatte ausrechnen lassen, und stopfte sich eine Handvoll Zwiebelringe in den Mund. „Nur 78km, die sind in gut 90 Minuten zu schaffen. Fehlt nur noch ein Transporter und wir können loslegen!“, knurpste er zwischen dem Kauen und wischte sich die Hand an seiner Jeans ab, um eine weitere Suchanfrage einzutippen. „Wie wäre es mit einem Nissan Serena, das ist zwar eher so eine Art Van, aber-“ „Tala, du kannst ne stinkende Kuh, die vielleicht bei deinen Fahrkünsten noch vor Angst nen Fladen fallen lässt, nicht in einen Van sperren, ganz abgesehen davon, wie schwierig es ist, sie da überhaupt ohne Laderampe hochzukriegen!“, wehrte Kai sofort ab. Brummend suchte der Rothaarige also weiter nach Preisvergleichen für die Vermietung von Viehtransportern. Kai dagegen kontrollierte mit seinem reparierten Laptop auf seinem Schoß seine Emails. „Tala?“ Der Angesprochene reagierte mit einem halbherzigen Nicken in Kais Richtung, da er immer noch damit beschäftigt war, vor allem günstige Angebote zu sichten. „Er will zwei.“ „Zwei was?“ „Ne Kuh und nen Zuchtbullen. Einen echten Bullen!“ Jetzt erst sah Tala auf. „Was will der Kunde damit?“ Kai zuckte hilflos mit den Schultern. Noch einmal las er die Email durch. Ihnen wurde der doppelte Lohn versprochen. Geld konnten sie ja immer gebrauchen, um Informanten zu bezahlen zum Beispiel. Tala kroch währenddessen zu Kai auf das Sofa und beugte sich über seine Schulter zum Bildschirm des Laptops hinunter, um mitzulesen. „Ich frage noch mal: Was will der mit einem Bullen? Wenn der eine Zucht aufbauen will, ist das doch sinnlos, da könnte er auch ganz normale Wagyu-Rinder halten. Ich hab gelesen, dass nur die Kühe, die auch wirklich in Kobe aufwachsen, dieses Zertifikat bekommen und so genannt werden können, um dann für an die 70.000 Yen das Kilo verkauft werden zu können…“ Kai stöhnte genervt, drückte Tala den Laptop in die Hand und ließ sich in die weichen Polster der Couch fallen. In einem plötzlichen Anfall wetterte er: „Warum muss es überhaupt ein Kobe-Rind sein? Warum muss es exportiert werden? Und warum müssen wir uns um so einen Scheiß kümmern?! Nur wegen dieser Mythen um dieses dusslige, überteuerte und vermutlich gar nicht so delikate Fleisch, weil irgendwelche reichen Hobelschlunzen sich mit ihren Fettärschen noch mehr Fett anfressen wollen durch dieses ach so köstliche Gourmet-Fleisch!!“ Nach dieser Schimpftirade schnaufte der Silberhaarige angestrengt und rang nach Atem. Sie brauchten ein Zertifikat für die Echtheit des Rindes. Unbedingt. Letztlich war ihnen beiden ja auch egal, was ihre Kunden mit der verlangten Ware machen wollten, aber in diesem Fall, nach allem, was sie über die Rinderhaltung und die Rassenzuordnungen gelesen hatten, hielten sie diesen Auftrag für mehr als überflüssig. „Kai, darf ich dich an Omas aggressives Schaf erinnern? Nem Zuchtbullen nähere ich mich sicher nicht ohne entsprechende Sicherheitsmaßnahmen!“ Um ein handfestes Hintergrundwissen hatten die beiden Freunde sich schon am Tag von Talas Ankunft gekümmert, sich ausgiebig mit der Thematik rund um diese kostbare Rinderzucht beschäftigt. Die Ausfuhr war deshalb so unmöglich, weil es, was besonders Tala bezweifelte, angeblich in ganz Japan keinen Schlachthof mit EU Zulassung gebe, der Kobe-Rinder schlachtete. Und wie schon so oft von Kai bemängelt, hatten sie bei ihrer Recherche erkannt, dass für diese Schlachttiere nach ihrem Empfinden viel zu viel Aufwand in Haltung und Fleischfabrikation betrieben wurde. Allein schon, dass die „Reifezeit“ etwa 27 Monate betrug, also dreimal so viel wie bei einem normalen Rind. Von Talas Oma wussten sie, dass normale Fleischrinder am besten schon einmal gekalbt haben sollten, dann sei ihr Fleisch zarter. Kobe-Rinder dagegen blieben, was weibliche Tiere anging, „Jungfrauen“. „Ach, es ist zum Kotzen!“, bestätigte Kai und raufte sich die Haare. „Wir sollten unsere Aufträge demnächst mit größerer Sorgfalt auswählen. Dieser Job ist der erste und letzte seiner Art!“, bestimmte er dann resolut und griff neben sich zur Colaflasche. Das Wohnzimmer glich einem Teenie-Zimmer nach einer mit viel Junkfood zelebrierten Pyjama-Party. Normalerweise achteten die beiden jungen Russen auf ihre Ernährung, aber bei ihrem heutigen Einkauf am Morgen, um Talas Kühlschrank zu füllen, war der Frust über die in ihren Augen Senilität des Kunden und über das bisherige Trainingsfiasko einfach zu heftig über sie hereingebrochen, als dass sie sich dem Kaufrausch von Süßigkeiten und Knabbereien hätten erwehren können. Tala stopfte sich drei Apfelringe auf einmal in den Mund, als ihm ein weiterer Kontrapunkt für die Sinnigkeit dieses Auftrags einfiel: „Wenn jeder Bauer seine Fütterung und seine Zuchtmethoden unterschiedlich handhabt und dann daraus auch noch ein Geheimnis macht, dann ist es doch nicht damit getan, einfach ein Rind und einen Bullen zu besitzen.“ Zwischenzeitlich musste er das zerkaute Fruchtgummi hinunterschlucken, was Kai zum Glück Zeit gab, den Wortlaut des aus Schmatzen, Kauen und Nuscheln bestehenden Satzes zu entziffern. „Weiß der Kunde, auf was er sich einlässt?“, fragte der Rothaarige letztlich und leckte sich über die Zähne, um die Apfelringreste zu entfernen. Kai zuckte zum wiederholten Male nur mit den Schultern. So langsam rieb ihn diese Diskussion auf. Angeblich erfüllten jährlich nur 4.000 Rinde die hohen Qualitätsmerkmale, um sich „echtes Kobe-Fleisch“ nennen zu dürfen. Und wie Kai vor einigen Minuten im Internet gelesen hatte, boomte die Zucht, der Verkauf und Verzehr von Wagyu-Rindern besonders in den USA und in Australien. Der Silberhaarige stand auf. Er hatte keine Lust mehr. Um ein wenig Ordnung zu schaffen und als deutliches Zeichen, dass dieses Meeting beendet war, fuhr er seinen Laptop hinunter und sammelte die leeren Chipstüten ein. „Ehrlich, das treibt mich in den Wahnsinn, dieses blöde … RIND-NAPPING!!“, motzte er entnervt. Tala sah ihn belustigt an: „Pass auf, dass du kein BSE kriegst…“ Endlich hatten sie alles, was sie brauchten: Das Gehöft, das sie mit ihrem Vorhaben „beehren“ wollten, eine abgelegene Scheune als vorübergehenden Unterstand für die Tiere, die Wahl der Kuh und des Zuchtbullen, die nach ihren Recherchen sehr vielversprechend aussahen und die Geburtsurkunden dieser Rindviecher sowie den Nachweis der Blutlinie und dass beide Tiere von erlesenen Farmern gezüchtet und aufgezogen worden waren. Für den Erhalt der Dokumente hatte Tala nur ein paar seiner Hackerfähigkeiten unter Beweis stellen müssen. Und nun saßen sie beide in einem Kleinlaster auf der Schnellstraße nach Kobe. Die genaue Entfernung betrug 78,7km. Kai führte hierüber penibel Buch. Und auch über die Unkosten. Der gemietete Transporter kostete sie schon 10.400 Yen und zusätzlich hatten sie noch Mautgebühren für die Streckenbereiche der Autobahn zu zahlen, was auch noch etwa 2100 Yen betragen würde. Kai wollte die Spesen möglichst gering halten. Sie würden noch eine knappe halbe Stunde bis zu ihrem Ziel brauchen. Es war zehn Uhr abends – dass sie jetzt unterwegs sein konnten, lag an der Erschöpfung der Bladebreakers. Das harte Training wurde weiterhin von Kai und zeitweilig auch von Tala unbarmherzig durchgeführt, dafür aber dennoch mit Gehorsam und frühem Zubettgehen belohnt. Sie kamen jetzt an der letzten Mautstelle auf ihrer Strecke an und reihten sich in die aus nur fünf weiteren Autos bestehende Schlange ein. Tala, der am Steuer saß, sah zu Kai, der ständig etwas in sein Notizbuch schrieb. „Sag mal, was machst du da eigentlich?“ „Schreiben.“ „Und was?!“ „‘Kühe stehlen – Eine Einführung‘. Ne Art Erfahrungsbericht.“ Kais trockener Humor brachte Tala zum Lachen. Er zahlte, noch immer grinsend, die Mautgebühr, während Kai sich auf dem Sitz umdrehte und hinter sich griff, um eine dunkle Reisetasche hervorzuziehen. Darin war ihre Verkleidung enthalten: Eine beige Latzhose und ein weißes T-Shirt mit einem rot-weiß kariertem Hemd für Kai, für Tala eine ausgewaschene Bluejeans mit olivgrünem T-Shirt, das voller Ölflecken war. Sie wollten wie lässige Arbeiter aussehen, damit sie vorgeben konnten, sie würden die Zäune reparieren. Während Kai sich umzog, meinte er nachdenklich: „Ich glaube, Lin will in den Zoo.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte Tala umgehend. Kai steckte gerade seinen Kopf durch den etwas engen Ausschnitt des Shirts. „Sie malt in letzter Zeit häufig Tiere. Sogar in ihr Matheheft.“ „Du hättest sie ja mitnehmen können heute. Das wäre doch ein Abenteuer für sie gewesen.“ Kai rollte mit den Augen und schob sich seine Jeans von den Beinen. Das war alles, was er dieser Idee entgegnen wollte. Tala schenkte seinem rechten Außenspiegel nun größere Aufmerksamkeit, bevor er die Spur wechselte, um einen langsamen Pkw vor sich zu überholen. Dieser Linksverkehr war durchaus eine Herausforderung für ihn, wenn auch die Autofahrer hier in Japan sich weitaus gesitteter im Straßenverkehr zu benehmen wussten als die Rowdys in seiner Heimat. Andererseits gehörte er selbst zu diesen unmöglichen Fahrern, seinen Fahrstil hatten zu ihrem eigenen Bedauern auch die Bladebreakers kennen lernen dürfen. Er war auch einer von jenen Fahrern, die wüste Worte vor sich her murrten, wenn der Vordermann nervte. Das pflegte er dann stets mit dem Spruch „Wer nicht Auto fährt, lernt nie richtig fluchen“ zu relativieren. Schließlich bog er von der Autobahn hinunter auf eine Landstraße, die laut Karte zu ihrem Ziel führte. Endlich angekommen, sprang Kai aus dem Wagen, sobald Tala ihn an den Straßenrand geparkt hatte. Dann langte er mit langem Arm noch einmal in das Führerhaus und holte einen gelben Helm mit Grubenlampe und eine feste, kugelsichere Weste hervor, über die er sein kariertes Hemd tragen wollte. Auch Tala stieg nun aus, um sich ebenfalls umzuziehen. Er war es, der auf die Bauhelme und die Westen bestanden hatte. Immerhin war ihr „Gegner“ ein etwa 1000kg schwerer Zuchtbulle. „Kann’s losgehen?!“, fragte Kai und schaltete die Lichtquelle auf seinem Kopf an. Es war bereits dunkel, doch das gehörte mit zum Plan. Kühe sahen schlecht bei Nacht, auf diese Art konnten sie sich den Tieren besser nähern. Auch wenn es andererseits für sie dann schwieriger war, das richtige Rindvieh ausfindig zu machen. „Jap!“, entgegnete der Rothaarige und öffnete die Laderampe. Behände sprang er hinauf und gab Kai eine Absperrung an. Gemeinsam bauten sie eine Art Gasse mit den Bauzäunen vom Wiesengitter ausgehend zur Laderampe auf. Kai fragte besser nicht nach, woher Tala ihr Zubehör besorgt hatte. Zuletzt schnappte sich der Rothaarige eine große Werkzeugkiste, sprang wieder von der Ladefläche und kniete sich auf den Boden vor den Maschendrahtzaun. Mit einem handlichen Seitenschneider durchtrennte er geschickt die Drähte, die mit einem Pfosten verbunden waren. Kai half ihm, indem er den Zaun zunächst gerade hielt, ihn anschließend aufrollte und zur Seite wegdrehte. „So weit, so gut. Gehen wir!“ Voller Tatendrang schritt Kai auf die Wiese. Dank ihrer Grubenlampen an den Helmen konnten sie sehen, wo sich die Rinder größtenteils aufhielten. Nur ein Bulle bewachte die Herde. Das war genau jener, den sie holen wollten. „Okay, die Viecher sind sicher an Menschen gewöhnt. Wir nähern uns langsam, suchen die Kuh mit der passenden Nummer und … und… äh…“ Kais Plan war bis hierhin gereift. Doch nun standen sie tatsächlich vor den Tieren und wussten nicht recht, wie sie eines von ihnen zum Transporter schaffen sollten. „Lass uns erst mal hingehen. Vielleicht kommt sie ja freiwillig mit“, schlug Tala schulterzuckend vor und wagte sich zu der Herde. Kai schlich ihm sofort hinterher. Sie nahmen sich mit Vorsicht jedes Rind einzeln vor. Immer mit Blick auf den Bullen, von dem sie erahnten, dass er über seine Herde mit Argusaugen wachte. „Ich hab sie!“, rief Kai plötzlich erfreut und winkte Tala heran. „Okay, zum Glück steht sie. Ich leg ihr ein Halfter um und du schiebst von hinten“, meinte der Rothaarige und kümmerte sich bereits um seinen Part. Kai aber protestierte: „Von wegen anschieben! Nachher tritt die mich!“ „Na gut, dann zieh ich jetzt. Aber wenn’s nicht weiter geht, dann lauf halt neben ihr und schieb schräg.“ Tala schnalzte mit der Zunge und ging der Kuh voran, zog leicht an dem Strick in seiner Hand. „Du blendest sie ja mit deinem Licht!“, bemerkte Kai und nahm ihm die Lampe vom Kopf, um in ihre Laufrichtung zu leuchten, damit die Kuh sich nicht fürchtete, einen Huf vor den anderen zu setzen. Und tatsächlich – sie bekamen das Rind vom Fleck! Mit großen Augen blickte Tala zu seinem Freund und staunte. „Das ging ja jetzt einfach!“, meinte er verblüfft und gemeinsam führten sie die Kuh sicher und ohne Probleme zum Kleinlaster. Einzig die Laderampe bereitete ihnen Schwierigkeiten. Kai übernahm nun den Führstrick, kletterte auf die Verladerampe und versuchte die Kuh mit ein wenig Futter in seiner Hand zu locken. Tala versuchte es mit „liebevollem“ Schieben. „WOW!!“ Erschrocken sprang der Rothaarige zurück. „Das Mistvieh wollte mich treten!“, keifte er fassungslos und starrte verärgert zu Kai, der es doch jetzt tatsächlich schaffte, die Kuh in den Aufleger zu zerren. „Tja, sie hat eben ihren eigenen Kopf“, mutmaßte Kai schulterzuckend. Er wollte gerade das Rind fixieren, da hörten sowohl er als auch Tala lauter werdendes Hufgetrappel. „Oh-oh…“ Tala sah mit Entsetzen einen 1000kg-Koloss auf sich zurennen. Anscheinend war dem Bullen nicht entgangen, dass sie versuchten, „sein Mädchen“ zu entführen. „Hier! Blende ihn mit dem Licht!“, rief Kai schrill, warf ihm die Lampe zu und sprang zu ihm hinunter. Gesagt, getan, zielte Tala mit dem Lichtkegel genau in die Pupillen des Stieres. Doch das half nicht viel. Mit unbändigem Gebrüll setzte dieser nämlich seinen Weg fort. „Komm! KOMM!“, schrie Kai in wilder Panik und schlitterte unter den Lkw, zerrte Tala dabei mit sich. So etwas hatten sie – mit Ausnahme von Babuschkas Schafsbock – noch nicht erlebt. Tiere konnte man schwer bis gar nicht einschätzen. Sie waren oft viel gefährlichere Gegner als Menschen. Weil sie letzteren als Krowawaia Boina oftmals sogar überlegen waren, hatten sie die animalischen Instinkte bei diesem Auftrag unterschätzt. Der Bulle bremste ab, ehe er mit dem Wagen zusammenstieß. Als er erkannte, dass den beiden Menschlein nicht beizukommen war, schnaubte er wütend und ging vor dem Transporter auf und ab. Tala und Kai versteckten sich wie zwei kleine Jungen hilflos unter der letzten Achse und trauten sich kaum, hinter den Reifen hervor zu lugen. „Was jetzt?“, flüsterte Tala angespannt. „Wir warten!“, flüsterte Kai zurück. „Wie lange sollen wir warten?!“ „Bis er weg ist! … Aua, du tust mir weh!“, schimpfte Kai leise, weil sein Freund sich dermaßen in seiner Schulter festkrallte, dass es schmerzte. „Und wenn er bis morgen hier rumtänzelt? Was, wenn der Bauer kommt? Was sagen wir dann?“ „Dass… dass wir fast ne Kuh angefahren hätten. Und dann das Loch im Zaun gesehen haben und es reparieren wollten!“ „Ja klar, das wird uns auch jeder abkaufen, wenn wir aussehen wie Viehdiebe!“, zischte Tala, immer mit Blick auf die großen, gefährlich kräftigen Hufe. „Dann sagen wir einfach, wir wollten mit ihr zum Tierarzt. Schließlich haben wir sie ja fast angefahren… Mensch, Yura, denk dir doch auch mal selbst ne Ausrede aus!“, fauchte Kai nun zurück und lehnte sich an die Reifen. „Also warten?“ „Wir warten“, beschloss Kai bestimmend und nickte, damit seine Worte unterstreichend. Kai sah auf die Uhr. Sie hatten über eine Stunde schweigend im Schutz des Transporters verharrt. Mittlerweile schien der Bulle das Interesse verloren zu haben. Er entfernte sich gemächlichen Schrittes vom Ort des Geschehens. Trotzdem blieben Tala und Kai zur Sicherheit noch etwas in ihrem Versteck sitzen. „Ist die Luft jetzt rein?“, fragte der Rothaarige etwas argwöhnisch und schielte unter der Laderampe hervor. Tatsächlich sahen sie den Stier gemütlich zu seiner Herde zurücktrotten. „Sieht so aus“, beantwortete er sich die Frage selbst und kroch unter dem Transporter hervor. Zuallererst streckte er sich genüsslich. Das lange Warten hatte seine Glieder steif gemacht. Kai wollte ihm soeben folgen, da rumpelte es über ihm. Instinktiv zuckte er zurück. Für Tala jedoch war es zu spät. Anscheinend war es der Kuh langweilig geworden. Und da Kai sie nicht angekettet hatte, drehte sie sich nun um, marschierte schnurstracks die Rampe hinunter und weil der Rothaarige ihr im Weg stand, rammte sie kurzerhand ihren harten Kopf gegen seinen Allerwertesten. Überrascht schrie er auf, als er nach vorne gestoßen wurde und in seine selbst errichtete Absperrung fiel. Die Kuh dagegen folgte dem Bullen zurück auf die Wiese. Kai stolperte aus seinem Versteck, er hatte das Geschehen nicht vollständig sehen können. Rasch eilte er an Talas Seite. „Ist dir was passiert?“ Er half dem Rothaarigen, der sich den schmerzenden Hintern hielt, wieder auf die Beine. „Mist… Das war schlimmer als ein Tritt von Boris!“, jaulte Tala leise. „Du wirst das überleben. Wir sind schließlich starke Frontmänner! „Ja – mit breiten Zielscheiben auf unseren Ärschen!“ Kai musste lachen. Doch gleich darauf seufzte er schwer. „Na das war wohl nichts. Lange her, dass wir einen Auftrag versemmelt haben. Da brauchen wir eine neue Strategie.“ Der Silberhaarige begann, den Weidenzaun wieder zu entrollen und befestigte die durchtrennten Maschen wieder geschickt mit Draht an ihrem angestammten Platz. Tala kümmerte sich derweil um den Innenraum des Transporters. Zu seinem Ärger hatte besagte Kuh nämlich eine Hinterlassenschaft zurückgelassen. So konnten sie unmöglich die Bauzäune wieder einpacken. „Hey, Tala! Nimm mal an! Sonst bist du doch auch nicht so langsam!“, murrte Kai, der schon bereit stand und eine der Absperrungen trug, um sie seinem Freund anzugeben. Tala trat mit einem Beutel, in dem sich unweigerlich der Kuhfladen befinden musste, an den Rand des Lasters. „Mach mich bloß nicht an, wenn ich nen Haufen Scheiße in der Hand hab!“ Kai verzog angewidert das Gesicht. „Wenn du das wagst…“, knurrte er bedrohlich, doch eine passende Bedingung fiel ihm nicht ein, also ließ er die Drohung undefiniert im Raum stehen. Nachdem sie aber dann alle Hinweise auf ihr Dasein hatten verschwinden lassen und alles im Transporter wieder an Ort und Stelle stand, seufzte Tala schwer. „Hm… nach der Sache mit dem Tritt hab ich Bock auf Kühe schubsen…“ „Du meinst wohl eher Bullen schubsen…“ Die Freunde lächelten einander müde an. Beide waren sich wortlos darüber einig, dass sie in dieser Nacht keinen Fuß mehr auf diese Weide setzen wollten. „Du fährst. Ich muss meinen Arsch kurieren.“ „Ich kann dir nachher wohl einen Eisbeutel drauf legen. Oder einen Kuss, damit’s schneller heilt. Was dir lieber ist.“ Tala zeigte Kai den Mittelfinger. „Verarschen kann ich mich selbst.“ Die Ausarbeitung eines neuen Plans dauerte diesmal länger. Ihnen fehlte einfach die zündende Idee. Hinzu kam, dass Tala auf jeden Fall erst seinen Zusammenstoß mit der Kuh auskurieren wollte. Kai vermied es tunlichst, ihn deswegen aufzuziehen. Außerdem war der Silberhaarige durch den nächtlichen Ausflug sehr erschöpft. Die Phase großen Schlafentzugs fand wieder statt – durch die Dreifachbelastung, die ihm aufgebürdet war. Denn zum einen hatte er diesen Auftrag noch nicht erledigt, zum anderen musste er weiterhin gut organisiertes Training abliefern. Zwar teilte er sich diese beiden Lasten mit Tala, doch da war noch die dritte, die er sich nicht ausgesucht hatte: Kindermädchen für Grundschulkinder. Es war keine schwere Arbeit, sie bei den Hausaufgaben zu betreuen. Doch Kai hätte in dieser Zeit lieber an seinem Kuhnapping-Problem weitergearbeitet – oder geschlafen. Jetzt jedoch war einer dieser raren Momente, in denen Kai eine Schaffenspause genoss. Er hatte es sich auf der Terrasse im Gartenstuhl gemütlich gemacht. Die Sonne schien, die Temperaturen waren angenehm. Alles in allem ein warmer, junger Junitag. Kai trug nur Bermudashorts. Ein wenig gesunde Bräune konnte ihm nicht schaden, wie er fand. Ray, der ihn im Garten liegen gesehen hatte, kam mit zwei selbstgemachten, eisgekühlten Erdbeer-Bananen-Smoothies zu ihm auf die Terrasse. „Was liest du?“, fragte der Schwarzhaarige interessiert. Er konnte die kyrillische Schrift nicht entziffern. „Es war einmal eine Frau, die ihren Mann nicht sonderlich liebte.“ „So heißt das Buch?“ Ray setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und schob ihm den anderen Smoothie rüber. Kai dankte und antwortete: „Ja. Sind russische Schauergeschichten von Ljudmila Petruschewskaja.“ Der Schwarzhaarige gab einen verstehenden Laut von sich und lehnte sich mit seinem Erfrischungsgetränkt entspannt in den Stuhl zurück. Kai klappte das Buch zu und legte es auf den Tisch, um den Smoothie zu probieren. „Woher wusstest du, dass ich Erdbeeren mag?“ „Jeder mag Erdbeeren, Kai.“ „Aber ich bin nicht jeder!“ „Auch wieder wahr.“ Grinsend schielte der Chinese zu seinem russischen Teamkollegen, der gerade an seinem Smoothie nippte. „Sagen wir einfach, du bist auch sonst nicht mäkelig, wenn es ums Essen oder so geht“, schmunzelte Ray. „Das klingt ja fast so, als wolltest du mich als Fresssack betiteln!“, murrte Kai beleidigt und sank wieder zurück in das weiche Sitzpolster. Ray wusste, Kai wollte sich nichts anmerken lassen, doch die langen, dunklen Schatten unter seinen Augen verrieten mehr, als ihm vielleicht lieb war. Ihr Leader wirkte erschöpft. Das fiel nicht nur beim Training auf, sondern auch, wenn er so wie jetzt einfach nur da saß und ruhte. Zufällig kam gerade Tyson mit dem Rest des Teams durch die kleine Seitenpforte. „Hey, wer hat Lust, gegen mich zu bladen?“, fragte er fröhlich und sprang auf die Terrasse. Das harte Training schien ihm die Freude am Spiel nicht zu verleiden. Doch keiner reagierte auf seine enthusiastische Anfrage, eher erntete er ein ermattetes Seufzen. Max verzog sich mit Kenny sogar rettend ins Haus. Auf einen Blick hin winkte auch Ray ab. „Tyson, gönn dir etwas Ruhe. Glaub ja nicht, dass ich dich beim nächsten Training weniger hart rannehme, wenn du jetzt vor Kraft nur so strotzt und mir deinen Ehrgeiz zeigst“, meinte Kai mit ruhiger Stimme. „Oh, komm schon, Kai! Dann wenigstens du! Du dürftest doch am allerwenigsten was dagegen haben!“ „Nein, Tyson. Lies lieber noch mal in dem Buch, was ich dir gegeben habe. Theorie ist genauso wichtig wie Praxis.“ „Das Kapitel hab ich schon so oft gelesen, es hängt mir zum Hals raus. Komm, nur ein kleines Match“, quengelte Tyson. Jetzt riss aber bei Kai der Geduldsfaden. Er wollte einen Moment seine Ruhe. Einfach nur faulenzen – das durfte ihm doch auch gestattet sein, oder? Doch stattdessen triezte Tyson ihn so sehr, dass er tatsächlich wieder in alte Befehlsmarotten verfiel: „Ich fass es einfach nicht, dass du nicht begreifen willst, an welcher Stelle der Befehlskette du stehst – beziehungsweise NICHT stehst! Ich sagte NEIN und das ist mein letztes Wort!“ Kurz schwieg Tyson. Kai hatte sich aufgerichtet und wütend mit dem Finger durch die Luft in Tysons Richtung gepiekt. „…Wenn du immer das letzte Wort haben willst, solltest du mehr Selbstgespräche führen.“ „Ich rede nicht mit Subjekten, deren IQ niedriger ist als die Raumtemperatur!“, fauchte Kai, wollte das Gespräch damit als beendet erklären. Ray schnallte dieses Eigentor als erstes und prustete los. Als der Schwarzhaarige lachte, verstand sogar Tyson den Witz und fiel in das Lachen mit ein. „Was..?“, begann Kai, doch dann fiel es auch ihm wie Schuppen von den Augen. „Ja, ja… lacht ihr nur…“, murrte er und plumpste auf seinen Stuhl zurück. Und dann musste er sich dem ansteckenden Lachen geschlagen geben und gab ein kurzes amüsiertes Grunzen von sich. Doch die Heiterkeit hatte nur kurzzeitig Bestand. Denn genau in dem Moment, als Mr. Dickenson erschien, fühlte Kai augenblicklich eine ungeheure Last auf seinen Schultern. Mr. Dickenson stand für all die Verantwortung und Bürden, die er trug. Schmerzlich erinnerte er sich daran, dass auf seinem Schreibtisch noch ein hoher Stapel an unkorrigierten Übungsblättern lag, gleich neben einer angefangenen Kurvendiskussion, die er wegen eines plötzlichen Geistesblitzes bezüglich einer neuen, effektiven Trainingseinheit zur Seite geschoben hatte. Kai blickte zu Boden. Der Sponsor, der wegen seiner leichten Beleibtheit in der warmen Junisonne bereits schwitzte, begrüßte seine Schützlinge heiter. Routiniert fragte er sie nach ihrem Befinden. Und dann erkundigte er sich nach den Fortschritten: „Wie gefällt euch denn das Training bis jetzt? Wie sind Kais Methoden? Motiviert er euch auch gut?“ Tyson antwortete bereitwillig und in seiner bekannten stichelnden Art: „Seine Motivation ist die Kunst, uns anderen wegen unserer Faulheit Schuldgefühle zu suggerieren.“ Während Kai sich fragte, woher der Jüngere überhaupt das Verb ‚suggerieren’ kannte, flog Rays Blick scharf zu Tyson: „Ich glaube, du hast es immer noch nicht überwunden, dass Kai der Teamleader ist, oder?“ Wie so oft schon hatte der Schwarzhaarige das Bedürfnis, Kai in Schutz zu nehmen, da er es nicht mit ansehen konnte, wenn der junge Russe zu allem Überfluss auch noch gefoppt wurde. Ray fuhr fort: „Nun, mein Opa hatte schon Recht: Es ist leichter, die Verdauung eines anderen zu fördern, als die Beförderung eines anderen zu verdauen.“ Mr. Dickenson blickte leicht irritiert von einem zum anderen. Auch Tyson schien überrascht, sich nun mit Ray als Schlagabtauschpartner konfrontiert zu sehen. Neckisch funkelten die goldbraunen Augen des Chinesen sein Gegenüber an. Um das Thema zu wechseln und einen Streit, wie er vermutete, zu verhindern, wandte Stanley Dickenson sich freundlich an Kai. „Nun, wie läuft denn die Nachhilfe? Lernen die Kinderchen schön bei dir?“ Kai sah endlich auf und sein Blick suchte den direkten Kontakt zu Mr. Dickenson. Dieser hatte einen solchen Blick schon sehr lange Zeit nicht mehr von ihm sehen müssen. Es verstrich ein Wimpernschlag, ehe Kai leise antwortete: „Ich kann das nicht mehr. Ich hab kaum noch Zeit für mich. Ich muss mich um das Training kümmern.“ Selbst Mr. Dickenson bemerkt nun, wie erschöpft und erschlagen Kai wirkte. Dennoch hatte ein Hauch von Stolz sein Wesen noch nicht verlassen. „Ich habe Lin versprochen, den Kindern Karten für das Turnier zu geben. Zum Abschluss, als Geschenk für ihre Mühen. Als Anreiz, weiterhin fleißig zu lernen. Aber ich kann sie nicht mehr unterrichten.“ Mr. Dickenson schluckte kurz. War er zu weit gegangen? Hatte er Kai zuviel abverlangt? „Und was schlägst du stattdessen vor?“ „Die Kinder kennen doch die anderen. Warum können sich nicht Ray, Kenny, Tyson und Max diese Aufgabe teilen? Warum muss ich immer alles machen? Ich kann das nicht mehr. Ich schaff das nicht mehr!“ Kai stützte seine Ellbogen auf seine Knie und rieb sich mit seinen Handflächen die Augen. Er hatte immer zu allem Ja und Amen gesagt. Aber so langsam wuchs ihm das alles über den Kopf. Er war doch immer noch bloß ein Teenager, so sah ihn Mr. Dickenson doch noch, wie er so oft betonte. Warum konnte er ihn dann nicht einfach mit Sonderaufgaben verschonen? War er denn nicht gut genug? Konnte er den BBA-Manager nicht zufrieden stellen?! Mittlerweile presste Kai seine Hände fest in sein Gesicht. „Wir hätten nichts dagegen!“, unterstützte nun wieder Ray Kais Vorschlag und selbst Tyson stimmte zu. „In Ordnung. Dann gehe ich ins Haus und frage die anderen beiden, was sie davon halten.“ Mr. Dickenson lüftete seine Melone und stapfte ins kühle Hausinnere. „Hm… vielleicht wollte Mr. Dickenson, dass du aufgibst“, meinte Ray nachdenklich, während er dem Sponsor nachsah. Kai schielte irritiert zu ihm. „Häh?“ Ray drehte sich zu ihm und sah ihn ernst an. „Nun, vielleicht wollte er, dass du auf uns angewiesen bist. Dass du uns von dir aus um Entlastung bittest. Du hast zwar versprochen, alles weiterhin zu übernehmen. Und ich glaube nicht, dass Lin dich sehr einschränkt, weil sie… weil sie dir mehr Freude denn Kummer bereitet.“ Kai sah den Schwarzhaarigen skeptisch an. „Na ja, das ist meine persönliche Meinung.“ Lächelnd griff der Chinese zu seinem Smoothie und nippte daran. Er winkte Kenny, der bereits von dem Vorschlag unterrichtet war und Ray sein Einverständnis mitteilen wollte. „Ich hätte ihm an deiner Stelle den bösen Finger gezeigt, Kai.“ Überrascht wandte Angesprochener sich um. Dort stand Tyson, mit verschränkten Armen und wieder mit diesem ernsten Ausdruck in den Augen, der so rar war und vielleicht gerade deshalb Kai so etwas wie ein wenig Respekt vor Tyson empfinden ließ. „Ich war echt sauer, als er dir das vorgeschlagen hat. Aber ich hab nichts gesagt, weil du ja nicht willst, dass wir uns in deine Angelegenheiten einmischen“, trug Tyson nun seine Gedanken weiter vor. So viel Weitblick von ihm. So viel Respekt und Achtung vor seiner Privatsphäre. Kai hob verwundert beide Brauen in die Höhe. Hatte er schon seit jeher seine Teamkameraden so sehr verkannt? Dennoch schüttelte er leicht den Kopf und schloss schmunzelnd die Augen. „Wenn ich Dickenson gesagt hätte, er soll’s sich sonst wo hinstecken - im Gegensatz zu dir kann ich mir das nicht leisten, Tyson.“ Sie alle wussten warum. Kenny mischte nun mit: „Jedenfalls… gut, dass du Arbeit abgibst. Auch Lin ist bei uns in guten Händen. Es ist völlig legitim, wenn du dich mehr auf das Turnier und das Training konzentrierst. Du hast genug um die Ohren. Du brauchst nicht auch noch eine zusätzliche Belastung.“ Der Chef rückte seine Brille zurecht. „Im Übrigen könnte das sogar begünstigend für eine posttraumatische Belastungsstörung sein. Wir alle wissen, dass du in deiner Vergangenheit viel durchgemacht hast. Und … nun…“ Kenny wusste nicht mehr, wie er sich weiter ausdrücken sollte. Kai jedoch winkte ab. „Schon gut. Ich hab’s verstanden. Nett von euch, dass ihr die Fördergruppe übernehmt. Und jetzt – los, ich will euch in zehn Minuten alle im Garten sehen. Training steht an!“ „Ach, jetzt doch?“, frotzelte Tyson wieder. Er konnte es eben nicht lassen. Und irgendwie funktionierten er und Kai eben so. „Beweg deinen Hintern! Oder ich mach dir Beine!“, brummte Kai gewohnt drohend und schüttelte seine Faust in Tysons Richtung. Sie funktionierten als Team. So oder so – Das Turnier konnte kommen. „Weißt du was? Ich hab’s jetzt raus.“ „Wie? Was hast du raus? Wovon sprichst du bitte, Tala?“ „Ich hab keinen Bock darauf, mich noch mal von ner Kuh angreifen zu lassen. Also, hier ist der Plan: Lass uns die Viecher kaufen.“ Kai schielte skeptisch zu Tala, der ein Gänseblümchen rupfte, während er sprach. Sie lagen im Gras hinter Kais Elternhaus und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Unter dem Vorwand, sie wollten noch eine Stunde Joggen gehen, hatten sie sich vor Mr. Dickensons Teeparty gedrückt. Bevor der Sponsor überhaupt angekommen war, waren Tala und Kai längst verschwunden gewesen. „Dir ist schon klar, dass so eine Kuh, wenn du das mal hochrechnest, in etwa 480.000 Yen kosten kann? Und der Zuchtbulle liegt mit seinem Lebendmarktwert sicher weit darüber. Wie willst du das bezahlen?“ Tala schwieg daraufhin. Er dachte nach. Sein „Plan“ war unausgegoren, das wusste er. Aber es war immerhin mehr, als sie in der vergangenen Woche überlegt hatten. „Pass auf“, fing er an, „wie wäre denn das: Wir geben uns als Käufer aus, rufen den Bauern an, fragen nach. Und das mit dem Geld… Immerhin hat der Kunde uns den doppelten Preis zuzüglich Spesen versprochen. Wir schlagen einfach ein paar Dollar mehr drauf und schon sind wir wieder im Plus. Unser Kunde muss ja nicht wissen, wie genau wir an seine Ware gekommen sind.“ Kai musste zugeben, dass die Idee gar nicht so abwegig war. „In Ordnung. Ich kümmere mich sofort darum.“ Der Silberhaarige stand auf und verließ den Garten, um zu telefonieren. Es dauerte eine Weile, bis er zurückkehrte und beinahe wäre Tala beim Warten eingeschlafen. Die Wiese, auf der er lag, war immerhin ziemlich bequem und es roch angenehm nach Sommergras. Kai stieß ihm mit dem Fuß leicht in die Seite. „Hey, hör zu, wie sich der Plan jetzt entwickelt hat!“ Er setzte sich zu Talas Linken und begann zu erklären. Während des Gesprächs mit dem Züchter hatte sich ergeben, dass sie zwar eine Kuh erwerben konnten, der Bulle jedoch aufgrund seiner Einzigartigkeit unverkäuflich war. Doch Kai hatte einen neuen Einfall gehabt. „… und deshalb hab ich gefragt, ob er denn dann vielleicht das Bullensperma verkauft. Das ginge. Wir müssen jetzt nur noch unseren Kunden fragen, ob der mit dem Sperma einverstanden ist und wenn ja, dann ist der Auftrag endlich beendet!“, schloss der Sechzehnjährige erfreut. Tala blinzelte ihn an. „Bullen… sperma?!“ Kai nickte. „Bullensperma… Händigt der Bauer uns einfach ne Dose davon aus oder wie?“ „Ach, der meinte, das zapfen wir dann ganz frisch. Ich hab gesagt, ich kenne nen Tierarzt, der mitkommt.“ „Was für nen Tierarzt kennst du, den du mitnehmen würdest?“ Fragend starrte Tala Kai an, doch der blickte einfach nur vielsagend zurück. Tala stöhnte auf. „Oh nein! NEIN!“ „Stell dich nicht so an. Auf Babuschkas Hof hattest du doch mit vielen Tieren zu tun. Stell dir einfach selbst ne gut gefälschte Approbation aus und fertig. Ist doch nur für das eine Mal.“ „Oh… я зол на тебя!! Wirklich!!“ Kai hatte dafür nur ein mildes Lächeln übrig: „Lange wirst du mir nicht böse sein. Glaub mir, es wird ein tolles Gefühl sein…“ „Dein Wort in Gottes Gehörgang… Aber… я к вашим услугам“, meinte Tala spöttisch und grinste. „Na dann, hoch mit dir! Wir brauchen einen Viehtransporter, du deine Genehmigung der Veterinäre und ärztliches Zubehör, damit du authentisch wirkst. An die Arbeit!“ „Ist ein bisschen wie ein Déjà-vu, oder?“, fragte Tala, als sie aus dem Transporter stiegen und auf den Züchter zugingen, der sie bereits erwartete. Sie hatten sich so seriös wie möglich gekleidet, doch konnte das alles nicht ganz über ihre jugendliche Erscheinung hinwegtäuschen. Dennoch stellte der Züchter keine Fragen, denn augenscheinlich besaßen sie alle erforderlichen Papiere. Dadurch, dass sie einen Kaufvertrag unterschrieben, erhielten sie sogar die Originalunterlagen des Züchtungsnachweises, das würde dem Kunden letztlich einiges an Ärger ersparen. „Hier ist mein Prachtstück. Ich hoffe, es macht Ihnen genauso viel Freude wie mir. Wenn sie etwas nervös ist, kraule ich sie immer hinter den Ohren, das mag sie“, erklärte der Züchter und hielt ihnen den Führstrick entgegen. Tala übernahm den Part, die Kuh zum Transporter zu geleiten. Kai indes klärte mit dem Züchter alle Einzelheiten des Kaufgeschehens. Letztlich waren beide Seiten mit dem Preis einverstanden. Ein Handschlag besiegelte das Geschäft, aber um den Vertrag rechtskräftig zu machen, bedurfte es noch seiner Unterschrift auf dem Papier. Dann kam der schwierigere Teil. Denn als Tala zu Kai zurückkam, murrte er leise vor sich hin. Diesmal hatte er die Kuh links und rechts festgebunden, sowie vorne und hinten fixiert. Außerdem hatte er für ihr leibliches Wohl gesorgt. Doch der Grund für Talas Unbehagen war vielmehr die Tätigkeit, die er nun auszuführen hatte. Stolz wurde ihnen der Stier in seiner Box präsentiert. Kai und Tala beteten, dass das Tier sie nicht wieder erkannte. Der Züchter erklärte frohgemut: „Ich lasse nun das Gatter öffnen. Dann läuft er auf die Kuhimitation zu und wird sie besteigen. Dann können Sie mit in die Besamungsbox steigen und das Sperma entnehmen.“ Tala wechselte einen kurzen Blick mit Kai. Dieser lächelte aufmunternd: „Das hast du doch schon oft genug gemacht“, log er, „Also viel Spaß!“ Der Rothaarige knirschte mit den Zähnen: „иди к чёрту!“ Doch er kletterte wagemutig über die Boxenstangen, als der Bulle in Position gebracht war. Kai reichte ihm seinen Arztkoffer durch. Zuerst streifte Tala sich die blauen Handschuhe über, die bis an seine Ellenbogen reichten. Dann hockte er sich, so gut es in der Enge ging, neben das Hinterteil des Imitats, das für den Bullen mit Hormonen besprüht war, und wartete, dass das imposante Tier seinen Penis herausdrückte. Als Tala diesen dann berührte, zog er sich jedoch sofort wieder ein. „Störrischer Esel!“, brummte der Rothaarige und wärmte seine Hände ein wenig an. „Du weißt schon, dass es sich hierbei um eine Kuh handelt?“, spöttelte Kai von der sicheren Seite des Stalles aus. „Wer sagt, dass ich nicht dich meine?“, knurrte Tala zurück. Er merkte schon, dass Kai sichtlichen Spaß daran hatte, ihm bei seiner Tätigkeit zuzusehen. „Mancher ist erst dann bei guter Laune, wenn er sie anderen verdorben hat“, konterte Kai gewitzt und lehnte sich an die Stange. Schließlich hatte sich der Penis des Bullen wieder soweit gezeigt, dass es Tala gelang, ihn mit seinen nun warmen Händen zu berühren und ihn sanft zu stimulieren. Kai musste aufgrund dieses Anblicks lachen. Mit ernstem Gesicht rubbelte sein bester Freund einen riesigen Kuhpimmel – für Kai ein Bild für die Götter. „Bist du eifersüchtig?“, kam es genervt von Tala. „Bestimmt nicht!“ Als der Rothaarige merkte, dass der Bulle kurz vor dem Erguss stand, griff er rasch hinter sich nach einem Gefäß. Später würde er das Sperma in Ampullen von etwa 5-25ml umfüllen und in einer Kühlbox unterbringen. Schließlich war die ganze Angelegenheit erledigt und zu Talas großer Erleichterung fuhren sie früher als geplant vom Hof. Er wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als eine ausgiebige Dusche. Sie beide stanken unangenehm nach Kuhstall und Gülle und ja, auch ein bisschen nach Ejakulat. „Scheiße. Weißt du, wie viele Krankheiten zu checken sind, bevor man eine solche Kuh besamen lassen kann?“, fragte Kai, der auf dem Beifahrersitz in einem kleinen Büchlein blätterte. „Ist das etwa unser Problem? Wir haben das Sperma, wir haben die Kuh, den Rest besorgt der Kunde. Und eines sage ich dir: Das bleibt unter uns! Und dem Kunden sagen wir auch nicht, was wir gemacht haben!!“ Tala trat aufs Gas. Sie hatten mit ihrem Kunden vereinbart, noch heute die Ware zu liefern. Doch für den Export ins Ausland kamen sie nicht mehr auf. Dafür waren ihre Nerven zu aufgerieben. Dennoch machte Tala sich Gedanken über ihr weiteres Vorgehen. „So, und was ist der neue Plan?“, fragte er Kai. „Wir gewinnen das Turnier. Das ist der Plan. Und der wird funktionieren. Auf Anhieb, das garantiere ich dir.“ ---------- * 34.000 Yen = knapp 300 Euro (Stand 15.02.2011) 10.400 Yen = 88,62 Euro (Stand 30.03.2011) ** Jaaa… Episode 51 – Alles oder nichts – Das hat er wirklich gesagt. Es war wirklich sehr… sinnig. Ich hab mir bei meiner neulichen Recherche einen Ast abgelacht, als ich das gehört hab. Raum-Zeit-Kontinuum – ja klar… XD 480.000 Yen = ca. 4000 Euro (Stand 13. April 2011) Übrigens: Ich hab gelesen, es heißt: Der Liegestütz, die Liegestütze (Plural). oO War mir auch neu. Widmungen Den Anfang des Kapitels widme ich , sie wollte gerne wissen, wie Tala wohl auf die Verarsche von Kai reagiert. Kuh-Entführung Ihr wolltet das! und nur wegen euch hatte ich den ganzen Ärger damit! =) [Oh, und glaubt mir, es war harte Arbeit. Wirklich harte Arbeit… Nervenaufreibend und frustrierend!] 1. Rind-napping Szene: gewidmet: , denn gerade du hast als erste erkannt, dass das Kapitel neulich ein Aprilscherz war. Und weil du mit mir die Entführung ein bisschen diskutiert hast. 2. Rind-napping Szene: gewidmet: , weil auch du so scharf auf eine solche Szene warst =D Der Dank für die Übersetzung der etwas längeren Diskussion geht dieses Mal an . Dir sei darum das nächste Kapitel gewidmet – dir ganz allein ;) Im Fließtext habe ich das etwas abgeändert, damit ihr nicht alle erst zum Ende des Kapitels scrollen müsst und es vielleicht so verstehen könnt. Im Eifer des Gefechts mischen Kai und Tala eben gern mal die beiden Sprachen miteinander. Kenn ich von meiner Freundin :D Jedenfalls hab ich unten in den „Vokabelangaben“ das geplante Gespräch mal aufgeführt. ;) малыш – Baby im Sinne von „Hey Babe“ Нет . Я не буду применять этот метод, Юрий! - Nein. Ich werde diese Methode nicht verwenden, Yuriy! Если мы сделаем это , мы не лучше, чем- - Wenn wir das machen, sind wir nicht besser, als- Я не говорю, что мы должны делать это именно так. - Ich sage nicht, dass wir es genau so machen. Это только в этом: Из-за обучениемы были так хороши! - Es ist nur so: Aufgrund des Trainings waren wir gut! Вы не можете отрицать это! - Du kannst das nicht abstreiten! Net! Ja ne hotschu – Nein, ich will nicht. Da, ti hotsches! – Doch, du willst. Angelotchok – Engelchen Solnyschka - Sonnenschein я зол на тебя - ich bin böse auf dich я к вашим услугам - ich stehe zu Ihren Diensten иди к чёрту! - leck mich am Arsch [vulg.] Quelle: Informationen über Kobe-Rinder und allgemein über Kühe http://de.wikipedia.org/wiki/Kobe-Rind http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9A6A93D460B81174/Doc~E5BC7F47EFB7444C58DBAB8963A56B7D9~ATpl~Ecommon~Scontent.html http://www.kobe-rindfleisch.de/ http://www.kobe-niku.jp/englishtop.html?key=start http://www.lsv.de/hrs/03unfallverhuetung/08sicherheit/Rindvieh.pdf Es war übrigens unglaublich ätzend, herauszufinden, welche reellen Preise bei einer Autovermietung plus Anhänger auf einen zukommen D: Darum hab ich da auch Tala etwas verzweifeln lassen. ;) Der sollte auch mitleiden! Und warum um alles in der Welt eine Kobe-Rind-Entführung?! Ach, fragt den Autor. Due to künstlerischer Freiheit. Oh, und in Japan ist Linksverkehr. Ich kann mir gar nicht richtig vorstellen, wie das funktioniert… Aber ich hab mal versucht, dass so realistisch darzustellen, so wie ich glaube, dass es richtig ist und wie ich das aus England kenne. In Russland ist das übrigens noch mal anders. Wer sich wie ich darüber aus Spaß und Interesse mal informieren möchte, dem empfehle ich diese Website: http://www.russian-online.net/de_start/box/boxtext.php?auswahl=autofahren_selbst Kapitel 36: "Für Ruhm und Ehre!" -------------------------------- XD Kennt ihr eigentlich noch die Pose, die Tala in der 3. Staffel hat? Ich finde, das sieht so… so… ich find grad kein Adjektiv. Oder wie findet ihr DAS HIER: http://th09.deviantart.net/fs37/300W/i/2008/278/f/5/Me_by_Tala_Valkov.jpg das geht i-wie gar nicht… XDDD Für [[Kitty-is-back]]. Weil ich es dir versprochen hab und du mir immer bei den Übersetzungen hilfst. :-* Endlich war der große Tag gekommen, an dem das Turnier stattfinden sollte. Die Bladebreakers waren aufgeregt. Kai hatte ihnen immer und immer wieder eingeschärft, dass ihre Gegner nicht zu unterschätzen wären. Aus diesem Grund fieberten sie mehr denn je dem Beginn des Turniers entgegen, waren auf ihre kommenden Rivalen gespannt. Das harte Training hatte sich bereits gelohnt, als sie als Team geschlossen bei der Eröffnung in die Arena marschierten. Sie strotzten nur so vor Ehrgeiz und Kraft und Kai bemerkte, wie einige der anderen Mannschaften ein wenig eingeschüchtert ihrem Weg und Nähe auswichen. Besonders Tyson war, wie von Kai vorhergesehen, hungrig auf die bevorstehenden Kämpfe. Der quirlige Japaner sprühte förmlich vor Enthusiasmus, hielt Ausschau nach potentiell ziemlich starken und gefährlichen Gegnern und rieb sich schon vor Vorfreude die Hände, wenn er welche sah. Die obligatorische Vorstellung aller teilnehmenden Teams verlief recht unspektakulär. Als „alte Hasen“ in ihrem Geschäft nahmen die Bladebreakers es gelassen, als der Kommentator, natürlich niemand anderes als DJ Jazzman, sie vorstellte und mit einigen Zusatzinformationen versah. Selbstverständlich ließ Tyson es sich nicht nehmen, der Zuschauermenge wie verrückt entgegenzuwinken und sich, zumindest für Kais Empfinden, unendlich daneben zu benehmen. Aber DJ Jazzman hatte dann doch noch eine Frage, die er an den wie immer mürrisch dreinblickenden Teamleader der Bladebreakers stellte: „KAI!“, donnerte die mikrofonverstärkte Stimme des Kommentators dem Sechzehnjährigen entgegen, „viele Zuschauer, wenn nicht sogar alle und auch ich, sind neugierig über euren Neuzugang! Tala Ivanow ist eine ungewöhnliche Wahl für euer Team! Wie kam es dazu? Bleibt er für längere Zeit in eurem Team? Warum habt ihr euch gerade für ihn entschieden?“ Jazzman hielt Kai das Mikrofon unter die Nase. Dieser starrte auf den schwarzen Schaumstoff, der die beim Sprechen entstehende Feuchtigkeit vor der empfindlichen Kondensatormembran schützte. Dann trafen seine tiefroten, dunklen Iriden Jazzman, blitzten kurz verschmitzt auf. „Warum nicht?“, war seine Antwort, und er winkte seinem Team, es war Zeit zu gehen. In der Kabine klappte Kenny seinen Laptop auf. Dizzy lud bereits fleißig die Daten der anderen Teams auf ihre Festplatte herunter und analysierte gleichzeitig die Stärken und Schwächen der einzelnen Blader, um sie später dem Chef zu präsentieren. Auch Lin war anwesend. Sie hatte auf ihren Bruder und dessen Freunde brav in der Kabine gewartet, nachdem Mr. Dickenson sie seiner Obhut entlassen hatte. Sie saß vor einem CD-Player, den ihr der Sponsor gegeben hatte, und summte leise zur Melodie mit. Kai ging auf die Kleine zu und wollte sie gerade erschrecken, als er den Sänger hörte: „… Alle tun es auf der ganzen Welt…“ Sofort hielt er Lin die Ohren zu und machte schnellstens die Musik aus. „Woher hast du diese Musik?“ Fragend sah das Mädchen zu ihrem Ziehbruder auf. „Na, von Ray“, antwortete sie ohne Umschweife. „WAS?!“ Kai sondierte den Raum und traf auf honigfarbene Iriden, die nicht weit von dem Geschwisterpaar entfernt neugierig in ihre Richtung blickten. Augenscheinlich hatte der Schwarzhaarige die Unterhaltung verfolgt und war bereit, zu antworten. „Ja, kennst du’s noch nicht? Ist der neue Werbesong der BBA!“ Außer stumm seinen Teamkollegen anstarren konnte Kai im Moment nichts tun. Ray runzelte fragend die Stirn: „Was hast du denn gedacht?“ „…“ Plötzlich legte sich eine große Hand auf Rays Schulter und knuffte ihn. „Nun, da sind wohl jemandem die unartigen Gedanken durchgegangen, was?“, lachte Tala verschwörerisch und sang dieselbe Zeile leise noch mal, „Alle tun es, auf der ganzen Welt…“ Auch Ray ging jetzt ein Licht auf und fiel schmunzelnd in Talas Gelächter mit ein. Kai blitzte seinen besten Freund verärgert an: „Das ist ein ernstes Thema.“ „Wie Recht du hast.“ „Als ob du das Lied gekannt hättest, Tala! Und überhaupt, dein erster Gedanke wäre derselbe gewesen, gib’s zu!“ Dem Rothaarigen lag keine schlagfertige Antwort auf der Zunge, darum meinte er hektisch: „Ach lass mich doch mit dem Scheiß in Ruh!“ „Ja, wer hat denn damit angefangen? Ich oder du?!!“ „Na, du!!“ „... Ach so.” Ray lachte und bot Lin seine Hand an. „Komm, wir lassen die beiden Blödelköppe in Ruhe und gehen lieber mal zu deinen Mitschülern. Die warten sicher schon in der VIP-Lounge oder?“ „Ja, die haben sich sehr über die Karten gefreut. Danke noch mal, Ray!“ „Hey, und was ist mit mir? War immerhin meine Idee mit den Karten“, beschwerte sich Kai und sah sie gespielt enttäuscht an. Lin lächelte und umarmte ihn, gab ihm überschwänglich ein Küsschen auf die Wange. „спасибо, любимый брат!“ „Braves Mädchen.“ Kai zauste ihr Haar und stand auf. „Kommst du noch mit zu den anderen? Die würden sicher wahnsinnig gern noch mal mit dir reden!“, bat Lin ihn und der Blaugrauhaarige stimmte ergeben zu. Er und Ray verließen mit dem Mädchen ihre Kabine durch den Hinterausgang. Keine Sekunde zu früh, denn schon stürmte eine aufgeregte Horde Reporter durch den Haupteingang, durch den sie später in die Arena gelangen würden. Interviews vor den einzelnen Kämpfen waren normal. Es war auch normal, dass sie als erste belagert wurden, immerhin waren sie die Bladebreakers und somit das berühmteste Team bei diesem Wettkampf. Natürlich war es auch keine Überraschung, dass Tyson die Gelegenheit selbstverständlich nutzte, um auf sich und seine Person im Ganzen aufmerksam zu machen. Diese Aufmerksamkeit wurde ihm ohne Umschweife zuteil, aber man fragte ihn auch über andere Teammitglieder aus. Vor allem interessierte es die Reporter aber auch, wie sich die Bladebreakers auf dieses Turnier vorbereitet hatten. „Nun, Kai hat das Training konzipiert“, gab Tyson bereitwillig Auskunft, und man musste ihm zugute halten, dass er sich wirklich ein wenig auf die Interviews und auf möglich aufkommende Fragen vorbereitet hatte. „Wir haben dank ihm hart trainiert. Wir haben einen großen Fortschritt gemacht und das werden wir gleich Ihnen und der Welt dort draußen beweisen.“ Max, der neben Tyson stand, strahlte zustimmend und nickte. Außer ihnen waren nur noch Tala und Kenny anwesend, und beide hielten sich eher zurück, Kenny aus Schüchternheit, Tala aus Kalkül. Reporter waren in seinen Augen Aasgeier. Auf die Frage, ob denn bei dem harten Training Verletzungen oder Schäden an den Blades vorgekommen seien, schüttelte Tyson den Kopf: „Nein! Verletzt haben wir uns nicht, aber da sind doch schon einige Angriffsringe durchgegangen. Kenny stand uns dann immer zur Seite. Stimmt doch, oder, Chef? Aber alles halb so wild, oder?“ Sofort richteten sich die Mikrofone an den Braunhaarigen. „Ähm, äh… nun… Die Erfahrung steigt proportional zum Wert des urinierten… ähh…ruinierten Gegenstandes“, stammelte er unsicher. Das plötzliche Interesse an seiner Person machte ihn nervös. Doch das währte nicht lange, da Tyson schon lauthals nach Aufmerksamkeit heischte, indem er laut sinnierte: „Aber ein wenig unfair war es schon, wir konnten nie wirklich eigene Ideen ins Training einbringen. Kai hat immer bestimmt, was getan werden sollte.“ Nun wurde Tala hellhörig. Er mochte es nicht, wenn in dessen Abwesenheit schlecht über seinen Freund gesprochen wurde. Mit Ohren wie ein Luchs verfolgte er die Unterhaltung weiter, auch wenn seine gesamte momentane Attitüde das Gegenteil ausdrückte, da er auf einer Bank saß und sich mit geschlossenen Augen auf den Auftakt des Turniers vorzubereiten schien. „Fand denn kein Meinungsaustausch statt?“ Tyson lachte und erklärte Kais Trainingsmethode so: „Meinungsaustausch ist, wenn man mit seiner Meinung zu Kai geht und mit dessen Meinung zurückkommt!“ Natürlich sagte er das mit einem Augenzwinkern und die Reporter lachten auch leise, dennoch empfand Tala es als unfair, da Kai nicht anwesend war. „Außerdem war sein Motto: ‚Der frühe Vogel fängt den Wurm’ und dementsprechend hatten wir viel zu tun, sein Trainingpensum zu schaffen. Ich dagegen sage: ‚ Arbeite ruhig und gediegen, was nicht fertig wird, bleibt liegen.’“ Frech grinste Tyson in die Kamera. „Ja, das – oder ‚ Je zwölfer der Mittag, desto knurrer der Magen’“, brummte es hinter ihm dunkel. Sofort kühlte sich die Stimmung etwas ab, was deutlich Talas Absicht gewesen war. Nun waren die Kameras auf ihn gerichtet. „Ah, wo wir schon dabei sind, ich kann auch noch was beitragen“, grinste plötzlich Ray, der aus dem Nichts aufzutauchen schien und sich ganz vertraut an Talas Schulter abstützte, was ihm nur gelang, da dieser saß. „Nach Kais Training brauchte ich meist erstmal eine persönliche Auszeit und habe meditiert. Aber meditieren ist immer noch besser als rumsitzen und nichts tun.“ Es war, als brächte der Chinese die Wärme zurück, die Talas bissiger Kommentar hatte aufkommen lassen. Auch wenn sich alle Reporter wunderten, was in diesem Team vorgefallen war, dass sich die ehemaligen Rivalen, regelrechte Feinde – denn das war Tala noch immer in den Augen eines Großteils der Bladebreakers-Fangemeinde – nun so gut verstanden. Die Reporter bedankten sich für ihr Interview und zogen befriedigt von dannen. „Wo ist Kai?“, fragte Tyson, während Tala aufstand, um wieder Distanz zwischen sich und Ray zu bringen. Es hatte sich komisch angefühlt, ihm so nahe zu sein. Ein freundschaftlicher Klaps und Ähnliches, ja, das war erträglich. Doch alles was darüber hinausging, verabscheute er, sofern es nicht Kai war. „Spielen gegangen“, kam die lapidare Antwort vom Schwarzhaarigen, der sich streckte und dehnte. „Achso… SPIELEN??!!“ „Ja, mit Lin. Er kommt sicher gleich.“ Ray setzte sich zu Kenny. Tala fixierte Tyson, der gerade mit Max sprechen wollte, aber den Blick Talas auffing. Der Rothaarige bedeutete ihm, herzukommen. „Tyson“, begann er leise, aber ernst, sehr ernst, „Das war vielleicht witzig, was du heute über Kais Training gesagt hast, aber denk vorher mal nach. Was euch leichtherzig über die Lippen kommt, hat für jemanden wie Kai und mich manchmal schwerwiegende Folgen, weil wir mit anderen Augen angesehen werden. Und ich sage dir eines, und ich sage es dir heute noch im Guten.“ Tala senkte seine Stimme noch etwas mehr und Tyson hatte fast Probleme, ihn zu verstehen, als er eindringlich und unmissverständlich erklärte: „Wenn er aus einem anderen Grund als wegen seiner eigenen Dummheiten verzweifelt, wirst du mich kennen lernen!!“ In den ersten Runden hatte es vier große Battlebowls gegeben, an denen zwischenzeitlich bis zu 16 Blader gleichzeitig kämpften. Die Bladebreakers hatten Glück bei der Ziehung der Losung gehabt. Tala hatte oft sein Talent zeigen können. Alleine als auch mit Kai. Gegen Ende des Tages war die Anzahl der verbliebenen Teams auf acht geschrumpft und am Abend wollten die Verantwortlichen die Arena umbauen, so dass für die Finalkämpfe nur noch eine Bowl die Aufmerksamkeit aller Zuschauer auf sich ziehen würde. Da es sich um ein regionales Turnier handelte und um keine Weltmeisterschaft, waren bekannte Teams wie die All Starz oder die Majestics nicht anwesend. Umso mehr überraschte es vor allem Ray, am zweiten Tag des Turniers Lee und Mariah zu treffen. Sie waren aber nicht als Teilnehmer der White Tigers gekommen, sondern als ganz gewöhnliche Zuschauer. Sie wollten die zukünftige Konkurrenz abchecken, wie sie es nannten. Ray gesellte sich während des gesamten zweiten Turnier-Tages zu ihnen, denn er selbst würde keine Kämpfe mehr bestreiten. Glaubte er zumindest. „Meine Damen und Herren, mit Freuden darf ich Ihnen nun die Sieger des Turniers präsentieren“, ertönte DJ Jazzmans Stimme über die Köpfer der Zuschauer und der anwesenden Blader hinweg. „Ich kann nicht sagen, dass es zu erwarten war, aber sehr überraschend ist das Ergebnis auch nicht. Sieger sind!!!“, er machte eine kunstvolle Pause. Von irgendwoher ertönte ein Trommelwirbel. „Die Bladebreakers!!!“ Tosender Applaus brach aus. Tyson, als ihr Aushängeschild, wurde auf die Bühne geschickt, um den großen Scheck entgegen zu nehmen und gleichzeitig zu verkünden, an welche Einrichtung sie ihren Gewinn spenden würden. Doch bevor Jazzman Weiteres sagen konnte, hatte sich Mr. Dickenson des Mikrofons angenommen, um eine Überraschung anzukündigen. „Guten Tag, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Bladerinnen und Blader. Mein Name ist, wie viele von Ihnen vielleicht wissen, Stanley Dickenson. Und ich habe eine kleine Überraschung parat. Da es noch früh am Abend ist, sozusagen später Nachmittag, gibt es für Sie noch ein kleines Schmankerl. Die Bladebreakers werden ihre Fähigkeiten gegeneinander unter Beweis stellen!“ Das Publikum klatschte froh. Das versprach Action und man würde etwas für sein Geld geboten bekommen. Tala runzelte die Stirn und sah Kai fragend an. Doch auch der zuckte nur mit den Schultern, von so einer Aktion hatte er nicht gewusst. „Wenn ich euch nun bitte auf die Bühne bitten dürfte!“, forderte Mr. Dickenson nun seine Schützlinge auf. Ein Scheinwerfer fand sogar Ray in der Menge neben Mariah sitzen. Dadurch gezwungen und etwas peinlich berührt, trat auch der Chinese den Weg zur Hauptbühne an. „Einen Applaus für die Bladebreakers! Sie werden nun zu zweit gegeneinander antreten. Kenny, du wirst die Paare ziehen!“ Mr. Dickenson nahm die Melone von seinem Kopf und warf vorbereitete Papierschnipsel hinein. Aus diesen zog Kenny nun das erste Paar. Jazzman rief die Ergebnisse aus. „Tyson und Ray! Eine wunderbare Kombination, Wind und Erde! Sie werden sicher ein ausgezeichnetes Teamwork abliefern.“ Nun zog Kenny zum zweiten Mal zwei Papierschnipsel aus dem Hut, die er dann Jazzman zum Vorlesen reichte. „Und als zweites… Max und … Kai? … Nun, ein äh, eher ungewöhnliches Arrangement, allein der Elemente wegen. Max‘ Blade Draciel basiert auf Wasser, das von Kai auf Feuer. Kann so ein gegensätzliches Paar gegen ein sich so gut ergänzendes wie das von Tyson und Ray bestehen? Wir werden es gleich sehen! Stay tuned!“ Auf den Gesichtern von Max, Ray und Tyson war leichte Verwirrung und echte Überraschung zu lesen, damit hatten sie alle nicht gerechnet. Vor allem hatte sie in einer solchen Kombination nie trainiert. Kais unbeirrbare Maske dagegen saß wieder perfekt, er schien ganz ruhig und gefasst. Die vier Blader machten sich also auf den Weg hinunter zur Bowl, die eigens zu diesem Zweck neu eingerichtet wurde. Sie glänzte wieder wie zu Beginn des Tages in einem leuchtenden Zinnoberrot, alle Kratz- und Bremsspuren waren beseitigt. Kai wandte sich Max zu: „Wir sind zwar wirklich Feuer und Wasser, aber gerade das können wir auch zu unserem Vorteil nutzen. Lass uns unsere Stärken verbinden. Du bist ein Defensivspieler. Mit deinem Draciel Metal Shield bist du die feste Bank unserer Verteidigung.“ Max sah zu seinem grünen Blade in der Hand hinab. Er wusste, dass das indirekt ein Lob von Kai war. „Ich vertraue dir, Kai. Darauf hat unser Training doch aufgebaut, oder? Auf Vertrauen?“ Der Silberhaarige sah dem Jüngeren in die blauen, entschlossen wirkenden Augen. Vertrauen… Ja, er zählte auf die Fähigkeiten seiner Teamkollegen. Aber ihnen als Persönlichkeit vertrauen? Sein Blick ging zu Tala, der diesen auffing und ihn neutral erwiderte. Das reichte ihm völlig aus. „Viel Spaß“, wünschte der Rotschopf den vieren und gesellte sich zu Kenny, der mit seiner Webcam den Kampf aufzeichnen wollte. Ray und Tyson stellten sich nebeneinander an den Rand der Bowl, die Starter im Anschlag. Max tat es ihnen gleich, während Kai in aller Ruhe seine Gegner mit seinen Blicken fixierte. DJ Jazzman gab schließlich das Startzeichen: „3,2,1 – Let it RIP!!!“ Sofort schnellten vier Blades in einem atemberaubenden Tempo aufeinander zu. Aus Kais blauem Blade sprühten bereits leichte Flammen. Damit provozierte er Tyson jetzt schon. Die vier trafen mit einem lauten Sägegeräusch aufeinander. Doch anstatt weiter anzugreifen, zog Dranzer sich plötzlich zurück, während der grüne Blade von Draciel eine horizontale Linie zog, die verhinderte, dass die beiden weißen Blades diese Verteidigungslinie durchbrachen. „Ray, lass uns was versuchen. Das, was uns Kai und Tala im Training gezeigt haben!“ „Das ist schwierig! Vor allem wenn dein Gegner diese Taktik kennt!“, erwiderte der Chinese und lenkte Drigger hinter Dragoon, so dass sie sich nun in einer kleinen Ellipse zu jagen schienen. „Wir schaffen das! Wir kennen uns doch!“, versicherte Tyson und forderte Kai und Max mit einem provokanten Grinsen heraus. Zugegeben, es war ungewohnt, wie sie im Moment einander zugeteilt waren, dennoch waren sie alle miteinander vertraut. Kai musste sich auf Max verlassen. Und Max ließ sich gern von Kai leiten. Außerdem hatte Kai Kenny erst kürzlich um eine Verbesserung seines Blades gebeten. Dranzer Gigs Turbo war ein sehr ausgeglichener Blade und dank seines EG-Systems konnte er sich als einziger im Kampf nach links und nach rechts drehen. „Max, Draciel ist sehr stark“, rief Kai dem Blonden in Erinnerung. Damit wollte er ihn beruhigen. „Erinnerst du dich noch an den einen Move, den ich mit Tala gemacht hab? Den wollen die beiden kopieren. Was meinst du, sollen wir Feuer mit Feuer bekämpfen?“ Der Silberhaarige grinste angriffslustig. Max staunte zunächst, nickte dann aber. „Alles klar!“ Die vier konnten von Glück sagen, dass bis jetzt die rasiermesserscharfen Spitzkeile nicht aus dem Boden der Needle Valley Bowl ausgetreten waren. Niemand hatte ihnen davon erzählt, doch die erfahrenen Blader erkannten die Bowl wieder – es war eine aus der ersten Weltmeisterschaft. Sie mussten darauf achten, nicht aufgespießt zu werden. Draciel sauste zu Dranzer nach hinten, an ihm vorbei zum Rand der Bowl, auf dessen Spitze der grüne Blade balancierte. Nicht nur Ray und Tyson waren davon irritiert, sondern auch Kai, der es aber nicht zeigte und Max machen ließ. Wenn der Kleine einen Plan hatte, würde das schon funktionieren. Drigger und Dragoon griffen nun im Turbospeed an. Drigger umkreiste Dragoon wie der Ringnebel den Saturn. Dranzer wurde in einen Sog aus Wind und elektrischen Blitzen gezogen. Es war, als wütete über der kleinen Bowl ein Gewitter, dass sich langsam über die vier Blader ausbreitete. Doch Draciel kreiselte weiterhin seelenruhig auf seinem Platz. Drigger und Dragoon hatten sich Dranzer als Beute ausgesucht. Von allen Seiten griffen sie den blauen Blade an. Durch die enge Bindung zu seinem Bitbeast hatte nicht nur Dranzer selbst, sondern auch Kai arg einzustecken. Der Beyblade fing langsam an zu schlingern, Dragoon kickte ihn harsch an. Dabei brach ein kleines Teil des Gewichtringes ab, das sich in der Drehachse verhakte und so das Kreiseln blockierte. Drigger nahm Anlauf und kippte kurz vor dem Ziel pfeilschnell zur Seite, um Dranzer von unten herauf einen Stoß zu verpassen. Taumelnd segelte der blaue Blade in die Luft. Fröhlich kreisten die beiden hellen Blades in der Mitte der Bowl wie Haie in der Erwartung frischer Beute. Doch mitten in der Luft machte Kai von seinem EG-System Gebrauch und wechselte die Drehrichtung von der Links- in die Rechtsdrehung. Dadurch flog das blockierende Teilchen raus und Dranzer konnte sich wieder frei bewegen. Elegant landete er auf Draciel. Beide blitzten auf, als sie begannen sich zeitgleich schneller zu drehen. Dann setzte Draciel zu einem Angriff an, auf ihm immer noch Dranzer, der munter in die entgegengesetzte Richtung als die der Schildkröte kreiste. „Draciel, Hungry Wave!“, brüllte Max lautstark und eine gewaltige Menge Wasser tauchte aus dem Nichts auf, als sein Bitbeast erschien. „Drigger, Tiger Thun-“ „Nicht! Wasser leitet! Willst du uns auch grillen!?“, hastete Tyson dazwischen, bevor Ray seinen Befehl in die Tat umsetzen konnte. „Dann eben Tiger Claw!“, schrie der Schwarzhaarige über das Tosen der Welle hinweg. Wieder preschten die hellen Blades auf die bunten zu. In dem Moment ruckelte es in der Bowl und die dicken Nadelspitzen, scharf wie tödliche Eiszapfen, schossen aus der Mitte empor. Die Wasserwelle erfasste beide, Drigger sowie Dragoon, sie verloren ihren Halt und prallten gegen die Spitzen. Drigger wurde hart getroffen und durch seinen Power- sowie Gewichtring aufgespießt. In diesem ereignisreichen Gewühl hatten weder Ray noch Tyson auf Dranzer geachtet, der sich beim ersten Wellenschlag sofort selbst in die Luft katapultiert hatte und nun, indem er voll aufdrehte und seine Geschwindigkeit verdreifachte, wieder hinabsauste, geradewegs auf Dragoon zu. Der Phönix erschien, breitete kreischend seine Flügel aus und jagte einen Feuertornado auf den Drachen danieder. Dieser wurde durch die Flammen arg in Mitleidenschaft gezogen. Kai versetzte Tyson mit seinem Blazing Gig den finalen Schlag, die roten Phönixfedern drängten den Drachen an den Rand der Bowl und der letzte Ausläufer von Draciels allesüberschwemmender Welle wischte ihn ins Aus. Dranzer drehte sich frohgemut auf einer der Nadelspitzen, was er nur durch die enorme Geschwindigkeit vermochte, während Draciel sie in der Bowl gemütlich umkreiste, meist um jene Nadel, die Drigger zum Verhängnis geworden war. „Der Kampf ist aus! Vorbei! Max und Kai haben gewonnen! Einen herzlichen Applaus für diese unerwartete Entscheidung! Meinen Glückwunsch!“, rief die bekannte Stimme des aufgedrehten Moderators ins Mikrofon. Dranzer und Draciel sprangen zurück in die Hand ihrer jeweiligen Besitzer. Kai nickte Max anerkennend zu. „Gut gemacht“, meinte der Mannschaftskapitän und klopfte dem Blonden auf die Schulter. Dann wandte er sich an Ray, der in die Bowl gesprungen war, um seinen Blade aus dessen misslichen Lage zu befreien, und hielt ihm die Hand hin. Ray ergriff sie und ließ sich hinaufhelfen. „Gutes Match. Glückwunsch“, lächelte der Schwarzhaarige ehrlich. „Danke. Tut mir leid um Drigger.“ „Ach was, mit ein bisschen Spucke ist das wieder heil. Nun ja, vielleicht nicht ganz, aber es gibt nichts, was mit ein wenig Hilfe von Kenny nicht wieder repariert werden könnte.“ Kai schmunzelte leicht: „Da hast du Recht.“ „Alles okay, Tyson?“, fragte Max seinen Freund und gab ihm die Hand. „Ja sicher. Auch der Weltmeister kann nicht immer gewinnen. So ist es eben. Mal verliert man und mal gewinnt man.“ „Weise gesprochen!“, meldete sich Dizzy zu Wort, was das Team geschlossen zum Lachen brachte. Gemeinsam brachen sie zu den Kabinen und den Duschräumen auf, nachdem die Siegerehrung nun wirklich vollendet war. Sie waren verschwitzt und die vielen Kämpfe hatten sie müde gemacht. Wenn auch das Training von Kai und Tala an einem Nachmittag bisweilen anstrengender gewesen war als das ganze Turnier. „Aber es ist komisch“, meinte Tyson in der Kabine nachdenklich, „wir haben den gleichen Move versucht, den Kai und Tala uns beim letzten Training vorgemacht haben. Und trotzdem haben wir nicht gewonnen.“ Ray lachte: „Na, du kannst auch nicht von einer einzigen Attacke glauben, dass sie die ultimative Waffe ist, um den Gegner zu besiegen. Schon gar nicht, wenn du so einen grandiosen Defensor wie Max und so einen Angriffsspieler wie Kai hast.“ Tyson verzog trotzdem das Gesicht. Er hatte sich so gefreut, Kai mit seinen eigenen Techniken zu schlagen. Brummelnd zog er sich das T-Shirt über den Kopf. „Das Problem war nicht die Technik. Ich muss zugeben, die hattet ihr, dafür, dass ihr die erst einmal gesehen hattet, wirklich schnell kapiert.“ Kai setzte sich auf die Mittelbank, streifte sich mit den Füßen seine Schuhe ab. „Ja, woran lag das denn dann?“, wollte nun auch Max wissen. Neugierig sahen seine Jungs ihn an. „Gut... Ich möchte euch zeigen, warum eure Attacke, Tyson und Ray, nicht so gut funktioniert hat.“ „Hat es was mit Vertrauen zu tun?“, fragte Max, immerhin hatte seine und Kais Attacke ja funktioniert und er hatte sich voll und ganz auf Kai verlassen. „Vertrauen? Ja… Ich möchte euch mal etwas über Vertrauen erzählen.“ Der Silberhaarige nickte Tala zu. Dieser runzelte kurz die Stirn, ehe er seinen gestiefelten Fuß auf die Bank donnerte. Er griff in den Stiefelschaft und als er seine Hand wieder herauszog, blitzte eine Klinge auf. Geschickt wie ein Yakuza spielte er mit dem Butterfly-Messer in seiner linken Hand. Alle wussten, dass diese Waffe genauso scharf war wie das Messer, mit dem Ray immer die Dorade tranchierte, wenn er Fisch kochte. „Wofür schleppst du so ein Ding mit dir rum!“, meinte Kenny entsetzt und rutschte auf seiner Bank gleich ein ganzes Stück von Tala weg. „Selbstverteidigung.“ Der Rotschopf zuckte mit den Schultern. Sie konnten eben nie sicher sein, ob sie nicht urplötzlich erkannt wurden. Das war ihnen bereits einmal passiert. Sie wollten vorbereitet sein, für das nächste Mal. Und da Handfeuerwaffen diesmal aufgrund der Unhandlichkeit beim Verstauen in der Kleidung – bei den Kämpfen hätte sich ja unter Umständen ein Schuss lösen können - keine Option gewesen waren, hatte Tala eben auf das praktische Butterfly zurückgegriffen. „Ihr seht jetzt, warum es bei uns oft so einfach aussieht, wenn Tala und ich zusammen kämpfen. DAS nennt man vollstes Vertrauen.“ Kai legte seine Hand vor sich flach auf die Holzbank und spreizte seine Finger. Tala festigte den Griff um das Messer, ging auf den Blauhaarigen zu und setzte sich entspannt daneben. Dann stach er auf die Zwischenräume seiner Finger ein, wurde dabei immer schneller. Hin und her ging die Klinge, flog nur so über die Finger. Dass diese scharf war, erkannten die anderen Jungen an den harten Einkerbungen im Holz. Stumm vor Entsetzen brachte keiner von ihnen ein Wort heraus. Kai verzog jedoch keine Miene. Er vertraute Tala ja schließlich auch sein Leben an und Tala war ein Partner, auf den er sich vollends verlassen konnte. Und, natürlich wusste Kai dies, konnte auch Tala ach abrutschen und ihm einen Finger abtrennen, aber da der Rothaarige mindestens genauso viel Vertrauen für ihn empfand, noch dazu eine sehr ruhige Hand besaß, würde dies nicht geschehen. Das wusste er. Schließlich stoppte Tala in seinem Tun. Er klappte das Messer zusammen und steckte es wieder ein. Kai hob seine Hand und zeigte sie seinen Teamkollegen. „Kein… kein Kratzer“, hauchte Ray fassungslos. „Tatsache“, bekräftigte Max mit großen Augen und schluckte. „Ihr seid doch wahnsinnig, ganz ehrlich!“, ertönte Dizzys Stimme voller Tadel. Kai schmunzelte nur leicht. „Versteht ihr nun?“ Ja, sie verstanden. Sie verstanden, dass die Verbindung zwischen den beiden Russen eine ganz andere Ebene innehatte. Ihre Freundschaft stand auf einer besonderen Stufe, die niemand von ihnen je erreichen würde. Das betrübte sie und stimmte sie nachdenklich. „Treffen wir uns dann gleich auf der Aftershowparty?“, fragte Ray, der sich einen Zopf flocht. Tala und Kai hatten sehr getrödelt, sie wollten lieber alleine duschen. Nicht dass sie sich schämten, aber sie hatten Probleme, gewisse Körperteile vor den anderen zu entblößen, die aufgrund der Narben nur Fragen aufgeworfen hätten. Denn in Kroatien hatten die Bladebreakers längst nicht alles gesehen, was vernarbt war. Mussten sie auch nicht. „Sicher“, entgegnete Kai und warf Tala sein Shampoo zu, der bereits in die Duschen vorgegangen war. „Wir haben es uns verdient zu feiern.“ Ray nickte daraufhin. „Macht keinen Blödsinn. Wir warten an unserem reservierten Tisch auf euch. Aber ihr solltet euch vielleicht etwas beeilen.“ Als der Schwarzhaarige mit seinem Zopf fertig war, verließ er die Kabine und schloss die Tür hinter sich. Kai seufzte erleichtert, zog seine Shorts aus und folgte nun Tala in die Duschen. Doch als er die Teelichter auf dem Rand des Waschbeckens sah, stutzte er. „Was soll der Unsinn?! Warum die Kerzen, was willst du damit?“ „Weil wir doch ein Paar sind. Ich kann nicht glauben dass du mir mit Max fremdgegangen bist!“ Grinsend trat Tala noch mal aus der Dusche, mit vor Wasser triefenden Haaren. „Schwachmat!“, knurrte Kai und schlug mit seinem Handtuch nach ihm. „Na, irgendwie muss ich mich doch ins Zeug legen, oder?“ Beide lachten. Als der Silberhaarige sich auch unter eine warme Dusche stellte, die seine verspannten Muskeln lockerte, seufzte er. „Yura... Du bist für mich immer meine Nummer eins. Du warst derjenige, der mich immer wieder aufgefangen hat, meine Wunden verband, nächtelang schweigend mit mir Karten gespielt hat, zu wichtigen Terminen mitgekommen ist, um zu sprechen, wenn mir die Stimme versagt hat. Wenn ich also vor dir auf die Knie gehe, dann nicht nur um zu schlucken!“ Er zwinkerte ihm feixend zu. „Uhh, wir sind heute aber ziemlich gut drauf, was?“, lachte Tala und wuschelte durch Kais schaumiges Haar. „Ich hab da übrigens noch was. Zeig ich dir gleich. Damit wir unseren Sieg auch ordentlich begießen können.“ „Ich erahne Fürchterliches, Tala“, grinste Kai ihn an, während er sich den Schaum aus Haaren und vom Körper wusch. „Fang!“ Überrascht gehorchte Kai dem Ruf und verhinderte damit, dass die von Tala geworfene Wasserflasche auf den Boden fiel. „Was soll ich damit?“ „Trinken.“ Sie saßen zu zweit an dem für die Bladebreakers reservierten Platz, während die anderen bereits zum Buffet aufgebrochen waren. Kai drehte den Flaschenverschluss auf und nahm einen Schluck. „Oh… Das ist kein normales Wasser.“ Tala grinste, zog seine Sporttasche unter seinem Stuhl hervor und zeigte ihm den Inhalt. Mindestens fünf 1-Liter Flaschen Wasser befanden sich darin. Zumindest optisch. „Sag mal… hattest du zu viel Zeit?“, meinte Kai ungläubig und genehmigte sich einen weiteren Schluck aus der Flasche, die tatsächlich Wodka enthielt. „Ich hab halt sonst keine Hobbies“, lächelte Tala und ergänzte: „ Ist also ein guter Tropfen. Teilweise sogar selbstgebrannt. Außerdem fand ich es ein wenig unangebracht, Wodkaflaschen mitzuschleppen. Hier sind auch Pressefutzis, wie sähe das denn aus.“ Kai nickte anerkennend und stieß mit ihm an. „Auf deine genialen Einfälle!“ Später, als zu vorgerückter Stunde die jüngeren Blader bereits in ihre Hotels zurückgekehrt waren und Mr. Dickenson Lin nach Hause gebracht hatte, saßen Tala und Kai entspannt auf ihren Stühlen, jeder von ihnen die zweite Flasche Wodka angebrochen in den Händen. Sie waren, zum Erstaunen aller und sogar der Bladebreakers, außergewöhnlich gut gelaunt. Die Euphorie über das gelungene Turnier hielt dank des Alkohols an. Wild gestikulierend erklärte Tala gerade, welche Strategie er in seinem dritten Match verfolgt hatte. „Kenny, gibt es eigentlich Bedenken, wenn sich ein Menschenaffe mit einem Affenmenschen paart?“, fragte Tyson, der mit dem Chef auch am Tisch saß, plötzlich zusammenhanglos. Doch statt einer Antwort des Braunhaarigen bekam er eine von Kai, der sich leicht prustend an ihn wandte: „Kommt drauf an - Welcher davon bist du?“ „Sag mal spinn ich, oder hat Kai gerade herzlich – wirklich lauthals! – gelacht?“, fragte Max irritiert, der mit Ray etwas entfernt an einem Stehtisch sein zweites und somit letztes Bier leerte. Ausnahmsweise hatte Mr. Dickenson ihnen allen zwei Bier zugestanden, immerhin waren sie ja unter seiner Aufsicht und nach Rücksprache mit ihren Eltern waren zwei Bier für diese Veranstaltung angemessen, da es sich um eine Privatparty handelte. Zumindest im weitesten Sinne. Zwar war Presse geladen, aber es war ihnen verboten, Bilder von den Bladebreakers mit einer Bierflasche in der Hand zu machen. Immerhin dürften die Jungen in ihrem Alter noch gar nicht in der Öffentlichkeit Alkohol verzehren. Interessanterweise hatten Tala und Kai sich nicht um das Bier geschert. Es freute Mr. Dickenson regelrecht, die beiden sich so als Vorbilder engagieren zu sehen, da sie sich an Wasser hielten und den ganzen Abend nicht einmal versucht waren, etwas anderes zu trinken. Die zunehmende Heiterkeit benannter Blader schien aber nur Kenny und Ray verdächtig vorzukommen. Die Feier leerte sich langsam. Max tippte Kai vorsichtig auf die Schulter. Sie wollten nach Hause. „Jetzt schon?“ Kai sah auf die Uhr. „Hey!“, rief er plötzlich und sprang auf, „so spät ist es nicht! Lass uns noch nen Spaziergang durch die Stadt machen!“ „Klarer Fall, ich bin dabei!“, meinte Tala begeistert. „Ja, warte aber noch, ich muss mal eben noch wohin.“ Damit drückte Kai ihm seine nun leere Flasche in die Hand und verschwand in Richtung Toiletten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tala plötzlich eine SMS bekam: ~Ist dir klar, dass die meisten Krisentheorien des Kapitalismus daran kranken, dass sie unterschätzen, wie viele einst wertfreie Bereiche der Gesellschaft noch der kapitalistischen Verwertungskette anheimfallen können, um solchermaßen die Krisentendenzen durch eine quasi erneute ursprüngliche Akkumulation abzuschwächen?~ Tala stutzte, schrieb dann zurück: ~Brauchst du Geld fürs Klo?~ ~Ich seh wir verstehn uns.~ „Oh Mann. Leute, ich muss ihm mal kurz folgen.“ Als auch Tala nun, ein wenig ungelenk, verschwunden war, sammelten sich sowohl Ray und Kenny als auch Tyson und Max beim Eingang. „Die sind wirklich ausgelassen“, meinte der Amerikaner und sah Tala kopfschüttelnd nach. Das waren sie in der Tat. Sie waren gut drauf, fühlten sich wohl, fühlten sich für einen Abend von all ihren Alltagssorgen und Altlasten befreit. Sie wollten feiern – und das taten sie auch. Tala war derweil bei der Herrentoilette eingetroffen und legte der Reinigungskraft ein paar hundert Yen auf den Teller. „Dein Freund hat gesagt dass du kommst. Er ist schon drin“, meinte diese. Der Rotschopf nickte also nur und schwang die Tür auf. Im selben Moment musste er sich ducken. Kai kam aus dem Nichts auf ihn zugeschossen und schrie: „I’M A FUCKING NINJA!!!“ Tala lachte und schubste ihn gegen die Wand. „Bist du jetzt etwa schon betrunken?! Was treibst du so lange auf dem Klo?“ „Nein, natürlich nicht! … Vielleicht ein bisschen - und dann hab ich mir Pfeffer durch die Nase gezogen!“ „Im Ernst?!“ Beide Freunde brauchten eine ganze Weile, bis sie sich ihrem Pegel wieder einigermaßen angepasst hatten, so dass sie sich wieder herauswagen konnten. Bei den restlichen Mitgliedern des Teams wieder angekommen, stellten sie fest, dass sie alle in die Stadt gehen wollten. Die sechs Jungen verabschiedeten sich von ihrem Sponsor. „Wir gehen noch kurz in die Stadt, Mr. D. Machen sie sich keine Sorgen um uns“, erklärte Tyson fröhlich. „Bleibt aber nicht allzulange nach der Sperrstunde draußen. Kai, Tala – achtet auf die Rasselbande!“ Die beiden Angesprochenen mussten sich zurückhalten, um nicht in parodierender Weise zu salutieren. „Jawohl, Mr. Dickson – eh Dickenson!“ Tala grüßte ihn noch lässig, ehe er Kais Arm packte und den Abgang machte. Die anderen vier folgten ihnen. Mr. Dickenson nickte ihnen wohlwollend zu und sah ihnen nach. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Er wollte nach Hause fahren. Seine Jungs sollten sich ruhig austoben. Er machte sich keine Sorgen, immerhin warn Kai dabei. Und es schien ja, dass sein ältester Schützling offensichtlich aus seiner sonst so abweisenden und eisigen Haltung aufgetaut war. Was aber weder Mr. Dickenson noch die Bladebreakers selbst bemerkten, war das Reporterteam, das sich ihnen an die Fersen heftete, als sie die Party verließen. „Wo wollen wir eigentlich hin?“ Tysons Frage war an Tala gerichtet, der die Gruppe munter anführte. „Ich weiß nicht. Bummeln. Bummeln bei Nacht kann unglaublich spannend sein.“ Es lag an ihrer antrainierten Trinkfestigkeit, dass er bei seinem Alkoholpegel noch nicht lallte und sich somit verdächtig machte. „Spricht er aus eigener Erfahrung?“, wollte Max von Kai wissen. Doch dieser zuckte mit den Achseln und schob eine Hand in die Hosentasche. Mit der anderen nahm er tiefe Schlucke aus der letzten präparierten Wasserflasche. Er war zufrieden mit sich und seinem Team, dass sie dieses Turnier gewonnen hatten. Tala Einfall, diesen Sieg gehörig zu begießen, war eine grandiose Idee gewesen. Endlich einmal konnte er alle schlechten Gefühle ausblenden. Ja, er würde sogar soweit gehen und sagen, dass er sich glücklich schätzte. Fröhlich strahlte er Tala an und stieß ihm in die Seite. Gemeinsam liefen alle Jungen durch die Straßen, blieben mal hier, mal da an den Schaufenstern stehen. Doch irgendwann wurde es Tyson zu langweilig und er überredete Max, ein Taxi zu rufen. Auch wollten sie die Ray und Kenny dazu einladen, bei Tala und kai hatten sie schon längst aufgegeben. Eigentlich hatten Kenny und Ray nicht vor, die jungen Russen aus den Augen zu lassen, da deren Verhalten ihnen doch recht merkwürdig vorkam. Doch sie waren gerade an einem Juwelier angekommen, der noch geöffnet hatte. Und weder ihr Leader noch dessen Freund waren davon abzubringen, hinein zu gehen. „Ihr müsst dann aber allein nach Hause fahren!“, versuchte Kenny, sie umzustimmen, aber er stieß auf taube Ohren. „Wir hauen jetzt ab! Letzte Chance!“ „Ja, ja! Wir kommen schon sicher heim! Ihr könnt ruhig gehen.“ Tala winkte unwirsch ab und schob Kai in den Laden hinein. Sie fingen sofort an, sich umzusehen. Kenny schüttelte nur den Kopf, wandte den Blick vom Schaufenster ab und stieg zu Ray, Max und Tyson in den Wagen. „Fahren wir. Die sind nicht mehr zu retten.“ Innerhalb des Juweliergeschäftes betrachtete Kai eingehend die Auslagen am Tresen. Der Verkäufer wollte eigentlich in zehn Minuten schließen, doch er bat die beiden Blader nicht hinaus. Immerhin waren sie berühmt. Er hatte selbst ihre Gesichter heute Nachmittag noch im Fernsehen gesehen, als das Turnier live übertragen worden war. Sie hatten somit in diesem Geschäft Promibonus bei der Kundenbehandlung. Kai deutete auf ein Lederarmband: „Darf ich das mal anprobieren?“ Der Verkäufer, kulant wie er ihnen gegenüber war, nickte und öffnete die Vitrine, um Kai das Armband anzulegen. Gleichsam kam er Talas Wunsch nach einer Kette nach. Sie betrachteten sich beide im Spiegel, waren sich aber einig, dass ihnen das nicht zusagte. Lachend legten sie die Schmuckstücke zurück auf die Vitrine. Kai sah sich weiter bei verschiedenen Armreifen um, bis sein Blick an den Ohrringen hängen blieb. „Oh, schießen Sie auch Löcher?“, fragte er den Verkäufer sofort wissbegierig, der dies bejahte. „Möchten Sie sich eines stechen lassen, Herr Hiwatari?“ Kai stutzte bei der förmlichen Anrede, fühlte sich aber geschmeichelt. Er wollte zu einer Antwort ansetzen, aber Tala schnitt ihm das Wort ab. „Igitt, nein! Lass das bloß sein! Nein, Monsieur, er möchte keinen Ohrring!“ Der Rotschopf griff nach Kais Arm und zog ihn mit sich zu einem Block, der mit Ringen gespickt war. „Schau dir das mal!“, meinte er aufgedreht und zeigte Kai zwei ähnlich aussehende, goldene und sehr klobige Ringe. Sie hatten Ähnlichkeit mit Siegelringen oder Absolventenringen einer Universität. „Das wäre doch was für Krowawaia Woina!“, rief er erfreut. Kai zuckte beim Klang des Namens zusammen. Rasch presste er seinen Zeigefinger auf Talas Lippen, lehnte sich dabei gewaltig nach vorne. Er konnte die Entfernung nicht mehr richtig einschätzen. Zwar glaubte er, dass wenige Japaner Russisch verstanden, aber der Name ihrer Zweierorganisation war recht bekannt, obwohl einige Nachrichtenspreche ihn falsch aussprachen. „Schhhh!“, zischte er ihm zu und sah ihm dabei eindringlich in die Augen. Kai fokussierte ihn zwar recht ungenau, dennoch erkannte Tala darin die eindeutige Warnung. Das Team von Fotografen, von denen sie nicht wussten, dass es ihnen sogar bis hier her gefolgt war, zückten ihre Kameras. Diese Situation war für die beiden Blader zu ungewöhnlich, als dass sie keinen guten Aufhänger für die nächste Ausgabe der Tageszeitung bieten würde. Kai lächelte seinen Freund nun wieder an und gab ihm nach russischem Brauch jeweils einen Kuss links und rechts auf die Wange. „Gut. Die nehmen wir. Die sind schön.“ Der Silberhaarige schnippte mit den Fingern und der Verkäufer trat zu ihnen heran, um die Ringe von der Diebstahlsicherung zu lösen. Beide Jungen steckten sie sich an den Finger. „Fabelhaft!“ „Wundervoll!“ „Einmalig!“ Wieder lachten sie, schienen völlig sorgenfrei. „Gut, das macht dann 16.300 Yen* für beide Ringe, also je Ring.“ Kai nickte und holte sein Portemonnaie hervor, zählte die Scheine darin. „Das wird wohl nicht reichen. Kannst du mir aushelfen?“ Auch in Talas Brieftasche herrschte eher bescheidene Leere. Aber er hatte einen Einfall. Umständlich fingerte er seine Kreditkarte heraus. „Bitte einmal beide zusammen!“, grinste er zufrieden. Als sie dann endlich draußen vor dem Geschäft standen, der Verkäufer auch mehr als glücklich hinter ihnen endlich Türen und Fenster verschlossen und verriegelt hatte, sahen sich die beiden ihre neueste Errungenschaft an. Kais Dekostein hatte ein kräftiges Kobaltblau und glänzte im Schein der Laterne, während Talas eher einen aquamarinen Touch annahm. „Ich glaub, meiner wechselt im Licht die Farbe!“, kicherte Tala leise vor sich hin. Kai hakte sich heiter bei ihm ein und lief mit ihm die Straße hinab. Dieser Abend war für sie beide gelungen. Sie hatten ihren Sieg gefeiert, und er war wohlverdient. Die wochenlangen Vorbereitungen hatten sich ausgezahlt. Und mit der vorläufigen Beendigung des harten Trainings war Kai eine große Last genommen worden. Natürlich hatte er Trainingspläne und Übungen zu konzipieren, aber es stand nun weitaus weniger Druck dahinter. Nun hing die nächste Zeit keine Titelverteidigung von seinem Training ab, er konnte viel gelassener an die Sache herangehen. Und das ließ ihn sich viel leichter und unbeschwerter fühlen. _________________________________________ *16.300 Yen - 149,69695 Euro спасибо, любимый брат – Danke, geliebter Bruder! Wie schnell doch ein Kapitel seinen eigenen Kopf entwickelt und es sich herausstellt, dass ich das, was ich für dieses Kapitel eigentlich noch anfügen wollte, einfach nicht passend finde. Noch nicht. Aus zwei Zetteln Notizen werden also wohl doch drei Kapitel. :) Ich wäre dieses Mal sehr froh, zu wissen, ob euch die Weise der Beschreibungen gefallen haben oder nicht. Immerhin möchte ich mich verbessern und wachsen und manchmal hab ich das Gefühl, es fehlt der Darstellung an Details, dass es einfach zu schnell und zu rasch, zu oberflächlich beschrieben ist. Vor allem möchte ich fragen, ob Kais alter Charakter doch wieder ein bisschen durchgeschimmert ist? Eigentlich das falsche Kapitel, da der Alkohol aus ihm einen Idioten macht, irgendwie, aber vielleicht im Kampf? Und in der Umkleide und so? :) Übrigens: Ich wusste nicht, wen ich gegen wen antreten lassen sollte, darum hab ich das ausgelost. So sind die Teams entstanden :D Als erstes hatte ich Kai und Ray ausgelost, was ich aber zu billig fand, da die ja schon in der 3. Staffel miteinander gekämpft hatten. Also wollte ich ein Team-Match. Das hab ich dann nochmal ausgelost. Und ich hab mich sehr gefreut, als ich Max gezogen hab. Den wollte ich zu gerne kämpfen lassen. Aber armer Tala, der durfte nur zugucken. … Eigentlich bescheuert, oder? Dass ich das auslose, meine ich? Wenn ich Max spielen lassen möchte, könnte ich, immerhin schreib ich die Story ja. Aber nein, ich lose aus XD hat mich aber sehr inspiriert :) Na ja. Da könnt ihr ja jetzt mal tief in mein Autoren-Seelenleben blicken :DDD Und was haltet ihr sonst so von der Beyblade-Battle-Scene? Und kennt ihr die Fight Science Reihe von N24? Das läuft häufig nachts. Das ist wirklich interessant! Googelt das mal :D neulich mit dem Thema „Selbstverteidigung extrem“. Es war auch schon mal Stuntmen da und dieser Parcour Läufer und so. Außerdem hab ich bei Youtube folgende Videos gefunden, die sich auf das vorige Kapitel beziehen. Sie zeigen anschaulich, wie in etwa ihr euch die Samenernte von Tala vorstellen könnt (einmal mit nem Bullen und einmal mit nem Hengst, weil das Video mit dem Bullen etwas kurz ist.) http://www.youtube.com/watch?v=lbvY6KyY5-0&feature=related http://www.youtube.com/watch?v=CMeUNIEZ2qM&feature=related Kapitel 37: Unter Druck geraten ------------------------------- Falls jemand sich fragt, warum er keine Erinnerungs-Ens bekommen hat: Ich verschicke nur noch Ensen an die Kommentatoren der letzten 2-3 Kapitel. Nicht, weil ich gemein bin, sondern weil ich nicht nerven will. Denn wer das Interesse an dieser FF verloren hat, aus welchem Grund auch immer, den will ich nicht weiter belästigen. Ich denke, derjenige kriegt es dann auch mit oder schaut irgendwann vielleicht mal so wieder rein. Ich schreibe dies nicht als Drohung oder aus Bosheit, sondern weil es mir selbst so geht, dass ich von mir aus immer gerne kommentiere, aber wenn ich länger mal nichts von mir hab hören lassen oder die betreffende FF auf unbestimmte Zeit weggelegt habe, und dann laufend Erinnerungs-Ens bekomme, dann fühle ich mich immer so unter Druck gesetzt und das gefällt mir gar nicht. Darum, getreu dem Motto "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu" habe ich mich zu dieser Lösung entschieden. Dieses Kapitel ist für , dank ihr habe ich guten Ansporn gefunden, die Charaktere ihren Persönlichkeiten entsprechend zu gestalten und dank einer tollen Unterhaltung mit ihr achte ich wieder vermehrt darauf, „in character“ zu bleiben. Bitte schön, dein Kapitel! :) ___________________________________________________________________________ Stöhnend und ächzend rieb Kai sich den Schädel. Er blinzelte ein paar Mal, zog es aber dann vor, die Augen geschlossen zu lassen. Beim nächsten Versuch, wach zu werden, versagte sein kienästhetisches Wahrnehmungsvermögen auf ganzer Linie. Brummend und mit schwerem Kopf tastete er um sich nach seinem Handy. Nur langsam sickerten die Erinnerungen durch. Vielleicht hatten sie es gestern doch etwas übertrieben. Doch als er hinter sich griff, erstarrte er. Vorsichtig linste er über seine Schulter. Eindeutig! Das bildete er sich nicht ein! Er versuchte sich so wenig wie möglich zu bewegen, als er endlich sein Handy fand – es hatte auf dem Teppich neben dem extra breiten Sofa gelegen – und eine SMS an die beste Adresse versendete: ~Tala! Es wird dich vielleicht wundern, aber… Neben mir liegt n nackter Typ im Bett... Hilfe!~ Kai versteifte sich, als sich der Körper hinter ihm bewegte. Aber sein Verstand hatte noch nicht wieder richtig eingesetzt. Es dauerte nicht lange, da bekam er Talas Antwort. ~Hä? dachte, du bist nicht schwul!~ ~Dachte ich auch…~ Plötzlich kam ein Stöhnen von dem Typen hinter ihm. Eine warme Hand legte sich auf Kais bloßen Arm. Kai durchfuhr ein unangenehmer Schauer. „Junge… der nackte Typ bin ich, Schwachkopf!“, raunte dann aber eine ihm allzu vertraute Stimme und Kai entspannte sich sofort. Er drehte sich zu seinem Freund um. Doch sie waren so ineinander verknäuelt, dass es sich als ein schwierigeres Unterfangen entpuppte als angenommen. „Und ich bin auch nicht nackt. Ich hab Boxershorts an, mein Freund!“, stellte der Rotschopf schließlich grummelnd klar. Kai grinste kurz. „Also war der Abend gestern gelungen, wie man sieht.“ „Ja. Und wir sind heil angekommen, ich hab dir doch gesagt, dass ich noch fahren kann!“ „Yura… Du bist nicht gefahren, der Taxifahrer ist gefahren und du saßt auf dem Beifahrersitz und hast mit dem Pappteller von deinem halbaufgegessenen Döner gelenkt!“ Kurz schwiegen sich beide an. Sie ließen langsam Leben und Erinnerungen in ihre Glieder und ihren Verstand sickern. Ein plötzlich aufkommender Lärm ließ sie jedoch stöhnend zusammenzucken. Beide richteten sich auf und lugten über die Sofalehne. Sie entdeckten Lin, mit einem Staubsauger hantierend, was offensichtlich Ursache des plötzlichen Kraches war. „Lin! Lin!!“, rief Kai und war erleichtert, als sie die Maschine auf seine Gestikulierung hin endlich abstellte. „Warum machst du das, so früh am morgen? Du weckst die anderen noch“, meinte er zu dem eifrigen Mädchen, dass fröhlich zu ihnen heran hüpfte. „Die anderen sind schon wach. Ray hat mich gebeten, ein wenig zu staubsaugen. Ich hab ihm gesagt, dass ihr da noch schlaft, aber er meinte, dass wär schon in Ordnung, das würde euch nicht stören. Du, Kai, warum schlaft ihr ohne Schlafanzug im Wohnzimmer?!“ Kai knirschte mit den Zähnen. Er sah auf die Uhr. Es war nach zwölf. „Nun, das wissen wir auch nicht so recht“, meinte Tala dann auf ihre Frage, streckte sich nun ausgiebig und stand auf. „Ich hol mir ne Aspirin, du auch?“ Dankbar nickte Kai, hielt sich aber bei der Bewegung sofort an der Sofalehne fest, als das Zimmer sich zu drehen begann. „Solnyschka, wir wollten euch nicht wecken, wir sind gestern etwas später nach Hause gekommen.“ „Ach so. Aber ihr solltet euch lieber anziehen, Mr. Dickenson wollte heute kommen. Und Ray hat gesagt, wenn ihr bis eins nicht wach seid, bekommt ihr kein Frühstück… oder Mittag…“ Kai lächelte schief. An Essen wollte er im Moment am wenigsten denken. „Ist gut. Dann mach du weiter, was immer du grade machst, und sag Ray, wir sind jetzt wach, ja?“ Der Silberhaarige machte sich auf in die Küche. Dort hatte Tala ihm ein Wasserglas hingestellt, mit einer Tablette darin aufgelöst, aber vom Rotschopf selbst fehlte jede Spur. Da Kai durch den Alkohol ausgetrocknet und sehr durstig war, stürzte er das Glas in einmal hinunter. Er wischte sich mit dem Handrücken über Lippen und seufzte. Auf dem Weg zum Bad sammelte er ihre überall im Wohnzimmer verteilten Kleidungsstücke ein, bevor er sie schließlich in seinem Zimmer aufs Bett warf und ins Badezimmer tapste. „Geht’s dir gut?“, fragte er das Häufchen Elend, das vor dem Klo kauerte und versuchte, das bisschen Würde, was es noch zu haben glaubte, zu behalten. „Ich sag mal so: Aspirin sagt heeey.... Magen sagt FICK DICH...Aspirin sagt heeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeey...Magen ruft Türsteher.“ Kai schaute ihn verdutzt an, brachte dann ein mitleidiges Grinsen zustande. „Musstest du dich übergeben?“ „Bis jetzt noch nicht.“ „Lieg nicht so mit dem Kopf auf der Klobrille, das ist unhygienisch.“ „Ich kann ja noch duschen.“ „Duschen hilft nicht gegen Ekelherpes.“ „Ich hatte nie Herpes.“ „Sei froh.“ Kai streckte sich und betrachtete sich im Spiegel. Er sah müde aus, aber nicht ausgelaugt wie noch vor ein paar Monaten. Diese Nacht, obwohl schlafraubend, hatte ihm gut getan. „Kannst du mir mal sagen, warum ich überall an meinen Armen und Beinen blaue Flecke und Schürfwunden habe? … Mein Kinn ist ja auch angekratzt!“ Tala starrte ihn an. „Das weißt du nicht mehr? Auf dem Heimweg haben wir ne Gruppe Skater getroffen. Du wolltest das unbedingt ausprobieren und hast dir ein Board geliehen. Bist damit diese abschüssige Straße runter. Du bist zwar ab und zu runter geflogen, hast aber trotzdem noch gelacht.“ „Oh mann… Die Nacht war gut, hm?“ „Kann man wohl sagen.“ Tala versuchte, gleichmäßig zu atmen und somit seinen flauen Magen zu beruhigen. Während er seine Hände in seine Knie krallte, fiel ihm etwas an seinem linken Ringfinger auf. Stirnrunzelnd hob er seine Hand und betrachtete das goldene, äußerst hässliche Exemplar eines Siegelringes oder was auch immer es war. Er erhob sich langsam aus seiner knienden Haltung und taperte vorsichtig in Richtung Dusche. „Was dagegen, wenn ich zuerst?“ „Nein. Geh. Ich muss mir die Zähne putzen.“ „Gut, und danach sprechen wir über das hier.“ Damit legte Tala den Ring neben Kais Zahnbürste und ließ Kai mit der Tatsache allein, dass auch er einen solchen besaß, wie ihm soeben auffiel. Etwa eine Stunde später saßen die beiden Freunde sich in der Küche gegenüber, jeweils einen Kaffee in der Hand und verharrten in harmonischer Schweigsamkeit. Tala tippte sein Handy an und scrollte sich durch die Nachrichten. „Ach du heilige Sch…!!!“ „Was denn nun schon wieder?!“, fragte Kai müde und bettete seinen Kopf auf den Armen. Seit sie von Lin geweckt worden waren, hatten sie von den anderen Bladebreakers niemanden mehr gesehen oder gehört. „Ich hab gestern an alle aus meinem Telefonbuch ne SMS mit der Frage ‚Sex?’ versendet!“ „Ja, und?“ „Na ja, immerhin weiß ich jetzt wer mit mir schlafen will. Hab ungefähr 30 ‚JA’ bekommen. … Sogar von Babuschka!“ „Wie, Babuschka hat auch mit ja geantwortet?!“, fragte Kai völlig konsterniert nach. „Nein!! Sie schreibt, dass ich in meinem Alter langsam wissen müsste, wie das geht und ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als sie nach der Sache mit dem Storch zu fragen.“ Tala lachte, las dann weiter, was Kai an den Bewegungen seiner Augen sehen konnte, in denen sich das Handydisplay reflektierte. „Außerdem schreibt sie, dass sie uns gestern gesehen hat und dass ich das toll gemacht habe und dass sie unheimlich stolz auf mich ist…“ Talas liebendes Lächeln wärmte Kais Herz durch und durch. Er reichte zu seinem Freund herüber und strich ihm kurz über die Hand. Dabei berührte er aber mit seinem Ärmel die beiden Ringe, die zwischen ihnen in der Mitte des Tisches lagen. Das lenkte Kais Aufmerksamkeit nun wieder auf sie. „Warum haben wir die? Ich weiß echt gar nichts mehr von letzter Nacht! Also, so gut wie nichts“, brummte er und holte sein Portemonnaie hervor, um herauszufinden, ob er vielleicht einen Kassenbon oder dergleichen hätte, falls er diese Ringe gekauft haben sollte. „Sei froh, dass wir dieses Problem in Ruhe versuchen können zu lösen, stell dir mal vor, dein Team wäre hier“, meinte Tala und kramte nun auch in seiner Brieftasche. „Das schon, aber ich frage mich, wo die alle sind. Und warum wir überhaupt hier sind und nicht in irgendeinem Hotelzimmer oder bei uns zuhause.“ Tala sah auf, die schlichte Beschreibung ihres gemeinsamen Heims ließen ihn lächeln. Er erkannte, dass Kai nun endlich angekommen war, vielleicht nicht in der WG, gegen die er sich stur noch immer zu wehren schien, aber in seinem alten Elternhaus. Diese Stadt war nun seine Heimat. „Das gibt’s nicht!“, rief der Rothaarige plötzlich aus. Im Gegensatz zu Kai war er fündig geworden. Frustriert warf er einen zerknitterten Kassenbeleg in Kais Richtung. „WAS?! 16.300 Yen für diese hässlichen Dinger? Was hat dich da geritten!! Die bringen wir zurück!“, meinte Kai und sprang energisch auf. Dass das keine so gute Idee war, sah man ihm an, denn sein Magen bäumte sich einmal kurz auf und ließ ihn ein Würgen unterdrücken. Fast im gleichen Augenblick hörten sie Lärm und Schlüsselklirren vor der Haustür und nur wenige Sekunden später rauschte ein furioser Mr. Dickenson in das Haus, hinein in die Küche, und knallte die heutige Tageszeitung auf den Tisch. Irritiert blinzelten Kai und Tala den Sponsor des Teams an. Dann blickten sie hinunter und bei dem Bild, das auf der Titelseite prangte, verschlug es ihnen beiden den Atem. Sie hatten mit einem Bericht über das Turnier gerechnet, aber nicht mit einem Artikel dieser Art. In dicken, schwarzen Lettern leuchtete ihnen die Schlagzeile „Turnier sorgt für Aufregung“ entgegen. Darunter ein halbseitiges Foto, das die beiden Freunde abbildete, als sie gerade beim Juwelier waren. Tala hielt Kais Hand, er hatte augenscheinlich gerade einen Ring an dessen Finger gesteckt und beide strahlten sich glückselig an. Die Bildunterschrift lautete: „Kai Hiwatari endlich angekommen – findet er mit Tala Ivanov nun endlich sein Glück?“ Die beiden Russen sahen sich Unheil witternd an. Tala faltete die Zeitung ganz auseinander, um den gesamten Artikel zu lesen. ~ Mit einem eindeutigen Sieg für die Bladebreakers läuteten für das gestrige Turnier die Abschiedsglocken. Höhepunkt bildete der doppelte Zweikampf innerhalb des Teams mit den Kontrahenten Max Mizuhara und Kai Hiwatari gegen Tyson Kinomiya und Ray Kon. Aber nicht nur dieses hitzige Gefecht sorgte bei den Zuschauern für Spannung und Herzklopfen. Einen Überraschungsmoment gab es direkt zu Anfang. Die Bladebreakers liefen mit einem neuen Mitspieler auf – und zwar mit keinem geringeren als Tala Ivanov, einem ehemaligen Mitglied der nun mittlerweile aufgelösten Demolition Boys, die ihrer Zeit durch ihre skrupellosen und brutalen Spielzüge für Schlagzeilen gesorgt hatten. Umso verwunderter schien also die Entscheidung, Ivanov aufzustellen. Eine Stellungnahme dazu hatte es seitens des Teams und vor allem vom Teamleader zu keiner Zeit gegeben. Doch scheint nun das Geheimnis gelüftet worden zu sein. Die Aftershow-Party trug einen Großteil dazu bei. Auf der unter Ausschluss der Presse stattfindenden Feier bejubelten die Teams den Sieg der Bladebreakers und das gelungene Turnier. Hier zeigten sich auch der Teamleader des japanischen Weltmeisters und deren Neuzugang in ausgelassener Stimmung. Diese hielt selbst noch an, als die Bladebreakers die Party verließen. Augenzeugen beschrieben die beiden ältesten Teammitglieder als außerordentlich gut gelaunt. Wie sich später herausstellte, trennte sich die Gruppe am späten Abend von Hiwatari und Ivanov, die daraufhin einen Juwelier aufsuchten. Dort sollen sie sich längere Zeit aufgehalten haben. Hier zeigte sich, dass die als reserviert und kalt wirkend bekannten jungen Blader doch ein Herz haben. Nach einem gegenseitigen Schwur tauschten sie in Anwesenheit des Juweliers Ringe aus und besiegelten ihr Gelöbnis mit einem Kuss. „Das Glück war ihnen ins Gesicht geschrieben“, wurde eine anonyme Quelle zitiert. Der Juwelier konnte bis Redaktionsschluss leider noch nicht zu den Geschehnissen befragt werden. Die heimliche Beziehung könnte ein Grund für die Aufnahme Ivanovs ins Team sein. Trotz der Zurückgezogenheit waren beide jungen Blader stets sehr beliebt, darum könnte die Aufdeckung der Beziehung einen Aufschrei der Enttäuschung unter den weiblichen Fans auslösen. ~ „Und so ähnlich steht das noch in ganz anderen Klatschpressen!“, schnaubte Mr. Dickenson und patschte mehrere Magazine und nicht ganz so seriöse Zeitungen auf den Küchentisch, die teils dasselbe Foto zeigten, teils aber auch andere Aufnahmen veröffentlich hatten, in denen beispielsweise ein Schwitzkasten als Umarmung interpretiert wurde, oder ganz eindeutige Schlagzeilen wie „Homoerotische Ausflüge – Kai Hiwatari genießt das Leben in vollen Zügen“. Kai starrte auf die Berichte. Wenn diese Artikel auch in Russland publiziert wurden? Wenn Boris oder Voltaire sie lesen und die Fotos sehen würden? Und was, wenn ihre Babuschka Schaden nähme durch diese Gerüchte? „Eine Ungeheuerlichkeit, dass solche Lügen über euch verbreitet wurden!“, fluchte Mr. Dickenson und riss Kai so aus seinen Gedanken. Max und Tyson sahen betreten zu Boden, sie wussten nicht, wie sie Kai und Tala nun ansehen sollten, wussten nicht, ob sie den Artikeln Glauben schenken durften. Kenny und Ray dagegen sahen die beiden Russen prüfend an. „Ich bin stocksauer, dass die euch das andichten wollen. Ich werde da anrufen. Ihr werdet ein Dementi abgeben. So eine Sauerei! Das stimmt doch nicht!“ Mr. Dickenson sah die beiden an und wartete auf Unterstützung. Tala schnaubte verärgert und knüllte die Zeitung zusammen. „Da wurde wohl jemand mit dem Klammerbeutel gepudert! Einmal – EINMAL – ist man gut gelaunt, und dann machen die so einen Scheiß draus!“, knurrte der Rothaarige und ärgerte sich vor allem darüber, dass weder er noch Kai die Reporter nicht entdeckt hatten. „Es hätte uns auffallen müssen“, murmelte Kai und schenkte Tala einen bedeutungsvollen Blick. „Ich werde alles in die Wege leiten. Macht euch keine Sorgen. Wir leiten sofort eine Pressemitteilung ein“, entschied ihr Sponsor und rauschte wieder aus dem Haus der Bladebreakers. Er hatte sich so für Kai als auch für Tala gefreut, dass sie nun anfingen, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen und nun endlich das Leben genießen wollten. So eine negative Publicity konnten die beiden für den Neustart nun wirklich nicht gebrauchen. „Ah, wir helfen Ihnen, Mr. Dickenson!“, rief Tyson und fasste nach Max‘ Arm, um ihn mit sich zu ziehen. Zurück blieben nur noch die übrigen vier. „Muss ein gutes Tröpfchen gewesen sein“, bemerkte Ray und wandte sich ab, um eine leere Wasserflasche erneut mit Leitungswasser zu füllen. „Der Trick ist zwar einfach, aber sehr unauffällig, weil man das von euch trotz allem nicht erwartet.“ „Ihr wusstet davon?“, fragte Kai, während Tala ihre Ringe unauffällig in seiner Hosentasche verschwinden ließ. „Nicht direkt“, gab Kenny zu, „aber wir haben eure Taschen mitgenommen. Eine der Flaschen fiel raus. Ray ist der alkoholische Geruch aufgefallen.“ „Feines Näschen hat er“, meinte Tala gelassen und streckte sich. „Werdet ihr uns jetzt verpetzen?“ Ray seufzte und drehte sich wieder zu ihnen um. „Nein. Wir sind ein Team, oder nicht? Wir alle hatten unsere zwei Bier. Dass ihr was Stärkeres hattet, ist ja nicht schlimm. Ich bin nur erstaunt, dass euch das Zeug nicht umgehauen hat.“ „Wie viel?“, fragte Tala kurzangebunden. Ray blinzelte irritiert. „Wie viel was?“ „Wie viel verlangst du für dein Schweigen? Oder was genau verlangst du dafür?“ Der Chinese starrte die beiden entgeistert an: „Glaubt ihr etwa, ihr müsst unser Schweigen erkaufen?“ Er fühlte sich in seiner Ehre zutiefst gekränkt, das schimmerte durch seinen Blick durch. Kai legte eine Hand auf Talas Schulter. „Yura, schon gut. Danke, Ray. Wir schulden euch beiden trotzdem was.“ „Ah, ich glaube, dass ihr vor der Öffentlichkeit dementieren müsst, ist schon Strafe genug. Ehrlich, wie konnte das in so einem desaströsen Rummel enden? Ich meine, küssen? Ihr beide?“ Ray verschränkte die Arme und zog beide Brauen skeptisch in die Höhe, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Beide Russen wechselten nur einen kurzen Blick. „Das könnte passiert sein. Aber das wurde dann falsch interpretiert“, fing Kai an. „Bitte? Wie kann man einen Kuss falsch interpretieren?“, fragte Ray nun doch ein wenig fassungslos. „Das liegt in der Mentalität, Ray“, erklärte Kenny plötzlich unverhofft. „In Russland ist es üblich, auch wenn man nicht besonders intim miteinander ist, sich zur Begrüßung Küsse auf die Wangen zu geben. Wie bei den Franzosen. Weil wir das hier nicht kennen, wurde das von den Medien aufgebauscht, fürchte ich.“ Kurz setzte ein betretendes Schweigen ein. Schließlich wurde es von Tala gebrochen. „Tut uns leid. Wir haben nicht geahnt, dass wir so einen großen Aufruhr zu veranstalten…“, meinte er und rieb sich die Schläfen. „Was bedeutet homörotisch?“ Beim Klang der neugierigen Mädchenstimme zuckten alle vier Jungen wie ertappt zusammen. Sie sahen sich an und entdeckten Lin mit einer aufgeschlagenen Zeitschrift in den Händen. Plötzlich hatten alle etwas ganz Wichtiges zu erledigen und Kai blieb allein mit Lin in der Küche zurück. Er seufzte. „Das erkläre ich dir, wenn du älter bist.“ „Ich möchte das aber jetzt wissen!“ „Versprichst du mir, dieses Wort bis zu deinem 14. Geburtstag zu vergessen, wenn ich mit dir jetzt einkaufen gehe?“ „Na gut. Oh, wir haben keine Milch mehr. Und der Einkaufszettel ist voll.“ Kai tätschelte ihr den Kopf und lächelte wohlwollend: „Worauf du immer aufpasst... Gehen wir. Tala will sicher auch mit.“ Er schob sie hinaus aus der Küche und rollte die Zeitschrift zusammen, um sie zu entsorgen. Kenny und Ray lugten über die Kante der Küchentheke hinweg und sahen den beiden nach. „Nichts ist so stark wie Sanftheit. Und nichts ist so sanft wie echte Stärke.“ Ray lächelte über Kennys Zitat. „Weißt du was? Ich glaube… große Brüder kleiner Schwestern werden bestimmt mal tolle Väter für ihre Töchter.“ Der Supermarkt war gut besucht. Geschäftig eilten Hausfrauen durch die Gänge, während Rentner gemächlich und in aller Ruhe die Regale absuchten, als hätten sie alle Zeit der Welt. Lin schob den bereits gut gefüllten Einkaufswagen vor sich her. Kai hatte die Einkaufsliste in zwei Hälften gerissen und eine davon Tala gegeben, zum einen, damit es schneller ging, zum anderen, weil sie besser nicht zusammen einkaufend entdeckt werden sollten. Das wäre nur zusätzliches Futter für die Presse. „Das wird ein richtiger Großeinkauf…“, murmelte Kai und streckte sich, um Feinwaschpulver aus den oberen Regalen zu holen. Lin strengte sich an, den Wagen zu ihm zu schieben, aber dieser war bereits ziemlich schwer geworden. „Was hältst du davon, wenn ich ab jetzt den Wagen nehme und du ihn weiter vollstopfst?“, fragte Kai das Mädchen und hielt ihr die Einkaufsliste entgegen. Zum Glück hatte Ray diese geschrieben, seine Schrift war die einzige, die Lin lesen konnte. Alle anderen hatten eine Sauklaue, was den Einkaufszettel betraf, Kai eingeschlossen. Schließlich waren sie am Ende ihrer Liste angelangt und der Laden noch voller geworden. Kai sah sich um, konnte Tala aber nicht so schnell entdeckten. Also schnappte er sich seine kleine Schwester und hob sie über die Menschenmenge hinweg in die Höhe. „Sag mir, wenn du unseren Pumuckl siehst.“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ ihr Zeit. „Da hinten bei der Milch ist er“, rief sie fröhlich und winkte, woraufhin Tala zurückwinkte und verständlich machte, er würde zur Kasse kommen. „Aber Kai, ich glaube, Tala findet das bestimmt nicht nett, wenn du Pumuckl zu ihm sagst.“ „Dann bleibt das unser kleines Geheimnis, ja?“, grinste Kai und ließ das Mädchen wieder runter. Als Tala nach großer Mühe zu ihnen aufgeschlossen hatte, stellten sie sich hintereinander an die Kasse und packten die Waren aufs Band. Lin konnte nicht helfen, sie hatte nicht die Kraft, die schweren Dinge aus dem Einkaufswagen zu hieven und sie war zu klein, um über das Gitter des Wagens zu greifen. Darum besah sie sich die Topfpflanzen, die neben der Kasse zum Verkauf angepriesen wurde. Der Kassiererin fiel das auf: „Oh, die Kleine quengelt ja gar nicht!“ Kai sah erstaunt auf, und um der freundlichen Konversation willen bemüht, bemerkte er dazu: „Sie ist eben gut erzogen.“ Die Kassiererin lachte. Die meisten Grundschulkinder baten immer um diese oder jene Süßigkeit, die vor der Kasse im Regal lagen, und trieben damit Eltern oder ältere Geschwister in den Wahnsinn. „Sie scheinen aber auch sehr streng zu sein.“ „Natürlich. Disziplin sollte schon sein.“ In dem Moment quietschte Lin fröhlich auf und rannte zu Kai, zupfte an seinem T-Shirt. „Ohhh... Kai, bitte, darf ich die Blumen da haben? Bitte, bitte! Ich werde mich auch ganz gut um sie kümmern, und sie würden auf der Küchenanrichte ganz toll aussehen!!“ „Natürlich, mein Schatz. Du darfst sie haben. Gib her.“ Der Silberhaarige nahm ihr die Orchidee ab und stellte sie aufs Band. Tala konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und stützte sich amüsiert auf dem Griff des Wagens ab. „So viel zum Thema ‚um den Finger wickeln‘…“ Es war spät geworden, als sie den Einkauf mit Hilfe des Rests des Teams im Haus verstaut hatten. Tala hatte sich vor gut zwei Stunden verabschiedet. Für Lin war es nun Zeit, ins Bett zu gehen. Kai geleitete sie ins Zimmer. Er wollte ihr gerade eine gute Nacht wünschen, da fragte sie zum ersten Mal, seit sie bei ihm wohnte: „Kannst du mir eine Geschichte erzählen?“ Kai stutzte. Er blickte um sich, aber er hatte nie daran gedacht, ihr Kinderbücher zu schenken und sie hatte nie darum gebeten. Den einzigen Lesestoff boten die Schulbücher. „Hmm… Ich will es mal versuchen. Lass mich kurz überlegen, okay?“ Lin nickte und klopfte neben sich aufs Bett, damit er sich zu ihr setzte. Er kam der Aufforderung nach, lehnte sich an die Wand und ließ zu, dass sie sich an ihn kuschelte. Sanft zauste er ihr Haar und legte dann einen Arm um ihre schlanken Schultern. Er hatte in seinen Erinnerungen gekramt und glaubte gefunden zu haben, was ihm einst seine eigene Mutter stets vorgetragen hatte. „Wenn es eine gute Geschichte ist, kann ich bestimmt gut schlafen.“ Kai nickte. Er fing leise an: „Klein sagt: ‚Und was, wenn wir gestorben sind? Stirbt die Liebe dann ganz geschwind?‘ Groß nimmt Klein sanft in den Arm. Sie schauen hinaus in die Nacht. Der Mond ist hell, Klein hat es warm. Die Sterne glänzen sacht. ‚Schau mal, wie die Sterne strahlen, wie sie glitzern, wie sie funkeln. Aber manche von den Sternen sind schon viele Jahre dunkel. Trotzdem leuchten sie – und wie! Liebe und Sternenlicht, die sterben nie!‘ …“ ** Gesprochen hatte er langsam, beinahe als hätte er befürchtet, die Worte, die er aussprach, zu zerbrechen. Er sah aus dem Fenster, der Mond schickte silbriges Licht ins Zimmer, die einzige Lichtquelle im Raum. „Bist du Groß? Und bin ich Klein?“ Lächelnd nickte Kai und drückte ihr einen Kuss in den Scheitel. Er erhob sich und sie rutschte hinein in die Kissen und er deckte sie zu, damit sie nicht fror. „Спокойной ночи, мой маленький ангел.“ Seine Stimme war belegt. Er musste sich zurückziehen. Diese Erinnerung an gute Zeiten tat ihm nicht gut. Er wollte sich jetzt keine Sentimentalitäten erlauben. Kai winkte ihr noch mal und schloss leise die Tür hinter sich. Auf dem Weg nach unten bemerkte er einen Schatten vor der Haustür. Und schon im nächsten Moment klingelte jemand Sturm bei ihnen. Kai hechtete zur Tür und riss sie auf. In der Tür stand Tala. Aber in welchem Aufzug! Seine Haare hingen schlaff hinunter, total zerzaust. Er sah aus wie ein abgewrackter Junkie. Seine Augen waren geschwollen und stark gerötet. Hatte er geweint? Dazu die Zigaretten in seiner Hand. Er wollte doch aufhören. Mit zitternden Fingern zündete Tala sich zwei auf einmal an. „Was ist los?“ Wie konnte in den zwei Stunden etwas dermaßen Schlimmes passieren, was seinen besten Freund aus der Bahn warf? Das Feuerzeug ging nicht an. Es wollte nicht zünden. Kai schloss die Tür hinter sich und trat nach draußen „Tala, was ist passiert?“, fragte Kai ein zweites Mal. Jetzt sah der Rothaarige auf und vergaß seine Nikotinsucht. „Sie haben sie… sie haben sie… По мудаков хую она была похищала!!!“, schrie Tala plötzlich laut auf. „Was? Wer?“ „Babuschka… DIESE VERDAMMTEN ARSCHLÖCHER HABEN BABUSCHKA!!!“ ______________________________________________________________________________ -.-.-.-.-.-***-.-.-.-.-.- Kinästhetisches Wahrnehmungsvermögen: gesamte Umgebung wahrnehmen **Debi Gliori So wie du bist. Спокойной ночи, мой маленький ангел. (Spokojnoj no4i, moj malenkij angel) – Gute Nacht, mein kleiner Engel. По мудаков хую она была похищала. (Po mudakow huiju ona buila pochitschala.) - Sie wurde von Schwanzlutschern entführt! Kapitel 38: Netz aus Lügen -------------------------- Ist das nicht scheiße, dass einen die Muse im Stich lässt, wenn man Zeit hat und sich dann zynisch meldet, wenn man im Lernstress ist? Die Muse küsst einen immer dann, wenn man’s nicht gebrauchen kann! Gemein. Aber ich hab sie eingesperrt und jetzt herausgeholt, jetzt da ich sie brauche. Mit Gewalt!  o:3 ________________________________________________________________   Wie ein wildes Tier, eingepfercht in einen Käfig, schritt Tala vor Kai auf und ab. Dabei versuchte er immer wieder, seinem Feuerzeug eine Flamme zu entlocken. Doch es klappte nicht. Wütend warf er eine Zigarette nach der anderen nach jedem missglückten Versuch auf den Boden. Als er keine mehr hatte, setzte er die mitgebrachte Wodkaflasche wütend an die Lippen, schlug sich mit dem Flaschenrand aus Versehen hart gegen die Zähne und fluchte unflätig, spuckte auf die Erde und startete einen neuen Versuch. Er trank, mit großen Schlucken, trank und trank und hörte erst auf, als sich kein Tropfen Alkohol mehr in der Flasche befand. „Tala“, begann Kai mit ruhiger Stimme, wollte eine Hand beschwichtigend auf seinen Arm legen. Doch der Rothaarige drehte sich abrupt weg und schleuderte die Glasflasche auf den Steinpfad, wo sie klirrend zerbrach. Und dann fing er an, in ihrem Vorgarten vandalisch zu wüten. Er holte mit dem Fuß aus, trat gegen einen Dekostein, gegen Zierblumen in den Beten und trampelte sie nieder. Schnaufend drehte er seine Kreise, warf die Arme in die Luft, nahm Anlauf und kickte gegen den Briefkasten der Bladebreakers, der  ihnen von Max’ Mutter geschenkt worden war und aussah wie eine typisch amerikanische Mailbox. Er trat gegen den Holzpflock, auf dem sie stand, und boxte gegen den Metallbehälter. „Tala!“, rief Kai, doch es schien seinen Freund nicht zu erreichen. Wenn er so weiter tobte, würden die Nachbarn sich noch wegen Ruhestörung beschweren. „Sie haben sie mir weggenommen! Und ich… ich war… AAAARRRRHGG!!!“ Tala packte den Briefkasten nun mit beiden Händen und in einem Anfall primitiver Wut riss er ihn aus der Verankerung, donnerte ihn auf den Boden und stürzte sich auf ihn wie auf einen Todfeind. Mit bloßen Fäusten hämmerte er auf das Blechgehäuse ein. Doch das war ihm nicht genug. Mit voller Wucht schleuderte er es dann gegen die Hauswand. Kai stand fassungslos daneben und konnte nur zusehen. Er war mit der Situation überfordert, so einen Anfall hatte Tala noch nie gehabt. Er musste wissen, was genau los war. Wer hatte Babuschka entführt und warum? Nach Talas jetzigem Zustand jedoch zu urteilen, würde Kai von ihm erstmal keine Informationen bekommen. „Beruhige dich. So kann ich dich nicht reinlassen, weißt du.“ Ruhigen Schrittes ging Kai auf seinen besten Freund zu und nahm seine Hände, die gerade einen von Mr. Dickensons heißgeliebten Gartenzwergen erwürgen wollten, in die seinen. Der Silberhaarige musste dafür sorgen, dass sich Tala endlich zusammenriss, auch wenn ihm das schwer fiel. Niemand sollte – nein, durfte von diesem Ausraster erfahren. Das war kein leichtes Unterfangen, saß sein Team doch noch mit Mr. Dickenson draußen im Garten. „Komm, ja? Komm mit mir.“ Diese Szene kam beiden bekannt vor, aus einer längst verdrängten Zeit, nur diesmal mit vertauschten Rollen. Damals hatte Tala diese Worte gesagt und Kai zum ersten Mal mit zu seiner Großmutter gebracht. Wahrscheinlich war es diese Bindung, diese gemeinsame Erinnerung, dass sich der Rothaarige nun fügte. Kai zog Tala behutsam mit sich ins Haus, billigte, dass Tala sich auf dem Weg zur Tür bückte, um eine weitere Wodkaflasche aufzuheben und sie an die Lippen zu setzen. Kai ahnte schon, dass Tala sie geleert haben würde, wenn sie die oberste Treppenstufe erreichten. Das war für ihn auch in Ordnung, warum sollte er es ihm verbieten. Er sorgte sich nur darum, dass die anderen Jungen oder gar Mr. Dickenson Talas Ausbruch und jetzigen Zustand bemerken könnten. Denn dann kämen Fragen. Das wollte er verhindern. Außerdem mussten seine Kameraden Tala nicht so sehen, das würde sie vermutlich den Respekt vor ihm verlieren lassen. Kai brachte den Rothaarigen hinauf in sein Zimmer und drückte ihn bestimmt auf sein Bett. Sanft legte er seine Hände auf die Schultern seines besten Freundes und beugte sich vor ihm hinunter. „Jetzt sag mir ganz in Ruhe, was passiert ist.“ Aber da brach der Damm. Tala packte Kai, schlang seine Arme fest um die schmalen Hüften seines Freundes und zog ihn an sich. Der Silberhaarige gab einen leisen Überraschungslaut von sich. Es war lange her, dass Tala so instinktiv und hemmungslos gehandelt hatte. Die Schultern des Rothaarigen zuckten unkontrolliert. Er ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Laute Schluchzer verließen seine Kehle. Plötzlich begann er zu schreien und wild um sich zu schlagen. Der Jüngere steckte die ersten Treffer noch gut weg. Schließlich trommelte Tala hart gegen Kais Brust, und dieser ließ ihn für eine Weile. Als Tala aber dann vor Verzweiflung so laut brüllte, dass es einem durch Mark und Bein ging, und ihm bei einigen Schlägen die Luft wegblieb, intervenierte Kai. Er fing Talas Fäuste ein und versuchte ihn zu beruhigen. „Schhh…. Ruhig… ruhig…“ Aber gegen das Schreien war er machtlos. Es glich dem Hilferuf eines verletzten Tieres. Kai war sich nicht sicher, wie lange das noch gut gehen würde, ohne dass seine Mitbewohner im Garten etwas mitbekamen. Außerdem schlief Lin so gut wie im Zimmer nebenan, sie sollte erst recht nicht geweckt und durch Talas Anblick verschreckt werden. Aber er wusste selbst keinen Rat, was er sagen konnte, damit der Punchingball in seinen Armen verstummte. „Yuriy… Yuriy, es wird wieder gut. Alles wird wieder gut. Weine nicht mehr. Ich bin für dich da. Hey…“ Babuschka war Talas einzige Familie. Kein Wunder also, dass er so heftig reagierte. Kai musste jetzt stark sein. Für ihn. Auch wenn es ihm selbst dabei nicht besser ging, denn Anna Ivanov war für ihn stets wie eine Mutter und Großmutter zugleich gewesen. Sie gehörte dazu, sie waren eine Familie! Kai sah nur noch einen Weg, ihn zum Schweigen zu bringen. Sanft nahm er Talas Gesicht in die Hände und ließ ihn zu sich aufblicken. Dann senkte er seinen Kopf und versiegelte Talas Mund mit seinen Lippen. Ganz sanft. Ganz vorsichtig. Ganz lange. Als er sich wieder von ihm löste, hauchte er ihm einen Kuss auf die Stirn und zog seinen Kopf an seine Brust. „Yura, ich verspreche dir, ich hole Babuschka zurück.“ Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Der krampfartige Griff um Kais Hüfte ließ nach. Beinahe konnte er die Raserei aus seinem Körper entströmen sehen. Er spürte regelrecht, wie der Furor wich und einem anderen Gefühl Platz machte. Ein Zittern ergriff Talas Hände und breitete sich schließlich über den ganzen Körper aus. Die Kraft ließ nach und er ließ sich nach hinten fallen, zusammen mit Kai. Eine Weile blieben sie so liegen, doch dann kam wieder Bewegung in den starren Körper unter Kai. Er drehte sich langsam, als hätte er eine Kolik, auf die Seite, bis der Jüngere unter ihm lag. Sein Mund war nun zu einem stummen Schrei verzerrt, er presste seine Augenlider fest zusammen. Dennoch konnte selbst dies nicht verhindern, dass heiße Tränen unablässig über seine Wangen rollten. Vor lähmender Beklemmung drückte er sein Gesicht in den Stoff unter sich, suchte nach Halt, rieb seine Haut über die Textilstruktur. Stumm versickerten seine Tränen in dem warmen und weichen Pullover. Beinahe schien es, als wollte Tala in Kai hineinkriechen, so sehr presste er sich an dessen Körper. Verzweifelt und gleichzeitig wütend über seine Ohnmacht hämmerte er mit der Faust neben Kai in die Kissen, krallte sich in dessen Oberarme und schlug seine Stirn ein paar Mal gegen Brust und Schulter seines besten Freundes. Er wusste nicht wohin mit sich und seiner Angst. Die völlige Hilflosigkeit übermannte ihn wie eine unbändige Urgewalt.       „Sagt mal, wo ist Kai eigentlich hin?“ Fragend sahen die Teammitglieder von einem zum anderen. Sie saßen in gemütlicher Runde auf der Terrasse. Mr. Dickenson hatte am Nachmittag seine Beziehungen spielen lassen und einige Hebel in Bewegung gesetzt, während Kai die Einkaufspflichten für die WG erledigt hatte. Und in einer lockeren Gesprächsrunde hatten sie den Abend ausklingen lassen. Bis Kai für Lin entschied, dass es Zeit fürs Bett war. Im Grill glühten noch die Kohlen und ein paar Fackeln erleuchteten dieses nächtliche Beisammensitzen. „Ich dachte, er kommt sofort wieder, wenn er Lin ins Bett gebracht hat“, meinte Max und beugte sich vor, um sich Cola einzuschenken. „Hat es nicht auch geklingelt?“ „Ich hab nichts gehört.“ „Vielleicht ist er ja auch müde, das Turnier war schlauchend… Vielleicht hat er sich selbst auch gleich ins Bett gelegt“, brachte Mr. Dickenson vor. Ray erhob sich: „Ich sehe mal nach ihm.“       Zart fuhren seine schlanken Finger durch das krause, noch leicht feuchte Haar. Nach unendlichen Bemühungen, aus Tala mehr Informationen heraus zu kitzeln, hatte Kai es letztlich aufgegeben und ihn unter eine warme Dusche gezwungen. Das schien ihm für den Moment die einzig richtige Methode zu sein. Danach hatte sich der Rothaarige endlich etwas beruhigen können. Aber Kais Versuch, ihn zu befragen, während das heiße Wasser auf sie beide niederrauschte, trug leider ebensowenig Früchte. Kai war aus Talas wirren Worten nicht schlau geworden. Auch die herben Schluchzer und gewimmerten Vokale danach, als er seinem besten Freund beim Abtrocknen und Anziehen half, trugen nicht gerade zu einem besseren Verständnis bei. Jedoch hatte er heraus gehört, dass Tala einen Anruf bekommen hatte. Nachdem er sich also mit ihm in sein Bett, dass ihnen als einziges Refugium diente, zurückgezogen und ihm versichernde Worte in Ohr und Haar gewispert hatte und als er überzeugt war, dass sein Freund tief schlief, nahm er vorsichtig, ohne seinen festen Griff um den noch immer zitternden und ruhelosen Körper zu lockern, dessen Handy und scrollte sich durch das Menü. Kai wusste, dass Tala sein Handy so eingerichtet hatte, dass es Anrufe aufnahm und für eine gewisse Zeit speicherte. Schließlich fand er die Mailbox und begann sie abzuhören. Das Gespräch von Tala und Boris war dort verzeichnet. Ihm wurde beinahe schlecht, als er Babuschkas zittrige Stimme hörte, die versuchte, Tala Mut zu machen. „~“Yura, mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut, lass dich nicht unterkriegen, ich werde mit denen schon fertig–“~“ Kai hörte ein klatschendes Geräusch, worauf ein erstickter Schmerzenslaut folgte. Unbewusst hielt er den Atem an und presste das Handy stärker an sein Ohr. Im Hintergrund wimmerte ihre Babuschka leise. Nur Boris‘ grausame Stimme übertönte sie. „~“Ist sie das wert, Yuriy? Du und Kai, ihr solltet besser aufhören, uns dazwischen zu funken, sonst kann ich nicht für ihre Sicherheit garantieren.“~“ Ein letzter, glockenheller Schrei, dann war das Gespräch beendet. Kais Augen brannten, seine Kehle wurde trocken und er schluckte hart. Gleichzeitig presste er den schlafenden Körper in seinen Armen dichter an sich. Unwillkürlich fiel ihm ein Zitat Babuschkas ein, mit dem sie ihm einst auf eine Frage bezüglich seiner Eltern und des Todes im Allgemeinen geantwortet hatte: „Gute Menschen gleichen Sternen. Sie leuchten noch lange nach ihrem Erlöschen.“ Rasch schüttelte er den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Wie sehr hoffte er in diesem einen Augenblick, dass sie nicht erlosch…       Leise öffnete Ray die Tür. Überrascht blieb er auf der Schwelle stehen. Kai saß auf seinem Bett, mit dem Rücken zur Wand, und mehr oder weniger auf seinem Schoß saß Tala. Auf den ersten Blick wirkten sie wie ein Wesen mit stark verknäulten Gliedmaßen. Der Silberhaarige hatte sein rechtes Bein angewinkelt, an das sich der Rothaarige lehnte. Dieser kauerte wie ein Häufchen Elend mit angezogenen Knien in Embryohaltung zwischen Kais Beinen und vergrub seine vor Anspannung kalten Zehen unter Kais Oberschenkel und sah mit einem für ihn atypischen, leeren Blick in die Ferne. Er war wieder wachgeworden, jäh aufgeschreckt aus einem bösen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte. Nun hatte ihn die Realität wieder eingeholt und entließ ihn nicht ihren kräftigen Krallen. Kai drückte Talas Kopf an seine Brust und wiegte ihn sacht hin und her. Seine linke Hand hatte er auf Talas Bauch gelegt, sie wurde jedoch von Tala fest umklammert. Vor lauter Irritation über die sich ihm bietende Szene wollte Ray zu einer Frage ansetzen. Der Rothaarige sah so verloren aus. So kraftlos und gebrochen … einfach hilflos. Für den Chinesen nicht nur ein seltener, sondern auch ein äußerst verstörender Anblick. Aber da war Kai. Als Ray seinen Mund öffnete, begegnete er seinem Blick und revidierte seine Einschätzung sofort. Tala sah vielleicht schutzlos aus, er war aber definitiv nicht ungeschützt. Kai wachte über ihn. Und sein Blick sagte nur eines: Ray sollte bloß den Mund halten. Der Schwarzhaarige schluckte. Nickend verließ er das Zimmer wieder. Er verschloss von außen die Tür und lehnte sich gegen das Holz. Kai hatte unglaublich aggressiv gewirkt. Rebellisch und gefährlich wie schon lange nicht mehr war ihm seine Aura omnipräsent entgegengetreten und hatte ihn förmlich aus dem Zimmer gedrängt. Noch nie in seinem Leben war Ray ein so starker Beschützerinstinkt begegnet und gerade von Kai hätte er solch ein Verhalten nicht erwartet. Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich schließlich von der Zimmertür ab und ging wieder nach unten zu seinen Freunden, um ihnen mitzuteilen, dass Kai sich heute Abend wohl nicht mehr blicken ließ.     Zwei Stunden, nachdem sie das gemütliche Sit-in aufgelöst hatten, kehrte Ray in ihr gemeinsames Zimmer zurück. Vorsichtshalber klopfte er leise an, bevor er die Tür öffnete. Hier hatte sich etwas getan. Tala lag in Kais Bett, offensichtlich ruhig schlafend, aber immer noch zusammengekrümmt wie ein Embryo. Sein Gesicht war der Wand zugewandt. Kai lag vor ihm, hatte sich auf die Seite gerollt, den Kopf auf den angewinkelten Arm gestützt und betrachtete Tala besorgt. Misstrauisch richtete sich jedoch sein Blick zur Tür, als Ray sich leise räusperte. „Ähm… Soll ich unten schlafen? Dann kannst du in meinem Bett pennen…“, schlug der Chinese etwas ungelenk vor. Er stellte zudem verwundert fest, dass Tala ein graues Kapuzensweatshirt  in Verbindung mit einer schwarzen Trainingshose trug, beides aus Kais Schrank, was ihm zuvor noch nicht aufgefallen war. Kai hingegen schüttelte auf seine Frage hin nur den Kopf. Wieder sah er zu Tala, dann deckte er ihn bis zu den Schultern mit der Decke zu und richtete sich vorsichtig von seiner liegenden in eine sitzende Position auf. „Ich kann ihn nicht allein lassen“, murmelte er leise. Ray erkannte, dass sein Teamleader außer diesem einen Kommentar nichts mehr zu der Situation sagen würde. Als dann aber Kais Finger sanft durch das weinrote Haar Talas fuhren, mit einer so tröstenden Intensität, zog sich etwas in Ray zusammen. Diese Geste hatte etwas so Intimes an sich, dass er sich wie ein Störenfried vorkam. Vielleicht hatten die Klatschpressen doch Recht? Nicht, dass ihn das persönlich stören würde. Er fand den Gedanken, einen schwulen Teamkameraden zu haben, trotz seiner traditionell sehr konservativen Erziehung keinesfalls anstößig. „Ray!“ Kais eindringliches Raunen drang zu ihm durch. Anhand seines Blickes konnte Ray leichte Verärgerung und Irritation erkennen. „Entschuldige, ich war wohl in Gedanken. Was hast du gesagt?“, fragte er leise zurück, bemüht, Tala nicht aufzuwecken. „Ob du mir einen Gefallen tun kannst und mir eine Kanne Ingwertee kochen könntest. Aus der frischen Ingwerwurzel, die ich heute mitgebracht habe.“ „Klar, sicher.“ Ray widersprach nicht und er hakte auch nicht nach. Es bedurfte keiner Worte, die ihm erklärten, dass Kai sich um seinen Freund sorgte und nicht von dessen Seite weichen wollte. Als er vor die Tür trat, kam ihm eine verschlafende Lin entgegen, leise eine Melodie summend, und offensichtlich auf dem Weg zu Kai. In dem Versuch, sie aufzuhalten, sprach er sie an: „Du solltest da jetzt nicht reingehen. Komm mit, ich wärme dir eine Milch auf, dann kannst du besser schlafen.“ Er drehte sich schon zur Treppe, im Glauben, sie würde ihm folgen, da drückte sie einfach die nur angelehnte Zimmertür auf und schlüpfte ins Zimmer hinein. „Kai?“, fragte Lin leise und rieb sich die Augen. Der Angesprochene blickte nur milde erstaunt zu ihr, winkte sie zu sich. „Warum bist du noch wach? Hast du schlecht geträumt?“ „Nein. Weiß nicht.“ Sie kletterte vertrauensvoll auf sein Bett und kniete sich hin. Sie war beherzt genug, erst Tala und dann ihren Bruder fragend anzusehen: „Warum schaust du so traurig, Kai?“ Die Frage überraschte ihn. Wie sollte er es ihr erklären? Einer Siebenjährigen, die gerade erst in ihrem neuen Leben Fuß gefasst hatte? Und noch dazu einem Mädchen, das ebenfalls vom Wesen Anna Ivanovs tief berührt worden war? „Ich glaube, weil Yura sehr traurig ist.“ „Warum bist du traurig, wenn Yura traurig ist?“ „Weil er mein Freund ist. Wir sind aus demselben Grund traurig.“ Lin dachte kurz nach. „Also ist Yura traurig, weil er traurig ist.“ Hinter ihnen regte sich benannter Rotschopf im Schlaf. „Schhh… wir müssen leiser sein“, flüsterte Kai. Er versuchte es so kindgerecht wie möglich zu erklären, und gleichzeitig so verschleiernd, dass man nicht sofort verstand, was er meinte, für den Fall, dass die Wände Ohren hatten. „Yura ist traurig, weil ein böser Mann ihm etwas weggenommen hat, was… ihm sehr wichtig ist. Was er über alles liebt. Und er weiß nicht, noch nicht, wie er es sich zurückholen kann.“ „Kann er sich diese Sache nicht nochmal besorgen?“ „Nein, denn diese Sache ist einzigartig. Es gibt sie nur einmal auf der ganzen Welt. Und sie ist schon sehr alt. Und sehr kostbar.“ „Oh, verstehe. Aber warum bist du dann auch traurig?“. „Weil Yura mein Freund ist. Und weil mir diese Sache auch sehr wichtig ist.“ „Kann ich hierbleiben und euch trösten?“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Und auch auf die Gefahr hin, dass sein Bett bei zweieinhalb Personen vielleicht entzwei brechen könnte oder er heute Nacht wegen der Überfüllung sehr wahrscheinlich auf dem Boden landen würde, erlaubte er es ihr. „Du kannst. Aber weck Yura nicht auf. Er ist erst vorhin eingeschlafen.“ Er ließ sie unter die Decke kriechen und gesellte sich zu ihnen. Zugegeben, es war sehr eng, aber irgendwie schon händelbar. Denn zu sehen, wie sie sich vorsichtig über ihn beugte, hauchzart über seine Wange strich und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gab, war es wert, heute Nacht womöglich auf dem Boden zu schlafen. Yuriy regte sich plötzlich, doch er drehte sich nur um, schlang im Schlaf die Arme um den kleinen Körper des Mädchens und drückte sie fest an sich. Das machte Lin etwas Angst, obwohl sie Tala mittlerweile gut kannte. Doch Kais versichernder Blick verscheuchte das unheimliche Gefühl und deshalb kuschelte sie sich in die starken Arme des Rothaarigen und lauschte dessen Herzschlag. „Es schlägt ganz schnell und doll…“, flüsterte sie, woraufhin Tala sie nur noch mehr an sich presste wie ein flauschiges Kuscheltier. „Sicher träumt er schlecht“, meinte Kai und rückte näher heran, um einen Arm um sie beide zu legen. „Wenn er dich erdrückt, sag Bescheid. Schlaft gut.“ „Kai?“ „Hm?“ „Ich hab dich lieb!“ Ihre schläfrige Stimme umarmte ihn und es war, als spürte er eine längst verdrängte, familiäre Nähe und Zuneigung. Es war anders als das, was er und Tala und Babuschka miteinander teilten. Jedoch nicht minder gut. Diese vier Worte von ihr, das allein war Balsam für seine Seele. Zwar glaubte er schon lange nicht mehr an einen Gott, aber er dankte dem Universum im Stillen dafür, dass ihre Wege sich gekreuzt hatten. „Ich dich auch, Lin, ich dich auch…“   Ray fühlte sich schlecht. Er hatte nicht lauschen wollen, sondern vielmehr Lin aus dem Zimmer holen, aber als sie so tollkühn anfing, Kai auszufragen, war die Neugierde stärker gewesen als der Anstand. Sobald das Knarzen der Matratze verstummt und auch ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren, wagte Ray es, die Treppe hinabzusteigen. In der Küche fand er die Zutaten für den von Kai gewünschten Tee. Während er den Ingwer kleinraspelte, etwas Minze in einem Mörser kleinrieb und zum Schluss dem heißen Aufguss Honig und etwas Zitrone zufügte, dachte er über das eben Gehörte nach. Was konnte Tala nur verloren haben, dass ihn der Verlust so aus der Bahn zu werfen schien? Hatte er vielleicht Wolborg irgendwo verloren? War ihm der Bit-chip oder der Blade selbst gestohlen worden? Als Ray den Sud in eine Thermoskanne goss, ziepte es unangenehm vor Eifersucht als auch vor Scham in seiner Magengegend. Lin hatte im Gegensatz zu ihm direkt gesehen, dass Kai bekümmert und mitgenommen war. Er selbst hatte sich von dem imposanten Gehabe des kühlen, starrsinnigen und oft genug auch harten Russen abschrecken lassen. Vielleicht war es, weil Kai vor dem Mädchen seine Deckung vernachlässigte oder gar ganz fallen ließ. Vielleicht hatte Ray sich aber auch viel zu sehr daran gewöhnt, einen verbitterten und griesgrämigen Leader vor sich zu sehen, der seinen Schmerz und seine Verzweiflung nur selten offenbarte und eher sofort in Angriffsstellung ging, als seine tief verwurzelten Seelennarben zur Schau zu stellen. „An dir ist wirklich ein psychologischer Geist verloren gegangen, Ray, du solltest überlegen, das vielleicht zu studieren, wenn dir der Beyblade-Sport nicht mehr zusagt.“ Die ruhige Stimme ließ Ray herumfahren, er hatte nicht bemerkt, dass noch jemand im Raum war. Jedoch war er erleichtert, als Kenny vom Wohnzimmer in die Küche schritt und ihm beim Umfüllen des Tees zusah. „Habe ich etwa laut gedacht?“ „Ja, so ziemlich. Worum geht’s eigentlich?“, fragte der Brünette und hielt in seiner vorausschauenden und hilfreichen Art das Sieb fest, damit die Ingwer-, Minze- und Zitronenbrocken nicht mit in die Kanne fielen. „Nun, ich bin mir nicht so sicher. Vielleicht steckt die Beziehung von Kai und Tala in einer Krise.“ „Das mag sein, immerhin ist es nicht einfach, wenn- Moment, was?“ „Keine Ahnung, jedenfalls geht es beiden grade sehr schlecht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was da los ist.“ „Na, aber wohl kaum so etwas.“ „Ich weiß nicht so recht, du warst nicht dabei, Kai hat mich mit seinem Blick allein aufgespießt und dreimal durch den Fleischwolf gejagt. Als wäre ich sein Todfeind Nummer eins.“ Kenny betrachtete nach Ray Aussage die letzten Tropfen am Sieb, ehe er den Inhalt in den Mülleimer warf. „Keine andere Liebe ist so gut und mächtig wie die, die du in einer Freundschaft finden kannst.“* Er zuckte mit den Schultern, dann verließ der kleine Nerd die Küche und ging hinauf in sein Zimmer. Ray sah ihm lange nach. Woher wusste der Jüngste des Teams nur so viel? Warum schien er plötzlich um so vieles weiser? Sicher, Ray hatte ihn immer für sehr intelligent gehalten, aber das bezog sich größtenteils auf das große Fachwissen, was Blades und Computer betraf. In zwischenmenschlichen Beziehungen hatte es nie den Anschein erweckt, dass Kenny dort in irgendeiner Weise bewandert war. Und nun ließ er in letzter Zeit Sprüche vom Stapel, die so verdammt schlau und passend für die jeweilige Situation waren, besonders, was ihren Teamleader betraf, dass es Ray an seinem eigenen Verstand zweifeln ließ. Ganz so, als hätte Kenny ein Gespür dafür entwickelt, die einzelnen Handlungen aller Teammitglieder in der gleichen rasanten Art und Weise zu analysieren und zu interpretieren, wie er es im Kampf und mit Dizzys Hilfe mit den Beyblades und den Gegnern tat. Seufzend schraubte Ray die Thermoskanne zu und balancierte ein Tablett mit mehreren Tassen hinauf in sein Zimmer. Leise trat er in den Raum, räumte vorsichtig Lampe und Wecker auf dem Nachttischchen zur Seite und stellte dort das Tablett ab. Dann betrachtete er die drei ruhenden Personen in Kais Bett. „Danke…“ Beim Klang von Kais Stimme fuhr Ray überrascht zusammen. „Du bist noch wach?“, flüsterte er zurück und setzte sich ihm gegenüber auf sein Bett. „Ich muss doch auf die beiden aufpassen…“ Bedächtig setzte Kai sich auf, bemüht, so wenig im Bett zu wackeln wie möglich. Er langte zur Thermoskanne und goss sich einen Tee ein. Die heiße Flüssigkeit wärmte ihn von innen, zwar verbrannte er sich die Zunge, verzog aber keine Miene. „Sie schlafen, Kai, was soll schon passieren?“ „Im Schlaf und Traum kann mehr passieren, als du dir vorstellen kannst“, murmelte er mit einer Stimme, die Ray frösteln ließ und er sich über die Arme reiben musste. Er betrachtete den Russen vor ihm eine Weile stumm. Schließlich zog er sich wortlos um und wickelte sich in seine Tagesdecke ein, während er es sich im Schneidersitz auf dem Bett bequem machte. „Wovor hast du Angst?“ Kai sah auf und versuchte Rays Blick im Zwielicht des nächtlichen Zimmers zu deuten. „Vor gar nichts.“ „Und wovor fürchtet sich Tala dann?“ Kai schwieg. Ray hatte genau ins Schwarze getroffen. Es stimmte zwar, dass er mutig war und sich jeder Gefahr entgegenstellte. Doch er hatte Angst vor dem Verlust geliebter Menschen. Ohne Tala und Babuschka hätte er die Abtei niemals überstanden, hätte sich vermutlich ebenso erhängt wie einige andere seiner Mitschüler damals oder sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Denn Waffen waren immerhin genug vorhanden gewesen. „Kai, ich sehe doch, wie du leidest. Wie ihr beide leidet…“ „Das ist nichts, was ich dir so einfach erklären könnte. Ich könnte dir sowieso nichts außer Lügen erzählen. Und das will ich nicht. Nicht wirklich jedenfalls.“ Der Chinese staunte über die plötzliche Offenheit und die direkte und ehrliche Antwort. „Es wird vielleicht nicht einfach. Aber wir kriegen das schon hin. Danke für den Tee, Ray.“ Der junge Russe stellte die Tasse wieder auf das Tablett, wünschte ihm noch eine gute Nacht und kroch vorsichtig unter die Decke. Ray starrte auf das große Knäuel in dem gegenüberliegenden Bett, lauschte und wartete auf einen gleichmäßigen Atemzug. Erst dann murmelte er leise: „Freunde sind wahre Zwillinge der Seele...“** Mit einem letzten Blick auf die Uhr warf auch er sich endlich in die Kissen.     „Warum lässt deine Oma es eigentlich zu, dass du hier bist?“ Tala zögerte mit einer Antwort. Er knautschte, wie Kai, die Enden seines Schalfanzugoberteils zusammen und beobachtete, wie Kai immer wieder seine Ecken aufzwirbelte und wieder glatt strich. Wieder einmal entzog es sich ihnen, warum sie hier im Kerker saßen. Immerhin hatten sie im Training heute eine gute Figur gemacht. „Sie dachte, das hier sei eine Schule“, antwortete der Rotschopf schließlich. „Warum sagst du ihr denn nicht die Wahrheit? Sie glaubt dir doch bestimmt!“ „Schon, aber… ich will sie nicht beunruhigen. Und… sie würde sich bestimmt die Schuld dafür geben, dass ich bestraft wurde… Weil sie mich hierher schickte.“ Sie hatten sich in die hinterletzte Ecke der Zelle zurückgezogen, damit die Kamera sie nicht erfasste. Zusammengekauert saßen sie an der kalten Steinwand und gaben sich gegenseitig Wärme. Doch die reichte nicht aus, um auch ihre Hände und Füße warm zu halten. Tala beugte sich runter und rieb Hände und Füße aneinander, um seine Durchblutung anzuregen. Mit ihren elf Jahren waren sie erstaunlich gerissen, was Vertuschung und Aufrechterhalten des Scheins anging, denn außerhalb ihres Zimmers gaben sie sich als die größten Rivalen der gesamten Abtei. Schließlich sah Tala wieder zu Kai. „Außerdem – wer passt denn auf dich auf, wenn ich nicht da bin?“ Kai lächelte leicht. „Ja ne ho4u tebja terjatj… Niemand darf wissen, dass ich dich so lieb hab, Yura… Sonst bringt er dich um.“         * Sir Laurens van der Post, 1906-1996 ** William Penn, 1644-1718: Freunde sind wahre Zwillinge der Seele; sie fühlen in allem mit. Einer ist nicht ohne den anderen glücklich, noch kann sich einer von ihnen allein elend fühlen. Sie wechseln sich ab in Schmerz und Freude und helfen sich gegenseitig in den schlimmsten Situationen.   Ja ne ho4u tebja terjatj – Ich will dich nicht verlieren     Nun, auch dieses Mal habe ich den Fokus auf das Menschliche gelenkt und hinke etwas mit der eigentlichen Story hinterher. Wie einige schon bemängelten, scheinen sich die verschiedenen Kapitel langsam zu Fillern zu entwickeln. Das ist nicht meine Absicht, denn ich will auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der einzelnen Figuren zeigen. Das dauert leider etwas, aber mir ist das wichtig. Aber mit Babuschkas Entführung ist schon ein großer Schritt in Richtung Haupthandlung getan. (Hoffe ich…) Bis zum nächsten Kapitel! Kapitel 39: Feuer im Blut ------------------------- Vorwort: Man man man… Das ist jetzt schon das 39. Kapitel. Ich war 16, als ich mit dieser Geschichte hier angefangen habe. Dieses Jahr werde ich schon 25 – so alt wie Kais Vater, als er verschwunden ist. Wenn ich mir so denke, dass Kais Eltern hier in meinem Alter schon, ja, Eltern waren und sich eingesetzt haben für ihre Ideale… Ich weiß nicht, irgendwie kommt’s mir grad so vor, noch nicht viel erreicht zu haben in meinem Vierteljahrhundert. Macht wohl die Musik und das düstere Wetter während des Schreibens… Nun, viel Spaß mit Guilty, bis es irgendwann zuende ist ;)           Die Wände waren kalt und aus dickem Stein. Die Kühle zog durch ihre Kleidung. Sie fröstelte. Viel konnte sie in dem schummrigen Licht nicht erkennen, aber sie vermutete, dass sie in einer Art Keller war, in einem ziemlich alten Gemäuer. „Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Aber mir bleibt keine andere Wah-uff!“ Ihr weißer Slipper landete treffsicher in der Mitte, dort, wo es wehtat. Angefüllt mit Jähzorn holte Boris aus und schlug Anna Ivanov ins Gesicht. Leichte Blutspritzer landeten an der Steinmauer, beinahe kippte sie durch die Wucht des Schlages von dem Stuhl, an dem sie gefesselt war. Der Schmerz benebelte für einige Minuten ihren Verstand. Boris schüttelte seine Hand aus, wischte sich an seiner Hose das Blut von den Handknöcheln ab und rückte sich seinen Schritt zurecht. Dann nahm er sein Taschentuch, nahm nun sanft das Gesicht der Frau in die Hand und tupfte ihr vorsichtig das Blut von Nase und Wange. „Das tut mir leid. Kommen Sie, ich richte Sie optisch wieder etwas her.“ Als sich Anna etwas von der Benommenheit erholt hatte, spuckte sie verächtlich auf den Boden, ein Gemisch aus Speichel und Blut. „Fahr zur Hölle!“ „Undank und Respektlosigkeit muss wohl in der Familie liegen. Kein Wunder, dass der Rübenkopf von deinem Enkel dir darin in nichts nachsteht.“ „Du Hund!! Hätte ich gewusst, dass meine Söhne hier landen…!“ „Deine Söhne, Oma? Als ob du es nicht gewusst hättest, du wolltest es nur nicht wahrhaben!“, spie er ihr verächtlich entgegen. Psychologische Folter fiel nicht unbedingt in Boris’ Fachgebiet, aber die Vergangenheit hatte gezeigt, dass er darin nicht völlig unfähig war und er mit seinen Methoden ziemlich erfolgreich sein konnte. Anna jedoch zeigte sich unbeeindruckt. „Meinst du schmieriger Iltis, ich lasse mich von dir einschüchtern? Meinst du, ich habe vor dir Angst?“ „Solltest du haben, alte Frau!“ „Glaub nicht, dass du mich klein kriegst!“ Ihre wachen Augen hielten Boris stets im Blick. Sie hatte im Krieg gedient, als junges Mädchen von kaum zwanzig Jahren, da die Männer knapp waren. Und um ihren jüngeren Bruder zu schützen, hatte sie sich die Haare kurz geschoren und sich an seiner statt gemeldet. Sie hatte gesehen, wie Mütter ihre neunjährigen Töchter als alte Frauen verkleideten, nur um sicher zu gehen, dass kein männlicher Soldat sie vergewaltigte. Sie kannte den Schrecken des Krieges, den Tod, das Verderben und die pure Grausamkeit. Nichts, was Boris sagte, konnte schlimmer sein als die Verleumdung der an Frauen und Kindern begangenen Kriegsverbrechen, die sie miterlebt hatte. * Die Seile knirschten und schnitten leicht in ihr Fleisch, als sie ihre Fäuste anspannte: „Ich hab in Kriegszeiten mehr Männern in den Arsch getreten als du je gesehen hast, Bursche!“ „Ich hab‘s ja auf die nette Tour versucht, aber du lässt mir keine andere Wahl… Ich werde dir schon dein freches Mundwerk stopfen!“, polterte Boris und ging auf sie zu, um sie mit zu knebeln. Aber Anna wollte nicht kampflos aufgeben. Sie konnte nicht zulassen, dass Kai und ihr Yuriy sich wegen ihr in Gefahr begaben. Damals hatte sie wirklich nicht gewusst, in was für ein Elend sie ihren Enkel geschickt hatte, obwohl ihr mit der Zeit einige Dinge merkwürdig erschienen. Dennoch hatte sie an das Gute in dieser Einrichtung geglaubt. Vielleicht hatte Boris Recht und sie hatte die Augen verschlossen. Sie hätte früher handeln, mehr nachfragen müssen. Sicherlich hätten ihre Enkel aber nichts erzählt. Sie kannte Yuriy und Kai und konnte sich denken, warum sie geschwiegen hatten: um sie zu beschützen. Was hatte sie nur für törichte Kinder! Aber sie war unverwüstlich, und diese Eigenschaft hatte sie scheinbar auch an Yuriy vererbt, denn er war aus demselben zähen Holz geschnitzt. Zum Glück für ihn, dachte sie in der Sekunde eines Augenblicks, sonst hätte ihr Enkel den Drill und den gesamten Aufenthalt in der Abtei niemals überstanden, und schon gar nicht Kai mitziehen können. Ja, sie war sich bewusst, dass der zierliche Junge, den Yuriy eines Tages mit nach Hause gebracht hatte, der fragilere der beiden war. Waise, keine Freunde, nur einen besten Freund. Sie hatte damals gedacht, dass Kai sich nur an Yuriy klammerte, dem einzigen Halt in seinem Leben. Ein paar Jahre später wurde sie eines Besseren belehrt. Zwar war Kai seit jeher der tiefen Überzeugung, dass er es ohne Yuriy nie geschafft hätte, aber Anna hatte auch erkannt, dass sie sich gegenseitig eine Stütze gewesen waren. Erst nach ihrem Abgang aus der Abtei hatte sie erfahren, was das für eine Institution war. Sie hatte sich schwere Vorwürfe gemacht, Yuriy an so einen Ort geschickt zu haben. Bis zuletzt, das hieß bis jetzt, da sie sich in ebendiesen Gemäuern befand, hatten ihre Enkel jedoch einen verdammt guten Job gemacht, die Wahrheit vor ihr zu verheimlichen. Das gesamte Ausmaß ihres Geheimnisses um die Kindheit der Jungen eröffnete sich ihr nun erst. „So, das müsste reichen, Weib.“ Boris wischte sich über die Stirn. Der Kampf war verloren. Anna Ivanov starrte ihn aus wütenden Augen an, während sie auf dem Taschentuch herumkaute, dass er mit viel Klebeband fixiert hatte. Außerdem fesselte er ihre Knöchel an die Stuhlbeine. Sie war ein widerspenstiges Biest, er wollte nicht noch einmal von ihr überrascht werden. Schlimm genug, dass sie ihm mehrmals in die Finger gebissen und vor sein Schienbein getreten hatte. Vorerst hatte er ihren Widerstand unterbunden. Er stülpte ihr einen stinkenden Kartoffelsack über den Kopf. Es wurde Nacht für Babuschka.       „Schaut mal! Eierschalen!“ Tysons fidele Stimme drang aus dem Garten durch das halb geöffnete Badezimmerfenster an Kais Ohren. Der Silberhaarige stand mit nackter Brust vor dem Spiegel und betrachtete die Male, die sein bester Freund dort gestern hinterlassen hatte. Kurz verzog er schmerzhaft das Gesicht, als er den blauen Fleck an seiner Schulter berührte. Auch sonst hatte Tala sich mit seiner Kraft nicht zurückgehalten, mehrere kleine Blutergüsse prangten auf seiner Brust. Aber wer konnte es ihm verübeln? Kai konnte das verkraften. Es war immerhin Tala. „Ja, selbst die ungeborenen Vögel konnten deinen Gesang nicht mehr ertragen.“ „Du bist gemein, Max.“ „Ich bin dein bester Freund, und darum sag ich dir, du musst noch viel üben, damit so ein Ohrensakrileg wie gestern bei Singstar nicht noch mal passiert“, meinte der Blonde nonchalant und schenkte ihm ein spitzbübisches Grinsen, das in seiner Dreistigkeit noch von seinen frech tanzenden Sommersprossen auf der Nase betont wurde. Kai musste schmunzeln. Max hatte wirklich humoristisches Talent. Manchmal. Der Silberhaarige zog sich einen Pulli über und kehrte ins Zimmer zurück, zog einen Koffer unter dem Bett hervor und setzte sich auf selbiges, um ihn zu öffnen. Sie hätten in Kais Elternhaus fahren können, wo sie ungestört gewesen wären, doch das wäre den anderen sicherlich verdächtig vorgekommen. Es genügte schon, dass Ray Talas emotionalen Zusammenbruch mitbekommen hatte. Aber dadurch, dass sie sich ein Zimmer teilten, war das nicht zu vermeiden gewesen. Kais Sorge, dass überhaupt jemand aus seinem Team von Talas Anfall erfahren hatte, zerstreute sich erfreulicherweise am Morgen, denn wie sich herausstellte, hatten seine Jungs das gemeinsame Zusammensein mit einem Karaoke-Abend ausklingen lassen, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Tala aufgetaucht war. Glück im Unglück für beide, dass Tysons Jaulen die Ohren der anderen betäubt hatte. Kai und Tala hatten nichts davon bemerkt; jede Gruppe hatte wohl in dem Moment in ihrer eigenen Welt gelebt. „Ich werd gleich RABIAT!!!“ „Halt die Füße still. Das bist du gestern schon geworden.“ „Wie kannst du da nur so ruhig bleiben?!“, schnaufte Tala frustriert und ließ sich wieder neben Kai aufs Bett fallen. „Yura, Babuschka ist mir genauso wichtig wie dir! Ich bin genauso aufgebracht, aber wir müssen unsere Wut und Energie für den Moment aufsparen, wenn es drauf ankommt. Erst mal müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und uns jetzt überlegen, wo sie versteckt gehalten wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Boris sie laufen lässt, nur weil wir hoch und heilig versprechen, wir kämen ihm nicht mehr in die Quere!“ Tala rollte sich auf dem Bett zusammen und legte seinen Kopf auf Kais Schoß. Seine Nase stieß gegen Kais Bauch, er atmete einmal zitternd aus. „Ich habe eine Scheiß-Angst.“ „Ich weiß.“ Die hatte Kai auch. Mit einem Klicken schob er das Magazin in den Schaft seiner Gratsch und entsicherte sie. „Sie haben Babuschka entführt – das bedeutet Krieg!“ Sein Blick funkelte vor Entschlossenheit. Boris hatte es nicht anders gewollt. Kai würde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um Babuschka aus seinen Klauen zu befreien. „Hör zu, Yura. Wir brauchen zuerst ein Alibi, um von hier wegzukommen. Wir können nicht einfach verschwinden. Das würde uns nicht nur verdächtig machen, sondern auch Lin verängstigen. Warum also müssen wir von hier weg?“ Tala drehte seinen Kopf und sah ihn eine Weile an. Dann schnappte er sich den Waffenkoffer und setzte sich auf. Er wühlte sich durch die Munition und betrachtete die einzelnen Pistolen darin, eine Glock und eine russische Makarow. So konnte er besser nachdenken. Der kühle Stahl in seiner Hand beruhigte sein erhitztes Gemüt, damit er wieder klar denken konnte. Er drehte die Waffe in seinen Händen, nahm Putzzeug und begann, sie zu zerlegen und wieder zusammenzubauen. Sie hatten aufgestockt nach dem letzten Auftrag. Kai deponierte nicht alles unter seinem Bett, das war zu riskant. Der magere Inhalt des Koffers war immer fest verschlossen und er lagerte ihn selbst weit hinten an der Wand. In seinem Elternhaus hatten sie mehr Utensilien verstaut, in einem „unsichtbaren Depot“. Sie würden sich nachher eindecken, wenn sie einen Plan hatten. „Wir könnten versuchen, ihr Handy zu orten. Falls sie es dabei hat“, schlug Tala schließlich vor. „Wenn wir es finden, können wir in etwa abschätzen, wo Boris sie gefangen hält.“ „Kriegst du das hin? Er könnte wahnsinnig viele Möglichkeiten von Verstecken haben.“ „Könnte er. Aber was, wenn er sie gerade dort versteckt, wo es am offensichtlichsten ist?“ „Und das wäre?“ „Die Abtei.“     „Ein Baum?“ „Nein.“ „Ein Apfel? Eine Katze??“ Dafür erntete er ein heftiges Kopfschütteln und ein mauliges „Du gibst dir ja gar keine Mühe!“ Tala lag mit nacktem Oberkörper auf dem Teppich im Wohnzimmer, Gesicht nach unten. Neben ihm kniete Lin, tauchte ihre Hände in verschiedene Töpfe Fingerfarbe und spielte Montagsmaler auf seinem Rücken. Kai hatte ihn gebeten, auf sie aufzupassen, während er ihre benötigten Hilfsmittel möglichst unauffällig in sein Elternhaus schaffen wollte, um von dort aus weiter zu operieren. Vorbereitung eben. „Okay, okay. Du musst zugeben, dass du es mir nicht leicht machst…“, meinte Tala und drehte seinen Kopf in ihre Richtung. Er fühlte zwar ihre Finger, an manchen Stellen jedoch weniger, wo dünnes Narbengewebe das Erraten schwieriger machte. Außerdem gingen ihm gerade andere Dinge durch den Kopf. Auch wenn diese Abwechslung ein bisschen schön war. „Gut. Dann fang ich noch mal an, aber du musst dich jetzt konzentrieren!“, herrschte Lin ihn bierernst an. Tala nickte brav und schloss die Augen. Sie tunkte ihren rechten Zeigefinger in hellgrüne Farbe und begann zu malen. Dabei verschmierte sie die gelbe und rosa Farbe auf seinem Rücken miteinander zu einem bunten Durcheinander. „Tala? Lin?“ Kai kam durch die Tür herein, unterm Arm eine Einkaufstüte, und ließ sie auf den Küchentisch nieder. Er ging ins Wohnzimmer und betrachtete argwöhnisch ihr Treiben. Sicherlich hatte sie die Farben in den Teppich geschmiert! „Schätzchen, Tala hat keine Zeit mehr für dein Spiel“, meinte er dann bedauernd, aber auch streng und holte ein paar Küchentücher, um Tala den Rücken abzuwischen. „Warte, er muss erst noch mal raten!“, rief sie und sprang auf, um ihren Bruder davon abzuhalten. Von ihr ungesehen verdrehte Kai die Augen, als sie sich zu Tala umwandte, und ahmte mit den Händen die Ohren von Meister Lampe nach. Tala zog ein komisches Gesicht, bis er ihn verstand: „Ah, einen Hasen?“ Lin drehte sich um. „Ihr habt geschummelt!“, schmollte sie. „Liebes, wir haben jetzt wirklich keine Zeit für so was“, entgegnete Kai ein wenig ungeduldig. Es war auch das erste Mal, dass er ihr etwas abschlug. „Mhm, na gut… Aber schau mal, sind meine Hände nicht total schön bunt?“, fragte sie und reckte ihnen ihre kleinen, farbgetauchten Finger entgegen. „Hände begucken gibt Streit“, schoss es aus ihren beiden Mündern heraus, gänzlich synchron. Betreten sahen sie einander an. Auch eine Sache, die ihre Babuschka sie gelehrt hatte. Die Zeit drängte. Kai bat Tala einen Zettel für sein Team zu schreiben, schob Lin in Richtung WC, damit sie sich wusch – das klappte auch beinahe ohne Zetern, denn sie mochte die Farbe total – und packte währenddessen ihre Schultasche für die Nachhilfe, bei der er sie auf dem Weg absetzen wollte. Ray übernahm diese heute. Somit war für alle gesorgt. „Wir haben immer noch keine Idee, wie wir ihnen beibringen, eben mal so für ein paar Tage wegzugehen, oder?“, erkundigte sich der Rotschopf flüsternd. „Nein, keine. Müssen wir wohl improvisieren. Früher bin ich ja immer einfach so abgehauen, aber das kann ich ja jetzt nicht mehr bringen.“ Tala brummte. Er sah Lin nach, wie sie hüpfend zur Schule rannte. Die Zöpfe, die er ihr geflochten hatte, schwangen dabei wild mit. Ein kurzes warmes Gefühl blühte in ihm auf, denn er hatte ihr gesagt, dass er nicht flechten konnte. Doch sie hatte es ihm an seinen eigenen Haaren gezeigt, trotzig, da sie sehr wohl flechten konnte, nur nicht ihre eigenen Haare. Sein Versuch war wirklich nicht besonders gut ausgefallen, aber sie trug beide Zöpfe mit Stolz. Das rührte ihn irgendwie. „Du hast noch kleine Wellen“, meinte Kai, als sich der Rotschopf durch die Haare fuhr. „Die goldene Frage ist nur, wie lange man das machen kann, ohne sich wie ein Idiot vorzukommen.“ „Wegen des Flechtens? Machst du eigentlich gar nicht so schlecht. Ein Idiot bist du allemal, mach dir keine Illusionen.“ Kai fing sich dafür einen harten Ellenstoß in die Rippen ein. „Jetzt hurtig, ich besorg uns Zugtickets für heute Abend, und du versuchst Babuschkas Handy zu orten. Ich komme in einer Stunde nach Hause, bis gleich“, bestimmte Kai und stieg aus dem Wagen. Tala startete den Motor. Beide versuchten, ihre Gedanken, was Boris wohl mit Babuschka anstellte, zu verdrängen. Diese waren nur hinderlich für die Befreiungsaktion. „Auf geht’s“, murmelte Tala also, um sich zu ermutigen. Zeit, ein Leben zu retten.       ________________________________________________   * Hintergrund:  Remembering Rape: Divided Social Memory and the Red Army in Hungary 1944-1945 Mark, James. Past & Present, Number 188, August 2005, pp. 133-161 (Article) Published by Oxford University Press   Weitere Informationen dazu: - Ingeborg Jacobs (http://de.wikipedia.org/wiki/Ingeborg_Jacobs (http://de.wikipedia.org/wiki/Ingeborg_Jacobs) ) : Freiwild – Das Schicksal deutscher Frauen 1945. Propyläen, Berlin 2008, ISBN 978-3-549-07352-0 (http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:ISBN-Suche/9783549073520 (http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:ISBN-Suche/9783549073520) ) . 3F 77031 - Hans Graf von Lehndorff (http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Graf_von_Lehndorff (http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Graf_von_Lehndorff) ) : Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945–1947, dtv, 21. Auflage 1993 3E 6270   Gratsch - russisch für Saatkrähe, Projektname während der Ausschreibungs- und Testphase der russischen Pistole Jarygin PJa   Ich habe festegestellt, dass ich lieber Yuriy statt Tala schreibe, also mittlerweile. Das tobe ich dann in anderen Fanfics aus. Hier hab ich nun mal auch ne Idee hinter dem Tala. Was einem nach so langer Abstinenz auffällt, sacht ma… XD Übrigens war es eine Qual. Ich glaub das sag ich nach jedem Kapitel, oder? Es ist einfach schwierig, wenn man, so wie ich, nicht regelmäßig schreibt, sich das aber trotzdem immer vornimmt. Und langsam gehen mir die Ideen aus. Dabei war Babuschkas Entführung nicht geplant. Ich glaube sogar, weder von mir, noch von Boris. Ach, ach, ach. Lasst mich jammern.   Hemingway soll übrigens mal gesagt haben „Write drunk, edit sober.“ Vielleicht sollte ich das mal ausprobieren.   Kapitel 40: Flucht nach vorn ----------------------------         Aufregung, Nervosität, Angst – der Körper kann das nicht unterscheiden. Manchmal ignoriert man das. Aber… Man soll doch auf sein Bauchgefühl vertrauen. Wenn dein Körper sagt, lauf – dann lauf.     Wie sich herausstellte, hatten sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt. Es gab nur einen Ort, wo Anna Ivanow sicher verborgen werden konnte. Die dicken Kerkermauern würden die Schreie dämpfen und die Abtei war weit genug von Japan entfernt. Anscheinend hatte man gewusst, dass sich Tala schon längere Zeit nicht mehr in Russland aufhielt. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Zwar fragten sie sich noch immer, womit sie Boris so konkret verärgert hatten. Aber sein Motiv für Babuschkas Entführung lag wohl eher in ihrer bloßen Existenz. Vielleicht hatte er ihr letztes Turnier durch die gesteigerte Öffentlichkeitsaufmerksamkeit auch als Provokation gedeutet. Jetzt jedenfalls lagen Tala und Kai mit der Nase voran im Dreck, etwa 200 Meter Luftlinie noch von der Abtei entfernt. Der Wind hatte sich zu ihren Gunsten gedreht, falls es Wachhunde gab – damals hatte es vereinzelt welche gegeben, alte Petzen – und so standen sie im Gegenwind und ihre Fährte konnte nicht aufgenommen werden. Tala schien auf seiner Zunge herumzukauen. Kai sah ihn von der Seite an, während der Rotschopf ihr Ziel durch einen Feldstecher betrachtete. Kai tat dasselbe, aber durch ein Zielfernrohr an einer Snaiperskaja wintowka Dragunowa. „Was überlegst du, Yura?“ „Ich überlege, was ich will und was ich brauche“, murmelte der Rotschopf langsam und nachdenklich. „Und was willst du?“ „Wieder eine friedvolle Seele.“ Kai schnaubte leise mit einem harten Schmunzeln: „Und was brauchst du?“ „Eine größere Waffe.“ „Kannst du kriegen.“ Sie hatten ein ansehnliches Waffenaufgebot mit sich geschleppt, und das nicht nur um Eindruck zu schinden. Kai griff hinter sich und holte einen alten Lageplan der Abtei hervor, den sie gemeinsam auf die Schnelle aus der Erinnerung gezeichnet hatten. Sie mussten jetzt vor Ort planen, wie sie ins Gemäuer eindringen konnten. Dabei hofften sie, dass die alten Gänge, die sie als Kinder genutzt hatten, noch existierten. „Lass uns von Westen anschleichen. Durch die Grube kommen wir in den Klostergarten und von dort durch die Kellerküche.“ „Und wenn dort Kameras sind?“, gab Kai zu bedenken. „Meinst du nicht, dass Boris damit rechnet? Vielleicht wollte er uns auch einfach herlocken, um uns … über den Haufen zu schießen?“ „Das würde bedeuten, dass Babuschka längst tot ist, Yura. Und daran will ich nicht denken. Außerdem quält mich Voltaire zu gerne, als dass er mich allzu früh umbringen würde.“ Der Silberhaarige schluckte. Das hieß aber auch, dass er nicht davor zurückschrecken würde, sowohl Babuschka als auch Tala abzumeucheln. Instinktiv griff er nach Talas Hand. „Tu bitte nichts Unüberlegtes.“ „Selbes gilt für dich, kapiert?“ Sie hielten ihrem gegenseitigen intensiven Blick stand. Dann ergriff Tala wieder das Wort: „Da. A din speridie i adin wsadie. Dawai.”     Max kippelte unruhig auf seinem Stuhl. Kurz traf sein Blick auf den von Ray, aber beide sahen rasch in eine andere Richtung. Keiner von ihnen mochte sich so recht auf den Unterricht konzentrieren. Max ließ seinen Blick schweifen: Jeder wirkte auf seine Weise angespannt: Kenny nahm häufig seine Brille ab und putzte die Gläser, seine Lippen dabei fest aufeinander gepresst. Ray spielte mit einem weiteren Bleistift, nach dem er den ersten allen mit der Kraft seiner Finger in der Mitte durchgebrochen hatte. Und auch jetzt zitterte seine Hand vor Anstrengung, die vielen Fingergelenke wurden schon wieder weiß. Tyson starrte seit geraumer Zeit in sein Textbuch, aber er las nicht; seine Augen bewegten sich nicht. Max fing an auf seiner Lippe zu kauen. Er versuchte nachzuvollziehen, wie sie von ihrem Höhenflug nach dem Turnier so tief hatten fallen können. Es war doch alles prima gelaufen! Selbst ihr Sorgenkind von Teamleader schien sich zu öffnen, sich wohl bei ihnen zu fühlen. Das hatte sie immerhin viel Anstrengung gekostet. Er wollte nicht falsch verstanden werden, sie alle mochten Kai – aber er war nun mal schwierig. Nicht zuletzt wegen seiner Vergangenheit. Dennoch schien nun endlich, nach den vielen Hochs und Tiefs, die sie mit ihm schon erlebt hatten, eine Art von Stabilität einzukehren. Max vermutete, dass es auch etwas mit Lin und Tala zu tun hatte, die Kai ein Gefühl von Sicherheit oder zumindest einem geregelten Tagesablauf gaben. Aber plötzlich scheinbar schien gerade dieser Stabilitätsfaktor namens Tala mit einem Mal alles zerstört zu haben, was sie mühsam zusammengeflickt hatten! Max’ Gedanken drifteten ab zu dem Nachmittag vor zwei Tagen, an dem ihre heile Welt zerbrochen war… Und er trug eine nicht unerhebliche Schuld daran.   „Passt auf, wir machen das wie Hannibal in der Schlacht von Cannae.“ Kenny hatte das Training bereits initiiert, denn er fand, dass nach dem großen Medienrummel um ihr Team endlich wieder Bodenständigkeit angesagt war und das hieß: harte Arbeit, Schweiß und Tränen. So jedenfalls stellte er sich das in Kais Worten vor. „Bitte?“ Aber Ray, Max und Tyson begriffen nicht, worauf er hinaus wollte und sahen ihn verständnislos ihn an. „Hört zu. Es geht um Partnerkämpfe. Wir sollten eine Kesselschlacht trainieren. Natürlich kann es sein, dass schon andere auf eine solche Idee gekommen sind. Aber wenn wir schlau sind und flink, dann können wir ihnen zuvor kommen.“ Kenny sah eindringlich in die Runde. „Ich seh schon… ich muss euch das Prinzip zuerst erklären. Stellt euch vor, Ray und Tyson kämpfen gegen Max und Kai. Ihr habt in dem einen Kampf gesehen, dass die beiden Elemente Feuer und Wasser – obwohl inkompatibel – dennoch gut zusammen gearbeitet haben. Siegreich. Weil sie ihre Vorteile geschickt genutzt haben. Und wenn wir für diese Doppelkämpfe eine, ja sagen wir, eine allgemeingültige Strategie entwickeln, die uns zur Grundlage jedes Zweierkampfes dient, und die wir variabel auf die Gegebenheiten der Arena und die Fähigkeiten unserer Gegner anpassen können, sind wir immer im Vorteil. Versteht ihr?“ Die Freunde nickten. Aber Kenny sah ihnen an, dass er noch etwas mehr Erklärungsarbeit würde beisteuern müssen. „Gut. Passt auf: Als erstes müssen wir den Gegner einkesseln.“ „AH! Deshalb ‚Kesselschlacht’!“, platzte Tyson hervor, vor Stolz strahlend, dass er das verstanden hatte. Kenny nickte geduldig. „Genau. Dizzy, zeig uns einmal die Präsentation. … Danke. Also, wir brauchen eine halbmondförmig aufgestellte Infanterie, flankiert von je einer Kavallerie.“ Ray warf beim Blick auf die Darstellung, die Dizzy ihnen zeigte, ein: „Aber wir sind nur zwei Blades. So wie das da aussieht, braucht man aber mehr dazu!“ Kenny grinste: „Das ist gerade der Trick. Durch Verbesserung eurer Agilitätsringe, die ich aufgrund dieser Strategie an euren Blades vornehmen werde, könnt ihr die Kavallerie vortäuschen. Euer Blade wird so schnell hin und her springen, dass es für euren Gegner wie in einer Fata Morgana so aussieht, als hätte er sich verdoppelt. Und genauso verfährt die so genannte Infanterie: Der Blade eures Partners wird sich im Halbkreis so schnell nach links und rechts bewegen, dass er eurem Gegner eine unbezwingbare Barrikade suggeriert.“ „Also besteht die Strategie aus einem einzigen, großen Bluff.“ Kais Stimme ließ sie alle überrascht die Köpfe heben. „Ähm, ja“, gab Kenny zu, „aber wir sollten das trotzdem ausprobieren. Auf jeden Fall hätten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite.“ Kai betrachtete Dizzys Screen eine Weile, dann nickte er langsam. „Heißt, wir machen es also doch nicht wie Hannibal bei Cannae. Der hat nämlich nicht geblufft. Find ich trotzdem gut, die Idee.“ Kai richtete sich wieder auf, nachdem er sich zu Kennys Laptop hinuntergebeugt hatte. Er musste es ihnen jetzt sagen. Er und Tala hatten Schwierigkeiten, sich unbemerkt von dem Team und der BBA davonzustehlen, um ihre Babuschka zu retten. Sie hatten immer noch keinen Plan. Aber die Zeit drängte. Darum fiel Kai einfach mit der Tür ins Haus. „Gut, dass du dir so viele Gedanken um das Training machst, Chef. Mir gefallen deine Planungen. Ich denke, die Jungs sind bei dir in guten Händen.“ Sofort horchte Ray auf: „Was soll das heißen, Kai? Wieso klingt das aus deinem Mund so nach Abschied?!“ „Weil es einer ist.“ Talas dunkle, barsche Stimme schnitt Kais Antwort im Keim ab. Wie die Russen es schafften, sich irgendwie immer heimlich anzuschleichen und plötzlich einfach „da“ zu sein, würde den Bladebreakers wohl immer ein Rätsel bleiben. „Was meinst du damit?“, hakte Max nach. „Wir müssen gehen.“ „Gehen? Wohin?“ Pures Unverständnis wurde ihnen entgegengebracht. Kai schloss die Augen für einen Moment. Eine Lüge – schnell, eine plausible Notlüge! „Wir wollten es euch noch nicht sagen. Aber wir haben uns vor längerer Zeit für einen College-Vorkurs an mehreren Hochschulen beworben. Ihr müsst wissen, die Plätze sind rar und auch mit guten Noten kommt man da schlecht ran. Und bevor wir von etwas erzählen, was hinterher vielleicht doch nicht klappt, haben wir geschwiegen“, fing Kai an zu erklären. Tala stand hinter ihm, mit unlesbarer Miene. Er sprang schnell auf den fahrenden Zug auf: „Jep. Und jetzt haben wir eine Zusage erhalten. Wir werden für einige Wochen weg sein und-“ Er wurde von Tysons überraschtem Aufschrei unterbrochen: „Ein paar Wochen? Wieso so lange?!“ „Weil es sich um eine Universität in Russland handelt.“ „Um die staatliche Universität Irkutsk um genau zu sein.“ Max machte ein nachdenkliches Gesicht: „Irkutsk? Irkutsk? … Woher kenn ich den Namen?“ „Ihr kennt die Stadt. Ihr seid mal mit einem Helikopter drüber hinweg geflogen. Irkutsk liegt etwa 70 km entfernt vom südwestlichen Ende des Baikalsees“, plärrte Dizzys blecherne Stimme hervor. „Das ist ja mega weit weg!“, rief Max daraufhin aus. „Tja… Wir sind Russen, was erwartest du? Irgendwann ist unsere Schullaufbahn auch vorbei und wir sollten uns schon frühzeitig Gedanken machen, wohin wir gehen wollen.“ Tala funkelte Max an. Er war ungeduldig, wollte weg hier. Das kostete ihm alles zu viel Zeit. Zeit, die sie nicht hatten, Zeit, in der sie schon längst in einem Flugzeug oder in der Bahn sitzen sollten, auf dem Weg nach Moskau. Dass Irkutsk als ihre angebliche Universitätsstadt angegeben hatte, war nicht weiter schlimm. Sie waren in Russland, somit ohnehin von Japan und der BBA und Kais Team abgeschnitten. Außerdem wäre es wohl eine zu offensichtliche Lüge gewesen, hätte er die hoch angesehene Lomonossow-Universität in Moskau genannt. Und ihren Zielort hätte er damit auch verraten und ihr eigentliches Vorhaben gefährdet. „Weiß Dickenson schon davon?“, fragte Ray, der sich immer mehr über diese Zufälligkeiten wunderte. „Ja. Ich muss euch auch bitten, euch um Lin zu kümmern, während wir weg sind. Wir können noch nicht absehen, wie lange unser Aufenthalt dort dauern wird. Das wird uns erst nach unserer Ankunft mitgeteilt.“ Tala machte sich auf Kais Erklärung hin in Gedanken eine Notiz, dass er noch einen Mailaustausch zwischen sich und der staatlichen Universität Irkutsk sowie einige Anträge fingieren musste. „Das klingt ja ziemlich hanebüchen“, meinte Kenny und schüttelte den Kopf, „was ist denn das für ne Universität, die euch das noch nicht mitteilen kann?“ „Andere Länder, andere Sitten“, konterte Tala und zuckte mit den Schultern. „Ach so, und … wenn es uns dort gefällt, bleiben wir vielleicht da“, fügte Kai noch hinzu. Er musste immerhin für den Fall vorsorgen, sollten sie bei dem Rettungsversuch ihr Leben lassen. Er würde unbedingt noch ein Testament aufsetzen müssen, damit für Lin ausgesorgt war. „Ja, aber… Das ist jetzt wirklich kurzfristig. Seid ihr sicher, dass ihr das tun wollt? Wenn überhaupt, könntet ihr euch doch besser eine Universität hier in Japan aussuchen. Zurück nach Russland geht ihr doch eh nicht mehr.“ Damit hatte Max sich sehr, sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Und aus der hitzigen Diskussion langsam ein böser Streit. „Wollt ihr uns jetzt allen Ernstes vorschreiben, was wir mit unserem Leben anfangen?! In Russland liegen unsere Wurzeln!“ „Mag sein, Tala“, entgegnete der Blonde, „aber abgesehen davon: einen Vorkurs? Ehrlich? Schau, deine Noten sind jetzt auch nicht grade die besten. Meinst du denn, dass Universität wirklich was für dich ist?“ „Bitte?!“ „Versteh mich nicht falsch, ich meine nur… Ihr könnt nicht in Russland bleiben. Kai, hast du nicht selbst gesagt, dass du irgendwie immer noch verfolgt wirst? Ihr hab doch beide die Schnauze voll von Biovolt. Und dann zurück nach Russland gehen? Hier in Japan hättet ihr mehr Ruhe.“ Max wusste nicht, warum er diese ganzen Dinge aufzählte, aber mitten im Schuljahr für ein paar Wochen das Land verlassen? Ohne zu wissen, was auf sie zu kommen würde? Das wäre doch selbst für Kai und Tala, die ja nun wirklich vor Herausforderungen nicht bange waren, ein ziemlich großer Schritt. Also fuhr der Amerikaner fort: „Und wenn ihr doch eh hier bliebt, ist doch ein Vorkurs in einer russischen Hochschule irgendwie kontraproduktiv, oder nicht? Tala, du hattest doch am Anfang mit dem Japanischen schon Probleme. Willst du dann wirklich dort auf die Universität gehen? Die Bezeichnungen und alles sind doch sicher anders. So ein Vorkurs nutzt dann doch nichts.“ Jetzt platzte Tala der Kragen. „Willst du mich verarschen? Ich bin doch nicht dumm! Meinst du, dass wir nicht Lesen und Schreiben gelernt haben in der Abtei?! Deine Argumentation scheint ja wohl eher noch dafür zu plädieren, dass wir nach Russland zurückgehen! Denn wenn wir beide so blöd sind, wie du sagst, haben wir wohl in Russland, unserer Heimat, bessere Chancen!“ Max’ Augen wurden groß: „Oh, nein, das wollte ich damit nicht sagen…“ „Hast du aber!“ Talas Gemüt war überstrapaziert. Die Zeit drängte, und jetzt wurde noch an ihrer Intelligenz gezweifelt? Was erdreistete sich dieser Wurm, der jahrelang am Rockzipfel seiner Mutter gehangen hatte?! „Ich werde mir weder von dir noch von sonst wem vorschreiben lassen, wie ich mein Leben zu leben habe. Wenn ich jetzt die Möglichkeit habe, wegzugehen, dann gehe ich, wenn mir das so gefällt. Tut mir leid, aber so eine bodenlose Frechheit lass ich mir nicht bieten. Ich werde Kyoto verlassen.“ Vor Wut erregt starrte Tala Max in den Boden. Er hatte seinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Kai legte eine Hand auf seinen Arm, dessen Adern bereits hervortraten und Talas hohen Puls verrieten. Natürlich schlug sich der Silberhaarige auf die Seite seines besten Freundes. „Ich hatte euch für verständnisvoller gehalten. Freut ihr euch denn nicht für uns, für die Möglichkeit, die wir bekommen haben? Für eine Zukunft außerhalb des Beyblade-Sports? Für eine bessere Zukunft für uns?“ „Nein, ihr seid egoistisch“, mischte sich jetzt Ray ein. „Was ist mit Lin? Kai, du hast Verantwortung. Hast du das vergessen? Lässt du alles stehen und liegen, lässt du sie zurück?“ „Dafür hat er doch euch, oder nicht? Seid ihr nicht seine ‚Freunde’? Helfen ‚Freunde’ sich nicht gegenseitig? Wie wär’s dann mal mit ein bisschen Hilfe, wenn er direkt darum bittet?!“, fuhr Tala den Chinesen nun an. „Ihr handelt total unüberlegt. Das sieht gerade dir, Kai, gar nicht ähnlich!“, fand nun Kenny. „Eben. Ihr könnt euch nicht einfach so aus dem Staub machen, wie es euch passt. Wenn das jeder machen würde, dann wären wir ja die längste Zeit ein Team gewesen. Kai, wir übernehmen zwar gerne die Aufsicht für Lin, aber wir können das auch nicht immer so machen. In einem Team muss man über solche Entscheidungen im Vorfeld sprechen. Sonst könnten wir uns ja gleich jeder um sich selbst sorgen.“ Kai räusperte sich auf Rays Ausführung hin. „Wenn das so ist… Dann bitte ich euch, nur für eine kurze Zeit auf Lin aufzupassen. Wenn wir wieder da sind, leite ich dann alles wichtige in die Wege, dass ihr euch um nichts mehr zu kümmern braucht. Ihr braucht dann nämlich gar nichts mehr für uns tun. Ich wusste, dass wir uns irgendwann auflösen, aber ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde“, erklärte er ruhig, aber todernst. „Nein! Sag doch so was nicht! Wir lösen uns nicht auf!“, rief Tyson plötzlich, der den Tränen nahe schien. Er hatte der Diskussion auffällig ruhig und schweigend beigewohnt. Kai konnte von Tysons Gesicht ablesen, wie hart ihn seine Aussage getroffen hatte. Vielleicht hatte er etwas zu harsch reagiert. Jedoch war Kais Loyalität zu Yura und Babuschka, zu seiner Familie, größer als alles andere. Zwar würde es für sie problematisch werden, wenn sie mit den Bladebreakers brachen: Die beste Tarnung und die zusätzliche finanzielle Einnahmequelle würde wegfallen. „Tyson…“ Wieso ging ihm der Blick des jungen Japaners nur so nahe? Warum konnte er nicht wie sonst auch über dessen Gefühle hinwegsehen und sie so stur wie ein Panzer überrollen? Die ruckartige Bewegung Talas, der seinen Arm aus Kais beschwichtigender Berührung zog, riss Kai aus seiner Sprachlosigkeit. „Irgendwann hat alles ein Ende, Tyson. Wenn ihr uns jetzt ein Ultimatum stellt, dann ist das unsere Antwort. Wir kommen doch wieder. Aber wenn ihr uns nicht den Rückhalt geben könnt, oder wollt, dann werden die Bladebreakers ohne mich auskommen müssen.“ „Kai! Du darfst dein Team nicht verlassen!“ Tyson schritt eilig auf ihn zu und griff ihn am Kragen. Trotz aller Scherereien und Streitigkeiten, die sie miteinander teilten, war Kai ihm wichtig. „… Bitte…“ Der junge Russe erwiderte den flehenden Blick mit einem ernsten. „Lass uns gehen, Tyson. Selbst wenn wir, was weiß ich, vier Wochen wegbleiben müssen – wir kommen ja wieder. Das Problem ist nur: Wollt ihr uns überhaupt haben?“ „Ja!“ Kai zuckte vor der Lautstärke und der Schnelligkeit der Antwort etwas vor ihm zurück. Er senkte seinen Blick und löste Tysons Hände von dem Stoff seiner Jacke. „Solange wir wieder kommen können, Tyson, kommen wir wieder. … Yura, wir gehen.“ Er drehte sich von Tyson weg, klopfte ihm im Vorbeigehen noch auf die Schulter. Ein Klaps, ein etwas festerer, freundschaftlicher Druck – dann verließen sie die gemeinsame WG.   Max seufzte. Er hatte es doch nur gut gemeint und keinen Streit provozieren wollen. Aber mal wieder hatte sich gezeigt, dass das Gegenteil von „gut“ nicht „böse“ war, sondern „gut gemeint.“ Diese ganze Diskussion und Kais tatsächlicher Weggang hatten vor allem Tyson sehr berührt. Denn er hatte sich zum ersten Mal wirklich mit der sehr realen Möglichkeit konfrontiert gesehen, dass sie als Team, dass die Bladebreakers nicht mehr existieren könnten. Diese Erkenntnis nagte an ihm und Kais Abwesenheit trug nicht zu einer Besserung seiner Gefühlswelt bei. Nur in der Hoffnung, dass es ja nur ein Monat sein könnte, fand Tyson etwas Beruhigung. Aber sie wurden auch ständig daran erinnert, allein zu sein. Noch hatte sich wohl Talas und Kais „Schüleraustausch“ selbst im Lehrerkollegium nicht vollends herumgesprochen. “Where’s Kai? Max?” “Sorry, Teacher. I haven’t seen him since the last time I saw him.” “Oh, and when was that?” “The last time I saw him … was definitely the time I saw him last.”       Tala blieb stehen. „Was hast du?“ „Nichts… ich dachte nur gerade…“ Beide blickten nach oben zu den spitzen Zaunpfählen, auf denen sich einst Köpfe befunden hatten. Sie erinnerten sich noch zu gut daran. Wie zu Zeiten von Vlad Țepeș aus dem 15. Jahrhundert hatte Boris damals befohlen, versuchte Ausbrüche und Fluchten mit der Pfählung zu bestrafen. Voltaire kam bei der Verwaltung der Abtei zugute, dass viele Kinder Waisen waren. Die russische Öffentlichkeit fand sich also einem Wohltäter gegenübergestellt, der sich der armen Seelen annahm, und ihnen völlig uneigennützig eine Unterkunft und Ausbildung zugestand. Was hinter den alten Steinmauern geschah, entzog sich jedoch dem Wissen der breiten Bevölkerung. Der hohe Anteil der Waisenkinder, die Voltaire zu seinen Biovolt-Soldaten ausbilden konnte, verhinderte außerdem auch unangenehme Nachfragen. Denn wer vermisste schon ein Waisenkind? In den wenigen Fällen, in denen ein Kind nach einem Fluchtversuch hingerichtet worden war, das Angehörige hatte, wurden diese entweder mit der Erklärung eines Trainingsunfalls und großzügiger finanzieller Entschädigung getröstet. Aber so aufgespießt, die kopflosen Körper auf einem Haufen, nur die Köpfe, die die Spitzen zierten –  so wollten sie beide nicht enden. Daher hatten Kai und Tala nie auch nur einen Gedanken an eine Flucht verloren. Ihr vorbildlicher Gehorsam hatte sich schließlich auch ausgezahlt: sie durften manchmal im Auftrag von Boris in die Stadt. Besuche bei Anna Ivanov waren ihnen ebenfalls erlaubt gewesen – es wäre verdächtig erschienen, wenn Schüler eines Internats, so wie sich die Abtei selbst bewarb, ihre Verwandten nicht besuchen durften. Jedoch waren die Besuche strikt eingeschränkt, was mit der hohen Masse an Lernstoff begründet wurde. Natürlich lernten die Schüler in der Abtei – aber nicht unbedingt das, was ihre Eltern, sofern es die noch gab, dachten, das sie lernten. Der Griff um Talas Dragunow festigte sich. „Komm jetzt“, drängte Kai. Kapitel 41: Die Saat des Zweifels ist gesät ------------------------------------------- Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht. § 25,1 StGB     Ray schüttelte den Kopf. Nicht nur, dass Kenny nichts in Kais Unterlagen über ihren Vorkurs finden konnte, auch schien das College, dass sie angeblich anbot, nicht zu existieren. „Mir kam das gleich komisch vor. Wann sollten sie denn dafür Zeit gehabt haben? Wohl kaum, während sie uns auf das wichtige Turnier vorbereitet haben. Und schon gar nicht kurz danach.“ „Ich weiß, was du meinst. Seine Behauptungen decken sich logisch nicht und passen nicht in die zeitliche Abfolge. Da müsste Kai ja drei Leben leben, um alles das zu schaffen, was er angeblich alles angeleiert hat.“ „Vor allem dieser College-Vorkurs. Selbst wenn es diesen geben WÜRDE – Kai hat nicht annähernd so gute Noten, dass er genommen werden würde. Ich meine nicht, dass er dumm ist, aber seine mündlichen Noten ziehen seinen Schnitt ganz schön runter.“ „Nun, es gibt natürlich diese Kurse, die einen auf die Universität vorbereiten sollen, das heißt, dass Noten dafür unerheblich sind. Aber im Allgemeinen macht das, was er da gesagt hat, einfach keinen Sinn.“ Kenny legte die Hände in den Schoß und seufzte laut. Dass er mit Ray in dessen und Kais gemeinsamen Zimmer in den Sachen ihres Teamleaders schnüffelten, hielten sie für mehr als gerechtfertigt. Nach dem zum Himmel schreienden Unsinn über Motiv und Motivation für die Abwesenheit von Tala und Kai mussten beide Freunde jetzt endlich aktiv werden. Sie beide hatten schnell die fortschreitende Skepsis des jeweils anderen bemerkt. Max schien zwar auch besorgt, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Schuld für die Ultimatumsdebatte in ihrem letzten gemeinsamen Gespräch zu geben. Und Tyson war… ja, der war einfach am Boden zerstört über Kais Fortgang. Es war deutlich zu merken, dass der junge Kinomiya sehr an Kai hing. Er verkraftete es seltener, wenn sie sich stritten. Auf seine Art wurde Tyson reifer und verstand es immer ein bisschen besser, mit Kai und dessen Launen umzugehen. Im Augenblick saß er vor dem Fernseher und starrte die Mattscheibe an, während seine Hände unentwegt eine Prospektbeilage kneteten. So hatten Kenny und Ray ihn noch vor etwa einer Stunde im Wohnzimmer gesehen – und daraufhin beschlossen, in den wenigen Habseligkeiten, die Kai in seinem Zimmer hatte, nach Hinweisen zu suchen. Allerdings fanden sie keine: Weder Beweise dafür, dass die beiden Russen logen, noch dass sie es nicht taten. Es gab wirklich nichts, was ihre notdürftige Geschichte untermauerte. „Ob er alles mitgenommen hat? Vielleicht haben sie ja Anmeldungen und was sie sonst noch so hatten, eingepackt, weil sie es vorzeigen müssen?“ Kennys halbherziger Versuch einer Erklärung, die er selbst nicht glauben konnte, fand auch bei Ray kein Gehör. Schließlich richteten sie Kais Arbeitsplatz wieder so her, wie er vor ihrer Durchsuchungsaktion ausgesehen hatte. „Sag mal Kenny… du und Dizzy… könnt ihr nicht Kais Email-Account einsehen? Oder Talas? Es muss doch eine Korrespondenz mit dieser Universität geben.“ Kennys Gesicht erhellte sich, nur um kurz darauf wieder in sorgenvolle Falten zu fallen. „Ray, nein, das können wir nicht bringen. Das wäre wirklich… Das wäre ein unverzeihlicher Eingriff in Kais Privatsphäre, den er uns niemals verzeihen würde. Von Tala ganz zu schweigen! Das bisschen Vertrauen, das Kai zu uns aufgebaut hat, würde uns vollends entgleiten. Und wir würden ihn nie wieder sehen. Unser Verhältnis steht doch schon wieder auf der Kippe.“ Ray nickte niedergeschlagen, versuchte es aber noch einmal: „Aber sie müssten es ja nicht erfahren…“ „Das geht nicht. … Und wir würden uns strafbar machen!“         Aufmerksam hockte das Mädchen im Schneidersitz auf ihrem Bett und wartete darauf, dass Kai, der ihr gegenüber saß, anfing zu sprechen. Er hatte angekündigt, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte. „Lin, sicher hast du bemerkt, dass Yura und ich in den letzten Tagen sehr hektisch waren und wenig Zeit hatten.“ Sie nickte. „Wir werden für einige Zeit nicht hier sein.“ Es fiel Kai schwer, sie anzulügen, aber er konnte nicht zwei Lügen jonglieren und sie war zu jung, um das Ausmaß eines versehentlichen Verplapperers zu begreifen. Und ihr die Wahrheit zu nennen stand noch weniger zur Debatte. Das Mädchen liebte Anna Ivanov. Kai seufzte. Wäre es nicht einfacher gewesen, sie hätten gesagt, ihre Babuschka wäre krank? Dass sie sich kümmern müssten? Aber vermutlich hätten sie dann keinen Freistellungsschein für die Schule bekommen. Vielleicht sogar wäre Mr. Dickenson auf die Idee gekommen, selbst dafür zu sorgen, dass es Talas Oma gut ging, hätte versucht, sie herzufliegen oder was ihm auch immer eingefallen wäre. Das musste man dem Sponsor der Bladebreakers lassen, er kümmerte sich wirklich, wenn seine Schützlinge Probleme hatten. Leider hatte das auch den Nachteil, dass er sich in Dinge einmischte, aus denen er seine Nase besser raushielt. „Ray, Max und Tyson werden aber bleiben. Und Kenny natürlich. Sie werden auf dich aufpassen, mit dir Hausaufgaben machen und wenn du Probleme hast, egal was, dann wende dich damit an… Ray.“ „Wo geht ihr denn hin? Warum… warum kann ich nicht mit?“ „Weil du Schule hast, Liebes.“ „Ihr doch auch!“ „Jaaaah, aber wir gehen weg, um zur Schule zu gehen. Wenn wir später mal arbeiten wollen, dann ist es wichtig, einen guten Schulabschluss zu haben. Und wenn man noch bessere Arbeit haben will oder wenn man eine bestimmte Arbeit haben will, dann muss man zur Universität gehen. Weil wir uns die Möglichkeit offenhalten wollen, dass wir mal zur Uni gehen können, gehen wir jetzt für einige Zeit dorthin und lernen was Neues.“ Lin knautschte mittlerweile ein Kissen vor ihrem Bauch. Sie verstand, was er ihr erklärte. „Was willst du denn mal arbeiten, wenn du groß bist?“ Darüber musste Kai etwas lachen. „Meine Arbeit soll so geheim sein, dass ich selber nicht weiß, was ich tue.“ Das wiederum verstand Lin nun nicht, auch wenn Kai sich für sehr witzig hielt. Schließlich aber räusperte er sich und stand von ihrem Bett auf. „Versprich, dich zu benehmen, wenn ich nicht da bin.“ Er umarmte sie fest, drückte sie minutenlang an sich, während sie ihm zusicherte, ‚brav‘ zu sein. Ungewiss seiner Zukunft, ob er sie oder seine Teammitglieder je wieder sah, übertrat er die Türschwelle der WG, hinaus in den Vorgarten, wo Tala auf ihn wartete. Gemeinsam ließen sie die bohrenden Blicke von Ray und Kenny hinter sich.         Mittlerweile war bereits die zweite Woche angebrochen, seit sich Kai und Tala verabschiedet hatten. Allerdings hatten beide sich nicht bei den Bladebreakers gemeldet. Bei niemandem von ihnen. Eigentlich müssten sie sich keine Sorgen machen, denn dass Kai sich nicht meldete, hatte eine – traurige – Tradition bei ihnen. Dennoch hatten sie ja seit dem letzten Turnier die Hoffnung gehabt, das Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Teamleader hätte sich stabilisiert. Aber so wie Kais Einstellung zum Leben, war auch die Beziehung zu seinen Teamkameraden eine ewige Achterbahnfahrt. „Weißt du, was ich glaube, Chef? Es gibt keine Beweise für ihre Geschichte, weil ihre Geschichte erstunken und erlogen ist.“ „Ich dachte, so weit wären wir schon, Ray“, meinte Kenny trocken und drehte sich auf dem Bürostuhl einmal um sich selbst. Plötzlich piepste sein Laptop laut auf. Er fuhr herum und scrollte sich durch die Einträge, die Dizzy ausgespuckte. „Ray, schau dir das an.“ Zwar hatten sie entschieden, nicht Kais Email-Account zu hacken, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, an anderer Stelle weiter zu stöbern. Kenny hatte mehrere Suchbefehle gleichzeitig eingegeben. Sein Bitbeast ermöglichte es ihm, dass mehrere Suchen nebeneinander laufen konnten und sich auch untereinander durch Querverweise miteinander vernetzten. „Sie spuckt etwas zu Kais Eltern aus. Die Todesanzeige aus der Zeitung, die wir schon kennen, ist auch dabei. Aber da ist noch eine von vor 12 Jahren. Vermutlich ist das die ursprüngliche. Dizzy, gib uns das mal in Papierform aus.“ Während der Drucker laut brummend an die Arbeit ging, klickte Kenny einige Fenster weg. „Warte mal, was ist das denn? … Wieso sind – ich kann das gar nicht lesen, geschweige denn aussprechen, aber…“ „кровавыа война… mein Russisch ist zwar eingerostet, aber ein bisschen kann ich.“ „Wie, was? Seit wann?“ „Ist das wichtig? Wenn Tala und Kai sprechen, verstehe ich sowieso kein Wort, aber-“ „Er hat ja mich, und ich lerne schnell!“ kiekste Dizzys digitale Stimme vergnügt aus den Lautsprecherboxen. „Wie auch immer… Also dieses кровавыа война – warum wird das hier angezeigt? Was hast du für Suchbegriffe eingegeben?“ Kenny überblickte die Suche rasch: „Hmm, Hiwatari, Moskau, Aktuelles. Dizzy, von wann ist der aktuellste Eintrag zu кровавыа война?“ „Von heute. Eine Tagesmeldung aus den Moskauer Nachrichten. Soll ich es euch übersetzen und ausdrucken?“ Kenny bejahte. Er und Ray waren so gespannt auf den Inhalt, dass sie kaum darauf warteten, bis die Tinte trocken war und das Blatt sofort aus dem Drucker rissen.   ~ Professionell geplanter Angriff auf Abtei. Stellvertretender Leiter der Abtei schwer verletzt aufgefunden. Moskau. Boris Balkov, Verwalter der renommierten russischen Talentschmiede für junge Blader, hat einen lebensgefährlichen Angriff nur knapp überlebt. Ärzte kämpfen momentan um sein Leben. Die Abtei selbst wurde bei dem Anschlag schwer beschädigt. Der linke Flügel, in dem sich Lager- und Trainingshallen befanden, ist komplett zerstört. Zu dieser Zeit hielten sich keine Kinder dort auf, allerdings wurden einige Erwachsene verletzt. Es wird vermutet, dass das Duo кровавыа война diese Zerstörung zu verantworten hat. Ihnen wird zudem Brandstiftung vorgeworfen. Die Banditen waren in letzter Zeit auffällig häufig in Moskau und Umgebung tätig. Warum sie die Abtei angriffen, ist unklar. Die zuständigen Behörden vermuten aufgrund der Spuren, es handle sich um ein gezieltes Attentat, um an bestimmte Entwicklungspläne der Forschungseinheit innerhalb der Abtei zu gelangen. Balkov ist für seine Erfolge im Bereich des Beysports bekannt, die er durch Forschung und Weiterentwicklung erzielte. Das berühmteste Team, das von ihm in der Abtei trainiert wurde, waren die Demolition Boys. Balkov war der einzige russische Trainer, dem es gelang, von den Japanern besiegt zu werden. ~   „Wartet, hier ist noch eine neuere Meldung!“, plärrte Dizzy in die entstandene Stille hinein und ein weiteres Papier fand seinen Weg in Kennys Hände.   ~ Newsticker: кровавыа война ermordete Boris Balkov auf eine seiner Gesundheit höchst nachteiligen Weise. ~   Sprachlos senkte Kenny beide Blätter und starrte ins Leere. „Boris… ist tot?“ „… Ob Kai und Tala das wissen?“ „Ist das dein Ernst, Ray? Die werden wohl eher als wir davon erfahren haben, die sitzen doch sozusagen direkt an der Quelle!“ „Quelle… warte mal… Weißt du… Als Tala neulich hier war, und diesen Zusammenbruch hatte, erinnerst du dich? Ich habe ein Gespräch belauscht, in dem Kai Lin erklärt hat, dass Tala etwas ihm sehr wichtiges verloren hat.“ „Und?“ „Was, wenn er das gemeint hat? Wenn es mit Boris zu tun hatte?“ „Äh?!? Kausalzusammenhang?! Talas Zusammenbruch war zeitlich VOR der Ermordung von Boris. Und warum sollte ausgerechnet DER ihm wichtig sein?“ „Das meinte ich doch gar nicht. Aber wenn Boris dafür gesorgt hat, dass Tala dieses Ding, was ihm so viel wert ist, verliert? Ich weiß auch nicht… Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass da irgendwas ist, was das alles verbindet.“ Kenny starrte ihn daraufhin sehr lange an, was Ray mit der Zeit sehr unangenehm wurde und er sich haareraufend in seinen Sitzsack in der Ecke schmiss. Da schob sich Kenny seine Brille tief ins Gesicht und begann, lautstark und pfeilschnell in die Tasten zu hauen. „Was machst du denn jetzt?“, fragte Ray irritiert. „Fehler sind menschlich – aber wer richtigen Mist bauen will, braucht einen Computer.“ „EY!“, quittierte Dizzy das lautstark protestierend, aber Kenny ignorierte sie. „Ich werde jetzt einen Suchalgorithmus entwerfen, der deine Skepsis und dein Bauchgefühl miteinander vereint. Dafür werde ich die bisherigen Suchbegriffe, die wir heute benutzt haben, um кровавыа война und Balkov erweitern. Mal sehen, ob sich deine Theorie damit unterstützen lässt.“ „Das kannst du?“ Ungläubig rutschte Ray nach vorne. Kenny war ein Genie, aber dass er ein so großes Ausmaß an Genialität außerhalb des Beysports besaß, war dem Chinesen nicht bewusst gewesen. „Ich kann es zumindest versuchen. In Amerika haben sie jemanden, der hilft dem FBI mit seinen Algorithmen, um Menschen zu suchen oder potenzielle Gefahrenquellen auszuschalten. Hat Emily mir mal erzählt. Wir haben uns eine Weile darüber unterhalten, ob sowas wirklich geht und die Möglichkeiten und Grenzen dieser Methode ausgelotet. Allerdings kann die Suche jetzt ein paar Tage dauern.“ Das war Ray egal. Hauptsache, sie kamen dem Geheimnis einen Sprung näher. „Ich weiß, das hat zwar beim letzten Mal nicht funktioniert, aber… ich versuche mal, Kai anzurufen. Oder zu simsen. Vielleicht schreibt er ja zurück. Es ist zwar anstrengend, aber wir müssen ihm nur immer wieder zeigen, dass wir da sind, auch wenn er uns wegstößt.“ Der Schwarzhaarige wählte Kais Handynummer. Kai sollte wissen, dass sie von den Neuigkeiten erfahren hatten und dass sie alle ihm beistehen wollten, wenn er es nur zuließ. Es knackte im Hörer und Ray horchte hoffnungsvoll auf, sein Herz fing schon an schneller zu schlagen. Doch eine digitale Frauenstimme erklärte „Sie werden umgeleitet. Der Gesprächsteilnehmer ist demnächst für Sie bereit.“ Leicht enttäuscht blies Ray die Luft aus seinen Backen und wartete weitere 30 Sekunden. Endlich hörte er Kais Stimme. Sie klang ernst, irgendwie erwachsener und ein wenig so, als hätte er ein Reibeisen verschluckt:   „Guten Tag. Sie rufen außerhalb der Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht.“ Kapitel 42: Wir Kinder, Soldaten -------------------------------- In Moskau, sogar ganz in der Nähe zum Nationalpark «Лосиный остров», befindet sich die Balkov-Abtei, die ihren Namen nach einigen Wechseln nun ihrem Leiter verdankt. Der japanische Familienname Hiwatari passte nicht zur russischen Kultur, fand Voltaire. Außerdem ehrte er mit der Namensvergabe seinen langjährigen Freund und Untergebenen. Das Äußere der Abtei, die sich dadurch so gut in die Peripherie des historischen Viertels Kitai-Gorod einfügt, entstammt der architektonischen Entwicklung des Moskauer Barock. Die Frontseite wird von dem gewaltigen Glockenturm auf einem Sockelgeschoss aus Kalkstein dominiert. Weitere Stile beeinflussen die Erscheinung, unter anderem die zahllosen Bögen in Kokoschnik-Art und die vier Ecktürme mit Zwiebelhauben. Einige Touristen werden von dem erhabenen Erscheinungsbild und den symmetrischen Steinmustern angezogen, das ohnehin Gebäude aus dem 17. Jahrhundert umgibt. Doch was hinter den meterdicken Mauern geschieht, entzieht sich den Blicken der Öffentlichkeit. Und damit das so bleibt, lässt sich Voltaire die Instandhaltung der eigentümlichen Gestaltung durch Fachleute einiges kosten, um durch das imposante Aussehen vom Geschehen im Innern abzulenken.   ----   „Iss etwas.“ „Ich kann nicht.“ Während der kleine Junge auf sein Tablett starrte, krampften sich seine Hände in seinem Schoß. Wenn er sich das Essen ansah – eine undefinierbare braune Pampe mit vereinzelt bunten Farbtupfern, die in einem früheren Leben Gemüse gewesen zu sein schienen, dazu ein Glas Wasser, und ein billiger Pudding zum Nachtisch – drehte sich ihm der Magen um. Seine Portion war schon klein, denn er war selbst nicht sehr groß und es schien, dass die Portionen in der Kantine nach Körpergröße ausgegeben wurden. Dennoch konnte er nicht viel essen. Er war sensibler als viele Schüler der Abtei, was er zum Glück dank Tala verstecken konnte. „Du musst aber.“ Wieder drängte besagter Rotschopf ihn gedämpft zur Nahrungsaufnahme. Mehr war es nicht; dazu war die Mahlzeit einfach zu unappetitlich. Sie saßen, wie so oft, einander gegenüber. Obwohl immer darauf bedacht, ihre Rivalität zur Schau zu stellen, hatten sie sich dazu entschlossen, in der Kantine immer gegenüber zu sitzen. Halte deine Freunde nah, aber deine Feinde noch näher – nach diesem Motto versuchten sie, ihre echte Freundschaft zu verstecken. „Nimm du es.“ Tala sah ramponiert aus. Der letzte Kampf mit Kai hatte ihn, nun, zerfetzt. Das war auch einer der Gründe, warum Kai sein Abendbrot nur stiefmütterlich beäugte und nur ab und zu vom Wasser nippte. Er fühlte sich schuldig. Tala dagegen hatte seine Portion, die beinahe das Doppelte von Kais Ration umfasste, schon fast gänzlich vertilgt. Er stopfte immer, auch unter Tränen, alles Essbare, was sie bekamen, in sich hinein. Dabei war ihm egal, ob sich sein Hals wie zugeschnürt anfühlte oder sein Magen rebellisch auf und ab hüpfte. Er wusste, dass er essen musste. Sonst würde er nicht bestehen können. Diese Einstellung zeichnete sich langsam auch körperlich bei ihm ab: Seine Muskeln bildeten sich im Gegensatz zu Kai besser aus, da sein Körper die Vitamine und Mineralstoffe aus der Nahrung beim Sport in Protein für den Muskelaufbau nutzte. Nichts gedieh schließlich aus dem Nichts! Diese Einstellung musste Tala Kai nur noch näher bringen. Er hatte ihn auch fast so weit, aber an manchen Tagen, so wie heute, ekelte sich Kai einfach zu sehr vor sich selbst, als dass er überhaupt nur zum Löffel greifen konnte. Also langte Tala über den Tisch und nahm sich den Pudding. Mit einem vielsagenden Blick verstaute er diesen dann schnell und geübt in den Taschen seines Pullovers. Er würde ihn für Kai für später aufheben. „Gib her.“ Im kalten Befehlston und mit ausgestreckter Hand forderte er von Kai den Teller. Kai funkelte bissig zurück, tauschte aber schweigend die Teller aus. Wenn er seine Portion unberührt zurückgehen ließe, konnte es vorkommen, dass er beim nächsten Mal gar nichts bekam. Das hatte er schon des Öfteren erfahren müssen. Demütig senkte Kai den Blick und wisperte ein leises „Danke“, während Tala sich nun noch Kais Ration hineinschaufelte.       Es stimmte nicht ganz, dass sie nie einen Fluchtversuch unternommen hatten. Kai hatte einen Geheimgang entdeckt, einen alten Versorgungsschacht, vermutlich noch aus dem Mittelalter oder noch älter, das alte Gemäuer der Abtei stand schließlich schon einige Jahre. Nach der Sperrstunde waren sie aus ihren Zimmern geschlichen und hatten sich aufgemacht, in den Schacht zu kriechen. Es war so finster dort drinnen, dass sie vor lauter Dunkelheit fast nicht atmen konnten. Mit ihren knapp 13 Jahren passten sie nur noch ganz knapp in den engen Durchgang. Kai fischte aus seiner Hose einen kleinen Gegestand und ein fruchtloses Zippen tönte in unregelmäßigen Abständen vor Tala. „Nein! Du darfst das Feuerzug nicht benutzen!“ „Warum nicht?“ „Meine Oma hat mir von einem ganz schrecklichen Unglück erzählt, in einer Grube. Da war Gas!“ „Hier ist kein Gas.“ „Und wenn doch? Du weißt es doch nicht. Oma hat gesagt, Gas riecht nicht immer. Sie hat gesagt, das ist gefährlich.“ Kai knurrte genervt: „Wenn du nicht die Nerven dazu hast, dann GEH! DA IST DIE TÜR!!!“ Tala zuckte zurück. Sie wollten das hier zusammen durchziehen. Kai wollte ihn mitnehmen, hatte er gesagt. „… Da ist keine Tür. Da ist nur ein lockerer Stein, den man zur Seite rollt.“ „…“ Kai starrte zurück in die Dunkelheit, wo er glaubte, Talas Gesicht zu wissen. Er seufzte. „Du bist ein Blödmann, Yura.“ „Und du bist ein furchtbares Arschloch manchmal. Au. Kneif nicht!“ „Ich lass das Feuerzeug ja schon aus. Zufrieden?! Komm jetzt.“ Sie krochen weiter, Kai mit ausgestreckter Hand nach vorn voran, um nicht gegen unsichtbare Hindernisse zu stoßen. „Warte, hier… hier ist was.“ Es schien eine Wand zu sein. Er tastete weiter, wurde hektisch. Er nahm beide Hände hinzu. „Nein… Nein das kann nicht sein!“ „Was ist?“ „Hier ist alles verschüttet! Wir kommen hier nicht durch!“ Tala zwängte sich an Kai vorbei und stieß sich prompt den Kopf an einem vorstehenden Stein. Nach einem leisen Schmerzenston kam er zum gleichen Schluss. Aber sie mussten sicher gehen. Und jetzt war Tala ein mögliches Gasleck egal. „Kai, mach dein Feuerzeug an.“ Nach ein paar Fehlversuchen leuchtete endlich eine kleine Flamme auf, die ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen blendete. Kai hielt das Feuerzeug an die Wand. Zentimeter für Zentimeter suchte er, ob es zwischen den Steinen einen Luftzug gab, der ihnen zeigte, dass es einen Wert hatte, hier vielleicht noch einmal zurückzukehren und die Steine zu bewegen zu versuchen. Aber da war nichts. Kein Hauch, kein Lüftchen. Die Flamme flackerte nicht. „Scheiße!“, rief Kai verzweifelt und schlug gegen die Wand. Tala rieb sich über die schmerzende Stelle auf der Stirn. Aber gegen die Schmerzen war er ja auch schon fast abgestumpft. Es tat immer nur im ersten Moment weh. Ihre Knie waren durch das Krabbeln auch aufgeschürft und brannten, aber beide Jungen nahmen das auch kaum noch wahr. „Wir müssen zurück.“ Sanft stupste er Kai an. „Lass uns gehen. Komm.“ Sie krochen denselben Weg zurück und huschten, von den Überwachungskameras auf dem Flur unbemerkt, zurück in ihren Schlafsaal.   „Uns ist aufgefallen, dass jemand von euch gestern Nacht heimlich auf den Gängen unterwegs war.“ Boris’ eisige Stimme schnitt durch den Raum, während er die Frühstückssituation nutzte, um seine Mitteilung zu machen. Alle Kinder und Jugendlichen blickten sich teils erschrocken, teils neugierig an. „Ich werde den oder die Täter finden! Wenn ich entdecke, dass jemand geflohen oder einen Fluchtversuch unternommen hat, wird das Konsequenzen nach sich ziehen!“ Das bedeutete neue Verhöre, besonders für all diejenigen, die noch nie verhört worden waren, und schließlich neue Hinrichtungen, falls Boris die nächtliche Aktivität zu einem Fluchtversuch erklärte. Ein stimmloses Raunen ging durch den Raum, weil nun jeder jeden verdächtigte. Denn nicht nur, dass die jeweiligen Täter mit Lebensentzug bestraft wurden, auch die Verhöre waren kein Zuckerschlecken. Irgendjemand würde jemand anderen anschwärzen, nur um die eigene Haut zu retten. Aber Boris hatte für die lückenlose Aufklärung einer solchen Aktivität eine perfide und primitive Methode* zu seiner Lieblingsmethode erklärt: Er legte einen Lappen unter den Stuhl während des Verhörs, um darin Körpergerüche aufzunehmen. Verschraubt in Reagenzgläser und geruchsfest verschlossen wurden sie dann, mit Namen des jeweiligen Verhörten, aufbewahrt. Falls also jemand aus der Menge der Abteischüler fliehen sollte, hielt er seinen Wachhunden diese Lappen vor die Nase. Bis jetzt hatten die Hunde noch ausnahmslos jeden gefunden und zur Urteilsvollstreckung überführt. Boris hatte sogar während mündlicher Beyblade- oder Schulprüfungen den Stuhl der Prüflinge jeweils so präpariert. Einige der Reagenzgläser hielten auch alte Wundverbände, damit hatte Boris sich die Zeit eines Verhörs erspart. Es war nur eine Frage der Zeit, sagte sich der Abteileiter, bis die ersten aus Angst brechen und den oder die Täter verraten würde. Und anfangen würde er bei diesem Hiwatari-Spross!   Tala hatte an diesem Tag Küchendienst. Unbekümmert von der Androhung, später ins Verhör zitiert zu werden, füllte er den Müllcontainer mit allen Abfällen der Küche. Es stank bestialisch, als er die fleischlichen und schimmelbefallenen Reste zusammenwarf. Anschließend rollte er den Müllcontainer aus der Küche hinaus in den Gang. Etwa auf der Höhe des unscheinbaren Tores ihres gestrigen Ausflugs stieß er den Container mit aller Kraft, die er aufbringen konnte um. Der gesamte Müll verteilte sich glibberig, klebend und pestilenzialisch auf der gesamten Breite des Ganges. Ein Wachmann, der dort seine Runde drehte, kam aufgrund des Lärms angerannt. Eilig hielt er sich den Ärmel vor Nase und Mund, um einem Brechreiz vorzubeugen. „Was soll das Bursche?!“, brüllte er Tala an. „Bin gestolpert.“ „Gestolpert? Worüber?!“ „Über meine eigenen Fuße“, gab Tala gleichmütig zu. „Trottel! Sieh zu, dass du das hier aufräumst! Und sperr hier alles ab! Das ist ja widerlich!“ „Jawohl, Gaspadin.“ Als sich der Wärter umdrehte, konnte Tala ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. Er sperrte auf Geheiß diesen Bereich des Ganges ab und lief zur Putzkolonne, um sich dort Besen, Wischeimer und vor allem die beißend riechende Chemikalie zu leihen, die alles wegätzte, was ihr in die Quere kam. Mit Gummihandschuhen bewaffnet kehrte er zu seiner Aufgabe zurück. Als andere Wärter ihn nach etwa einer Stunde zum Verhör abholen wollten, blieben sie in einem Abstand von 3 Metern zu ihm stehen. Sie beobachteten eine Weile sein Tun, sprachen sich dann untereinander ab. „Du sollst zum Verhör. Wenn du hier fertig bist.“ Tala nickte. Ihm war schon schwindlig von den Dämpfen aber er kniete immer noch auf dem kalten Steinboden und schrubbte den Dreck ab. Man ließ ihn wieder in Ruhe. Nach einer weiteren Stunde kam Kai auf den Gang. Er war blass. Seine Unterhaltung mit Boris hatte zwei Stunden gedauert, aber er hatte es hinter sich gebracht. „Hey… ich übernehm das jetzt.“ Er half Tala, aufzustehen und stabilisierte ihn, als er zu schwanken anfing. Unter seiner ebenso blassen Gesichtsfarbe schimmerte es grünlich. „Geht’s? Ist dir schlecht?“ „Ja…. Und wie…“ „Du sollst zum Verhör… Geh einfach langsam an der Wand lang. Hier ist Wasser. Und Yura… pass auf.“ Tala nickte und machte sich auf den Weg. Kai indes setzte die Arbeit des Rotschopfes fort. Als später in der Nacht die Hunde durch die Abtei gejagt wurden, spürten sie Talas und Kais Geruch bis zur Küche auf. Dort aber kehrten sie winselnd zu ihren Herren zurück. Das chemische Reinigungsmittel war zu stark für ihre empfindlichen Nasen. Niemand verdächtigte die beiden Erzrivalen, da sie an diesem Nachmittag dort hatten arbeiten müssen. Boris konnte keinen Fluchtversuch nachweisen. Es wurden allerdings ein paar jüngere Schüler für einen Mitternachtssnack bestraft. Dafür waren Tala und Kai aus dem Schneider. Es stimmte also nicht ganz, dass sie nie einen Fluchtversuch unternommen hatten. Sie waren nur nie erwischt worden.       Die schulische Ausbildung, die die Kinder und Jugendlichen in der Abtei erfuhren, beschränkte sich auf den elementaren Wissensstand. Neben des Beybladetrainings, welches das finanzielle Standbein Voltaires für seine Biovolt-Organisation bedeutete, wurden alle Schüler an Waffen ausgebildet. Da machte es sich Voltaire leicht. Er brauchte keine Kinder entführen. Es gab genug Waisen in Moskau und Umgebung, die er mit falschen Versprechungen wie Aussicht auf ein kleines Taschengeld, einem Dach über den Kopf und regelmäßige Mahlzeiten locken konnte. Statt alledem wurden die Kinder dann hinter den geschlossenen Steinmauern der Abtei zu Tätern gedrillt. Am liebsten waren dem Konzernchef die etwas jüngeren, denn sie waren leichter manipulierbar, gehorsamer und furchtloser als die Älteren. Bessere Soldaten hätte er nirgends finden können. Und wenn sie doch nicht so wollten wie er, schreckte er auch nicht vor Gewalt zurück, um sie gefügig zu machen. Unter seiner und Boris’ Führung, der besonders kreative Überzeugungsarbeit leistete, wuchsen sehr viele gut ausgebildete Jugendliche heran, die ihm und BioVolt hörig waren. Weniger vielversprechende Exemplare allerdings setzte er für besonders gefährliche Aufgabenbereiche ein. Für seine Forschung schickte er auch einige Kinder international als Spione in andere Beybladeorganisationen. Das beste Beispiel für das Gelingen seiner Ausbildung war sein eigener Enkel. Bis auf den gelegentlichen Disput mit Boris, was Voltaire auf das Alter des Teenagers schob und deshalb durchgehen ließ – ob er es nun zugeben wollte oder nicht, er hatte als Großvater trotz allem noch ein Faible für seinen Enkel – war Kai ein gefügiger Soldat. Er war intelligent, aufnahmefähig und passte sich schnell der jeweiligen Situationen an. Ja, Voltaire war stolz auf seinen Enkel: Kai war eine gefährliche Waffe geworden, der nicht nur mit solchen umgehen wusste, sondern auch das stärkste generische Bitbeast, Black Dranzer, unter Kontrolle gebracht hatte! Was scherte einen Voltaire Hiwatari bei einem solchen Erfolg die langfristigen Folgen seiner erzieherischen Maßnahmen für das psychische und körperliche Wohl der Kinder! Es war doch gerade gut, dass deren Selbstbewusstsein schwindet, so gaben sie weniger Widerworte und gehorchen im absoluten Gehorsam! Ja, Voltaire war voll und ganz mit sich zufrieden. Dass er auch eine hohe Ausfallquote durch die schweren Traumata hatte, welche die Kinder erlitten, übersah er geflissentlich und legte solche Kinder als fehlerhafte Codes ad acta.   Voltaire ignorierte aber auch, dass gerade Tala und Kai gegenüber den Grausamkeiten abstumpften. Das war auch eher der Grund, warum Kai hin und wieder einen Streit mit Boris anzettelte. Die Folgen waren ihm, sofern es ihn selbst betraf, recht egal. Allerdings beschränkten sich Kais Ausraster nur noch auf herbe Schläge des Abteileiters. Dieser leistete sich gerade eine weitere Entgleisung, als er in einer ausufernden Rede plötzlich auf Kais Herkunft zu sprechen kam, vor der gesamten Altersgruppe, die gerade an der Bowl trainierte. „Sag das noch einmal!“, knurrte Kai. Es half nichts, dass Tala ihn anzischte  zu schweigen. „Ich sagte, es ist besser für dich, dass du hier bist. Deine Mutter ist ein verhurter Junkie. Dein Vater ein alkoholabhängiger Bastard, der-“ „рот сакрои, Boris!“ Es wurde sehr schnell sehr still um die Bowl. Vor Kai in der Bowl knisterte es. Schwarze Flammen stiegen auf. Wie aus der Ferne hallte ein furchterregendes Kreischen an ihrer aller Ohren. Boris bemerkte wohl, dass Kai, der Black Dranzer gerade kontrollierte, deswegen im Vorteil war. Und er schleunigst verschwinden sollte. Der Junge und der schwarze Phönix hatten bereits jetzt eine starke Symbiose begonnen. „Siehst du… das meinte ich. Nähre seinen Zorn durch deinen!“, fügte Boris nur seiner Ehrenrettung halber an, und machte dann auf dem Absatz kehrt.     „Stimmt das? … Was Boris gesagt hat, mein ich.“ „Nein. … Du müsstest es besser wissen, Yuriy.“ „Na ja, du sprichst selten von ihnen. Ich dachte, vielleicht bist du eine Waise, so wie ich. Warum hast du dann keine Fotos?“ „Weil die Erinnerung zu sehr schmerzt.“ Sie hatten Glück, dass sie einander hatten. Sonst wären sie schon längst emotional verwahrlost. Kapitel 43: A true warrior feels fear but says „fuck it“ -------------------------------------------------------- „Guten Tag. Sie rufen außerhalb der Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht.“   Mailbox. Tatsächlich die Mailbox. Zum Teufel noch mal mit Kai Hiwatari!!!     ------     „Also los. Es ruft die Pflicht!“ „Ich hör nichts“, murmelte Kai und schob sich dichter an Tala heran. Er hatte ein Déjà-vu-Erlebnis, weil er wegen Talas Rettung in einer ähnlichen Situation und ähnlich nervös gewesen war. „Geduld, Yuriy, Geduld… Wir können da nicht unüberlegt einbrechen. Wir können den Zaun auch nicht ablaufen, weil man unsere Fußspuren entdecken könnte.“ „Dann lass uns hoffen, dass die alten Schleichwege noch intakt sind.“ „Darauf müssen wir vertrauen.“ Sie schlichen weiter, näher an das Gebäude heran. Es hatte geregnet, die Luft war frisch und kühl, der Boden stellenweise rutschig durch die originalgetreuen abgerundeten Steine, die als Kopfsteinpflaster die mittelalterliche Abtei umgaben. Das graue Wetter bot ihnen aber einen gewissen Schutz, und wenn sie Glück hatten, würde es einen erneuten Sturzbach geben. Kai schraubte seinen Schalldämpfer auf seine Waffe, und legte noch ein schwarzes Tuch, das er in einer Pfütze befeuchtet hatte, zwischen Lauf und Dämpfer, damit dieser nicht zu heiß wurde. Er hatte nämlich vor, diesen heute öfter zu benutzen. Bis jetzt hatten sie den Überwachungskameras aus dem Weg gehen können. Sie waren nicht so dumm gewesen, zu glauben, diese wären noch an denselben Orten angebracht. Einzelne zwar schon, aber die Mehrheit war verschoben worden, seit sie der Abtei den Rücken gekehrt hatten. Sie waren über den angelegten Klostergarten gekommen, wo ein unliebsamer Flashback sie kurzzeitig umklammert hatte. Noch immer standen ihnen die Nackenhaare zu Berge und Tala rieb sich umbewusst über beide Unterarme, wenn er zurück auf die leeren Pfahlspitzen blickte. Sie standen jetzt ganz eng an die Mauerwand des ehemaligen Geräteschuppens gepresst. Nur zwanzig Meter trennten sie von einem Hintereingang, der früher Küche und Waschküche verbunden hatte. Aber der Weg führte über eine freie Fläche, auf der sie ihrem Gegner schutzlos ausgeliefert wären. Es war töricht, einfach hineinzuspazieren. „Noch zehn…“, murmelte Tala. Kai nickte. Er zählte stumm. Die Überwachungskamera schwang in ihrem Überwachungswinkel um. „Jetzt!“, zischte er und Tala sprintete los. Er hechtete um die Ecke des Geräteschuppens, rannte zur Tür, an der er rüttelte und mit einem beherzten Schulterstoß aufstieß. Er krachte lärmend in altes Gerümpel, der achtlos dort hingestellt worden war. Schnell schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Trotz der harten Ausbildung klopfte sein Herz schnell. Er schluckte, um sich zu beruhigen. „Alles okay?!“, hörte er die durch das Mauerwerk gedämpfte Stimme Kais. „Ja. Rühr dich nicht, bevor ich es dir sage.“ Tala klang für einen Moment herrisch, und Kai blieb wo er war. Im Stillen zählte er weiter die Sekunden und beobachtete, in welchem Rhythmus sich der Kamerawinkel verstellte. Außerdem blieb er wachsam, ob der Krach von eben jemanden angelockt hatte. Aber es blieb ruhig. Fast zu ruhig für Kais Geschmack. Auch fand er es merkwürdig, dass er nirgends Wachhunde entdecken konnte. Ob Boris und Voltaire sie abgeschafft hatten? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Tala schob sich unterdessen einen Weg durch alte Gießkannen, Schubkarren und sonstige Gartengeräte frei, bis er die verstaubte und vertrocknete Regentonne erreichte, die auf mehreren, teilweise morschen Holzpaletten stand. Sie schien sehr lange nicht bewegt oder befüllt worden zu sein. Er hob die leere Tonne von ihrem Podest und stellte die Paletten entlang der Wand auf. Darunter lag ein hässlicher, zerschlissener und angefressener Orientteppich, auf dem Mäusekot lag. Den schlug Tala auch zur Seite. Zum Vorschein kam eine altertümliche Falltür. Tala zog an dem gusseisernen Ring. Mit einem schauderhaften Quietschen ging sie auf. Sogar Kai hörte es, was daran lag, dass er genau auf der gegenüberliegenden Wandseite kauerte und seinen Einsatz abwartete. „Das musst du mal ölen, das klingt ja tierisch“, hörte Tala es dumpf von eben dort kommen. „Tierisch?“ „Ja. Wie vögelnde Ratten!“ Kai musste einfach einen Witz reißen. Ihre Nerven waren zum Bersten gespannt. Und es entlockte Tala auch tatsächlich ein leises Auflachen. Er nahm jetzt seine Taschenlampe und leuchtete in den freigelegten Gang hinein. „Ich geh jetzt runter. Ich schreib dir, wenn’s wirklich frei ist.“ Vorsichtig kletterte er die abgenutzten Treppenstufen hinunter. Der Gang war etwa 1,70 Meter hoch. Tala musste sich leicht bücken, um aufrecht hindurchzugehen. Hier hatten vermutlich im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Bediensteten des monasterischen Vorbesitzers der Abtei ihre Dienstwege absolviert. Tala und Kai hatten diesen Gang einst entdeckt, als sie für eine gewisse Zeit regelmäßig draußen im Strafdienst eingesetzt worden waren. Jetzt hatten sie nur hoffen können, dass es diesen Geheimgang noch gab. Und wie es schien, war er noch nicht entdeckt worden. Tala kam ohne größere Probleme – er musste sich nur ein paar Spinnweben aus dem Gesicht wischen, in die er hineingelaufen war – am Ende des Ganges an. Also schrieb er Kai rasch eine SMS und wartete. Dem potentiellen Empfänger ging unterdessen ein Licht auf: Wenn sich sein Partner unter der Erde befand, würde die Reichweite des Handyfunks vermutlich nicht ausreichen. Er sah auf die Uhr. Tala war nun seit 10 Minuten weg. Das schien Kai genügend Zeit zu sein, ihr vorläufiges Etappenziel zu erreichen. Also huschte auch er um die Ecke durch die Tür in den Schuppen. Von innen verriegelte er sie mit einem Querbalken. Dann folgte er Tala in die Tiefe und Dunkelheit des Geheimganges und zog die Falltür unter Ächzen der Scharniere hinter sich zu. Es war so finster, dass sogar der Lichtkegel der Taschenlampe sichtbar war. Auch Kai musste den Kopf einziehen, da er mit dem Haar die Kellergewölbedecke berührte. „Yuriy?“, rief er seinen Freund flüsternd. „Wird aber Zeit, ich warte schon ewig auf dich!“ „Dir ist schon klar, dass wir hier unten keinen Empfang haben?!“ „… Jetzt wo du’s sagst…“ Kai stieß Tala daraufhin an und gab ihm seine Taschenlampe, damit er ihm bei der Suche nach der Luke leuchtete. Er fand auch hier einen gusseisernen, leicht rostigen Ring vor. Jetzt hieß es alles oder nichts – ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie in dem Gang hinter diesem Tor auf niemanden stießen. „Auf drei… 1… 2… 3!!!“ Mit einem großen Kraftaufwand zog er den Ring in seine Richtung. Die Luke gab darunter nach. Dahinter schimmerte es metallen. „Was ist das?!“ Tala trat näher heran, um es zu inspizieren. Im ersten Moment glaubte er, ihr Zugangspunkt wäre versperrt. Aber dann sah er genauer hin und stellte fest, dass es sich bei dem kühlen Material um eine Art Metallschrank handelte, den sie nur zur Seite schieben mussten. Er ließ sich auch leicht bewegen. Also packten beide Jungen beherzt zu und schoben sich einen Spalt frei, durch den sie auf den Flur hinausschlüpften. Dieser Part ihres Planes war leicht. „Shht! Ich höre jemanden!“, zischte Tala plötzlich, schnappte sich Kais Arm und zog ihn mit sich hinter besagten Metallschrank. Das Geräusch schwerer Stiefel auf hartem Boden drang an ihre Ohren. Ihre Atmung wurde flach, sie pressten sich dichter aneinander. In einiger Entfernung stoppten die Schritte. Kai und Tala lauschten angestrengt. Sie konnte nicht aus ihrem Versteck hervorlugen, sonst würde man sie entdecken. Schließlich traten die Schritte wieder den Rückweg an. Patrouille also. Erleichtert atmeten die Freunde auf. Fürs Erste waren sie drin. Kai nickte Tala zu. Leise traten sie aus ihrem Versteck hervor. Tala wechselte auf die gegenüberliegende Seite, damit sie einen weiten Rundumblick hatten und sich gegenseitig Rückendeckung gaben. Am Ende des Ganges spionierte Tala um die Ecke. Nur eine Wache. Wortlos sprintete er hervor und stieß seinem Gegner das Knie in den Rücken, während er gleichzeitig seinen Arm um dessen Hals schlang und mit seinem Unterarm die Kehle des Wachmannes abdrückte, bis dieser sich nicht mehr wehrte, weil er ohnmächtig geworden war. Kai folgte ihm und half ihm bei der Beseitigung des Bewusstlosen, um ihre Spuren zu verwischen. Sie stopften ihn in eine nahe Besenkammer, banden ihm die Füße mit den Schnürsenkeln seiner Soldatenstiefel zusammen und fesselten seine Hände auf dem Rücken mit der Krawatte. Zum Schluss knebelte Tala ihn noch mit einem alten Putzlappen. „Hinter der nächsten Tür erwarten uns sicher mehr Wachleute. Wir sollten die äußeren Gänge nutzen und unnötige Zimmerbegehungen vermeiden“, wisperte Kai, als sie aus der Besenkammer stiegen. „Wir teilen uns auf“, meinte Tala im sachlichen Ton. Er schickte Kai vor, sobald sie einen Raum erreichten, den sie durchqueren mussten, da sie sonst im Kreis liefen. Sie hatten bald den „Verhörraum“ erreicht. Dort, so vermuteten sie, wurde ihre Babuschka festgehalten. Der Titel dieses Raumes war so ironisch wie Voltaire und Boris selbst. Fragen waren so gut wie nie gestellt worden, dafür wurden von den Wärtern viel zu gerne die verschiedenen Folterwerkzeuge benutzt. „Halt“, zischte Tala dann und hielt Kai am Arm davor zurück, weiter zu gehen. Ein Wachmann saß an einem Tisch, die Füße auf der Arbeitsfläche, und kippelte mit dem Stuhl, während er mit einem Secutor[1] spielte. Er sah gelangweilt aus. „Liefer’ ihm ein Ziel!“, beschwor Tala Kai. „Was?! Liefer’ du ihm ein Ziel!“ „Du bist der hübschere Köder!“ „Ja, und ich möchte auch noch länger der Hübschere bleiben!“ Nach einigem Hin und Her über nonverbale Kommunikation tauchte Kai schließlich aus dem Nichts vor dem Wachmann auf. Dieser, völlig verdattert ob des plötzlichen Auftauchens, hastete aus seinem Stuhl und richtete das Kampfmesser sofort auf Kai. Der Junge seufzte. „Dein Leben steht auf dem Spiel.“ „Was sagst du!?“, spuckte der Wachmann aus und kam bedrohlich auf Kai zu. „Wenn jemand eine Waffe auf mich richtet, steht sein Leben auf dem Spiel. Das ist keine Drohung, sondern Tatsache.“ Während Kai die Ablenkung übernahm, lauerte Tala wie eine Königskobra versteckt hinter einem Regal. Er atmete ruhig ein und aus. Mit Leichtigkeit rief er sich Sergeis helfende Worte in Erinnerung, als sie gemeinsam das Schießen gelernt hatten. ~“Schießen hat mit dem ganzen Körper zu tun! Einatmen und ausatmen. Lass dich von der Kugel überraschen…“~ Kai spürte einen Luftzug nahe seinem Oberarm, dann hörte er eine Kugel Fleisch und Knochen durchbrechen. Der Wachmann vor ihm sackte zusammen. Kai packte ihn rasch und drapierte den leblosen Körper so auf Tisch und Stuhl, dass es aussah, als würde er schlafen. Tala trat aus der dunklen Ecke hervor und sah ihm dabei zu. Schließlich blickte Kai auf. „ Erwartest du Lob von mir?“ Tala zuckte mit den Schultern: „Wäre nett, ja.“ „Na du bist ja ein Feiner! … Und jetzt komm, genug herumgetrödelt. Es wird Zeit für deinen Ring-Trick.“   Wortlos folgten sie ihrem unbeirrten Weg. Sie kamen an den Zellen vorbei, in denen „Aufsässige“ aufbewahrt worden waren, bevor sie in den Verhörraum geschleift wurde. Eine dieser Zellen war nicht leer. Leise näherten sie sich. Sie wussten nicht, was sie erwartete. Die Person, die ihnen den Rücken zugedreht hatte, wandte sich zu ihnen um. Tala zuckte zurück. Das Mädchen vor ihm starrte ihn mit trüben Blick an. Breit verteilte sich die getrocknete Blutspur über ihrem Kinn. „Sei bloß still!“, zischte Tala es warnend an. Das Mädchen verzog ihr Gesicht zu einer verächtlichen Fratze. Tief dunkles Blut quoll über ihre Lippen, als sie ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen. „FUCK!“, keuchte Kai und konnte nicht verhindern, sein Blick für einen Moment von ihr abzuwenden. Man hatte diesem Mädchen die Zunge abgeschnitten. Und es hatte scheinbar das letzte, abebbende Blut in ihrem Mund behalten. Es begann, modrig und nach Eisen zu riechen. „… Sind die noch brutaler geworden?“ Tala und Kai wichen zurück, zum Fenster. Plötzlich hob das Mädchen die Hand und zeigte mit dem Finger auf selbiges Fenster. Stirnrunzelnd hielt Kai dem Blick des Mädchens stand. Schließlich verstand er und öffnete, nach einem versichernden Blick, eine Seite des Fensters. Mittlerweile im ersten Stock, war er über den Schatten dahinter irritiert. „…Baumelt da… eine Leiche?“ Nach einem Blick zu dem Mädchen, das wild nickte, sah er zu Tala. „Muss das sein? Jetzt?!“ „Er kann da doch nicht hängen bleiben… und es scheint ihr wichtig zu sein.“ „Schön!“ Nachdem der Rotschopf sich versichert hatte, dass sie noch nicht entdeckt worden waren, kletterte er auf den Fenstersims und zückte sein Taschenmesser, um den Toten von dessen Strick zu befreien, während Kai ihn an der Gürtelschleife festhielt, damit er nicht aus dem Fenster fiel. „Warum mussten sie ihn so weit oben aufhängen?“, knurrte Tala und sägte sich durch das Tau. „Keine Ahnung. Vielleicht dachten sie, er wäre dann besonders tot?!“ Gemeinsam schleppten sie die Leiche zu den Gitterstäben der Zelle, in dem das Mädchen gefangen war. Tala huschte sofort wieder zum Fenster, um sich umzusehen. Die Aktion hatte sie Zeit gekostet. Aber Kai war nun mal so. Mitfühlend. Trotz allem und vor allem trotz der Situation. Das Bisschen Menschlichkeit wollten sie sich bewahren. Aber jetzt wurde es Zeit. Kai richtete sich auf, nachdem er dem Mädchen einen Schlüsselbund, von dem er nicht wusste, ob er passte, und ein paar Werkzeuge in die Zelle geworfen hatte, die er hier hatte finden können. Er sah auf das Mädchen hinab und entsicherte seine Waffe, um auf es zu zielen. „Wir waren nett zu dir, weil wir dein Schicksal kennen. Aber kommst du uns in die Quere… Zögern wir nicht, dich zu töten. Verstanden?“ Doch statt einer bejahenden Antwort griff das Mädchen zur Waffe und drückte sich den Lauf an die Stirn, schloss die Augen und flehte stumm mit jeder Faser ihres Körpers, er möge doch bitte, bitte abdrücken. „Lass los!“ Kai hatte Schwierigkeiten, ihren eisernen Klammergriff von seiner Beretta zu entfernen. Plötzlich sackte sie zusammen. Kai hatte den Lufthauch kaum gespürt, die die Kugel verursacht hatte, bevor sie sich durch die Mitte der Stirn des Mädchens fraß. Ein sauberer Durchschuss. Kai erhielt die Gewalt über seine Waffe zurück. Fassungslos drehte er sich um. Tala stand hinter ihm, senkte gerade die Arme. Der Schalldämpfer rauchte noch. Seine erstarrte Miene glich einer Maske und vermochte nicht zu verbergen, wie kalkweiß er erblasst war. „Sie ist uns in die Quere gekommen.“ Kai, der schon immer etwas sensibler gewesen war als Tala, unterdrückte den Brechreiz, der sich seine Speiseröhre emporschlich. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Blick hart und bestimmt. Der Glanz seiner Rubine erloschen, nickt er Tala nur zu. Ihre Mission hatte Vorrang.   Sie huschten durch die nächste Tür. Vor ihnen eröffnete sich der lange Korridor zum Verhörzimmer: Der Weg zum Schafott. „BORIS!!!“ Kai zuckte zusammen. Talas laute Stimme hallte wütend von den Steinmauern wider. Für ihn war jetzt Schluss mit Zurückhaltung. Die Angst und die Wut hatten sich gefährlich hoch in ihm hochgeschaukelt und die Erlebnisse eben hatten ihn zudem so weit getrieben, dass sein Verstand aussetzte und nur die Tollkühnheit seines Herzens ihn regierte. „Boris, ich weiß, dass du hier bist!“ Tala griff an seinen Gürtel. Mit einer flinken Handbewegung riss er den Sicherungsstift aus der Handgranate, schleuderte sie in Richtung der Tür und drückte in einer Bewegung sich und vor allem Kai schützend an die Mauer. Durch die Wand spürten sie beide die Erschütterung der Detonation. Schutt und Putz rieselten von der Decke. Kai kämpfte sich aus Talas eisernem Griff frei. „Blödmann! Kannst du kurz aufhören, Zeug in die Luft zu jagen?!“ „Hast du Angst?“ „Nein, ich hab keine Angst, meine Vernunft schreit nur VORSICHT!“ „Du wolltest, dass ich den Ringtrick benutze.“ „Ja, aber dahinter sitzt Baba! Denk mal ein bisschen nach!“ Kai boxte Tala gegen die Schulter und gestikulierte mit einem Kopfnicken in Richtung des gewaltigen Lochs, das der Ältere soeben in das alterwürdige Mauerwerk gesprengt hatte. Nachdem sich der Staub und der Rauch gelegt hatten, kletterten sie durch das Geröll. Als sie es endlich hindurch geschafft hatten, klopfte Talas Herz heftig in seiner Brust. Dort, hinter einem schützenden Glaskasten, saß Anna Ivanov! Ihre Hand- und Fußgelenke waren durch die Reibung der Fesseln aufgeschürft und angeschwollen. Das Gesicht konnten sie nicht sehen, es war von einem hässlichen Sack verdeckt. Wieder stieg unbändige Wut in Tala auf. Er schoss auf das Glas, aber erst nach vier Schüssen splitterte es. Kai nahm einen großen Geröllbrocken und schleuderte diesen in das Glas, welches dann gänzlich zersprang. Sie stiegen über die Scherben und eilten auf ihre Oma zu. Tala riss ihr sofort den Sack vom Kopf. Ihr Gesicht war geschwollen, ihre Lippen trocken von der Reibung am Knebel. Auch diesen entfernte Tala ihr, während Kai ihre Fesseln durchtrennte. „Ein Glück, du lebst!“, rief der Rotschopf aus. Anna lächelte erleichtert: „Was hab ich nur für dumme Jungs!“ „In der Tat…“ Die gehässige Stimme ließ das Blut in den Adern der Jugendlichen gefrieren. Sie drehten sich in die Richtung, aus der sie kam. „Hätte nicht gedacht, dass ihr kommt…“ „Man muss immer mit Leuten rechnen, auf die man nicht zählen kann“, gab Kai schlagfertig zurück. „Das war doch kugelsicheres Glas!“, motzte Boris, der Voltaires wallendem Umhang folgte und fassungslos die Schäden betrachtete, „Warum heißt es kugelsicher, wenn es nach ein paar Schüssen zerberstet?“ Mit nur einer Handbewegung schnitt Voltaire Boris das Wort ab. „Tu mir den Gefallen und benutz das nächste Mal die Tür. Ich steh nicht so auf Löcher in den Wänden“, meinte Kais Großvater spitzfindig, aber mit einer zu ruhigen Stimme für den Geschmack der beiden Jugendlichen. Boris fiel in Voltaires abfällige Bemerkung ein: „Jahhh…  da sind sie wieder. Unsere Macho-Machos, aufgeblasene kein-Anschluss-für-die-Birne-Fatzkes!“ Subtil und Beherrscht war nicht unbedingt Balkov zweiter Vorname. Beide Jungen stellten sich schützend vor ihre Babuschka. Kai reichte ihr sein Messer, damit sie sich selbst von der letzten Fessel um ihren Knöchel befreien und sich im Notfall selbst verteidigen konnte. „Piss mir nicht in meine Hosentasche und sag mir, dass es regnet!“, knurrte Tala Boris an und wollte seine Waffen ziehen, aber Boris war schneller. „Na, na na!“ Der alte Mann zielte mit einer Desert Eagle auf ihn. Diese halbautomatische Single-Action-Pistole war aus israelischer Anfertigung, was Tala daran erkannte, dass sich rasch braune Prints bildeten. Das war eine Eigenheit dieser Handfeuerwaffe; die israelische Produktion nahm aufgrund der ursprünglichen Brünierung ohne anschließender Polierung aggressiven Handschweiß besonders intensiv auf. Dieses Wissen war wichtig für Tala, denn das sagte ihm, dass Boris schwitzte – und längst nicht so locker war, wie er es nach außen zeigte. Und das würde кровавыа война zu seinem Vorteil nutzen, sofort, wenn sich die Gelegenheit bot. Voltaire schnipste und hinter ihm tauchten drei Schüler auf, bewaffnet mit dicken Пистолет-пулемёт Бизон[2], die auf sie gerichtet waren. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich Voltaire Hiwatari und Boris Balkov in Sicherheit wogen, zeigte sich offensichtlich in ihren Gesichtern. Und da Voltaire nun anwesend war, begannen sie, in Sachen psychologischer Kriegsführung nun zu Höchstleistungen aufzulaufen, so schien es. „Das selbstbestimmte Subjekt ist Resultat von Unterwerfungsprozessen: Gehorsam fällt unter die Vor-stellungen der Selbstbestimmung“, erklärte Voltaire süffisant grinsend und ging einen Schritt auf die drei zu. Kai und Tala wechselten einen fragenden und skeptischen Blick. „Jetzt dreht er durch…“, murmelte Kai seinem Freund leise zu. „Keineswegs, mein lieber Enkelsohn…“ Kai schauderte bei der Bezeichnung. Er wollte alles sein, nur nicht Voltaires Enkel. Die Blutsbande mit ihm bedeuteten ihm nicht mehr als absoluten Ekel. Voltaire fuhr weiter fort, anklagend: „Ihr beide seid einfach nicht selbstbestimmt, weil ihr euch MIR immer wieder unterordnet… So wie jetzt!“ Mit etwas Verzögerung, in deren Pause das Gesagte unheilschwanger im Raum stand, entgegnete Kai: „JEDER ist ein solches Resultat, die Idee der Freiheit als Telos der Führung ist Selbstbestimmung. Denn außerhalb von Führung leben wir nicht. Jedes Leben ist ein Projekt – die Lebenspläne sind von uns geschaffen. Unsere eigene Führung ist nicht vordefiniert und wenn du irgendwas damit zu tun hast, dann nur als Negativbeispiel, niemals so wie du zu werden!!!“ Kai holte tief Luft und ging einen Schritt vorwärts. Die Scharfschützen entsicherten bedrohlich ihre Bisons. „Kai, stell dich gerade hin! Kai, mach dein Bett ordentlich! Wie? Du kannst deinen Namen noch nicht buchstabieren? Dann gibt es für dich kein Essen, bis du es kannst! … Ich war erst 4! 4 Jahre alt! Ich hasse dich!“ „Mein Gewissen war rein!“, erwiderte Voltaire, angestachelt von der Vehemenz seines Enkels. „Weil du es nie benutzt hast! Und nie benutzen wirst! Und ich hoffe, dass mein Hass dir gegenüber irgendwann umschlägt in völlige Gleichgültigkeit, aber im Moment genieße ich jeden Augenblick, in denen ich dieses Gefühl in meinen Adern spüre. Denn es sagt mir, dass ich noch am Leben bin! Und es erinnert mich an den Zweck meines Lebens: Das deinige zu beenden!“ So schnell, wie Kai seine Beretta im Anschlag hatte und Voltaire damit ins Visier nahm, so schnell konnte keiner der Umstehenden reagieren, nicht einmal Tala. Aber Voltaire lächelte nur spöttisch. „Den Lauf solltest du niemals auf etwas richten, dass du nicht töten willst.“ „Nein, eher würde ich ein brennendes Streichholz in einen Benzintank werfen!“ Ein Schuss fiel. Trotz allem unvorbereitet, traf er Voltaire in die rechte Schulter. Niemand reagierte, es war, als stünde die Zeit für einen Moment still. Dann schrie Voltaire vor Schmerz auf, und richtete einen wilden Blick auf Boris: „Du wirst das erledigen, oder ich erledige dich!“ Boris nickte und wandte sich voller Vorfreude an Kai und vor allem Tala: „Das ist nichts Persönliches. Das ist rein geschäftlich.“ „Es war schon immer persönlich“, erwiderte Tala trocken, und nicht zu früh duckte er sich. Die Geschosse flogen wild, aber geradlinig auf sie ein. Tala schnappte sich seine Großmutter, schirmte sie mit seinem Körper ab und rannte zu einem größeren Geröllhaufen, der von der vorherigen Explosion gebildet worden war. Dieser würde ihnen etwas Schutz bieten. Kai war in die andere Richtung gelaufen, strategisch klug, denn so mussten sich die gegnerischen Schützen aufteilen. „Sind das deine besten Bodyguards und Schützen?“, schrie Kai über die andauernden Schüsse hinweg. „Ich würde sie ja nicht einsetzen, wenn ich du wäre! Wir sind um ein Vielfaches besser als sie!“ „Ehrlich, Kai? Du willst sie damit provozieren?“ Die Einschläge der Munition kamen näher. Die Bisons waren auf Automatik eingestellt. Kai und Tala hatten keine Chance, ein Gegenfeuer zu erwidern, ohne Gefahr zu laufen, getroffen zu werden. Im Moment jedenfalls. „Wieso, klappt doch!“ „Ja, sie schießen unaufhörlich auf uns! Klasse!“, schrie Tala ihm entgegen. Wie üblich in solchen Extremsituationen, waren sie sich uneins. Plötzlich lachten beide auf, unbewusst. Als Tala es bemerkte, lachte er Kai an: „Ich schwöre dir, unsere Gehirne haben schon gelacht, bevor wir sprechen können!“ „Vermutlich sogar immer gleichzeitig“, grinste Kai zurück. Im selben Moment versagte das Nachladen bei dem Schützen, der Kai am nächsten stand. Der Silberhaarige stand auf, schoss erst blind auf seine Gegner und erledigte dann zwei von ihnen mit einem gezielten Kopfschuss. Ganz so, wie Tala zuvor das Mädchen in der Zelle ausgeschaltet hatte. Übrig blieben Voltaire, Boris und der letzte Bodyguard, der so jung war, dass ihm jetzt, im Angesicht des Todes, doch die Knie schlotterten und er einige Schritte zurücktaumelte, das Gewehr zwar schützend vor sich erhoben, aber nutzlos in seinen unerfahren Händen. „Es wird Zeit“, verkündete Kai, „Zeit für euch, zu gehen. Schnuppert Friedhofsluft.“ „Ich will nicht auf den Friedhof!!“, brüllte sein Großvater ihn an. Jetzt war es an Kai, überlegen zu grinsen: „Jeder muss dort einmal früher oder später hin. Du früher, ich später.“ Mit einer lang erhofften Befriedigung zog sein Zeigefinger den Abzug durch. Voltaire versuchte zu entkommen, doch dieses Mal hatte Kai mehr als genau gezielt: Auf Voltaires Herz nämlich. Es war, als würde die Welt anhalten. In Zeitlupe sackte der alte Mann zu Boden. Ebenso langsam senkte Kai voller Genugtuung seinen Waffenarm. Auch die Szene vor ihm, in der Boris, vor Verzweiflung um seinen – ja, man konnte sagen, langjährigen, besten und einzigen Freund, an dessen Seite eilte, spielte sich in Zeitlupentempo ab. Boris tastete nach der blutenden Wunde, presste seine Hände fest darauf, aber es war bereits zu spät. Voltaires Seele hatte den irdischen Körper bereits verlassen. Kai fühlte sich leicht und unbesiegbar und so, als hätte er einen triumphalen Erfolg erreicht. Deshalb nahm er auch die Gefahr nicht wahr, die sich plötzlich aufbaute, als die Erde sich weiter drehte. Boris riss dem unnützen Jungen die Bison aus den Händen und feuerte blind vor Tränen um seinen toten Freund in Kais Richtung. Er wollte diesen Jungen tot sehen, wollte dies schon, seitdem er sich im Alter von knapp fünf Jahren das erste Mal frech gegenüber seinem Gaspadin verhalten hatte. „Kai!!!“ Tala konnte seine Babuschka nicht alleine lassen. Aber er würde heute weder sie, noch seinen Partner verlieren! Das schwor er sich, als er eine Salve an Schüssen abfeuerte. Überall fielen Patronenhülsen zu Boden. Der Raum rauchte vor Schutt und ob der Einschusslöcher zerberstende Trümmerteile des Mauerwerks. Als sich der Rauch legte, standen nur noch Tala und Anna aufrecht. Talas Herz setzte aus. Nein, das durfte nicht wahr sein…. Wut, so kalt wie ein Fisch, erklomm sein Herz. Sein Blick verdunkelte sich. Eine dunkle, bestialische Aura umgab ihn. Aus der Ferne ertönte ein Heulen. Dann leuchtete ein eisblaues Licht aus seiner Hosentasche wie ein Laser in Richtung Decke. Wolborg, sein Wolf, manifestierte sich aufgrund Talas starker emotionaler Reaktion. Er entsprang seinem Bit Chip in Talas Hosentasche, den dieser immer bei sich trug, und rannte auf Boris zu. Knurrend blieb das Bitbeast über dem Erzfeind stehen. Tala folgte Wolborg und kniete sich neben Boris. Zähflüssiges, fast schwarzes Blut sickerte aus einer Eintrittswunde an dessen Schläfe. Dennoch war dieser noch bei Bewusstsein. Wolborg fletschte geifernd seine Zähne; Dampf stieg aus seinen Nüstern auf, die Luft um sie herum klirrte vor Kälte. „Du lebst ja noch…“ Tala kickte mit einem schnellen Tritt gegen die leblosen Beine von Voltaire. „Kann man von deinem Gaspadin nicht sagen. … Du hast an uns gezweifelt.“ Seine Feststellung klang leise, rau, emotionslos. Seine Hand griff in Wolborgs dickes Nackenfell, liebkoste den Wolf. Seine Stimme war ruhig, so wie die liebevolle Geste gegenüber dem Bitbeast, und duldete keinen Widerspruch, als er fortfuhr: „Das hier ist unser Sieg, über dich, über euch. Aber das muss dir nicht peinlich sein. Unbesiegbarkeit gehört nicht zu den menschlichen Eigenschaften. Und du bist einfach nur ein armloser Mensch, ohne Freunde und Familie.“ Bitterkeit mischte sich in seinen Ton. „Entgegen all deiner Versuche, uns beiden genau das zu nehmen, hast du es doch nie geschafft.“ Der Boden vereiste. Die Macht Wolborgs wurde zunehmend stärker, je dunkler die Gefühle wurden, die sich in Tala aufstauten. „Solltest du dies überleben, rate ich dir: Halte dich fern von mir und meiner Familie. Drohe uns nie wieder. Das hier wird unsere letzte Begegnung sein, ублюдок[3].“ Mit diesen Worten überließ er Boris Balkov seinem Schicksal. Er ging schnellen Schrittes auf seinen am Boden liegenden Freund zu. Jeder schritt ließ den Boden unter seinen Füßen gefrieren. Anna kniete bereits hinter Kai und hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt. Ein rötlich-goldenes Licht schimmerte um seinen Körper und es hüllte zunehmend auch sie ein. Sie lächelte ihm gutmütig zu. Zugegeben, so lebendig wie jetzt hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Das könnte allerdings auch mit Dranzers magischer Heilwirkung zu tun haben, die er als Phönix innehatte. „Ich muss schon sagen, Yura… verdammt gute Arbeit. Verdammt einschüchternd deine Rede eben.“ „Ja, war es das?“ Tala konnte sich nicht so recht konzentrieren. Erst musste Kai seine Augen öffnen. „Dieser flache, ausgeglichene Ton deiner Stimme… Wie aus dem Einmaleins der Bedrohungen. Nur wenige Dinge sind furchteinflößender als eine gleichmäßige, ruhige und sanft ausgesprochene Drohung.“ Tala sah sie an und lächelte das erste Mal ehrlich und fast befreit. Es half, wie seine Großmutter mit ihm redete. Das Lächeln erreichte auch seine Augen und die kleinen Lachfältchen machten ihn zum ersten Mal seit Jahren wieder jünger, statt älter. Dennoch blieb Wolborgs Kraft, die er in der Phase absoluter Wut und unbändigen Hasses heraufbeschworen hatte, erhalten. Irgendetwas reagierte auf und zog an seiner Kraft, und das merkte selbst Tala. Bitbeast und Besitzer wurden unruhig. Da grollte es auch schon aus den Tiefen der Katakomben der Abtei. Ein leichtes Beben folgte. Im selben Moment regte Kai sich, fasste sich an den Kopf. Ihm war dank der schusssicheren Weste nichts Schlimmeres als ein bald entstehender Bluterguss passiert. Pures Glück. Und vielleicht ein bisschen Hilfe seines Phönixes. „Hey, Yuriy… Warum hast du mich nicht geweckt?“ „Weil ich leider kein Dynamit hatte“, meinte Angesprochener wohlwollend neckend. Als ein erneutes Beben den Boden unter ihren Füßen erschütterte, richtete Kai sich rasch auf. „Was zum-?“ Kai spürte eine bekannte, unheimliche Kälte in sich aufsteigen. Seine Pupillen erweiterten sich vor Angst. Diese Macht, die sich züngelnd ausbreitete, nach ihm im Speziellen lechzte, nachdem Tala sie mit der Power seines Bitbeasts scheinbar geweckt hatte, konnte nur eines bedeuten: Black Dranzer war erwacht! Und er gierte nach Zerstörung. Dieses unheilvolle Gefühl konnte Kai nicht abschütteln, ebenso wenig wie das Blitzlichtgewitter an Erinnerungen, die er an den pechschwarzen Phönix hatte. Er fühlte das korrumpierende Tätscheln unsichtbarer Flügel, die ihn in trügerischer Sicherheit lobten für seinen tief sitzenden Hass, den er heute zur Schau gestellt hatte. Am Ende waren sie ja doch nicht so verschieden, und Black Dranzer genauso missverstanden wie Kai… „Er ist wieder da… und er will mich mit seiner Power verführen…“ Irritiert sahen beide Ivanovs zu Kai. Der Silberhaarige begann zu zittern. Langsam dämmerte es Tala. Sein Wolf knurrte, sein Beschützerinstinkt war entfacht. „Kai, nein. Das lässt du nicht zu. Du bist nicht allein. Wir lassen das nicht zu!“ Affirmativ heulte Wolborg auf. ~Nein, wir passen auf dich auf.~ Unter Kais Schutzweste leuchtete das Amulett auf. In einem hellen Licht manifestierte sich nun auch der rote Phönix. Sie alle hatten sich nun um Kai versammelt, denn sie würden ihn beschützen – komme, was wolle. Auch Wolborg schaltete sich nun ein. ~Überlass es uns. Ihr habt genug gekämpft heute. Leckt eure Wunden. Wir sind bald wieder da.~ Kurz danach verschwanden beide in einem ihren Elementen farblich charakteristischen Lichtstrahl. Aber das änderte nichts an der in Kai immer stärker anwachsenden Panik. Je stärker sein Phönix, der offenbar in den Katakomben den Kampf mit Black Dranzer aufgenommen hatte, ihn verteidigte, desto stärker spürte er den Sog der Finsternis. „Yuriy, komm her, ich brauche deine starken Arme“, forderte Anna Ivanov schließlich. Tala gehorchte ohne Nachfragen. „So, hier… Aufstehen… hinstellen…“ Anna half Kai dabei, und behandelte dann Tala wie eine Marionette. Sie stellte beide eng aneinander und ließ ihren leiblichen Enkel ihren angenommen Enkel fest an sich drücken. „Fester, Yura. Du musst ihn festhalten. Ganz fest. Das wird seine Nerven beruhigen. Zuerst steigt die Panik an, also halte ihn gut fest. Aber dann sinkt der Blutdruck und seine Panik wird nachlassen. Drückt euch fest aneinander. Ja. So ist es gut.“ Kais Herz begann tatsächlich zu rasen, und erst wollte er sich wehren, aber Tala drückte seinen Kopf gegen seine Brust und hielt ihn in einem eisernen Griff fest. Der gleichmäßige Herzschlag seines Partners und die Sicherheit, die seine Umarmung bot, beruhigten Kai schließlich doch. Aus den Tiefen dröhnte ein Donnern, das die Erde erzittern ließ. Phönixschreie, kaum voneinander zu unterscheiden, so schrill, dass der Putz von den Wänden bröckelte und die ohnehin zerbombte Halle noch um einiges mehr verunstaltete, zeugten von dem sich unten abspielenden Kampf. Durch beide Blader floss die Energie ihrer Bitbeasts und ließ sie in einer bläulichen bzw. rot-goldenen Aura schimmern. Anna legte jedem Jungen eine Hand auf die Wange. Plötzlich erhob sich ein dröhnendes Tosen, aus dem Boden züngelten schwarze Flammen. Dämonische Energien schienen sich freisetzen zu wollen. Die Grundmauern stürzten ein. Tala löste ihre Umarmung und schob Kai vorwärts. Gemeinsam legten sie jeweils einen Arm um Anna und rannten aus dem Gebäude, wobei Anne vielmehr schwebte, da sie von den beiden eher getragen wurde. Gerade noch rechtzeitig schafften sie es ins Freie. Hinter ihnen verursachte der Zusammensturz von mehreren Stützpfeilern Druckwelle, die sie Nase voran in den Dreck stieß. Heftig atmend drehten die drei sich auf den Rücken. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte auch die Außenmauer des angrenzenden Gebäudes ein. Black Dranzers Zerstörungskraft hatte tiefe Risse im Mauerwerk hinterlassen, und es war vorhersehbar, dass dieser Einsturz sicher nicht der letzte sein würde. Nachdem sich das sehr unangenehme, andauernde und laute Pfeifen in ihren Ohren etwas gelegt hatte und der Tinitus bei Tala halbwegs verschwunden war, fragte er: „Alles in Ordnung bei euch?“ Anna nickte. Beide warteten auf Kais Antwort, die ausblieb. Aber die Ankunft von Dranzer und Wolborg lenkte beide kurz von Kai ab. „Hey mein Großer! Wie lief‘s?“ Wolborg lief sofort auf seinen Herrn zu und drückte seine Schnauze gegen Talas Gesicht und ließ sich gebührlich kraulen, bevor er nachdrücklich mit der Nase gegen Talas Hände stupste, bis dieser sie offen hielt. ~BLEHRG!~ „Bah, Wolborg, was… Oh…“ In seinen Händen hielt er den zerbrochenen Bitchip von Black Dranzer. Aber so was war schon einmal vorgekommen, bei Dranzer selbst. „Ist... ist es wirklich vorbei?“ Dranzer landete auf Wolborgs Rücken und gurrte. ~Es ist anders als bei meinem Verschwinden aus dem Bitchip. Sieh genau hin. Er ist gebrochen. Sein Emblem ist verblasst. Ich kann zwar nicht ausschließen, dass nicht doch irgendwo noch ein bisschen seiner Magie versteckt ist, aber so wie er jetzt ist, ist er unbrauchbar. Der Riss in seinem Emblem verhindert, dass er sich materialisieren kann. Ihr solltet ihn irgendwo sicher und unzugänglich aufbewahren.~ „Danke euch beiden. Ohne euch… Danke….“ Tala konnte nicht in Worte fassen, wie gesegnet sie durch die Hilfe ihrer Bitbeasts waren. Ohne sie hätten sie den Angriff Black Dranzers vermutlich nicht überlebt. Vor allem, da Kai anfällig für die Dunkelheit war. Das brachte Talas Aufmerksamkeit wieder zu seinem besten Freund. Dieser lag auf dem Rücken, ein Arm über seine Augen und biss sich auf die Lippen. „Hey, hey… Hast du Schmerzen? Was ist?“ „Es ist alles meine Schuld…“, murmelte Kai. „Hättest du mich nie kennen gelernt, hätte ich euch beide nie da hineingezogen. Dann hätten Voltaire und Boris ihre Abscheu nur gegen mich gerichtet. Und Boris hätte Babuschka nicht entführt und…“ „Shhhh, Kai, hatten wir das nicht schon? Diese Schuldzuweisungen sind irrational, du-!“ Aber alles Gut-Zureden half nichts, denn Black Dranzers Dunkelheit hatte an Kais tiefsitzenden Ängsten und Schuldgefühlen gerüttelt und losgebrochen, was gerade aus dem emotional überforderten Jungen herausquoll. Mit einer hastigen Bewegung richtete er sich plötzlich auf, packte Talas Hand und klatschte ihm dessen Glock in selbige. „Yuriy, töte mich! Los töte mich!!“ „Bist du verrückt geworden?!“ Unbeirrbar ahmte er die Szene nach, die sich ihnen kurz vor der Action der Rettungsaktion abgespielt hatte. Nur hatte er seine Zunge nicht verloren. „Yuriy, drück ab! Nun mach schon, bitte!“ „Nein!“ „Yura! Ich flehe dich an! …“ „Bullshit, Kai! Hör auf damit, sterben zu wollen!“ „Bei dem Mädchen hast du nicht gezögert!“ Tala schluckte: „Das war…“ Jetzt mischte sich auch ihre Babuschka ein, konnte das Leid nicht länger ertragen. „Versuchs mit einer kognitiven Neukalibrierung, Yura.“ „Einer… was?!“ „HAU IHM KRÄFTIG EINE RUNTER!!!!“ Tala holte aus, ballte eine Faust und schlug Kai hart und kräftig ins Gesicht. Er traf seinen Wangenknochen. Fast augenblicklich bildete sich ein wütendes Rot auf Kais Wange, dass wohl violett anlaufen würde. Tala hielt den Atem an. Eine Zeit lang starrte Kai nur in die Richtung, in die sein Kopf nach dem Schlag geflogen war. Schließlich wandte er sich wieder Tala zu. „Tut mir leid.“ „Warum entschuldigst du dich jetzt?“ „Weil du mich und meine Ausraster immer ertragen musst.“ „Okay, halt die Klappe jetzt.“ Tala beugte sich vor, streichelte kurz das sich bereits verfärbende Veilchen und zog Kai im Nacken näher zu sich. Er gab ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Wie wärs, wenn wir jetzt nach Hause gehen?“, schlug Baba mild lächelnd vor. Ihr schlug Fassungslosigkeit, Ärger und Besorgnis in einem Sekundbruchteil und nur in prüfenden Blicken entgegen. „Du, Baba, kommst nicht nach Hause…“ „… sondern ins Krankenhaus…“ „… wo man sich um dich und deine Wunden kümmert!“ „Denn du warst tage-, wenn nicht wochenlang eingesperrt!“ Resigniert seufzend fügte sie sich ihrem Schicksal. „Von wem ihr das wohl habt…“, murmelte sie. „Na von wem wohl?!“, kam es unisono von beiden Jungen. Gemeinsam stützten sie die alte Dame und verließen das Grundstück.   [1] Secutor: Ein Kampfmesser, vornehmlich für Sondereinsatzkräfte. Besitzt versetzten Rückenschliff. Lässt sich auch mit Handschuhen schnell öffnen. [2] Die PP-19 Bison (Pistolet Pulemjot Bison, russisch Пистолет-пулемёт Бизон) ist eine russische Maschinenpistole, die zwischen 1993 und 1995 von Wiktor Kalaschnikow und Alexej Dragunow, beide Söhne namhafter Waffenentwickler Russlands, entwickelt wurde. [3] ублюдок - Bastard Kapitel 44: Vir fortis umeros – ein Held mit starken Schultern -------------------------------------------------------------- „Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich richtig mag?" „Ja, ich kenn das... nach ner Schießerei wirst du immer so gefühlsduselig!"     ~*~     Die Geräte piepten gleichmäßig. Für die Ärzte war es ein Wunder, dass dieser Mann noch lebte. Man hatte ihn aus den Trümmern der eingestürzten Balkov-Abtei geborgen. Wie sich herausstellte, war er deren Namensgeber. Das monumentale Bauwerk hatte irreparable Schäden davon getragen. Damit war ein großer Teil der Geschichte Moskaus untergegangen. Neben ihm hatten sie die sterblichen Überreste von John Hiwatari gefunden. Die Anwälte und Notare der BioVolt Corporation setzten sich bereits zusammen, um im Fall der Fälle bereit zu sein. Das Fortbestehen der Abtei und das Erbe des Verstorbenen musste geregelt werden. Bevor das Testament nicht geöffnet wurde, war noch unklar, ob Boris Balkov der Begünstigte war oder ob der letzte Verwandte das Erbe in Empfang nehmen sollte. Und der momentane Zustand des Abteileiters war sehr kritisch. Er hatte einen Durchschuss im Stirnbereich erlitten. Zu seinem Glück war nicht der Schädel durchschossen worden, sondern nur die Stirn. Es grenzte an ein Wunder: In der linken Schläfe war die Kugel ein-, in der rechten wieder ausgetreten. Sie hatte das Gehirn nicht durchschlagen, was die Möglichkeit nahelegte, dass Boris Balkov aus dem Koma erwachte. Dagegen schienen seine Prellungen und Schnittwunden sowie Verbrennungen an den Händen beinahe trivial. Die Nachrichten hatten fälschlicherweise von seinem Tod berichtet. Bald würde wohl eine Berichtigung der Ereignisse stattfinden. Noch immer waren sich die Ermittler nicht sicher, ob die Ursache der Explosionen das Duo кровавыа война war – oder eine interne Störung in den Laboren unterhalb der Abtei. Denn dort waren erhebliche Spuren einer größeren Kraftquelle gefunden worden, die es auch nahe legten, es handelte sich um einen Laborunfall. Die Ermittlungen waren also noch längst nicht abgeschlossen...     ~*~     „Mach dir keine Sorgen, Yuriy. Mir geht’s gut.“ „Du wurdest angeschossen, Kai. Dir geht’s nicht gut.“ „Ich bin schon mal angeschossen worden. Und du auch.“ „… Man wird gegen Schusswunden nicht immun, weißt du?!“ Auf ihre eigene, eigenbrötlerische Art versuchten Tala und Kai, mit dem Geschehenen umzugehen, um so lange durchzuhalten, bis sie ihre Masken in sicherer Umgebung ablegen konnten. Sie hatten Anna Ivanov zur Notaufnahme gebracht. Nach ein bisschen Überzeugungsleistung der beiden aggressiven Jugendlichen war sie tatsächlich sehr rasch an die Reihe gekommen, auch wenn sie dafür ihre Enkel in einem privaten Moment schalt. Aber Tala und Kai war das egal – sie waren erst beruhigt, als ein Arzt ihnen bestätigte, dass es ihrer Großmutter den Umständen entsprechend gut ging und sie sich erholen sollte. Sie erhielt noch ein paar Rezepte für Blutdruckmedikamente und einige Schmerzmittel frei aufs Haus, dann wurden sie entlassen. Allerdings wussten sie nicht, wohin. In Annas Wohnung waren sie nicht sicher, von dort hatte Boris sie verschleppt. Sie würden bei Gelegenheit dort vorbeischauen, wenn sie es sich erlauben konnten, in Erfahrung zu bringen, was aus der Wohnung geworden war. Es würde das letzte Mal sein, dass Anna Ivanov sich auf russischem Boden aufhielt. Tala schwor sich, sie ein für alle Mal nach Japan mitzunehmen. Hier hielt ihn nichts mehr. „Ich habe eine alte Freundin. Bei ihr können wir sicher unterkommen“, schlug Anna schließlich vor. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zu der von ihr genannten Adresse. Während der Reise wurden die beiden Jugendlichen immer ruhiger, blieben aber wachsam. Annas Freundin staunte nicht schlecht, als sie die drei sah. Aber ohne Zögern lud sie sie in ihr Haus ein. Sofort machte sie ihnen einen Tee. Nachdem sich Tala und Kai versichert hatten, dass niemand ihnen gefolgt war, dass sie hier – vorerst – sicher waren, ließ die Anspannung nach. Das Adrenalin in ihren Adern verlor seine Wirkung und jetzt erst wurden sie sich ihrer Schmerzen und Verletzungen bewusst. Ohne Umschweife schickte Babuschka Anna ihre Enkel ins Bad. Sie sollten unter ihrer Aufsicht duschen. In der Zwischenzeit plünderte ihre Freundin – Pelageja war ihr Name[1] – ihren Medizinschrank. Sie kam mit Mullbinden und Pflastern zurück. „Pelageja war Krankenschwester. Kommt her, wir werden euch jetzt verarzten“, bestimmte Anna resolut. Sie trocknete Tala ab und zog ihm letzte Putzbrocken aus den Haaren, die er beim Waschen übersehen hatte. Derweil kümmerte sich Pelageja um Kai und tastete ihn vorsichtig ab. „Der Bluterguss ist sehr groß. Aber du scheinst nichts gebrochen zu haben.“ Sie umwickelte seinen Brustkorb mit einer elastischen Fixierbinde. Auch seine beiden Handgelenke wurden bandagiert. Tala erging es ähnlich. Einige Kugeln hatten ihn doch gestreift. Diese Fleischwunden verband Anna mit einer Kompresse und einer festen Mullbinde. Schließlich durften sich die beiden Patienten vollständig anziehen. Die beiden Frauen bereiteten ein Bett vor. Sie drückten jedem Jungen einen heißen Becher Tee in die Hand. Dann wurden sie von ihnen in die Kissen gedrückt und unter einer warmen Federdecke begraben. Weder Kai noch Tala sagten während der ganzen Prozedur ein Wort. Die erlebten Ereignisse holten sie ein. Tala hatte ein vermutlich unschuldiges Mädchen erschossen. Beide hatten blutjunge Wachen getötet, ohne groß darüber nachzudenken. Boris war tot. Kai hatte Voltaire erschossen… Beide lagen auf dem Rücken und starrten die Zimmerdecke an. Für eine sehr lange Zeit sprach keiner der beiden ein Wort, bis Kais Wispern die Stille durchschnitt: „Ich habe meinen Großvater umgebracht…“ Er klang nicht reuevoll. Er klang nicht traurig. Er klang auch nicht euphorisch. Stattdessen hatte sich eine seltsame Ruhe über ihn gelegt. Nein, Kai befand sich in einem ganz bestimmten Depressionszustand. Jenem, in dem man einfach gar nichts machen wollte. Seine Gedanken überschlugen sich, aber mit einem Mal war plötzlich Ebbe. Meistens erfüllte ihn dann ja dieser höllische Schmerz, so dass er einfach nur weinen und schreien wollte, aber er riss sich immer zusammen. Oder es erfasste ihn jener Depressionszustand, der in einem Zusammenbruch mündete. Einen solchen eben, den Tala kurz nach Annas Entführung erlebt hatte. Aber diese Seite der Depression jetzt – über die allgemein fast nie jemand sprach – die, die beide gerade durchlitten, hatten sie selten und noch nie mit dieser Intensität erfahren. Sie lagen einfach so da, hörten die gedämpften Stimmen der beiden alten Frauen aus dem angrenzenden Raum, aber hörten nicht zu. Sie hatten ein großes Loch in ihrem Innern, das sie nicht zu füllen wussten. Sie hatten ein wichtiges Etappenziel erreicht. War BioVolt jetzt zerstört? Boris und Voltaire waren es jedenfalls. Aber wie sollte es weitergehen? Doch sie waren zu erschöpft, zu müde, um irgendetwas zu tun, geschweige denn an etwas zu denken. Nicht einmal Dinge, die ihnen sonst Spaß machten, erschienen ihnen in diesem Augenblick erstrebenswert. Das einzige, was sie jetzt wollten, war, dass der Tag endlich endete und der Schlaf sie auf eine möglichst traumlose Reise schickte. Aber auch an Schlaf war nicht zu denken, denn obwohl jede Faser und jede Zelle ihres Körpers nach Erholung schrie, und sie physisch und mental völlig erledigt waren, schaffte es ihr Körper nicht, abzuschalten. Und so lagen sie da, beide in ihre Nicht-Gedanken verstrickt, verbrachten die Zeit mit Schweigen und Nichtstun und fühlten sich dabei miserabel, weil sie sich einfach so leer und deshalb gleichzeitig so schuldig fühlten. Zugleich schützte sie diese Apathie aber auch davor, tiefer in die Erinnerung an die Ermordung dieser vielen Menschen einzutauchen. Das hätten sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht verkraftet. Das einzige, was Kai noch vollbrachte, war, dass er nach Talas Hand suchte. Sofort schlossen sich bei der Berührung die Finger des Älteren um seine Hand. In stummer Eintracht harrten sie aus. Es stimmte schon, was man sagte: Stille machte die wirkliche Unterhaltung zwischen Freunden aus. Nicht etwas zu sagen, sondern nichts sagen zu müssen, war das, was zählte.     „Wie geht es dir?“ Pelageja schob eine Tasse Tee zu ihrer alten Freundin herüber. Sie hakte nicht nach, was geschehen war. Das musste sie nicht wissen. Sie hatte immerhin zwei Augen im Kopf und konnte sehen, dass die drei etwas Furchtbares durchgemacht hatten. „Ich weiß nicht… Es fühlt sich alles so unwirklich an. Wie in einem bösen Traum. Meine Jungs haben mich aus einer schlimmen Gefahr befreit… Aber zu welchem Preis…“ Liebevoll tätschelte Pelageja Annas Unterarm. Anna fuhr mit gepresster Stimme fort: „Ich möchte schreien und um mich schlagen und … und diesem Bastard den Schädel zertrümmern…“ Ihre alte Freundin wusste nur zu gut, wie ernst Anna dies meinte. Sie war sich auch mehr als sicher, dass Anna dazu in der Lage war. „… Aber … Ich kann es mir nicht leisten, jetzt zusammen zu brechen. Meine Söhne brauchen mich….“, murmelte die ergraute Rothaarige. „Wenn du das jetzt nicht rauslässt, wenn du deinen Kummer vor ihnen verheimlichst, wird das keinem von euch helfen. … Hey, du kennst mich… halt dich nicht zurück.“ Anna biss sich auf die Lippen, dann ließ sie ihren Kopf auf ihren Arm sinken und schluchzte. Sie ließ ihren Tränen jetzt freien Lauf. Sanft streichelte Pelageja ihren Rücken in kreisenden Bewegungen. Es dauerte lange, bis die Schluchzer verebbten und die Tränen versiegten. Mittlerweile flackerten die Flammen von Kerzen auf dem Tisch und ein frisch aufgebrühter Tee dampfte in einer Kanne. Als sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete und Tala in die Stube eintrat, hob Anna ihren Blick. Sie wischte sich das feuchte Nass aus ihrem Gesicht und winkte ihn zu sich. Stumm kam er auf sie zu und wie ein Kleinkind kletterte er auf ihren Schoß, schlang seine Arme um ihren Oberkörper und bettete seinen Kopf auf ihrer Schulter. Sein Alter, sein Gewicht und seine Größe waren beiden dabei egal. Im Herzen waren sie beide sehr viel jünger als in diesem Augenblick. Tala brauchte genau diese Geborgenheit in genau diesem Moment. „Schluck nicht alles runter, Yura…“, murmelte sie mit immer noch von Tränen belegter Stimme, „Du darfst auch mal weinen. Du bist stark, und du tust noch stärker, wenn du es eigentlich nicht bist. Das hast du von deinem Vater – Gott hab ihn selig.“ Sie streichelte seinen Rücken sanft, als ein Beben durch seinen Körper ging. Kurz darauf spürte sie, wie ihr Hals und Nacken nass wurden. „Lass uns zusammen ein bisschen weinen…“, murmelte Anna erstickt und hielt ihren Enkel fest in ihren Armen, während beide sich ihrer Angst und Hilflosigkeit gegenüber ihrer Überladung an Gefühlen hingaben. Ihre Körper bebten im Gleichtakt. Wie früher wiegte Anna ihren Enkel leicht hin und her, was ihm ein tröstendes Gefühl von Sicherheit schenkte. Hier in diesen unbekannten vier Wänden, in ihren Armen, nach ihrem Sieg, konnte ihm nichts mehr geschehen.   Kai indes starrte immer noch an die Decke. Er hörte die gedämpften Stimmen und die leisen Schluchzer. Obwohl er das Gefühl von Yuriys warmer Hand auf seiner vermisste, wollte er Yuriy und Anna diesen intimen Moment lassen. Es war wichtig, dass Enkel und Großmutter sich jetzt aussprachen und unter sich blieben. Abgesehen davon war er ohnehin nicht fähig, sich zu bewegen. Sein Geist machte wirre Gedankensprünge, derer er sich nicht erwehren konnte. Er sah den leblosen Körper seines Großvaters vor sich, kurz darauf die lachenden Gesichter seiner Eltern. Allerdings verblasste diese Erinnerung sehr schnell und sie wurden zu schemenhaften Silhouetten. Kai wollte diesen Tag jetzt einfach nur vergessen. Eigentlich müsste er glücklich sein. Befreit. Aber alles was er fühlte, war neben der allesumfassenden Leere nur ein Hauch von Traurigkeit. Zu seinem Glück war die Fähigkeit, etwas zu verdrängen, ein essentieller Überlebensmechanismus. Es war, als wüsste sein Körper, dass eine von Trauer und Pein geplagte Seele schneller töten konnte als jegliche physische Krankheit[2]. Daher stellte sein Körper seine Funktionen langsam ein, von außen nach innen. Da Kais Geist ihm keine Ruhe geben wollte, nutzte sein Körper eben die Ohnmacht als drastisches, aber einzig mögliches Mittel, um sich die dringend nötige Erholung zu holen, bevor Kai der wirkliche Exitus bevorstand.   Nach einer Weile verebbten die Schluchzer und auch die Tränen versiegten. Tala wusste selbst nicht, wie er die Kraft aufgebracht hatte, überhaupt aufzustehen. Er löste sich etwas aus der zusammengekauerten Haltung und sah seine Großmutter entkräftet an. Diese wischte seine Tränen mit ihren Daumen von seinen Wangen und hielt sein Gesicht dann sanft fest. „Ihr habt es geschafft. Ihr habt euch befreit. Ihr könnt jetzt anfangen, loszulassen.“ Talas Augen wurden wieder feucht. „Du weißt nicht, was wir getan haben…“ „Yura. Ich bin mir sicher, dass ihr Dinge getan habt, die ihr bereut oder bereuen werdet. Ich muss diese Dinge nicht wissen. Es sei denn, ihr möchtet darüber sprechen. Schmerzliche Dinge, die uns in der Vergangenheit widerfahren sind oder die wir getan haben, haben nie damit zu tun, wer wir heute sind. Du musst dich morgen nicht über deine Vergangenheit definieren.“ Anna streichelte zärtlich über seine Wange. Tala schmiegte sich in diese Berührung. „Moj Angelotchok… Hab keine Angst. Ich habe erlebt, wie Kinder die Einflüsse ihres bösen Erbes erfolgreich überwunden haben. Denn Reinheit ist ein angeborenes Merkmal der Seele.[3] Und ob du das glaubst oder nicht: Auch in dir und Kai steckt noch das Kind, das ihr einst wart. Und nur das bildet die Grundlage für das, was ihr bis heute wurdet, was ihr seid, und was ihr sein werdet.“[4] Darüber musste Tala freudlos lachen. „Wir hatten nicht gerade viel Kindheit. Was hat sich da wohl für ein Kind entwickelt?“ Aber Anna schüttelte den Kopf: „Solange ihr bei mir wart, konnte ich in eurem Verhalten wenig Unterschied zu anderen Kindern eures Alters ausmachen. Und vergiss nicht: An dem, was euch widerfahren ist, tragt ihr nicht die Schuld.“ Tala biss sich auf die Lippe. Anna wiederholte es: „Ihr wart unschuldige Kinderseelen. Und die habt ihr euch im Grunde bewahrt. Ihr… Ihr musstet nur leider schneller erwachsen werden als andere. Und das, mein Junge, ist meine Schuld. Nicht eure. Ich hätte das sehen müssen.“ Sie umarmte ihren Enkel ein weiteres Mal. „Ich war die Erwachsene und ich habe es zugelassen, dass du mir beinahe entglitten bist. Dabei hatte ich doch nur noch dich. Das passiert mir kein zweites Mal.“ Tala seufzte. Allerdings wurde ihre Unterhaltung unterbrochen. „Ihr solltet euch jetzt hinlegen. Es ist sehr spät geworden. Ihr müsst euch ausruhen. Erholt euch. Ihr könnt hier so lange bleiben, wie ihr möchtet. Aber aufgrund meiner Erfahrung muss ich euch sagen, dass es Zeit wird. Schlaft. Ihr werdet euch morgen besser fühlen“, meinte Pelageja. Gemeinsam mit ihrer alten Freundin schaffte sie Tala zurück ins Bett. Anschließend sorgte sie sich um Anna.   Tala hatte immer noch Schwierigkeiten, einzuschlafen. Er war so müde, jede alte und neue Wunde an seinem Körper schrie vor Schmerz. Er wusste, er müsste sich ausruhen, eine gute Mütze voll Schlaf nehmen, um sich für die kommenden Tage vorzubereiten. Denn die psychischen Nachwehen ihrer Aktion würden sie gewiss noch wochenlang heimsuchen. Aber er konnte nichts anderes tun, als wach dazuliegen, in die Dunkelheit zu starren und Kais leisen, regelmäßigen Atemzüge zu lauschen. Seinem Freund schien es leichter gefallen zu sein, heute Ruhe zu finden. Kein Wunder, da der Jüngere doch einige schwere Treffer hatten einstecken müssen. Tala konnte es immer noch nicht ganz fassen. Sollte der heutige Tag wirklich ihren Albtraum beendet haben? Noch hatten sie zwar Kais Eltern nicht gefunden, aber vielleicht könnten sie jetzt endlich mit der Vergangenheit abschließen. Tala wusste, dass seine eigenen Eltern tot waren. Ihm war nur seine Babuschka geblieben. Daher wünschte er sich für Kai, dass dieser seine Eltern finden würde. Manchmal hatte er schon seine Zweifel gehabt. Aber Kais Glaube daran, dass sie noch lebten, war so inspirierend, dass es einfach wahr sein musste. Früher hatte er Kai manches Mal um seinen Glauben beneidet. Denn diese Überzeugung hielt für Kai ein so tiefes Grundvertrauen in sich und seine Fähigkeiten bereit, dass sie zu seiner grundeigenen Kraftquelle wurde und ihn deshalb in der Abtei immer wieder hatte aufstehen lassen. Tala drehte sich auf die Seite und betrachte seinen besten Freund, dessen Umrisse er nur schemenhaft im Dunkeln ausmachen konnte. Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn: Wie Kai von einem Geschoss getroffen wurde und in Zeitlupe fiel und nicht wieder aufstand. Er hätte heute seinen besten Freund verlieren können. Oder seine Babuschka. Oder beide. Hätten die Wachleute nur ein bisschen besser gezielt, ein bisschen mehr Erfahrung gehabt; wenn sie zum Kopf gezielt hätten statt auf die Brust… Aus einem Impuls heraus hastete er nach vorn, umklammerte Kais schlafenden Körper und hielt ihn fest. Erst, als er den regelmäßigen Herzschlag in dessen Brust hörte, das Pochen tatsächlich spürte, beruhigte sich auch sein eigenes. Mit der Gewissheit, dass sie beide lebten, und Kais Geruch von „Zuhause“ in der Nase, schaffte Tala es endlich, auch einzuschlafen.     ~*~     „Hör zu, Yura. Vielleicht…“, fing Kai an, unsicher, wie er fortfahren sollte. „Wir sollten meine Suche aufgeben“, meinte er dann mit überzeugenderer Stimme. „Was? Warum?!“ Dieser plötzliche Ideologiewechsel irritierte Tala zutiefst. Sie waren gerade dabei, eine kleine Reisetasche zu packen. Die Rückkehr nach Kyoto stand kurz bevor. Sie hatten die Gastfreundschaft von Annas Freundin nun lange genug ausgenutzt. Ihre Wunden waren verheilt – zumindest äußerlich. Kai stoppte in seinem Tun und hob entschlossen den Blick. „Der Beinahe-Verlust von Babuschka – das war unerträglich. Und … Wie oft hätte ich dich schon bei diesen wahnwitzigen Aufträgen verloren! Nein… ich will das nicht mehr. Vielleicht sollten wir uns auf das konzentrieren, was wir haben. Neu beginnen.“ „Aber Kai!“ „Nein, Yura. Wir können nicht das opfern, was uns lieb und teuer ist, für einen … einen utopischen und albernen Traum. Von dem ich nicht mal weiß ob er wahr ist oder meiner Fantasie entspringt. Ich… ich könnte es nicht ertragen, dich oder Babuschka oder Lin zu verlieren.“ Vielleicht war es damals doch alles Einbildung gewesen, dass er in dieser einen Nacht seine Eltern gesehen hatte. Er war ein Kind, er war zutiefst traumatisiert. Vielleicht hatte er sich aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung die Worte und Berührungen seiner Eltern nur eingeredet, vielleicht war das alles nur Phantasie gewesen, um alles zu verarbeiten und um überhaupt in der Lage zu sein, nach dem frühkindlichen Schicksalsschlag weiterzuleben. „Sag mal… erlebe ich gerade ein Déjà-vu oder…? Diese Unterhaltung hatten wir doch schon mal vor gar nicht allzu langer Zeit!“ Tala wusste ganz genau, dass er Kai schon in ihrem Urlaub in Kroatien den Kopf deswegen wieder zurecht gerückt hatte. Ebenso wusste er, dass Kai entgegen seiner Worte ein kleines Quäntchen Hoffnung nicht aufgeben würde, dass seine Eltern noch lebten und dass er sie finden würde. Aber Kai lächelte ihn ruhig an. „Ich habe nicht vergessen, was du mir damals gesagt hast. Aber ich muss Prioritäten setzen.“ Der Blaugrauhaarige ging um das Bett herum auf Tala zu und nahm seine Hände in die eigenen, drückte sie fest: „Ich liebe dich dafür, dass du einfach ignorierst, dass ich ein Narr oder Schwächling sein könnte, und fest an das Gute in mir glaubst.[5] Und deshalb brauch ich dich noch. Du darfst mich nicht allein lassen. Ich brauche dich zum glücklich sein. Du bist doch mein Ein und Alles. … Ich brauche dich zum Leben!“ Wie elektrisiert stand Tala da und wusste nichts darauf zu antworten. Er spürte etwas in seinem Inneren aufflammen, konnte dieses Gefühl in seiner Substanz und Bedeutung aber zunächst kaum erfassen. Kai strahlte in diesem Moment Selbstvertrauen und Zuversicht aus. Und… ~Was du da fühlst, ist Glück, du Muskopf!~ Hatte sein Bitbeast Recht? Dann bestand wohl sein höchstes Glück im Leben in dem Wissen, dass er geliebt wurde. Nicht nur von seiner Babuschka, sondern auch von Kai. Ja, natürlich, das hatte Kai schon oft bewiesen, aber… dieses Urvertrauen, das er ihm entgegenbrachte, und diese… Selbstaufgabe… Immerhin gab Kai seinetwegen seinen größten Traum auf, der ihn während der Jahre in der Abtei am Leben gehalten hatte. Als könnte Kai seine Gedanken lesen, packt er ihn zuversichtlich an den Schultern und schüttelte ihn kurz. „Du warst es, auf den ich mich immer verlassen konnte. Du hast für mich dein Leben gegeben. Du hast dich mir und meiner fixen Idee verschrieben und standst immer hinter mir. Und… Hey, wage es nicht, jetzt zu weinen! Wir sind starke Menschen und wir weinen nicht, wenn wir Probleme haben!“ Tala lachte auf. „Oma hat gesagt, wir dürfen das“, meinte er und wischte sich verstohlen über die Augen. Mittlerweile fiel auch Kai das Sprechen schwer. Seine Stimme klang spröde, als er fortfuhr: „Du hast mir Kraft gegeben, als ich meinen Glauben verloren hatte. Vielleicht leben meine Eltern noch. Aber dann ist es jetzt an ihnen, mich zu finden. Ich will nicht das verlieren, was mir am wichtigsten ist. Я клад нашла, Он носит твоё имя.[6]“ „Oh Kai, du blöder Softie, jetzt hör aber auf!“ Tala boxte seinen Freund. Er war gerührt und auf peinliche Art ergriffen. „Aber die Message ist angekommen?“ Ja, die Message war angekommen. Die Liebe, die Tala fühlte, die an ihn gerichtet war, legte sich wie ein warmer Mantel um sein Herz, und hielt die Kälte, die sich dort immer wieder sporadisch einnisten wollte, erfolgreich auf Abstand. Tala nickte. Dann zog er Kai in eine innige Umarmung. „Ich danke dir. Dennoch solltest du deine Einstellung noch mal überdenken. Sonst haben wir uns den Namen als кровавыа война ganz umsonst gemacht.“ Er hielt ihn eine Armlänge auf Abstand. „Und! Ich hätte mir von diesem vermaledeiten Bullen ganz umsonst den Hintern blau treten lassen! Ganz zu schweigen von der Sache, über die wir nicht mehr reden, die aber mit dem Kuhnapping zu tun hatte!!“ „Du meinst das Bullensper-“ „DARÜBER REDEN WIR NICHT MEHR! NIE WIEDER!“ Kai lachte. Tala hatte ihn losgelassen und war mit Fingern in den Ohren aus dem Raum gelaufen. Irgendwie war es ein Wunder, dass sie beide trotz ihrer Erlebnisse noch immer lachen konnten. Ebenso, dass sie aus einer eigentlich ernsten Angelegenheit eine erheiternde Situation schaffen konnten. „Na, hier ist ja eine Stimmung bei euch! Habt ihr fertig gepackt?“ Müde, aber ebenfalls schmunzelnd, kam Anna in das Gästezimmer. „Wie macht Yura das immer? Egal, wie niedergeschlagen ich war, er hatte immer den passenden Spruch auf den Lippen – er weiß immer, was zu tun ist, damit ich mich besser fühle.“ „Na, ihr seid euch eben nah. Ihr seid beste Freunde. Freunde haben immer etwas, was dir fehlt, wie z. B. Optimismus. Ihnen verdankst du das Gefühl, dass alles gut wird mit der Welt, solange sie in deiner Nähe sind.[7]“ Dem konnte Kai nur zustimmen. Er wurde von Anna liebevoll umarmt. Dann strich sie ihm ein paar widerspenstige Fransen hinter die Ohren. „Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob du deines Großvaters Erbe antreten wirst?“ Kai zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Gleichgültig schulterte seine und Talas Reisetasche und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Wenn… falls er mich in seinem Testament berücksichtig hat… Darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn es soweit ist.“ Sie hatten in den letzten drei Wochen so gut wie keine Nachrichten gesehen, einzig Pelageja hatte hin und wieder etwas aufgeschnappt. Sie wussten nicht, inwieweit Voltaires und Boris‘ Ableben an die Öffentlichkeit gelangt war. Allerdings waren sie sich bei Boris nicht ganz sicher, ob er wirklich in die ewigen Jagdgründe eingegangen war. „Wir hätten uns vergewissern sollen, dass seine rechte Hand auch definitiv tot ist. Nachher kriegt er noch die Schlüsselgewalt über Voltaires Nachlass“, sinnierte Kai leise vor sich hin. „Den Gefallen eines Gnadenstoßes wollte ich ihm nicht tun“, knurrte Tala, die Wut aber gegen ihren ehemaligen Gaspadin gerichtet. „Beeilt euch. Sonst kriegt ihr euren Zug nicht mehr.“ Die drei bedankten und verabschiedeten sich von Pelageja, unter dem Versprechen, dass sie sie unbedingt einmal in Japan besuchen musste. Dann traten sie im Schutze der Abenddämmerung die Heimreise an.   [1] Pelageja ist die russische Form von Pelagia. Pelagia bzw. Pelageja bedeutet "Frau vom Meer" [2] © „Eine traurige Seele kann einen schneller töten, viel schneller, als ein Krankheitskeil.“ (John Steinbeck) [3] © Oscar Wilde [4] © „In uns allen steckt noch das Kind, das wir einmal waren. Dieses Kind bildet die Grundlage für das was wir wurden, was wir sind und was wir sein werden.“ (Dr. Rhawn Joseph) [5] © Roy Croft. [6] Я клад нашла, Он носит твоё имя. – Ich habe einen Schatz gefunden, und er trägt deinen Namen. [7] © Bessie Head. Kapitel 45: Mea culpa - Meine Schuld ------------------------------------     When people ask you what happened here, tell them the Wolf remembers. Tell them winter came for Balkov Abbey. — Tala Ivanow             Sie reisten mit dem Zug. Manchmal war der Weg das Ziel. Es war zumindest unauffälliger. Ihr Waggon war relativ leer. Anna Ivanow war eingeschlafen. Während der Zugfahrt nach Hause wollte Kai sich auf die Ankunft in Kyoto vorbereiten und hatte sein Handy wieder angeschaltet, das er während der gesamten Rettungsaktion ausgeschaltet hatte. „Fuck, ich hatte die Rufumleitung in meinem Privathandy drin!“ „Wohin hat es denn umgeleitet?“ „Auf mein ‚Diensthandy‘!“ Sofort prüfte Kai, ob ihn jemand angerufen hatte. „Ray. Er hat es ein paar Mal versucht, aber keine Nachricht hinterlassen. Ich hab einige SMS vom Team bekommen.“ Tala beugte sich vorsichtig nach vorne, um seine schlafende Babuschka nicht zu wecken. „Lies vor.“ Kai öffnete seinen Nachrichtenordner. Nacheinander las er die Nachrichten vor, wie sie eingetroffen waren.     „Montag, 11:43 [Chef]: Hey Kai. Wie sind die Kurse? Ich hoffe, ihr lernt viel. Wie bereiten die euch denn auf die Uni vor? Erzähl doch mal! Kenny.“     Tala nickte. Sie hätten vielleicht eher mal ein Lebenszeichen von sich geben sollen, aber sie hatten andere Sorgen gehabt.     „Donnerstag, 14:52 [Minimum]: Kai, ich hoffe, du und Tala habt eine gute Zeit. Sag Tala bitte, dass es mir Leid tut, ich wollte ihn nicht beleidigen. Sicher ist er einer der besten in euren Kursen. Bye, Max“     Mit einem ärgerlichen Brummen quittierte Tala diese Nachricht. „Was für ein Schleimer“, schnaubte er. Der Disput am letzten Tag im Garten der Bladebreakers-WG war noch immer nicht gänzlich vergessen. Kai ignorierte Talas Einwand und las weiter:     „Freitag, 17:03 [Nervenzwerg]: Hey. Meld dich mal wieder. Wir vermissen dich. Ich vermisse dich. Mit wem soll ich mich denn sonst zoffen? … Schreib mir bitte mal. Tyson“     Kai hielt inne. Das war unorthodox für Tyson. Er verspürte ein Gefühl, was stark in Richtung Vermissen ging, und einen Hauch von Reue. Sollte der quirlige Japaner es tatsächlich geschafft haben, sich irgendwie einen festen Platz in Kais Herzen zu erschleichen…?     „Montag, 06:12 [SamuRay]: Ich habe dich so oft versucht anzurufen. Du gehst aber nie ran. Außerdem hast du eine sehr merkwürde Mailbox. Jedenfalls: Lin fragt nach dir. Ich hoffe, ihr meldet euch irgendwann mal. Ray“     „Dienstag, 12:20 [SamuRay]: Hey, noch mal ich. Ich hoffe, ihr seid nicht sauer auf Max. Oder mich. Wir machen uns einfach nur Sorgen. LG Ray“     „Ray ist ziemlich hartnäckig“, meinte Tala und deckte ihre Babuschka mit seiner Jacke zu. Leider waren alle altmodischen Schlafwagen ausgebucht gewesen. Kai war gerade sehr froh, dass sie während ihrer Erholungszeit bei Annas Freundin, währenddessen sie sich gegenseitig ihre Wunden geleckt hatten, Zeit gefunden hatten, seinem Team wenigstens eine erklärende Email zu schicken. Glücklicherweise hatte Sergej ihnen dabei geholfen, so dass wenigsten an der Front die Wogen ein wenig geglättet waren. Die SMS waren zum Glück älter, so dass man ihre Mail als Antwort darauf verstehen konnte. Der Blaugrauhaarige seufzte schwer. Die hohe Nachfrage nach ihnen machte ihm zu schaffen. Es war anstrengend. Und langsam verlor er den Überblick über die Ausreden und Lügen, die er in Bezug auf ihr Doppelleben bereits erzählt hatte. Kai steckte sein Handy wieder ein und kontrollierte ihren Fahrplan. Es waren noch 3 Stunden bis zu ihrer Haltestelle. „Können wir noch mal durchgehen, was wir – bzw. was ich mache, wenn wir auf mein Team treffen? Lass uns auch noch mal den Zeitplan prüfen, an dem du dich orientierst, um unsere gefälschten Universitätsnachweise zu erstellen.“ Und danach war Zeit für ein Nickerchen…       ~*~     Ein ohrenbetäubender Alarm schrillte mitten in der Nacht los. Kenny landete unsanft auf seinem Hosenboden. Dizzys Alarm hatte er vielleicht etwas zu laut eingestellt. „Is‘ ja schon gut, hör auf zu plärren!“ „Du wolltest benachrichtigt werden!“, entgegnete die Computerstimme unter lauten Sirenengeräuschen und Tröten. „Geht’s noch, Kenny, was soll das?!“ Ray und Max standen in der Tür. Max rieb sich müde die Augen, Ray war alarmiert. Endlich schaffte Kenny es, den richtigen Knopf für Ruhe zu drücken. „Scheint, als ob wir eine E-Mail bekommen haben!“ Ray war sofort hellwach. Diesen Erinnerer hatte Kenny nur dafür eingerichtet, wenn sie eine Nachricht von Kais Mailadresse bekamen. Er schloss die Tür leise hinter sich. Tyson schlief noch seelenruhig in seinem Bett, denn er hatte trainiert. Das tat er jetzt umso intensiver, er wollte Kai beweisen, dass er vernünftig sein konnte – er wollte, dass sein Leader stolz auf ihn war. Aber sein Einsatz forderte einen Tribut. Selbst eine ganze Nashornherde hätte ihn jetzt nicht aufwecken können. Zu dritt setzten sie sich also um Kennys Laptop auf dessen Bett. Den Text, den Dizzy vorlas, lasen sie mit:       Hey Leute. Tala und mir geht es gut. Entschuldigt die lange Funkstille. Erstens sind die Aufgaben wirklich anspruchsvoll und daher zeitaufwändig. Zweitens ist die Ausstattung der Uni eher mittelmäßig. Immerhin gibt es einen Computer-Pool. Wir lernen hier unter anderem, wie man lernt. Es gibt einen Kurs im Methodentraining sowie einen Kurs für wissenschaftliches Arbeiten allgemein. Wir dürfen uns auch verschiedene Vorlesungen ansehen. Tala interessiert sich für eine Einführungsvorlesung zur mittelalterlichen Geschichte. Ich habe mich für eine juristische Vorlesung entschieden, um einfach in so viele Bereiche wie möglich zu schnuppern. Außerdem besuchen wir beide ein Hauptseminar mit dem Titel „Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit im ausgehenden Zarenreich 1861-1914“. Entgegen Max‘ Meinung laufen die Sprachkurse erstaunlich gut, soll ich euch von Tala sagen.   In zwei oder drei Wochen kehren wir wieder zurück. Ich habe hier noch eine Angelegenheit zu klären. Ich weiß nicht, inwieweit ihr es mitbekommen habt, aber Voltaire hatte wohl so etwas wie einen Unfall und seine Anwälte haben mich kontaktiert. Was genau sie von mir wollen, entzieht sich meiner Kenntnis.   Sagt Lin, dass ich sie vermisse. Wir sehen uns. Kai.         „Huh.“ Rays Blick wanderte wiederholt über die Zeilen. Irgendwas an der Art wie Kai schrieb, machte ihn skeptisch, aber… wenn er so drüber nachdachte, war Kais Schreibstil schon immer merkwürdig gewesen. Vielleicht war es, weil er meist wenig redete und selten Email an sie schrieb. Die wenigen SMS, die sie von ihm erhielten, enthielten meist kurze und bündige Aufforderungen wie „Bring Milch mit“ oder „Training heute um fünf“. „Na, das klingt doch gut, oder?“, freute sich Max verhalten, „Aber Tala scheint mir noch nicht verziehen zu haben. Oh man, wie oft muss ich mich noch entschuldigen?“ „Tala ist ein ziemlich stolzer Typ. Da musst du wohl noch länger zu Kreuze kriechen“, meinte Dizzy. Kenny tippte sich ans Kinn: „Also stimmt es, was in den Nachrichten war. Allerdings ist es komisch, dass Kai nicht erwähnt, dass Voltaire tot ist.“ „Vielleicht ist er nicht tot? Der ganze Vorfall war ja alles sehr verdächtig…“ Max zuckte mit den Schultern. „Wir können ihn ja fragen, wenn Kai wieder da ist.“ Ray sah ihn ernst an: „DU fragst ihn nicht, dein Taktgefühl gleicht einem Nilpferd beim Ballett.“ Max wollte protestieren, aber sein Blick fiel erneut auf die Erwähnung seines Namens in der Mail und er verstummte. Kenny klappte seinen Laptop zu und klatschte in die Hände: „Lasst uns Lin und Tyson morgen davon erzählen. Die Nachricht wird sie sicher freuen.“         ~*~       „Du hast versucht, es ihm auszureden?“, fragte Anna Ivanow, während sie auf dem kargen Flur eines Notarbüros saßen und warteten. Tala zuckte mit den Schultern: „Ja. Hat nicht funktioniert.“ „DAS sehe ich!“, äußerte seine Oma sarkastisch und verdrehte ihre Augen. Kai war allein in die Höhle der Löwen gegangen, wie Tala meinte, denn die Anwälte und Nachlassverwalter von John Hiwatari hatten ihn dringlich gebeten, zur Testamentseröffnung zu kommen. Es war ausdrücklich beim Notar vermerkt, dass die letzten lebenden Blutsverwandten allein zur Testamentseröffnung kämen. Kai war jetzt schon zehn Minuten in dem Büro. Ein gefundenes Fressen, so ein Jugendlicher ohne Obhut eines Erwachsenen. „Weißt du, was sie immer als Moral in den alten Samurai-Filmen gesagt haben?“, fragte Anna plötzlich in die angespannte Warteatmosphäre hinein. Fragend sah ihr Enkel sie an. „Man soll niemals ein Schwert aus Wut oder Rache benutzen. Denn eine blutige Klinge richtet sich immer gegen dich selbst.“ Tala starrte wieder auf Bürotür. „Wenn wir das Schwert jetzt nicht geschwungen hätten, hätte es uns irgendwann gerichtet. Und theoretisch führe ich diese Klinge ja dann immer noch. Dann habe auch immer noch ich die Entscheidungsgewalt über sie. Ich kann mit der auf mich gerichteten Klinge leben.         ~*~         Es war schon dunkel, als sie endlich in Kyoto ankamen. Ihr erster Stopp auf japanischem Boden war in Kais altem Elternhaus. Die Reise mit unterschiedlichen Zwischenstopps war aufreibend gewesen. Tala und Babuschka richteten sich häuslich ein, während Kai auf der Einfahrt auf seinem Koffer saß und das Haus anstarrte. Er fühlte sich irgendwie schwerfällig. Sein Kopf spannte, seine Stirn fühlte sich an, als zöge er ständig die Augenbrauen zusammen. „Hey... Meinetwegen können wir“, meinte Tala und stupste ihn an der Schulter an. Kai war dankbar, dass sein Freund ihn zur WG begleitete. Obwohl er sich einerseits auf die Gesichter seiner Teamkameraden freute, sträubte sein Innerstes sich, zurückzukehren und sich möglichen Fragen auszusetzen. Einerseits wollte er in die Sicherheit und die Abkehr des Grauens abtauchen, und sich weit weg von Blut und Gewalt über den Alltag ärgern, andererseits war genau das der Grund, warum er sie nicht treffen wollte. Je mehr zeitlicher Abstand zu den Ereignissen in Moskau entstand, desto häufiger sah er das Blut vor seinem inneren Auge, wenn er diese schloss. Besonders das inkarzerierte Mädchen ließ die Schuldgefühle bei ihm ins Unendliche schießen. Kai seufzte und stand von seinem Koffer auf. „Kann losgehen.“     Leise drehte Kai den Schlüssel im Schloss herum. „Gratuliere! So früh wie heute sind Sie noch nie zu spät gekommen!“, hallte Tysons fröhliche Stimme über den Flur, Mr. Dickenson erwartend. Das fröhliche Getrappel erstarb jäh, als Tyson im Flur ankam und nicht Mr. Dickenson erblickte. „Kai?“, stammelte er überrumpelt. „…und Tala. Hallo, wir sind wieder da“, erwiderte Tala flach und schob Kai ins Haus. Er stieß ihm sanft in die Seite und Kai riss sich zusammen. „Oh mein Gott, Kai!“ Tyson rannte auf ihn zu und zog ihn in eine feste Umarmung. Er schien ihn gar nicht loslassen zu wollen. „Uhm, Tyson… nicht soo fest!“, keuchte Kai etwas erstickt, und hielt sich im nächsten Moment schmerzvoll das Ohr, als Tyson mit Inbrunst durchs ganze Haus schrie: „KAI IST WIEDER DA! LEUTE!!!“ Kurz darauf fand Kai sich umringt von seinen Teamkameraden wieder. Jeder von ihnen wollte sich überzeugen, dass er es wirklich war. Sie brabbelten alle durcheinander. Tala war in einer Ecke abgedrängt worden. Der Rotschopf nahm sein Schicksal an und brachte in der Zeit Kais Koffer aufs Zimmer. „Wo ist Lin?“, fragte Kai endlich, nachdem er nun wirklich jeden einmal umarmt hatte. Nur das Mädchen fehlte. Es öffnete sich eine Schneise für ihn, an deren Ende Lin stand. Sie sah ihn an, biss sich auf die Lippen und als Kai sie anlächelte und etwas die Arme ausbreitete, damit sie zu ihm kam, drehte sie auf dem Absatz um und rannte in die Küche, wo sie sich versteckte. Das schmerzte Kai sehr. „Was… was war das denn?“ Ray legte eine Hand auf Kais Rücken und führte ihn ins Wohnzimmer. „Sie fremdelt vielleicht etwas. Oder ist eingeschnappt. Du warst lange weg. Ich glaub, das ist normal. Mariah hatte das auch damals mit Lee.“ „Kai! Jetzt sag doch mal!“, hibbelte Tyson aufgeregt, „Was ist passiert in der Abtei? Wer ist gestorben, hast du das gehört? Warst du dabei?“ Kai zuckte zusammen bei der letzten Frage. Ray sah Tyson strafend an. „Wir haben doch über Taktgefühl gesprochen!“, zischte der Chinese den Japaner an. „Oh…Entschuldige“, murmelte Tyson ertappt und setzte sich ruhiger auf einen sTuhl. „Nein, mir tut es leid“, fing Kai an, der in seinem Sessel Platz genommen hatte. „Es tut mir leid, dass es länger gedauert hat in Russland. Ich musste Voltaires Erbe antreten. Voltaire und Boris sind beide tot. Und zu deiner letzten Frage, Tyson: Ich war nicht dabei. Aber… Lass es mich so sagen: Wenn mein Großvater ertränke, nähme ich einen Klappstuhl und sähe zu.“ „Du klingst grausam, Kai. Er war immer noch dein Großvater“, warf Ray vorsichtig ein. Es überraschte ihn, dass Kai scheinbar so freimütig über dieses wichtige Ereignis sprach. „Manchmal ist es schwer, Familie zu haben. Blut ist nicht dicker als Wasser, wisst ihr.“ „Ja, aber manchmal ist es auch schwerer, keine zu haben“, entgegnete Ray hartnäckig. „Kai, aber… magst du vielleicht erzählen, was passiert ist? Wie hast du von seinem Tod erfahren?“, fragte nun Max. „Ja, das, oder wenn du darüber nicht sprechen möchtest, erzähl uns von euren Erfahrungen an der Universität? Was habt ihr genau gemacht? Was habt ihr gelernt? Kann man an Universitäten auch Bladen? Und ja, eigentlich interessiert es mich auch brennend, wie Boris und Voltaire gestorben sind…“ Tysons Fragenbombardement brachte eine typische Kai-Reaktion hervor: „Kann ich dein Schweigen mit Tomaten erkaufen? „Wie, zum Essen?“, fragte Tyson irritiert. „Wenn du sie fangen kannst, während ich dich damit bewerfe!“ Die leichte Drohung ließ die Freunde kurz auflachen. Kais brummiger Ton zeigte ihnen, dass er immer noch der Alte war – zumindest oberflächlich. Durch das Lachen angelockt näherte sich nun auch Lin langsam der Gruppe Jungen. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kai das und atmete innerlich erleichtert auf. Immer noch neugierig ruhte der Blick aller auf ihm. Er stieß hörbar besiegt die Luft aus. „Es war wohl ein Unfall. Wenn ihr euch an unsere erste Weltmeisterschaft erinnert: Die Starter, Talas Verschwinden… Es gab verschiedene Experimente unter den Gewölben der Abtei und scheinbar ist … irgendwas schief gegangen. Die Abtei ist zum Teil explodiert.“ Kai hielt sich relativ eng an die Wahrheit. Das machte das Verschweigen einfacher. „Bei dieser Explosion muss Boris gestorben sein, so wie ich das verstanden habe. Trümmerteile haben Voltaire unter sich begraben. Auch er ist also dort gestorben.“   Während er redete, kroch Lin leise und langsam auf seinen Schoß. Ihre schlanken Arme schlangen sich fest um seinen Oberkörper, sie verbarg das Gesicht an seiner Brust und drückte sich einfach nur fest an sich. Kai erwiderte die Geste und legte beide Arme um sie, hielten sie. Instinktiv drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel. Plötzlich überkam ihn eine Erinnerung an seine Eltern. Er spürte ein Zittern durch seinen Körper ziehen, rief sich aber innerlich zur Ruhe. „Warum…  kannst du das so ruhig erzählen? Ich weiß, du hast ihn gehasst… Aber… ich kann mir nicht vorstellen… Ich meine, wenn jemand stirbt, mit dem man verwandt ist, dann… trauert man doch? Irgendwie?“ Kai unterdrückte den Impuls, zu lachen. „Trauern? Ich jubiliere.“ Seine Hände, die vor nicht allzu langer Zeit noch jemandem den Hals umgedreht hatten, streichelten nun den Kopf eines kleinen Mädchens und das so zärtlich, dass man glauben könnte, er könnte nie jemandem etwas zuleide tun. Er konzentrierte sich auf die Berührung, um nicht durchzudrehen. Erinnerungsfetzen ziepten an seinem Verstand. Er wusste, dass ihn gerade eine körperliche Erinnerung zu packen versuchte. Das waren ihm die leidigsten: Körperliche Erinnerungen bedeuteten, dass man die Erinnerung spürte, so als ob man es just in dem Moment noch einmal erlebte. Sein Blick suchte Talas, der an der Wand lehnte.   „Может быть, пришло время рассказать им сейчас.“[2] Kai nickte seinem Freund zu. Er atmete tief durch. „Ihr scheint nicht zu verstehen, warum ich kein familiäres Verhältnis zu meinem Großvater habe. Er war nie ein Großvater, wie ihr das kennt, und mit deinem Opa, Tyson, in keinem Fall zu vergleichen.“ Kai wappnete sich. Ray sah, wie Kais Hand sich öffnete und schloss und die Knöchel dabei weiß hervortraten. „Bis zu meinem 5. Lebensjahr lebte ich nur bei meinen Eltern, Sophia und Alexander Hiwatari. Erst dann lernte ich meinen Großvater kennen. Meine Eltern waren in eine Organisation verwickelt oder so etwas. Ich hab das damals schon nicht verstanden. Und weil sie deswegen oft weg waren und ich noch so klein war, mussten sie mich auch irgendwo unterbringen. Und was lag da näher als mein...“   Er atmete tief ein und aus. Der Schwarzhaarige sorgte sich. Vielleicht hatte die Todesnachricht doch mehr in Kai aufgewühlt als der Halbrusse zugeben wollte?   „… als mein Großvater?! Na ja, Voltaire war der Vater meines Vaters. Und der Leiter der Abtei, wie ihr wisst, in der ich dann unterkam. Es war zwar immer nur für eine kurze Zeit, in der ich bei ihm war; meine Eltern holten mich immer wieder nach Hause. Und das war auch der einzige Grund, warum ich dort blieb: Ich wusste, dass sie mich holen, und das war das Schönste an der Zeit in der Abtei.“   Sein Herz klopfte schneller. Lin schien das aufzufallen, sie hob fragend den Kopf und legte ihr Ohr dann wieder auf seine Brust.   „Ich war nie gern bei ihm, meinem Großvater, es war immer so furchtbar dunkel in seiner Abtei. Das mochte ich gar nicht. Und es war so... überfüllt. Denn viele Schüler arbeiteten in der Abtei... Ich hatte bis zu einem gewissen Datum nur gedacht, es wäre eine normale Trainingsinstitution, in der Kinder völlig verschiedenen Alters mit ihren Beyblades üben... Meistens waren sie zwischen neun und 21 Jahren, die jüngsten vielleicht acht.“ „Aber das war sie eben nicht“, warf Tala von der Wand her ein und verschwand in der Küche. Er brauchte einen Drink. Und Kai würde auch einen brauchen. Kai fuhr langsam fort: „Je öfter ich bei ihm war, desto mehr gewöhnte ich mich an das dunkle Gemäuer, an die Schüler, die vielen Jungen und Mädchen, die mir so viel älter erschienen, und an der rauen Umgangsform, die dort herrschte. Voltaire band mich in das Training ein. Er wusste, woher auch immer, dass ich das Bladen mochte. Und er erkannte recht schnell mein Potenzial dafür. Er ließ mich jeden Tag härter trainieren und auch jeden Tag länger. Ich bemerkte nicht, wie oder dass ich mich veränderte. Doch meinen Eltern fiel es auf...“ Er schwieg kurz, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er weiter sprach: „Ich erinnere mich noch daran, wie meine Eltern mich ... das letzte Mal... nach Hause holten. In der ersten Woche musste ich mich erst wieder an das Licht und die Wärme gewöhnen.“   Es war Wärme, die ihm seine Eltern gegeben hatten. Kai wusste nicht, wie er seinen Freunden das verständlich machen sollte. Er rang nach passenden Worten.   „Die Dunkelheit in der Abtei war oder ist nicht grundsätzlich von der Helligkeit im Gebäude abhängig. Wenn du drin bist, konfrontieren die Wächter dich mit einem täglichen Verhör. Läufst du kurz über den Flur, ohne Grund, wirst du sofort verdächtig, irgendetwas, egal was, Verbotenes zu tun. Boris Balkov, der Chef-Trainer, er, der über allen anderen steht, sagt dir was und du hast es auszuführen. Sein Wort ist Gesetz und wenn du dich sträubst, dich wehrst, dann wirst du wegen Ungehorsam bestraft.“   Er war ins Präsens gefallen, als ob er wieder alles erlebte, was ihm damals geschehen war. Es war ein Indiz dafür, dass seine Vergangenheit ihn noch immer nicht losließ und ihn gefangen hielt. Die Ereignisse in Moskau hatten alles wieder aufgewühlt. Ein kurzes Zittern seiner Stimme war zu hören, doch nur kurz.   „Wenn... Wenn du Glück hast, musst du draußen deine Runden ablaufen, das konnten bis zu 50 werden... Oder du wirst geschlagen, meistens mit der Hand. Oder einmal, das weiß ich noch, da wurde ich mit den schweren Handschuhen meines Großvaters geschlagen...“   Tyson schnappte erschrocken nach Luft. Keiner der Anwesenden konnte sich die Grausamkeit vorstellen, die wirklich dort geherrscht haben musste. Aber allein der Gedanke daran, wie es wäre, in der Abtei aufgewachsen zu sein, schnürte ihnen die Luft ab.   „Wenn du aber Pech hast oder Voltaire und Boris schlecht drauf sind, wirst du ‚aus Züchtigungsgründen’ mit Gürteln oder anderen Lederriemen regelrecht verprügelt, indem ein Wärter oder Boris selbst diese wie Peitschen kraftvoll auf deinen entblößten Rücken niedersausen lässt.“   Der kleine Körper auf ihm zuckte leicht zusammen und bebte. Lin drückte sich enger an Kai. Seine Berichte erinnerten sie an ihre eigene Vergangenheit; sie konnte seine Erfahrungen nachvollziehen. Kai spürte ihr Zittern, aber er konnte nicht aufhören zu reden. Die Worte mussten raus, seine Geschichte wollte jetzt erzählt werden.   „Oder du musst dich bis auf Kleidungsstücke, die Boris bestimmt, ausziehen und in einer Kälte von bis zu zweistelligen Minusgraden, bei jedem Wetter, sogar bei Ankündigungen von Schneestürmen, so und so viele Runden laufen, weil Boris dich ‚zum Trainieren’ nach draußen schickt... So war es eben und es ist mit Sicherheit noch immer so.“ „Wenn die Abtei nicht jetzt abgefackelt wäre“, ergänzte Tala. Sie tauschten Blicke aus. Kai griff zu einem Glas Wasser und nahm einen Schluck. Er erinnerte sich, was er eigentlich erzählen wollte und räusperte sich. Hart stieß er die Luft aus.   „Jedenfalls... Nach dieser Woche, in der ich mich wirklich so benommen hatte, wie Voltaire es sich vorstellte, schlugen meine Eltern vor, in einen Freizeitpark zu gehen.“ Kai erinnerte sich, wie aufgeregt er gewesen war, denn er war noch nie dort gewesen. „Am Abend davor hörte ich meine Eltern über mich sprechen. Meine Mutter sagte, dass ich mich verändert hätte. Ich wäre ruhiger geworden, stiller. Mein Vater meinte, dass er sich nicht wundern würde, wenn ich Wunden oder Narben von ‚Züchtigungen’ besäße.“ Er sah kurz zu Boden, wollte sich keine Blöße geben, doch jetzt war es zu spät und er konnte ihnen getrost die ganze Wahrheit sagen. „Ich bin... weinend ins Wohnzimmer gekommen, in dem meine Eltern saßen, und habe sie gefragt, ob sie mich nun nicht mehr ‚lieb haben‘ würden.“   Seine Mutter zog ihn zu sich auf ihren Schoß und strich ihm durchs Haar, so wie sie es immer getan hatte, um ihn zu trösten. Seine Eltern verneinten beide seine Frage und ihre Versicherung beruhigte ihn, so dass er sich an seine Mutter schmiegte. Irgendwann dann musste er wohl eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen war er im Bett seiner Eltern aufgewacht. Anscheinend hatten sie ihn hochgetragen...   Kai war zu diesem Zeitpunkt noch keine sechs Jahre alt gewesen, hatte aber in diesem einen Jahr mehr Zeit bei seinem Großvater als mit seinen Eltern verbracht. Wieder hielt er inne. Die Erinnerung schmerzte, obwohl oder gerade weil sie so schön war. „Wir gingen dann wirklich in einen Vergnügungspark. Wir hatten so viel Spaß! ... Mein Vater musste mit mir neun Mal in fünf verschiedene Achterbahnen, nachher war ihm speiübel...“ Er lächelte. „Mama ist mit mir in eine Wildwasserbahn und auf das Riesenrad gestiegen. Papa hatte nämlich Höhenangst… Wir lachten viel an diesem Tag. Das wurde das letzte Mal, dass wir so fröhlich und glücklich zusammen waren. Ein paar Wochen später dann sollte ich wieder zu meinem Großvater. Meine Mutter versprach mir, dass es das letzte Mal sein sollte, weil sie die Veränderungen an mir, die nach jedem ‚Besuch’ bei Voltaire deutlicher wurden, schnellstmöglich rückgängig machen wollten. Ich glaubte ihr und hielt diesen Gedanken hoffnungsvoll all die Wochen fest. Damals war ich fast sechs Jahre alt. Mein ‚Großvater’ hatte einen Plan, er hatte etwas ‚Großes’ mit uns Abteischülern vor. Mein Hobby, das Bladen, durfte ich in der Abtei weiterhin betreiben. Voltaire hatte herausgefunden, dass ich auch gut mit einem Bit Beast umgehen konnte. Dranzer nämlich war ein Geschenk meiner Eltern. Sie hatten zu ihrem Hochzeitstag von der Familie meiner Mutter einen Edelstein geschenkt bekommen, der an einem Amulett befestigt war und der laut meiner Großmutter ‚geheimnisvolle Kräfte’ besaß. Diese Kraft war Dranzer.“   Bei dieser Erzählung glitt Tysons Blick zu einem Foto an ihrer Wand, auf dem er und Ryu Kinomiya im Dojo abgelichtet waren. Im Hintergrund war das Schwert, in dem sich Dragoon und dessen Kräfte Generationen lang versteckt gehalten hatte. Auf einmal machte es für ihn Sinn, dass Kai damals bei dem Bruch seines Bitchips nicht ausgerastet war, weil Dranzer noch einen anderen Rückzugsort besaß. Tyson wollte etwas sagen, aber Kais determinierter Blick hielt ihn ab. Er wollte den Redefluss nicht stoppen.   „Voltaire ließ also Tala und mich oft gegeneinander antreten. Wir waren mit Abstand die Besten. Deswegen gab er uns neue Bit Beasts. Tala bekam Wolborg, über den er sich sehr freute, da er vorher noch keines besessen hatte, und mir gab er Black Dranzer, den ich überhaupt nicht wollte. Aber Voltaire zwang mich zum Training.“   Max schluckte. Er erinnerte sich an die gewaltige Präsenz von Black Dranzer in der ersten Weltmeisterschaft. Kai war so stark gewesen, und so herzlos – das war also die eigentliche Macht dieses dunklen Bitbeasts gewesen? „Aber… ich dachte immer, Black Dranzer macht dich stark? Warum hast du ihn in der WM benutzt?“, fragte der Blonde schließlich.   „… Das liegt in der Natur Black Dranzers. Es ist seine Aura. Seine Macht zehrt sich, je dunkler die Gedanken sind, die du hast, und sind es noch so kleine. Er nutzt aus, welche Unsicherheiten du hast und… sagt dir, dass du ihn brauchst, um weiter zu bestehen. Mit ihm war es so: Je mehr ich trainierte, desto mehr spürte ich, wie ich mich veränderte. Ich mochte den Umgang mit Black Dranzer darum nicht. Umso mehr wünschte ich mir, dass mich meine Eltern abholten, fort aus diesem Gefängnis, das sich als eine Abtei tarnte. Wir durften oft tagelang nicht raus, mussten in Kerkerähnlichen Zimmern mit unseren Beyblades trainieren. Wenn Boris uns dennoch rausschickte, dann auch wieder nur zu Trainingszwecken….“   Sein Blick ruhte auf Max, er sah ihm direkt in die Augen und doch durch ihn hindurch. Ray drängte ihn, noch etwas zu trinken, da seine Stimme langsam kratzig klang. Erst nach einer kurzen Pause und weiteren wackligen Atemzügen sprach Kai weiter.   „Ich war der einzige, dem Black Dranzer gehorchte und das als einer der jüngsten Schüler in der Abtei! Auch Voltaire beherrschte ihn nicht. Weil ich Black Dranzer ausprobiert hatte und weil Voltaire ihn mir als erstes gegeben hatte, hatte der schwarze Phönix nur mich als seinen Herrn und Meister angesehen. Darum konnte ihn nach mir keiner mehr kontrollieren und… deswegen brauchte Voltaire mich.“   Wieder nahm Kai einen Schluck Wasser. Er wusste, was er jetzt erzählen würde, was er erzählen wollte. Doch er hatte keine Ahnung, ob er das schaffen konnte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.   „Der Tag, an dem meine Eltern mich abholen wollten, war mein sechster Geburtstag, und das schönste Geschenk, das sie mir hätten machen können, wäre gewesen, mich aus dieser Hölle zu befreien. Aber daraus wurde nichts...“   Sie hatten ihn lange reden lassen. Er war müde und erschöpft. Wie er selbst schon mal gesagt und wie auch Tyson es ihm bestätigt hatte: Er war kein Freund vieler Worte und das, was er ihnen bis jetzt anvertraut hatte, war auch mehr, als er in den letzten zwei oder drei Jahren überhaupt gesagt hatte. Kai schwieg. Er brauchte eine Pause. Tala, der jetzt auf ihn zukam, legte eine Hand auf seine Schulter und drückte sie kurz, als Zeichen, dass er nicht allein war. Der Silberhaarige aber entschuldigte sich und rutschte an den Rand des Sessels. Lin glitt von seinem Schoß und stand er auf. Er musste sich ein wenig die Beine vertreten. Seine Freunde konnten das nur zu gut verstehen. Selbst Lins Stirn war sorgenvoll gekräuselt, als sie an Rays Seite huschte und ihn fragend ansah. Der Chinese war ihr ein guter Freund und Vertrauensperson geworden, und er versicherte ihr, dass es schon gut werde. Zumindest hoffte er das. „Ray.“ Tala bedeutete dem Schwarzhaarigen, ihm zu folgen – ohne das Mädchen. „Was Kai euch gleich erzählen wird, sollte sie nicht hören“, erklärte er ohne Umschweife. „Es war für sie als Opfer von Gewalt eh schon zu viel, was er gesagt hat. Ich werde sie gleich unter einem Vorwand mitnehmen. Bitte sorg dafür, dass sie mich begleitet, falls sie nicht will.“     Kai ging kurz nach draußen, eine kühle Brise beruhigte sein aufgewühltes Gemüt. Tief atmete er ein und aus. Dann verschwand er auf der Toilette und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Immer und immer wieder warf er sich das kalte Nass auf die Haut. Sein Herz klopfte schnell, denn er war aufgeregt. Gleichzeitig war ihm übel. Währenddessen trieb Tala ein Glas auf, in das er Wodka füllte. Das gab er Kai, als dieser wiederkam. Der Silberhaarig stürzte es in einem Zug hinunter. Jetzt konnte es weitergehen. Noch immer war es still im Wohnzimmer. Alle warteten gespannt auf das, was er ihnen noch zu erzählen hatte. Kai rieb sich die Augen und räusperte sich, diesmal mehrmals, um seiner Stimme Herr zu werden. Tala kannte diesen Zustand nur zu gut, und er musste sich zwingen, seinen Freund nun zugunsten der Kleinen allein zu lassen. Es fiel Kai verständlicherweise schwer, darüber zu reden. Seine Stimme klang rau und schien kurz davor, in einen Flüsterton umzuschlagen.   „Ich lief auf der Suche nach meinen Eltern durch die Abtei, als ich ihre und Voltaires Stimmen hörte. Ich lief in den Raum. Meine Eltern saßen aneinander gefesselt auf dem Boden. Sie riefen, ich solle fortlaufen, ganz schnell. Sie… Sie wussten in dem Moment schon, was auf sie zukommen würde.... Aber ich nicht. Ich gehorchte ihnen nicht, ich verstand nicht. Ich lief auf meine Mutter zu, Voltaire lachte irre – sie rief, ich solle stehen bleiben und dann war da ein Schuss. Erschrocken hielt ich an. Vater schrie ihren Namen und er begann bitterlich zu weinen. Ich wollte zu ihm gehen und trat in etwas Feuchtes – ein Pfütze aus Blut…  Mutters Blut! Ich sah meinen Vater an. Ich wusste nicht, was das alles bedeutete. Immer noch bedeutete er mir fortzulaufen. Aber warum? Wohin?“   Kai rieb sich über die Arme. Er fröstelte. Seine Stimmer war nun wirklich nicht mehr als ein Flüstern.   „Ich wollte zu ihm, mich ihm in die Arme werfen, wollte, dass er mir sagt, dass das alles nur ein böser Traum ist und wenn ich aufwache, ist alles so wie früher! Aber so sehr ich mir das auch wünschte, es half nichts. Voltaire wollte mich nicht gehen lassen, er wollte mich alleine für sich. Meine Eltern standen ihm im Weg, mit mir an die Weltherrschaft zu gelangen.“ Zwischendurch sprach Kai schnell und hastig, als wäre er auf der Flucht. Und das war er, denn er flüchtete vor den Gefühlen, die ihn zu überrennen drohten und ihn davon abhalten würden, weiter zu reden. Sein Blick veränderte sich zusehends, er starrte auf die ihm gegenüberliegende Wand und wirkte abgestumpft und leer. „Kurz bevor ich meinen Vater erreichen konnte, drückte Voltaire abermals ab. Die Blutlache zu meinen Füßen vergrößerte sich, Mutters Blut vermischte sich mit dem von Vater.“   Dann lachte Voltaire laut und hohl auf. Verzweifelt warf Kai sich in den Schoß seiner Mutter. ‚Wach auf Mama! Mach die Augen auf! Wir wollen nach Hause gehen!’ ... Der Junge weinte, schüttelte an ihr, doch es half nichts.   „Boris und Voltaire lachten und lachten, als sie das sahen. Das Töten schien ihnen Spaß zu machen. Noch heute höre ich dieses Gelächter, Tag für Tag. Es verfolgt mich bis in meine Träume, es lässt mich nicht mehr los. Vergessen werde ich diesen Tag nie...“   Er wartete. Biss sich auf die Zunge. Sein Atem ging unregelmäßig und flatterte teilweise. Ray kamen langsam die Tränen hoch. Fast schon wollte er aus dem Raum laufen, wollte nicht mehr hören, was weiter geschah. Er konnte es nicht fassen. Der Schwarzhaarige erinnerte sich an die vielen Male, als Kai nachts schweißgebadet aufgewacht war. Jetzt wusste er, warum. Doch das Ausmaß seiner Vergangenheit war ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht gewahr gewesen. Kai setzte seine Geschichte fort:   „Ich lag im Blut meiner Eltern und dieser Anblick mochte für diese beiden Tyrannen wohl so perfekt ausgesehen haben, dass sie freudig einklatschten. Mit halbem Ohr hörte ich noch Boris’ Stimme: ‚Wir haben gesiegt! Über den Kleinen, und über seine Eltern!’ Dann gingen beide aus dem Raum. Als sie fort waren, schien es mir, als ob Mama mir durch die Haare fuhr und Papa mich beruhigend in den Schlaf flüsterte. ... Es ist lächerlich, ich weiß...“   Kai stützte seine Ellbogen auf den Knien ab und grub seine Fingerspitzen in seinen Skalp.   „Ich wachte erst wieder auf, als Voltaire mit seinen Helfern und Helfershelfern den Raum wieder betrat. Er lachte mich erneut aus, dann brachten Boris und seine Schergen meine Eltern weg. Dann sagte Voltaire mit der grausamsten Stimme, die ich bislang von ihm gehört hatte: ‚Du bist schuld, dass deine Eltern nicht mehr leben! Nur deinetwegen mussten sie sterben! Du hast sie umgebracht! Allein deinetwegen sind sie tot!’ Mit dieser Erkenntnis ließ er mich allein im Raum zurück…“   Auf dem Tisch stand ein Behälter mit blauer Farbe, seiner Lieblingsfarbe. Wie in Trance stand er aus der blutigen Pfütze auf und griff nach dem Behälter. Er begann, sich ein Mahnmal aufzumalen. Diese blauen Streifen sollten ihn auf immer daran erinnern, dass er schuldig war. So verließ er den Raum dann, mit blutverschmierter Kleidung und blauer Farbe im Gesicht. Seine Tränen liefen unaufhaltsam seine Wangen hinunter, doch r merkte es nicht einmal. ER musste einen furchterregenden Anblick geliefert haben, denn als er den anderen Schülern begegnete, wichen sie entsetzt zurück.   „In den folgenden Wochen zog ich mich in ein inneres Schneckenhaus zurück. Wollte nichts sehen, nichts hören. Mein Herz wurde mit der Zeit dunkel und kalt, schwer wie ein Stein. Trostlos wie meine Umgebung. Selbst Dranzer, der vorher immer gekommen war, um mich zu trösten, wenn ich Sorgen hatte, kam nicht mehr. Ich wurde wütend, sehr wütend. Und dann ergriff mich das Gefühl des Hasses. Ein Hass, der mich innerlich zerfraß. Ich hasste Boris, ich hasste Voltaire, ich hasste Black Dranzer.... Aber vor allem hasste ich mich selbst. Dafür, dass ich die Todesursache meiner Eltern war, dass ich dafür verantwortlich war. Als mir dies klar wurde, verlor ich mich selbst...“   Die Luft im Wohnzimmer war zum Schneiden. Das Schuldeingeständnis wiegte schwer im Raum. „A-Aber du hast doch… du hast doch gesagt, dein Eltern würden noch leben!?“, fragte Tyson verwirrt. Kai rieb sich das Gesicht.   „Ja. Ich weiß, das klingt… naiv und unglaubwürdig aber… noch in derselben Nacht kamen meine Eltern zurück zu mir. Sagten, ich solle mir keine Vorwürfe machen, ich wäre nicht allein, ich hätte ja Dranzer. Sie wirkten so real… Und erst hielt ich alles für einen Traum, aber sie hinterließen mir ein Amulett, in dem Dranzer war, sowie ein Medaillon mit dem Wappen der Hiwataris und Fotos von uns allen. Ich trage es immer bei mir...“   Dabei fuhr er mit der Hand über seine Brust und berührte sanft die Kette, die er trug, und ganz leicht begann das Amulett zu leuchten. Dranzer war bei ihm. Er fühlte, wie ihm das Kraft gab. Also machte er weiter.   „Ihr müsst wissen: Uns Schülern wurde damals eingeredet, dass Vertrauen etwas Schlechtes sei. Und dazu gehörte auch Freundschaft und Liebe. Egal wie man diese Begriffe auslegt, es hat mit Vertrauen zu tun und gegenseitigem Verständnis. Das wurde bei uns ausgemerzt oder wenigstens versucht. Mit Erfolg.“ „Ein zweifelhafter Erfolg!“, warf Tala zähneknirschend ein, der aus der ersten Etage zurückkam und Lin mit einer Aufgabe versorgt hatte. Er schüttelte den Kopf. Aber Kai ließ sich nicht beirren. Er war auf der Zielgeraden und das wollte er noch durchziehen.   „Es hat bei mir ziemlich gut funktioniert. Denn das, was Voltaire und Boris am besten verstanden, war die psychologische Kriegsführung. Ziemlich kurz nach der Ermordung meiner Eltern stellte mich Voltaire vor versammelter Mannschaft in einer seiner Ansprachen bloß. Er sagte: ‚Freundschaft und Liebe sind überflüssig. Vergesst diese Gefühle. Kai, du weißt doch von allen am besten Bescheid: Aus Liebe zu dir sind deine Eltern gestorben: Du hast sie sozusagen mit deiner Liebe getötet!!’ Dabei lachte er triumphierend.“   Kenny umklammerte seine Dizzy mit hartem Griff. Rays Handflächen waren feucht. All das erklärte, warum Kai solche Schwierigkeiten gehabt hatte, mit ihnen warm zu werden, aufzutauen, ihre Freundschaft anzunehmen. Ray wollte etwas erwidern, doch der Kloß im Hals hinderte ihn. Kai sah in die Runde.   „Ich wollte nie wieder jemandem nahe kommen, nie wieder jemanden mögen. Damit ich nie wieder jemanden in Gefahr bringe, ihn verletze oder schlimmstenfalls umbringe. Darum wollte ich auch nicht, dass Tala in mein Leben tritt. Aber er war hartnäckig. Wisst ihr, was einem früh eingetrichtert wird, vergisst man nicht so leicht und man kann sich aus so einer Doktrin wenn überhaupt nur schwer lösen. Ich lebe jeden Tag mit der Angst, dass Tala eines Tages tot daliegt, nur weil…“ Er verstummte, als Tala ihn sanft an sich zog und ihn mit einem beruhigenden Zischen zum Schweigen brachte. Der Rothaarige hielt ihn eine Weile so, bis das Zittern von Kais Körper nachließ, das eingesetzt hatte, als Kai nicht aussprechen konnte, dass er Tala liebte. Tala drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Schwachsinn, Kai. Das wird nie passieren“, versicherte er ihm nachdrücklich. Im Innern musste Tala selbst die Bilder aus seinem Verstand eliminieren, die sich hartnäckig hielten: Kai leblos am Boden, Kai blutüberströmt und ohne Reaktion… Nur ein Zentimeter weiter rechts, neben die schusssichere Weste… Tala lockerte die Umarmung, damit Kai weitersprechen konnte, verschränkte aber ihre Hand miteinander. Der Teamleader seufzte schwer und brauchte ein paar Atemzüge, um wieder anzusetzen. Aber es war seinen Freunden ganz Recht, kurz zu verschnaufen. Die Bladebreakers waren erschüttert. Nein, schlimmer noch. Aber es gab kein Wort, um zu beschreiben, wie tief und schwer sie Kais Geschichte berührte. Tala klopfte Kai auf die Schulter und drückte seine Hand. Er ergänzte: „Die Abtei war ein Ausbildungslager für Kindersoldaten... Kinder, mit den richtigen Mitteln gelockt, sind die perfekten Soldaten: willig, loyal, manipulierbar. Und die Beyblades wurden nur als Vorwand genutzt. Andererseits dienten sie aber auch dazu, die Reflexe und Reaktionsfähigkeit der Kinder zu testen und zu trainieren. Kai war...“ Der Rothaarige seufzte. „Kai war Voltaires liebstes Vorzeigepüppchen. Und das eine sehr lange Zeit. Als sein Enkel hatte er es im Gegensatz, wie man es vielleicht glauben möchte, schwerer als die anderen. Denn falls er versagte, war dies gleichzusetzen mit Voltaires Versagen in seinen Erziehungsmaßnahmen. Darum war sein Training härter und länger als das der anderen. Auch denke ich, dass Voltaire nicht als verweichlicht abgestempelt werden wollte, weil Kai sein Enkel ist. Ich weiß nicht, was in seinem kranken Hirn vorgehen mag und ich will es auch gar nicht wissen. Das einzige, was mich immer beschäftigt hat, ist, wie man ihn vernichten kann.“ Talas Stimme hatte einen aggressiven Ton angenommen. Voltaire war es, der ihr Leben zerstört hatte. „Einmal in seinen Fängen, lässt er einen nicht mehr los. Auch nicht, wenn man gehen will. Voltaire nimmt auf – lässt aber keine Fluchtversuche zu. Und wenn du das Pensum, das er von dir erwartet, nicht schaffst, dann... wirst du gegangen...“ Der Körper neben dem Rothaarigen bebte. Die Bilder waren wieder da, die Blutlache, das schreckliche Geräusch, als die Kugel aus Voltaires Pistole in die Körper von Kais Eltern eindrang, das irre Lachen, dass in seinen Ohren schrill klang... Kai schlug sich die Hände auf die Ohren und schrie: „Er hat sie umgebracht, er hat sie erschossen!! Vor meinen Augen!!!“ Dann flüsterte er: „Überall war Blut... auf dem Boden... an meinen Händen... Der Teppich hat sich damit vollgesogen... Ich sehe es immer wieder vor mir... ich kann diese Bilder nicht aus meinem Kopf kriegen!!“ Während er das sagte, klopfte er mit der Faust wütend gegen seine Schläfe, bis Tala seine Hand festhielt. „Diese... grässlichen Bilder... haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt... Wisst ihr, wie scheiße sich das anfühlt?!!“ Nein, sie wussten es nicht, denn sie hatten so etwas noch nicht erlebt. Kai stand auf und begann, die Länge des Wohnzimmers auf und ab zu gehen. Dabei wurde er immer energischer und wütender. „Es ist manchmal so, als würde ich den Verstand verlieren... Und ihr, steht da und... redet ständig von Vertrauen... Aber ihr tut nichts, ihr TUT nichts! Ihr seid PASSIV! Und wir, wir versuchen, etwas zu ändern, Bewegung in die Sache zu bringen, und was macht ihr? Bremst uns aus!! Ihr seid so... Verdammt noch mal, wir sind Kro-“ Er verstummte. Tala hatte ihm einen zielgenauen Hieb in die Magengrube verpasst. Kai kippte nach vorn und wurde vom Rotschopf aufgefangen. „Du redest zu viel, малы́ш...“ Das Team schrie erschrocken auf. Ray fand als erster seine Sprache wieder. „Tala! Spinnst du, was soll die Gewalt!?!“ „Entschuldigt. Ich wollte verhindern, dass er sich weiter in Rage redet.“ Max räusperte sich, ehe er fragte: „Tala? Wovon hat er gesprochen? Warum hat er uns diese Vorwürfe gemacht?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nehmt euch das nicht zu Herzen. Euch das alles über sich zu erzählen... das war zu viel für ihn. Es tut mir sehr leid. Ich bringe ihn wohl besser hinauf in sein Zimmer.“ Und mit diesen Worten schulterte Tala seinen langjährigen Freund und brachte ihn in dessen Bett. Lin wartete bereits auf seine Ankunft – das war die Aufgabe, die Tala ihr gegeben hatte: Alles für Kai vorzubereiten, damit er sich ausruhen konnte. Tala legte den erschlafften Körper vorsichtig aufs Bett ab. „Отдохни немного... Ты идиот, правда. Ты чуть не предал нас, дурак!“[3], murmelte er ihm leise zu. Er strich zärtlich über Kais Wange und lächelte, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte und mit einem „Schlaf gut!“ das Zimmer verließ.                                       ______________________________________     [2] „Vielleicht ist es jetzt Zeit, es ihnen zu sagen.“ [3] Отдохни немного... Ты идиот, правда. Ты чуть не предал нас, дурак! - Ruh dich aus... Du bist ein Trottel, echt. Fast hättest du uns verraten, du Depp! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)