Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 40: Flucht nach vorn ----------------------------         Aufregung, Nervosität, Angst – der Körper kann das nicht unterscheiden. Manchmal ignoriert man das. Aber… Man soll doch auf sein Bauchgefühl vertrauen. Wenn dein Körper sagt, lauf – dann lauf.     Wie sich herausstellte, hatten sie mit ihrer Vermutung Recht gehabt. Es gab nur einen Ort, wo Anna Ivanow sicher verborgen werden konnte. Die dicken Kerkermauern würden die Schreie dämpfen und die Abtei war weit genug von Japan entfernt. Anscheinend hatte man gewusst, dass sich Tala schon längere Zeit nicht mehr in Russland aufhielt. Aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Zwar fragten sie sich noch immer, womit sie Boris so konkret verärgert hatten. Aber sein Motiv für Babuschkas Entführung lag wohl eher in ihrer bloßen Existenz. Vielleicht hatte er ihr letztes Turnier durch die gesteigerte Öffentlichkeitsaufmerksamkeit auch als Provokation gedeutet. Jetzt jedenfalls lagen Tala und Kai mit der Nase voran im Dreck, etwa 200 Meter Luftlinie noch von der Abtei entfernt. Der Wind hatte sich zu ihren Gunsten gedreht, falls es Wachhunde gab – damals hatte es vereinzelt welche gegeben, alte Petzen – und so standen sie im Gegenwind und ihre Fährte konnte nicht aufgenommen werden. Tala schien auf seiner Zunge herumzukauen. Kai sah ihn von der Seite an, während der Rotschopf ihr Ziel durch einen Feldstecher betrachtete. Kai tat dasselbe, aber durch ein Zielfernrohr an einer Snaiperskaja wintowka Dragunowa. „Was überlegst du, Yura?“ „Ich überlege, was ich will und was ich brauche“, murmelte der Rotschopf langsam und nachdenklich. „Und was willst du?“ „Wieder eine friedvolle Seele.“ Kai schnaubte leise mit einem harten Schmunzeln: „Und was brauchst du?“ „Eine größere Waffe.“ „Kannst du kriegen.“ Sie hatten ein ansehnliches Waffenaufgebot mit sich geschleppt, und das nicht nur um Eindruck zu schinden. Kai griff hinter sich und holte einen alten Lageplan der Abtei hervor, den sie gemeinsam auf die Schnelle aus der Erinnerung gezeichnet hatten. Sie mussten jetzt vor Ort planen, wie sie ins Gemäuer eindringen konnten. Dabei hofften sie, dass die alten Gänge, die sie als Kinder genutzt hatten, noch existierten. „Lass uns von Westen anschleichen. Durch die Grube kommen wir in den Klostergarten und von dort durch die Kellerküche.“ „Und wenn dort Kameras sind?“, gab Kai zu bedenken. „Meinst du nicht, dass Boris damit rechnet? Vielleicht wollte er uns auch einfach herlocken, um uns … über den Haufen zu schießen?“ „Das würde bedeuten, dass Babuschka längst tot ist, Yura. Und daran will ich nicht denken. Außerdem quält mich Voltaire zu gerne, als dass er mich allzu früh umbringen würde.“ Der Silberhaarige schluckte. Das hieß aber auch, dass er nicht davor zurückschrecken würde, sowohl Babuschka als auch Tala abzumeucheln. Instinktiv griff er nach Talas Hand. „Tu bitte nichts Unüberlegtes.“ „Selbes gilt für dich, kapiert?“ Sie hielten ihrem gegenseitigen intensiven Blick stand. Dann ergriff Tala wieder das Wort: „Da. A din speridie i adin wsadie. Dawai.”     Max kippelte unruhig auf seinem Stuhl. Kurz traf sein Blick auf den von Ray, aber beide sahen rasch in eine andere Richtung. Keiner von ihnen mochte sich so recht auf den Unterricht konzentrieren. Max ließ seinen Blick schweifen: Jeder wirkte auf seine Weise angespannt: Kenny nahm häufig seine Brille ab und putzte die Gläser, seine Lippen dabei fest aufeinander gepresst. Ray spielte mit einem weiteren Bleistift, nach dem er den ersten allen mit der Kraft seiner Finger in der Mitte durchgebrochen hatte. Und auch jetzt zitterte seine Hand vor Anstrengung, die vielen Fingergelenke wurden schon wieder weiß. Tyson starrte seit geraumer Zeit in sein Textbuch, aber er las nicht; seine Augen bewegten sich nicht. Max fing an auf seiner Lippe zu kauen. Er versuchte nachzuvollziehen, wie sie von ihrem Höhenflug nach dem Turnier so tief hatten fallen können. Es war doch alles prima gelaufen! Selbst ihr Sorgenkind von Teamleader schien sich zu öffnen, sich wohl bei ihnen zu fühlen. Das hatte sie immerhin viel Anstrengung gekostet. Er wollte nicht falsch verstanden werden, sie alle mochten Kai – aber er war nun mal schwierig. Nicht zuletzt wegen seiner Vergangenheit. Dennoch schien nun endlich, nach den vielen Hochs und Tiefs, die sie mit ihm schon erlebt hatten, eine Art von Stabilität einzukehren. Max vermutete, dass es auch etwas mit Lin und Tala zu tun hatte, die Kai ein Gefühl von Sicherheit oder zumindest einem geregelten Tagesablauf gaben. Aber plötzlich scheinbar schien gerade dieser Stabilitätsfaktor namens Tala mit einem Mal alles zerstört zu haben, was sie mühsam zusammengeflickt hatten! Max’ Gedanken drifteten ab zu dem Nachmittag vor zwei Tagen, an dem ihre heile Welt zerbrochen war… Und er trug eine nicht unerhebliche Schuld daran.   „Passt auf, wir machen das wie Hannibal in der Schlacht von Cannae.“ Kenny hatte das Training bereits initiiert, denn er fand, dass nach dem großen Medienrummel um ihr Team endlich wieder Bodenständigkeit angesagt war und das hieß: harte Arbeit, Schweiß und Tränen. So jedenfalls stellte er sich das in Kais Worten vor. „Bitte?“ Aber Ray, Max und Tyson begriffen nicht, worauf er hinaus wollte und sahen ihn verständnislos ihn an. „Hört zu. Es geht um Partnerkämpfe. Wir sollten eine Kesselschlacht trainieren. Natürlich kann es sein, dass schon andere auf eine solche Idee gekommen sind. Aber wenn wir schlau sind und flink, dann können wir ihnen zuvor kommen.“ Kenny sah eindringlich in die Runde. „Ich seh schon… ich muss euch das Prinzip zuerst erklären. Stellt euch vor, Ray und Tyson kämpfen gegen Max und Kai. Ihr habt in dem einen Kampf gesehen, dass die beiden Elemente Feuer und Wasser – obwohl inkompatibel – dennoch gut zusammen gearbeitet haben. Siegreich. Weil sie ihre Vorteile geschickt genutzt haben. Und wenn wir für diese Doppelkämpfe eine, ja sagen wir, eine allgemeingültige Strategie entwickeln, die uns zur Grundlage jedes Zweierkampfes dient, und die wir variabel auf die Gegebenheiten der Arena und die Fähigkeiten unserer Gegner anpassen können, sind wir immer im Vorteil. Versteht ihr?“ Die Freunde nickten. Aber Kenny sah ihnen an, dass er noch etwas mehr Erklärungsarbeit würde beisteuern müssen. „Gut. Passt auf: Als erstes müssen wir den Gegner einkesseln.“ „AH! Deshalb ‚Kesselschlacht’!“, platzte Tyson hervor, vor Stolz strahlend, dass er das verstanden hatte. Kenny nickte geduldig. „Genau. Dizzy, zeig uns einmal die Präsentation. … Danke. Also, wir brauchen eine halbmondförmig aufgestellte Infanterie, flankiert von je einer Kavallerie.“ Ray warf beim Blick auf die Darstellung, die Dizzy ihnen zeigte, ein: „Aber wir sind nur zwei Blades. So wie das da aussieht, braucht man aber mehr dazu!“ Kenny grinste: „Das ist gerade der Trick. Durch Verbesserung eurer Agilitätsringe, die ich aufgrund dieser Strategie an euren Blades vornehmen werde, könnt ihr die Kavallerie vortäuschen. Euer Blade wird so schnell hin und her springen, dass es für euren Gegner wie in einer Fata Morgana so aussieht, als hätte er sich verdoppelt. Und genauso verfährt die so genannte Infanterie: Der Blade eures Partners wird sich im Halbkreis so schnell nach links und rechts bewegen, dass er eurem Gegner eine unbezwingbare Barrikade suggeriert.“ „Also besteht die Strategie aus einem einzigen, großen Bluff.“ Kais Stimme ließ sie alle überrascht die Köpfe heben. „Ähm, ja“, gab Kenny zu, „aber wir sollten das trotzdem ausprobieren. Auf jeden Fall hätten wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite.“ Kai betrachtete Dizzys Screen eine Weile, dann nickte er langsam. „Heißt, wir machen es also doch nicht wie Hannibal bei Cannae. Der hat nämlich nicht geblufft. Find ich trotzdem gut, die Idee.“ Kai richtete sich wieder auf, nachdem er sich zu Kennys Laptop hinuntergebeugt hatte. Er musste es ihnen jetzt sagen. Er und Tala hatten Schwierigkeiten, sich unbemerkt von dem Team und der BBA davonzustehlen, um ihre Babuschka zu retten. Sie hatten immer noch keinen Plan. Aber die Zeit drängte. Darum fiel Kai einfach mit der Tür ins Haus. „Gut, dass du dir so viele Gedanken um das Training machst, Chef. Mir gefallen deine Planungen. Ich denke, die Jungs sind bei dir in guten Händen.“ Sofort horchte Ray auf: „Was soll das heißen, Kai? Wieso klingt das aus deinem Mund so nach Abschied?!“ „Weil es einer ist.“ Talas dunkle, barsche Stimme schnitt Kais Antwort im Keim ab. Wie die Russen es schafften, sich irgendwie immer heimlich anzuschleichen und plötzlich einfach „da“ zu sein, würde den Bladebreakers wohl immer ein Rätsel bleiben. „Was meinst du damit?“, hakte Max nach. „Wir müssen gehen.“ „Gehen? Wohin?“ Pures Unverständnis wurde ihnen entgegengebracht. Kai schloss die Augen für einen Moment. Eine Lüge – schnell, eine plausible Notlüge! „Wir wollten es euch noch nicht sagen. Aber wir haben uns vor längerer Zeit für einen College-Vorkurs an mehreren Hochschulen beworben. Ihr müsst wissen, die Plätze sind rar und auch mit guten Noten kommt man da schlecht ran. Und bevor wir von etwas erzählen, was hinterher vielleicht doch nicht klappt, haben wir geschwiegen“, fing Kai an zu erklären. Tala stand hinter ihm, mit unlesbarer Miene. Er sprang schnell auf den fahrenden Zug auf: „Jep. Und jetzt haben wir eine Zusage erhalten. Wir werden für einige Wochen weg sein und-“ Er wurde von Tysons überraschtem Aufschrei unterbrochen: „Ein paar Wochen? Wieso so lange?!“ „Weil es sich um eine Universität in Russland handelt.“ „Um die staatliche Universität Irkutsk um genau zu sein.“ Max machte ein nachdenkliches Gesicht: „Irkutsk? Irkutsk? … Woher kenn ich den Namen?“ „Ihr kennt die Stadt. Ihr seid mal mit einem Helikopter drüber hinweg geflogen. Irkutsk liegt etwa 70 km entfernt vom südwestlichen Ende des Baikalsees“, plärrte Dizzys blecherne Stimme hervor. „Das ist ja mega weit weg!“, rief Max daraufhin aus. „Tja… Wir sind Russen, was erwartest du? Irgendwann ist unsere Schullaufbahn auch vorbei und wir sollten uns schon frühzeitig Gedanken machen, wohin wir gehen wollen.“ Tala funkelte Max an. Er war ungeduldig, wollte weg hier. Das kostete ihm alles zu viel Zeit. Zeit, die sie nicht hatten, Zeit, in der sie schon längst in einem Flugzeug oder in der Bahn sitzen sollten, auf dem Weg nach Moskau. Dass Irkutsk als ihre angebliche Universitätsstadt angegeben hatte, war nicht weiter schlimm. Sie waren in Russland, somit ohnehin von Japan und der BBA und Kais Team abgeschnitten. Außerdem wäre es wohl eine zu offensichtliche Lüge gewesen, hätte er die hoch angesehene Lomonossow-Universität in Moskau genannt. Und ihren Zielort hätte er damit auch verraten und ihr eigentliches Vorhaben gefährdet. „Weiß Dickenson schon davon?“, fragte Ray, der sich immer mehr über diese Zufälligkeiten wunderte. „Ja. Ich muss euch auch bitten, euch um Lin zu kümmern, während wir weg sind. Wir können noch nicht absehen, wie lange unser Aufenthalt dort dauern wird. Das wird uns erst nach unserer Ankunft mitgeteilt.“ Tala machte sich auf Kais Erklärung hin in Gedanken eine Notiz, dass er noch einen Mailaustausch zwischen sich und der staatlichen Universität Irkutsk sowie einige Anträge fingieren musste. „Das klingt ja ziemlich hanebüchen“, meinte Kenny und schüttelte den Kopf, „was ist denn das für ne Universität, die euch das noch nicht mitteilen kann?“ „Andere Länder, andere Sitten“, konterte Tala und zuckte mit den Schultern. „Ach so, und … wenn es uns dort gefällt, bleiben wir vielleicht da“, fügte Kai noch hinzu. Er musste immerhin für den Fall vorsorgen, sollten sie bei dem Rettungsversuch ihr Leben lassen. Er würde unbedingt noch ein Testament aufsetzen müssen, damit für Lin ausgesorgt war. „Ja, aber… Das ist jetzt wirklich kurzfristig. Seid ihr sicher, dass ihr das tun wollt? Wenn überhaupt, könntet ihr euch doch besser eine Universität hier in Japan aussuchen. Zurück nach Russland geht ihr doch eh nicht mehr.“ Damit hatte Max sich sehr, sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Und aus der hitzigen Diskussion langsam ein böser Streit. „Wollt ihr uns jetzt allen Ernstes vorschreiben, was wir mit unserem Leben anfangen?! In Russland liegen unsere Wurzeln!“ „Mag sein, Tala“, entgegnete der Blonde, „aber abgesehen davon: einen Vorkurs? Ehrlich? Schau, deine Noten sind jetzt auch nicht grade die besten. Meinst du denn, dass Universität wirklich was für dich ist?“ „Bitte?!“ „Versteh mich nicht falsch, ich meine nur… Ihr könnt nicht in Russland bleiben. Kai, hast du nicht selbst gesagt, dass du irgendwie immer noch verfolgt wirst? Ihr hab doch beide die Schnauze voll von Biovolt. Und dann zurück nach Russland gehen? Hier in Japan hättet ihr mehr Ruhe.“ Max wusste nicht, warum er diese ganzen Dinge aufzählte, aber mitten im Schuljahr für ein paar Wochen das Land verlassen? Ohne zu wissen, was auf sie zu kommen würde? Das wäre doch selbst für Kai und Tala, die ja nun wirklich vor Herausforderungen nicht bange waren, ein ziemlich großer Schritt. Also fuhr der Amerikaner fort: „Und wenn ihr doch eh hier bliebt, ist doch ein Vorkurs in einer russischen Hochschule irgendwie kontraproduktiv, oder nicht? Tala, du hattest doch am Anfang mit dem Japanischen schon Probleme. Willst du dann wirklich dort auf die Universität gehen? Die Bezeichnungen und alles sind doch sicher anders. So ein Vorkurs nutzt dann doch nichts.“ Jetzt platzte Tala der Kragen. „Willst du mich verarschen? Ich bin doch nicht dumm! Meinst du, dass wir nicht Lesen und Schreiben gelernt haben in der Abtei?! Deine Argumentation scheint ja wohl eher noch dafür zu plädieren, dass wir nach Russland zurückgehen! Denn wenn wir beide so blöd sind, wie du sagst, haben wir wohl in Russland, unserer Heimat, bessere Chancen!“ Max’ Augen wurden groß: „Oh, nein, das wollte ich damit nicht sagen…“ „Hast du aber!“ Talas Gemüt war überstrapaziert. Die Zeit drängte, und jetzt wurde noch an ihrer Intelligenz gezweifelt? Was erdreistete sich dieser Wurm, der jahrelang am Rockzipfel seiner Mutter gehangen hatte?! „Ich werde mir weder von dir noch von sonst wem vorschreiben lassen, wie ich mein Leben zu leben habe. Wenn ich jetzt die Möglichkeit habe, wegzugehen, dann gehe ich, wenn mir das so gefällt. Tut mir leid, aber so eine bodenlose Frechheit lass ich mir nicht bieten. Ich werde Kyoto verlassen.“ Vor Wut erregt starrte Tala Max in den Boden. Er hatte seinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Kai legte eine Hand auf seinen Arm, dessen Adern bereits hervortraten und Talas hohen Puls verrieten. Natürlich schlug sich der Silberhaarige auf die Seite seines besten Freundes. „Ich hatte euch für verständnisvoller gehalten. Freut ihr euch denn nicht für uns, für die Möglichkeit, die wir bekommen haben? Für eine Zukunft außerhalb des Beyblade-Sports? Für eine bessere Zukunft für uns?“ „Nein, ihr seid egoistisch“, mischte sich jetzt Ray ein. „Was ist mit Lin? Kai, du hast Verantwortung. Hast du das vergessen? Lässt du alles stehen und liegen, lässt du sie zurück?“ „Dafür hat er doch euch, oder nicht? Seid ihr nicht seine ‚Freunde’? Helfen ‚Freunde’ sich nicht gegenseitig? Wie wär’s dann mal mit ein bisschen Hilfe, wenn er direkt darum bittet?!“, fuhr Tala den Chinesen nun an. „Ihr handelt total unüberlegt. Das sieht gerade dir, Kai, gar nicht ähnlich!“, fand nun Kenny. „Eben. Ihr könnt euch nicht einfach so aus dem Staub machen, wie es euch passt. Wenn das jeder machen würde, dann wären wir ja die längste Zeit ein Team gewesen. Kai, wir übernehmen zwar gerne die Aufsicht für Lin, aber wir können das auch nicht immer so machen. In einem Team muss man über solche Entscheidungen im Vorfeld sprechen. Sonst könnten wir uns ja gleich jeder um sich selbst sorgen.“ Kai räusperte sich auf Rays Ausführung hin. „Wenn das so ist… Dann bitte ich euch, nur für eine kurze Zeit auf Lin aufzupassen. Wenn wir wieder da sind, leite ich dann alles wichtige in die Wege, dass ihr euch um nichts mehr zu kümmern braucht. Ihr braucht dann nämlich gar nichts mehr für uns tun. Ich wusste, dass wir uns irgendwann auflösen, aber ich dachte nicht, dass es so schnell gehen würde“, erklärte er ruhig, aber todernst. „Nein! Sag doch so was nicht! Wir lösen uns nicht auf!“, rief Tyson plötzlich, der den Tränen nahe schien. Er hatte der Diskussion auffällig ruhig und schweigend beigewohnt. Kai konnte von Tysons Gesicht ablesen, wie hart ihn seine Aussage getroffen hatte. Vielleicht hatte er etwas zu harsch reagiert. Jedoch war Kais Loyalität zu Yura und Babuschka, zu seiner Familie, größer als alles andere. Zwar würde es für sie problematisch werden, wenn sie mit den Bladebreakers brachen: Die beste Tarnung und die zusätzliche finanzielle Einnahmequelle würde wegfallen. „Tyson…“ Wieso ging ihm der Blick des jungen Japaners nur so nahe? Warum konnte er nicht wie sonst auch über dessen Gefühle hinwegsehen und sie so stur wie ein Panzer überrollen? Die ruckartige Bewegung Talas, der seinen Arm aus Kais beschwichtigender Berührung zog, riss Kai aus seiner Sprachlosigkeit. „Irgendwann hat alles ein Ende, Tyson. Wenn ihr uns jetzt ein Ultimatum stellt, dann ist das unsere Antwort. Wir kommen doch wieder. Aber wenn ihr uns nicht den Rückhalt geben könnt, oder wollt, dann werden die Bladebreakers ohne mich auskommen müssen.“ „Kai! Du darfst dein Team nicht verlassen!“ Tyson schritt eilig auf ihn zu und griff ihn am Kragen. Trotz aller Scherereien und Streitigkeiten, die sie miteinander teilten, war Kai ihm wichtig. „… Bitte…“ Der junge Russe erwiderte den flehenden Blick mit einem ernsten. „Lass uns gehen, Tyson. Selbst wenn wir, was weiß ich, vier Wochen wegbleiben müssen – wir kommen ja wieder. Das Problem ist nur: Wollt ihr uns überhaupt haben?“ „Ja!“ Kai zuckte vor der Lautstärke und der Schnelligkeit der Antwort etwas vor ihm zurück. Er senkte seinen Blick und löste Tysons Hände von dem Stoff seiner Jacke. „Solange wir wieder kommen können, Tyson, kommen wir wieder. … Yura, wir gehen.“ Er drehte sich von Tyson weg, klopfte ihm im Vorbeigehen noch auf die Schulter. Ein Klaps, ein etwas festerer, freundschaftlicher Druck – dann verließen sie die gemeinsame WG.   Max seufzte. Er hatte es doch nur gut gemeint und keinen Streit provozieren wollen. Aber mal wieder hatte sich gezeigt, dass das Gegenteil von „gut“ nicht „böse“ war, sondern „gut gemeint.“ Diese ganze Diskussion und Kais tatsächlicher Weggang hatten vor allem Tyson sehr berührt. Denn er hatte sich zum ersten Mal wirklich mit der sehr realen Möglichkeit konfrontiert gesehen, dass sie als Team, dass die Bladebreakers nicht mehr existieren könnten. Diese Erkenntnis nagte an ihm und Kais Abwesenheit trug nicht zu einer Besserung seiner Gefühlswelt bei. Nur in der Hoffnung, dass es ja nur ein Monat sein könnte, fand Tyson etwas Beruhigung. Aber sie wurden auch ständig daran erinnert, allein zu sein. Noch hatte sich wohl Talas und Kais „Schüleraustausch“ selbst im Lehrerkollegium nicht vollends herumgesprochen. “Where’s Kai? Max?” “Sorry, Teacher. I haven’t seen him since the last time I saw him.” “Oh, and when was that?” “The last time I saw him … was definitely the time I saw him last.”       Tala blieb stehen. „Was hast du?“ „Nichts… ich dachte nur gerade…“ Beide blickten nach oben zu den spitzen Zaunpfählen, auf denen sich einst Köpfe befunden hatten. Sie erinnerten sich noch zu gut daran. Wie zu Zeiten von Vlad Țepeș aus dem 15. Jahrhundert hatte Boris damals befohlen, versuchte Ausbrüche und Fluchten mit der Pfählung zu bestrafen. Voltaire kam bei der Verwaltung der Abtei zugute, dass viele Kinder Waisen waren. Die russische Öffentlichkeit fand sich also einem Wohltäter gegenübergestellt, der sich der armen Seelen annahm, und ihnen völlig uneigennützig eine Unterkunft und Ausbildung zugestand. Was hinter den alten Steinmauern geschah, entzog sich jedoch dem Wissen der breiten Bevölkerung. Der hohe Anteil der Waisenkinder, die Voltaire zu seinen Biovolt-Soldaten ausbilden konnte, verhinderte außerdem auch unangenehme Nachfragen. Denn wer vermisste schon ein Waisenkind? In den wenigen Fällen, in denen ein Kind nach einem Fluchtversuch hingerichtet worden war, das Angehörige hatte, wurden diese entweder mit der Erklärung eines Trainingsunfalls und großzügiger finanzieller Entschädigung getröstet. Aber so aufgespießt, die kopflosen Körper auf einem Haufen, nur die Köpfe, die die Spitzen zierten –  so wollten sie beide nicht enden. Daher hatten Kai und Tala nie auch nur einen Gedanken an eine Flucht verloren. Ihr vorbildlicher Gehorsam hatte sich schließlich auch ausgezahlt: sie durften manchmal im Auftrag von Boris in die Stadt. Besuche bei Anna Ivanov waren ihnen ebenfalls erlaubt gewesen – es wäre verdächtig erschienen, wenn Schüler eines Internats, so wie sich die Abtei selbst bewarb, ihre Verwandten nicht besuchen durften. Jedoch waren die Besuche strikt eingeschränkt, was mit der hohen Masse an Lernstoff begründet wurde. Natürlich lernten die Schüler in der Abtei – aber nicht unbedingt das, was ihre Eltern, sofern es die noch gab, dachten, das sie lernten. Der Griff um Talas Dragunow festigte sich. „Komm jetzt“, drängte Kai. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)