Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 38: Netz aus Lügen -------------------------- Ist das nicht scheiße, dass einen die Muse im Stich lässt, wenn man Zeit hat und sich dann zynisch meldet, wenn man im Lernstress ist? Die Muse küsst einen immer dann, wenn man’s nicht gebrauchen kann! Gemein. Aber ich hab sie eingesperrt und jetzt herausgeholt, jetzt da ich sie brauche. Mit Gewalt!  o:3 ________________________________________________________________   Wie ein wildes Tier, eingepfercht in einen Käfig, schritt Tala vor Kai auf und ab. Dabei versuchte er immer wieder, seinem Feuerzeug eine Flamme zu entlocken. Doch es klappte nicht. Wütend warf er eine Zigarette nach der anderen nach jedem missglückten Versuch auf den Boden. Als er keine mehr hatte, setzte er die mitgebrachte Wodkaflasche wütend an die Lippen, schlug sich mit dem Flaschenrand aus Versehen hart gegen die Zähne und fluchte unflätig, spuckte auf die Erde und startete einen neuen Versuch. Er trank, mit großen Schlucken, trank und trank und hörte erst auf, als sich kein Tropfen Alkohol mehr in der Flasche befand. „Tala“, begann Kai mit ruhiger Stimme, wollte eine Hand beschwichtigend auf seinen Arm legen. Doch der Rothaarige drehte sich abrupt weg und schleuderte die Glasflasche auf den Steinpfad, wo sie klirrend zerbrach. Und dann fing er an, in ihrem Vorgarten vandalisch zu wüten. Er holte mit dem Fuß aus, trat gegen einen Dekostein, gegen Zierblumen in den Beten und trampelte sie nieder. Schnaufend drehte er seine Kreise, warf die Arme in die Luft, nahm Anlauf und kickte gegen den Briefkasten der Bladebreakers, der  ihnen von Max’ Mutter geschenkt worden war und aussah wie eine typisch amerikanische Mailbox. Er trat gegen den Holzpflock, auf dem sie stand, und boxte gegen den Metallbehälter. „Tala!“, rief Kai, doch es schien seinen Freund nicht zu erreichen. Wenn er so weiter tobte, würden die Nachbarn sich noch wegen Ruhestörung beschweren. „Sie haben sie mir weggenommen! Und ich… ich war… AAAARRRRHGG!!!“ Tala packte den Briefkasten nun mit beiden Händen und in einem Anfall primitiver Wut riss er ihn aus der Verankerung, donnerte ihn auf den Boden und stürzte sich auf ihn wie auf einen Todfeind. Mit bloßen Fäusten hämmerte er auf das Blechgehäuse ein. Doch das war ihm nicht genug. Mit voller Wucht schleuderte er es dann gegen die Hauswand. Kai stand fassungslos daneben und konnte nur zusehen. Er war mit der Situation überfordert, so einen Anfall hatte Tala noch nie gehabt. Er musste wissen, was genau los war. Wer hatte Babuschka entführt und warum? Nach Talas jetzigem Zustand jedoch zu urteilen, würde Kai von ihm erstmal keine Informationen bekommen. „Beruhige dich. So kann ich dich nicht reinlassen, weißt du.“ Ruhigen Schrittes ging Kai auf seinen besten Freund zu und nahm seine Hände, die gerade einen von Mr. Dickensons heißgeliebten Gartenzwergen erwürgen wollten, in die seinen. Der Silberhaarige musste dafür sorgen, dass sich Tala endlich zusammenriss, auch wenn ihm das schwer fiel. Niemand sollte – nein, durfte von diesem Ausraster erfahren. Das war kein leichtes Unterfangen, saß sein Team doch noch mit Mr. Dickenson draußen im Garten. „Komm, ja? Komm mit mir.“ Diese Szene kam beiden bekannt vor, aus einer längst verdrängten Zeit, nur diesmal mit vertauschten Rollen. Damals hatte Tala diese Worte gesagt und Kai zum ersten Mal mit zu seiner Großmutter gebracht. Wahrscheinlich war es diese Bindung, diese gemeinsame Erinnerung, dass sich der Rothaarige nun fügte. Kai zog Tala behutsam mit sich ins Haus, billigte, dass Tala sich auf dem Weg zur Tür bückte, um eine weitere Wodkaflasche aufzuheben und sie an die Lippen zu setzen. Kai ahnte schon, dass Tala sie geleert haben würde, wenn sie die oberste Treppenstufe erreichten. Das war für ihn auch in Ordnung, warum sollte er es ihm verbieten. Er sorgte sich nur darum, dass die anderen Jungen oder gar Mr. Dickenson Talas Ausbruch und jetzigen Zustand bemerken könnten. Denn dann kämen Fragen. Das wollte er verhindern. Außerdem mussten seine Kameraden Tala nicht so sehen, das würde sie vermutlich den Respekt vor ihm verlieren lassen. Kai brachte den Rothaarigen hinauf in sein Zimmer und drückte ihn bestimmt auf sein Bett. Sanft legte er seine Hände auf die Schultern seines besten Freundes und beugte sich vor ihm hinunter. „Jetzt sag mir ganz in Ruhe, was passiert ist.“ Aber da brach der Damm. Tala packte Kai, schlang seine Arme fest um die schmalen Hüften seines Freundes und zog ihn an sich. Der Silberhaarige gab einen leisen Überraschungslaut von sich. Es war lange her, dass Tala so instinktiv und hemmungslos gehandelt hatte. Die Schultern des Rothaarigen zuckten unkontrolliert. Er ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Laute Schluchzer verließen seine Kehle. Plötzlich begann er zu schreien und wild um sich zu schlagen. Der Jüngere steckte die ersten Treffer noch gut weg. Schließlich trommelte Tala hart gegen Kais Brust, und dieser ließ ihn für eine Weile. Als Tala aber dann vor Verzweiflung so laut brüllte, dass es einem durch Mark und Bein ging, und ihm bei einigen Schlägen die Luft wegblieb, intervenierte Kai. Er fing Talas Fäuste ein und versuchte ihn zu beruhigen. „Schhh…. Ruhig… ruhig…“ Aber gegen das Schreien war er machtlos. Es glich dem Hilferuf eines verletzten Tieres. Kai war sich nicht sicher, wie lange das noch gut gehen würde, ohne dass seine Mitbewohner im Garten etwas mitbekamen. Außerdem schlief Lin so gut wie im Zimmer nebenan, sie sollte erst recht nicht geweckt und durch Talas Anblick verschreckt werden. Aber er wusste selbst keinen Rat, was er sagen konnte, damit der Punchingball in seinen Armen verstummte. „Yuriy… Yuriy, es wird wieder gut. Alles wird wieder gut. Weine nicht mehr. Ich bin für dich da. Hey…“ Babuschka war Talas einzige Familie. Kein Wunder also, dass er so heftig reagierte. Kai musste jetzt stark sein. Für ihn. Auch wenn es ihm selbst dabei nicht besser ging, denn Anna Ivanov war für ihn stets wie eine Mutter und Großmutter zugleich gewesen. Sie gehörte dazu, sie waren eine Familie! Kai sah nur noch einen Weg, ihn zum Schweigen zu bringen. Sanft nahm er Talas Gesicht in die Hände und ließ ihn zu sich aufblicken. Dann senkte er seinen Kopf und versiegelte Talas Mund mit seinen Lippen. Ganz sanft. Ganz vorsichtig. Ganz lange. Als er sich wieder von ihm löste, hauchte er ihm einen Kuss auf die Stirn und zog seinen Kopf an seine Brust. „Yura, ich verspreche dir, ich hole Babuschka zurück.“ Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Der krampfartige Griff um Kais Hüfte ließ nach. Beinahe konnte er die Raserei aus seinem Körper entströmen sehen. Er spürte regelrecht, wie der Furor wich und einem anderen Gefühl Platz machte. Ein Zittern ergriff Talas Hände und breitete sich schließlich über den ganzen Körper aus. Die Kraft ließ nach und er ließ sich nach hinten fallen, zusammen mit Kai. Eine Weile blieben sie so liegen, doch dann kam wieder Bewegung in den starren Körper unter Kai. Er drehte sich langsam, als hätte er eine Kolik, auf die Seite, bis der Jüngere unter ihm lag. Sein Mund war nun zu einem stummen Schrei verzerrt, er presste seine Augenlider fest zusammen. Dennoch konnte selbst dies nicht verhindern, dass heiße Tränen unablässig über seine Wangen rollten. Vor lähmender Beklemmung drückte er sein Gesicht in den Stoff unter sich, suchte nach Halt, rieb seine Haut über die Textilstruktur. Stumm versickerten seine Tränen in dem warmen und weichen Pullover. Beinahe schien es, als wollte Tala in Kai hineinkriechen, so sehr presste er sich an dessen Körper. Verzweifelt und gleichzeitig wütend über seine Ohnmacht hämmerte er mit der Faust neben Kai in die Kissen, krallte sich in dessen Oberarme und schlug seine Stirn ein paar Mal gegen Brust und Schulter seines besten Freundes. Er wusste nicht wohin mit sich und seiner Angst. Die völlige Hilflosigkeit übermannte ihn wie eine unbändige Urgewalt.       „Sagt mal, wo ist Kai eigentlich hin?“ Fragend sahen die Teammitglieder von einem zum anderen. Sie saßen in gemütlicher Runde auf der Terrasse. Mr. Dickenson hatte am Nachmittag seine Beziehungen spielen lassen und einige Hebel in Bewegung gesetzt, während Kai die Einkaufspflichten für die WG erledigt hatte. Und in einer lockeren Gesprächsrunde hatten sie den Abend ausklingen lassen. Bis Kai für Lin entschied, dass es Zeit fürs Bett war. Im Grill glühten noch die Kohlen und ein paar Fackeln erleuchteten dieses nächtliche Beisammensitzen. „Ich dachte, er kommt sofort wieder, wenn er Lin ins Bett gebracht hat“, meinte Max und beugte sich vor, um sich Cola einzuschenken. „Hat es nicht auch geklingelt?“ „Ich hab nichts gehört.“ „Vielleicht ist er ja auch müde, das Turnier war schlauchend… Vielleicht hat er sich selbst auch gleich ins Bett gelegt“, brachte Mr. Dickenson vor. Ray erhob sich: „Ich sehe mal nach ihm.“       Zart fuhren seine schlanken Finger durch das krause, noch leicht feuchte Haar. Nach unendlichen Bemühungen, aus Tala mehr Informationen heraus zu kitzeln, hatte Kai es letztlich aufgegeben und ihn unter eine warme Dusche gezwungen. Das schien ihm für den Moment die einzig richtige Methode zu sein. Danach hatte sich der Rothaarige endlich etwas beruhigen können. Aber Kais Versuch, ihn zu befragen, während das heiße Wasser auf sie beide niederrauschte, trug leider ebensowenig Früchte. Kai war aus Talas wirren Worten nicht schlau geworden. Auch die herben Schluchzer und gewimmerten Vokale danach, als er seinem besten Freund beim Abtrocknen und Anziehen half, trugen nicht gerade zu einem besseren Verständnis bei. Jedoch hatte er heraus gehört, dass Tala einen Anruf bekommen hatte. Nachdem er sich also mit ihm in sein Bett, dass ihnen als einziges Refugium diente, zurückgezogen und ihm versichernde Worte in Ohr und Haar gewispert hatte und als er überzeugt war, dass sein Freund tief schlief, nahm er vorsichtig, ohne seinen festen Griff um den noch immer zitternden und ruhelosen Körper zu lockern, dessen Handy und scrollte sich durch das Menü. Kai wusste, dass Tala sein Handy so eingerichtet hatte, dass es Anrufe aufnahm und für eine gewisse Zeit speicherte. Schließlich fand er die Mailbox und begann sie abzuhören. Das Gespräch von Tala und Boris war dort verzeichnet. Ihm wurde beinahe schlecht, als er Babuschkas zittrige Stimme hörte, die versuchte, Tala Mut zu machen. „~“Yura, mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut, lass dich nicht unterkriegen, ich werde mit denen schon fertig–“~“ Kai hörte ein klatschendes Geräusch, worauf ein erstickter Schmerzenslaut folgte. Unbewusst hielt er den Atem an und presste das Handy stärker an sein Ohr. Im Hintergrund wimmerte ihre Babuschka leise. Nur Boris‘ grausame Stimme übertönte sie. „~“Ist sie das wert, Yuriy? Du und Kai, ihr solltet besser aufhören, uns dazwischen zu funken, sonst kann ich nicht für ihre Sicherheit garantieren.“~“ Ein letzter, glockenheller Schrei, dann war das Gespräch beendet. Kais Augen brannten, seine Kehle wurde trocken und er schluckte hart. Gleichzeitig presste er den schlafenden Körper in seinen Armen dichter an sich. Unwillkürlich fiel ihm ein Zitat Babuschkas ein, mit dem sie ihm einst auf eine Frage bezüglich seiner Eltern und des Todes im Allgemeinen geantwortet hatte: „Gute Menschen gleichen Sternen. Sie leuchten noch lange nach ihrem Erlöschen.“ Rasch schüttelte er den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Wie sehr hoffte er in diesem einen Augenblick, dass sie nicht erlosch…       Leise öffnete Ray die Tür. Überrascht blieb er auf der Schwelle stehen. Kai saß auf seinem Bett, mit dem Rücken zur Wand, und mehr oder weniger auf seinem Schoß saß Tala. Auf den ersten Blick wirkten sie wie ein Wesen mit stark verknäulten Gliedmaßen. Der Silberhaarige hatte sein rechtes Bein angewinkelt, an das sich der Rothaarige lehnte. Dieser kauerte wie ein Häufchen Elend mit angezogenen Knien in Embryohaltung zwischen Kais Beinen und vergrub seine vor Anspannung kalten Zehen unter Kais Oberschenkel und sah mit einem für ihn atypischen, leeren Blick in die Ferne. Er war wieder wachgeworden, jäh aufgeschreckt aus einem bösen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte. Nun hatte ihn die Realität wieder eingeholt und entließ ihn nicht ihren kräftigen Krallen. Kai drückte Talas Kopf an seine Brust und wiegte ihn sacht hin und her. Seine linke Hand hatte er auf Talas Bauch gelegt, sie wurde jedoch von Tala fest umklammert. Vor lauter Irritation über die sich ihm bietende Szene wollte Ray zu einer Frage ansetzen. Der Rothaarige sah so verloren aus. So kraftlos und gebrochen … einfach hilflos. Für den Chinesen nicht nur ein seltener, sondern auch ein äußerst verstörender Anblick. Aber da war Kai. Als Ray seinen Mund öffnete, begegnete er seinem Blick und revidierte seine Einschätzung sofort. Tala sah vielleicht schutzlos aus, er war aber definitiv nicht ungeschützt. Kai wachte über ihn. Und sein Blick sagte nur eines: Ray sollte bloß den Mund halten. Der Schwarzhaarige schluckte. Nickend verließ er das Zimmer wieder. Er verschloss von außen die Tür und lehnte sich gegen das Holz. Kai hatte unglaublich aggressiv gewirkt. Rebellisch und gefährlich wie schon lange nicht mehr war ihm seine Aura omnipräsent entgegengetreten und hatte ihn förmlich aus dem Zimmer gedrängt. Noch nie in seinem Leben war Ray ein so starker Beschützerinstinkt begegnet und gerade von Kai hätte er solch ein Verhalten nicht erwartet. Mit einem tiefen Atemzug stieß er sich schließlich von der Zimmertür ab und ging wieder nach unten zu seinen Freunden, um ihnen mitzuteilen, dass Kai sich heute Abend wohl nicht mehr blicken ließ.     Zwei Stunden, nachdem sie das gemütliche Sit-in aufgelöst hatten, kehrte Ray in ihr gemeinsames Zimmer zurück. Vorsichtshalber klopfte er leise an, bevor er die Tür öffnete. Hier hatte sich etwas getan. Tala lag in Kais Bett, offensichtlich ruhig schlafend, aber immer noch zusammengekrümmt wie ein Embryo. Sein Gesicht war der Wand zugewandt. Kai lag vor ihm, hatte sich auf die Seite gerollt, den Kopf auf den angewinkelten Arm gestützt und betrachtete Tala besorgt. Misstrauisch richtete sich jedoch sein Blick zur Tür, als Ray sich leise räusperte. „Ähm… Soll ich unten schlafen? Dann kannst du in meinem Bett pennen…“, schlug der Chinese etwas ungelenk vor. Er stellte zudem verwundert fest, dass Tala ein graues Kapuzensweatshirt  in Verbindung mit einer schwarzen Trainingshose trug, beides aus Kais Schrank, was ihm zuvor noch nicht aufgefallen war. Kai hingegen schüttelte auf seine Frage hin nur den Kopf. Wieder sah er zu Tala, dann deckte er ihn bis zu den Schultern mit der Decke zu und richtete sich vorsichtig von seiner liegenden in eine sitzende Position auf. „Ich kann ihn nicht allein lassen“, murmelte er leise. Ray erkannte, dass sein Teamleader außer diesem einen Kommentar nichts mehr zu der Situation sagen würde. Als dann aber Kais Finger sanft durch das weinrote Haar Talas fuhren, mit einer so tröstenden Intensität, zog sich etwas in Ray zusammen. Diese Geste hatte etwas so Intimes an sich, dass er sich wie ein Störenfried vorkam. Vielleicht hatten die Klatschpressen doch Recht? Nicht, dass ihn das persönlich stören würde. Er fand den Gedanken, einen schwulen Teamkameraden zu haben, trotz seiner traditionell sehr konservativen Erziehung keinesfalls anstößig. „Ray!“ Kais eindringliches Raunen drang zu ihm durch. Anhand seines Blickes konnte Ray leichte Verärgerung und Irritation erkennen. „Entschuldige, ich war wohl in Gedanken. Was hast du gesagt?“, fragte er leise zurück, bemüht, Tala nicht aufzuwecken. „Ob du mir einen Gefallen tun kannst und mir eine Kanne Ingwertee kochen könntest. Aus der frischen Ingwerwurzel, die ich heute mitgebracht habe.“ „Klar, sicher.“ Ray widersprach nicht und er hakte auch nicht nach. Es bedurfte keiner Worte, die ihm erklärten, dass Kai sich um seinen Freund sorgte und nicht von dessen Seite weichen wollte. Als er vor die Tür trat, kam ihm eine verschlafende Lin entgegen, leise eine Melodie summend, und offensichtlich auf dem Weg zu Kai. In dem Versuch, sie aufzuhalten, sprach er sie an: „Du solltest da jetzt nicht reingehen. Komm mit, ich wärme dir eine Milch auf, dann kannst du besser schlafen.“ Er drehte sich schon zur Treppe, im Glauben, sie würde ihm folgen, da drückte sie einfach die nur angelehnte Zimmertür auf und schlüpfte ins Zimmer hinein. „Kai?“, fragte Lin leise und rieb sich die Augen. Der Angesprochene blickte nur milde erstaunt zu ihr, winkte sie zu sich. „Warum bist du noch wach? Hast du schlecht geträumt?“ „Nein. Weiß nicht.“ Sie kletterte vertrauensvoll auf sein Bett und kniete sich hin. Sie war beherzt genug, erst Tala und dann ihren Bruder fragend anzusehen: „Warum schaust du so traurig, Kai?“ Die Frage überraschte ihn. Wie sollte er es ihr erklären? Einer Siebenjährigen, die gerade erst in ihrem neuen Leben Fuß gefasst hatte? Und noch dazu einem Mädchen, das ebenfalls vom Wesen Anna Ivanovs tief berührt worden war? „Ich glaube, weil Yura sehr traurig ist.“ „Warum bist du traurig, wenn Yura traurig ist?“ „Weil er mein Freund ist. Wir sind aus demselben Grund traurig.“ Lin dachte kurz nach. „Also ist Yura traurig, weil er traurig ist.“ Hinter ihnen regte sich benannter Rotschopf im Schlaf. „Schhh… wir müssen leiser sein“, flüsterte Kai. Er versuchte es so kindgerecht wie möglich zu erklären, und gleichzeitig so verschleiernd, dass man nicht sofort verstand, was er meinte, für den Fall, dass die Wände Ohren hatten. „Yura ist traurig, weil ein böser Mann ihm etwas weggenommen hat, was… ihm sehr wichtig ist. Was er über alles liebt. Und er weiß nicht, noch nicht, wie er es sich zurückholen kann.“ „Kann er sich diese Sache nicht nochmal besorgen?“ „Nein, denn diese Sache ist einzigartig. Es gibt sie nur einmal auf der ganzen Welt. Und sie ist schon sehr alt. Und sehr kostbar.“ „Oh, verstehe. Aber warum bist du dann auch traurig?“. „Weil Yura mein Freund ist. Und weil mir diese Sache auch sehr wichtig ist.“ „Kann ich hierbleiben und euch trösten?“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Und auch auf die Gefahr hin, dass sein Bett bei zweieinhalb Personen vielleicht entzwei brechen könnte oder er heute Nacht wegen der Überfüllung sehr wahrscheinlich auf dem Boden landen würde, erlaubte er es ihr. „Du kannst. Aber weck Yura nicht auf. Er ist erst vorhin eingeschlafen.“ Er ließ sie unter die Decke kriechen und gesellte sich zu ihnen. Zugegeben, es war sehr eng, aber irgendwie schon händelbar. Denn zu sehen, wie sie sich vorsichtig über ihn beugte, hauchzart über seine Wange strich und ihm einen Gute-Nacht-Kuss gab, war es wert, heute Nacht womöglich auf dem Boden zu schlafen. Yuriy regte sich plötzlich, doch er drehte sich nur um, schlang im Schlaf die Arme um den kleinen Körper des Mädchens und drückte sie fest an sich. Das machte Lin etwas Angst, obwohl sie Tala mittlerweile gut kannte. Doch Kais versichernder Blick verscheuchte das unheimliche Gefühl und deshalb kuschelte sie sich in die starken Arme des Rothaarigen und lauschte dessen Herzschlag. „Es schlägt ganz schnell und doll…“, flüsterte sie, woraufhin Tala sie nur noch mehr an sich presste wie ein flauschiges Kuscheltier. „Sicher träumt er schlecht“, meinte Kai und rückte näher heran, um einen Arm um sie beide zu legen. „Wenn er dich erdrückt, sag Bescheid. Schlaft gut.“ „Kai?“ „Hm?“ „Ich hab dich lieb!“ Ihre schläfrige Stimme umarmte ihn und es war, als spürte er eine längst verdrängte, familiäre Nähe und Zuneigung. Es war anders als das, was er und Tala und Babuschka miteinander teilten. Jedoch nicht minder gut. Diese vier Worte von ihr, das allein war Balsam für seine Seele. Zwar glaubte er schon lange nicht mehr an einen Gott, aber er dankte dem Universum im Stillen dafür, dass ihre Wege sich gekreuzt hatten. „Ich dich auch, Lin, ich dich auch…“   Ray fühlte sich schlecht. Er hatte nicht lauschen wollen, sondern vielmehr Lin aus dem Zimmer holen, aber als sie so tollkühn anfing, Kai auszufragen, war die Neugierde stärker gewesen als der Anstand. Sobald das Knarzen der Matratze verstummt und auch ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren, wagte Ray es, die Treppe hinabzusteigen. In der Küche fand er die Zutaten für den von Kai gewünschten Tee. Während er den Ingwer kleinraspelte, etwas Minze in einem Mörser kleinrieb und zum Schluss dem heißen Aufguss Honig und etwas Zitrone zufügte, dachte er über das eben Gehörte nach. Was konnte Tala nur verloren haben, dass ihn der Verlust so aus der Bahn zu werfen schien? Hatte er vielleicht Wolborg irgendwo verloren? War ihm der Bit-chip oder der Blade selbst gestohlen worden? Als Ray den Sud in eine Thermoskanne goss, ziepte es unangenehm vor Eifersucht als auch vor Scham in seiner Magengegend. Lin hatte im Gegensatz zu ihm direkt gesehen, dass Kai bekümmert und mitgenommen war. Er selbst hatte sich von dem imposanten Gehabe des kühlen, starrsinnigen und oft genug auch harten Russen abschrecken lassen. Vielleicht war es, weil Kai vor dem Mädchen seine Deckung vernachlässigte oder gar ganz fallen ließ. Vielleicht hatte Ray sich aber auch viel zu sehr daran gewöhnt, einen verbitterten und griesgrämigen Leader vor sich zu sehen, der seinen Schmerz und seine Verzweiflung nur selten offenbarte und eher sofort in Angriffsstellung ging, als seine tief verwurzelten Seelennarben zur Schau zu stellen. „An dir ist wirklich ein psychologischer Geist verloren gegangen, Ray, du solltest überlegen, das vielleicht zu studieren, wenn dir der Beyblade-Sport nicht mehr zusagt.“ Die ruhige Stimme ließ Ray herumfahren, er hatte nicht bemerkt, dass noch jemand im Raum war. Jedoch war er erleichtert, als Kenny vom Wohnzimmer in die Küche schritt und ihm beim Umfüllen des Tees zusah. „Habe ich etwa laut gedacht?“ „Ja, so ziemlich. Worum geht’s eigentlich?“, fragte der Brünette und hielt in seiner vorausschauenden und hilfreichen Art das Sieb fest, damit die Ingwer-, Minze- und Zitronenbrocken nicht mit in die Kanne fielen. „Nun, ich bin mir nicht so sicher. Vielleicht steckt die Beziehung von Kai und Tala in einer Krise.“ „Das mag sein, immerhin ist es nicht einfach, wenn- Moment, was?“ „Keine Ahnung, jedenfalls geht es beiden grade sehr schlecht. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was da los ist.“ „Na, aber wohl kaum so etwas.“ „Ich weiß nicht so recht, du warst nicht dabei, Kai hat mich mit seinem Blick allein aufgespießt und dreimal durch den Fleischwolf gejagt. Als wäre ich sein Todfeind Nummer eins.“ Kenny betrachtete nach Ray Aussage die letzten Tropfen am Sieb, ehe er den Inhalt in den Mülleimer warf. „Keine andere Liebe ist so gut und mächtig wie die, die du in einer Freundschaft finden kannst.“* Er zuckte mit den Schultern, dann verließ der kleine Nerd die Küche und ging hinauf in sein Zimmer. Ray sah ihm lange nach. Woher wusste der Jüngste des Teams nur so viel? Warum schien er plötzlich um so vieles weiser? Sicher, Ray hatte ihn immer für sehr intelligent gehalten, aber das bezog sich größtenteils auf das große Fachwissen, was Blades und Computer betraf. In zwischenmenschlichen Beziehungen hatte es nie den Anschein erweckt, dass Kenny dort in irgendeiner Weise bewandert war. Und nun ließ er in letzter Zeit Sprüche vom Stapel, die so verdammt schlau und passend für die jeweilige Situation waren, besonders, was ihren Teamleader betraf, dass es Ray an seinem eigenen Verstand zweifeln ließ. Ganz so, als hätte Kenny ein Gespür dafür entwickelt, die einzelnen Handlungen aller Teammitglieder in der gleichen rasanten Art und Weise zu analysieren und zu interpretieren, wie er es im Kampf und mit Dizzys Hilfe mit den Beyblades und den Gegnern tat. Seufzend schraubte Ray die Thermoskanne zu und balancierte ein Tablett mit mehreren Tassen hinauf in sein Zimmer. Leise trat er in den Raum, räumte vorsichtig Lampe und Wecker auf dem Nachttischchen zur Seite und stellte dort das Tablett ab. Dann betrachtete er die drei ruhenden Personen in Kais Bett. „Danke…“ Beim Klang von Kais Stimme fuhr Ray überrascht zusammen. „Du bist noch wach?“, flüsterte er zurück und setzte sich ihm gegenüber auf sein Bett. „Ich muss doch auf die beiden aufpassen…“ Bedächtig setzte Kai sich auf, bemüht, so wenig im Bett zu wackeln wie möglich. Er langte zur Thermoskanne und goss sich einen Tee ein. Die heiße Flüssigkeit wärmte ihn von innen, zwar verbrannte er sich die Zunge, verzog aber keine Miene. „Sie schlafen, Kai, was soll schon passieren?“ „Im Schlaf und Traum kann mehr passieren, als du dir vorstellen kannst“, murmelte er mit einer Stimme, die Ray frösteln ließ und er sich über die Arme reiben musste. Er betrachtete den Russen vor ihm eine Weile stumm. Schließlich zog er sich wortlos um und wickelte sich in seine Tagesdecke ein, während er es sich im Schneidersitz auf dem Bett bequem machte. „Wovor hast du Angst?“ Kai sah auf und versuchte Rays Blick im Zwielicht des nächtlichen Zimmers zu deuten. „Vor gar nichts.“ „Und wovor fürchtet sich Tala dann?“ Kai schwieg. Ray hatte genau ins Schwarze getroffen. Es stimmte zwar, dass er mutig war und sich jeder Gefahr entgegenstellte. Doch er hatte Angst vor dem Verlust geliebter Menschen. Ohne Tala und Babuschka hätte er die Abtei niemals überstanden, hätte sich vermutlich ebenso erhängt wie einige andere seiner Mitschüler damals oder sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Denn Waffen waren immerhin genug vorhanden gewesen. „Kai, ich sehe doch, wie du leidest. Wie ihr beide leidet…“ „Das ist nichts, was ich dir so einfach erklären könnte. Ich könnte dir sowieso nichts außer Lügen erzählen. Und das will ich nicht. Nicht wirklich jedenfalls.“ Der Chinese staunte über die plötzliche Offenheit und die direkte und ehrliche Antwort. „Es wird vielleicht nicht einfach. Aber wir kriegen das schon hin. Danke für den Tee, Ray.“ Der junge Russe stellte die Tasse wieder auf das Tablett, wünschte ihm noch eine gute Nacht und kroch vorsichtig unter die Decke. Ray starrte auf das große Knäuel in dem gegenüberliegenden Bett, lauschte und wartete auf einen gleichmäßigen Atemzug. Erst dann murmelte er leise: „Freunde sind wahre Zwillinge der Seele...“** Mit einem letzten Blick auf die Uhr warf auch er sich endlich in die Kissen.     „Warum lässt deine Oma es eigentlich zu, dass du hier bist?“ Tala zögerte mit einer Antwort. Er knautschte, wie Kai, die Enden seines Schalfanzugoberteils zusammen und beobachtete, wie Kai immer wieder seine Ecken aufzwirbelte und wieder glatt strich. Wieder einmal entzog es sich ihnen, warum sie hier im Kerker saßen. Immerhin hatten sie im Training heute eine gute Figur gemacht. „Sie dachte, das hier sei eine Schule“, antwortete der Rotschopf schließlich. „Warum sagst du ihr denn nicht die Wahrheit? Sie glaubt dir doch bestimmt!“ „Schon, aber… ich will sie nicht beunruhigen. Und… sie würde sich bestimmt die Schuld dafür geben, dass ich bestraft wurde… Weil sie mich hierher schickte.“ Sie hatten sich in die hinterletzte Ecke der Zelle zurückgezogen, damit die Kamera sie nicht erfasste. Zusammengekauert saßen sie an der kalten Steinwand und gaben sich gegenseitig Wärme. Doch die reichte nicht aus, um auch ihre Hände und Füße warm zu halten. Tala beugte sich runter und rieb Hände und Füße aneinander, um seine Durchblutung anzuregen. Mit ihren elf Jahren waren sie erstaunlich gerissen, was Vertuschung und Aufrechterhalten des Scheins anging, denn außerhalb ihres Zimmers gaben sie sich als die größten Rivalen der gesamten Abtei. Schließlich sah Tala wieder zu Kai. „Außerdem – wer passt denn auf dich auf, wenn ich nicht da bin?“ Kai lächelte leicht. „Ja ne ho4u tebja terjatj… Niemand darf wissen, dass ich dich so lieb hab, Yura… Sonst bringt er dich um.“         * Sir Laurens van der Post, 1906-1996 ** William Penn, 1644-1718: Freunde sind wahre Zwillinge der Seele; sie fühlen in allem mit. Einer ist nicht ohne den anderen glücklich, noch kann sich einer von ihnen allein elend fühlen. Sie wechseln sich ab in Schmerz und Freude und helfen sich gegenseitig in den schlimmsten Situationen.   Ja ne ho4u tebja terjatj – Ich will dich nicht verlieren     Nun, auch dieses Mal habe ich den Fokus auf das Menschliche gelenkt und hinke etwas mit der eigentlichen Story hinterher. Wie einige schon bemängelten, scheinen sich die verschiedenen Kapitel langsam zu Fillern zu entwickeln. Das ist nicht meine Absicht, denn ich will auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der einzelnen Figuren zeigen. Das dauert leider etwas, aber mir ist das wichtig. Aber mit Babuschkas Entführung ist schon ein großer Schritt in Richtung Haupthandlung getan. (Hoffe ich…) Bis zum nächsten Kapitel! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)