Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 34: Fanservice ---------------------- In den unterirdischen Karzern waren das Schreien und die lauten Schluchzer unerträglich. Zumindest für jemanden mit gesundem Menschenverstand. Doch die dicken Steinwände verschluckten jeden Laut, der an die Oberfläche hätte kommen können. „Für jeden Schrei bekommst du einen Schlag mehr!“, brüllte Boris, der großes Gefallen an seiner Aufgabe als Henkersknecht fand, den Jungen vor sich an. Dieser steckte bis zur Hüfte in einer mittelalterlichen Folterkonstruktion: Ein zur Züchtigung eigens konstruierter Stuhl, der vorn eine runde Öffnung hatte, durch die der Knabe mit dem Oberkörper voran hatte kriechen müssen, bis die Öffnung sich um seine Lenden schloss. Boris hatte sich auf dem Stuhl niedergelassen, dem Jungen das Hinterteil entblößt und prügelte mit einem kurzen Reisigbesen darauf ein, bis die Haut dunkelte und aufplatzte und das Blut die Beine hinab rann.*1 Der Junge würde tagelang nicht sitzen können. Voltaire zog hinter sich die Tür zu und setzte sich in seinen Ohrensessel, der vor seinem Kamin im Wohnzimmer stand. Ihm gingen die Worte seines Enkels seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Lange schon hatte er überlegt, wie er Kai abermals ins Straucheln bringen könnte. Schließlich nahm er seinen Telefonhörer und wählte bedächtig und mit arglistigem Vergnügen die ihm bekannte Nummer. Das konnte doch nicht so schwer sein. Ray konnte es schließlich auch. Aber es machte ihn nervös, dass eben jener hinter ihm stand und dauernd fragte, ob er ihm nicht helfen könne. „Ich werde ja wohl noch ne Waschmaschine anstellen können, jetzt lass mich doch mal!“, murrte Tyson und schüttete weißes Pulver in den dafür vorgesehenen Schacht. Danach drückte er willkürlich ein paar Knöpfe. „Oh-oh, Tyson… Wenn jetzt was einläuft… Da sind auch Kais Sachen drin, der macht dich einen Kopf kürzer!“ Gerade wollte der Blauhaarige zu einer Antwort ansetzen, da hörten sie einen wüsten Schimpfruf und kurz darauf Kais zornige, aber beherrschte Stimme, die nach Kenny verlangte. Fragend sahen sich Ray und Tyson an, dann stiegen sie neugierig die Treppe aus dem Keller hinauf ins Wohnzimmer. „Mhmmm… Funktionsausfall irreparabel.“ „Ja, und was heißt das jetzt?“ „Das sagen sie dir immer dann, wenn sie den Geist ganz aufgeben. Im Klartext: Dein Computer ist im Arsch, Kai.“ „Nein, Kenny, mach mich jetzt nicht schwach!“ Es war nicht irgendein Computer, es war Kais Laptop, den er für seine nächtlichen Operationen und Aufträge brauchte. „Kannst du den nicht irgendwie reparieren? Kenny, ich brauch den wirklich!“ „Nun… vielleicht.. wenn du mir dein Passwort gibst, kann ich mich einloggen und..“ „Nein! … Ich meine … das geht nicht. Da sind persönliche Daten drauf!“ „Ich werde schon nicht in deinen Akten und Ordnern schnüffeln, Kai!“ „Ja, aber nachher gehen Daten verloren. Das geht nicht.“ „Für solche Fälle sollte man immer Sicherungskopien anfertigen“, meinte Kenny nur und zuckte mit den Schultern. „Dann kann ich dir nicht helfen.“ Kai seufzte. Mit dem Laptop unter seinem Arm ging er zum Telefon, um Tala anzurufen. Der war in technischen Belangen, besonders was Computer betraf, mindestens genauso versiert wie Kenny. Doch gerade, als er den Hörer in die Hand nahm, klingelte dieses. „Hiwatari?“ „~“Und wen hast du, der dich liebt?“~“ Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber dass sein Großvater sich so direkt an ihn wandte, war neu. Selten suchte er die direkte Konfrontation. Trotzdem verschwendete Kai keinen Gedanken an das Warum. „Едь к аде!“ Wütend knallte er den Hörer auf. Auf Rays Frage, wer das gewesen sei, antwortete er mit einem „Niemand Wichtiges.“ Ob ein solches Verhalten seinem Erzfeind gegenüber Konsequenzen trug, würde sich schon früh genug zeigen. Ein paar Tage später klingelte es frühmorgens an der Tür. Doch anscheinend schien der Besucher nicht lange warten zu wollen, denn kurz darauf schwang die Tür schon von selbst auf. Es war Mr. Dickenson, der frohgemut in die Wohnung trat und nach seinen Schützlingen rief. Diese kamen, mehr oder weniger willig, da sie ihren Schlaf unterbrechen mussten, in die Küche geschlurft, in der sich ihr Sponsor bereits selbstverständlich einen Kaffee gekocht hatte. Der Teamleader schleppte sich als Letzter heran, in eine leichte Sommerdecke gewickelt. Er hatte auf dem Sofa übernachtet, da er seit dem Absturz seines Laptops allabendlich mit Tala telefonierte, um ihn wieder flott zu kriegen. Gestern dann war ihnen dabei der Durchbruch gelungen, aber es hatte so lange gedauert, dass Kai noch während des Telefonats eingeschlafen war. Als Beweis zierte der Abdruck des Hörers seine Wange, zur leichten Belustigung seines Teams. Der Teamleader rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah zerknittert zu Mr. Dickenson. „Kai! Ich habe lange nachgedacht und eine super Idee!“ Der Silberhaarige war nicht ganz von der Super-Artigkeit des ihm noch unbekannten Einfalls ihres Sponsors überzeugt. „Ich habe mit der Schulleitung gesprochen und vorgeschlagen, dass du eine Hausaufgabenbetreuung für die Grundschüler übernimmst! Na? Was hältst du davon?“ Mr. Dickenson strahlte ihn an. Kai fiel aus allen Wolken. Das sollte ihm auch noch aufgebürdet werden? Wie sollte er wieder Aufträge annehmen können, wenn er nun nicht mehr nur Trainer war, sich um seine eigenen schulischen Leistungen sowie die von Lin kümmerte, sondern auch noch Nachhilfe geben sollte?! Dabei hatte er doch gerade mit Tala besprochen, wieder Aufträge entgegenzunehmen, sich wieder auf die Suche zu machen, sein Doppelleben wieder in den Griff zu bekommen. „Ich vergaß: Schlafen wird ja völlig überbewertet!“, knurrte Kai als Antwort und schüttelte den Kopf. „Ja, aber… ich hielt das für eine gute Idee! Außerdem könnte Lin auch daran teilnehmen. Es würde dich nur eine oder zwei Stunden am Tag kosten. Außerdem wird das dein Image enorm aufbessern! Und was glaubst du, wie positiv das in deinem Lebenslauf auffällt! Du willst doch vielleicht auch mal studieren, hierzulande an einer Universität oder, was ich mir bei dir auch gut vorstellen könnte, an einem College im Ausland.“ Nachdem Mr. Dickenson Lin erwähnt hatte, hörte Kai schon nicht mehr hin. Das klang schon besser. Lin würde Freunde finden, ihre Hausaufgaben machen… Kai könnte seine ebenfalls rasch verfassen, wenn die Schüler keine Fragen hatten… „Ich will es eine Woche versuchen, danach entscheide ich mich, okay?“ Der Patron der Bladebreakers hatte mit mehr Widerstand gerechnet, mit mehr Überzeugungskraft, die er hätte einsetzen musste. Umso mehr freute ihn nun Kais Antwort. „Super! Es wird dir bestimmt auch Spaß machen. Ich werde es gleich an die Schulleitungen deiner und der Grundschule weiterleiten. Dreimal in der Woche müsstest du-“ „Zweimal. Ich hab ja auch noch ein Privatleben!“ „Seit wann denn das?“, stichelte Tyson frech, weil er es liebte, Kai zu provozieren. „Immer schon gehabt. Vielleicht finde ich ja ein Mädchen toll und möchte sie kennen lernen und mich mit ihr treffen? Schon mal drüber nachgedacht?“ Diese Antwort nahm Tyson den Wind aus den Segeln. Er öffnete zwar den Mund, schloss ihn aber ungebraucht wieder. Ray und Max lachten. Mr. Dickenson nickte wohlwollend und notierte sich etwas in seinen dicken Notizblock. „Gut, ich freue mich sehr, dich so prächtig entwickeln zu sehen, Kai. Ach so, noch was: Bereite dein Team auf das nächste Turnier vor. Es findet in eineinhalb Monaten statt.“ Mr. Dickenson schlürfte seinen Kaffee. Kai nickte nur müde, wickelte die Decke fest um sich und verabschiedete sich. Das waren ja herrliche Aussichten! Am selben Abend noch telefonierte Kai mit Tala und erzählte ihm von seinen neuerlichen Aufgaben und Pflichten. Zwischendurch kam Ray immer mal wieder in ihr Zimmer und verließ es danach kurz. Er schien aufzuräumen. Kai hatte es sich an seinem Schreibtisch gemütlich gemacht und lauschte entspannt Talas Worten in seiner Muttersprache, in der er selbst auch antwortete. „~“Ich dachte, du hättest wieder ein geregeltes Leben? Du stopfst es dir ja schon wieder so voll, willst du überhaupt noch schlafen?“~“ „Passt schon. Ich meine, wenn Lin in dieser Fördergruppe ist, die ich betreuen soll, hab ich doch schon gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen –“ „~“Wie nett du das ausdrückst…“~“ „ – und ich denke, dass da bald Routine einkehren wird. Probleme hab ich nur im Hinblick auf das Turnier…“ Am anderen Ende der Leitung war es kurze Zeit still. Es schien, als würde Tala nach den richtigen Worten suchen, was eigentlich nicht oft vorkam. „~“Manchmal glaube ich, du hättest es bei den Demolition Boys besser gehabt. Ich hab jetzt jedenfalls nicht so einen Stress wie du.“~“ Kais Antwort kam ein wenig schneller als die seines Freundes. „Aber die Demolition Boys gibt es nicht mehr. Da fällt mir was ein: Wir brauchen einen Blader mehr in diesem Turnier, willst du nicht mitmachen?“ „~“Ich bin doch gar nicht im Training, wie stellst du dir das vor?“~“ „Na, komm doch einfach hier her! Wir zwei machen unser eigenes Trainingslager auf! Und Mr. D. regelt das sicher mit deiner Schule und alles! Ich mein, du und ich, wir sind doch ein eingespieltes Team! Wenn wir das Training organisieren… Oh bitte!!“ Aufgeregt drehte der Silberhaarige sich auf seinem Bürostuhl einmal um sich selbst, da er sich allein wähnte. Tala lachte in den Hörer. Kai war ja richtig Feuer und Flamme von dieser Idee. Er fragte sich nur, wessen kindliche Art da auf seinen besten Freund abfärbte. „~“In Ordnung, da du so drauf bestehst. Ehrlich gesagt, freu ich mich schon auf ein paar Matches gegen dich!“~“ Grinsend nahm Kai die Herausforderung an. Sie verabredeten sich für den folgenden Abend am Bahnhof, Kai wollte ihn dann abholen. Während des Gesprächs bemerkte er nicht, dass Tyson Ray einen Besuch abstattete, um ihn etwas wegen der Hausaufgaben zu fragen. Der Blauhaarige kam nicht umhin, etwas zu lauschen. Zwar verstand er nicht viel, aber gegen Ende fing Kai unfreiwillig an, Japanisch und Russisch zu mischen, bedingt dadurch, dass er Tysons und Rays Stimmen als Hintergrundgeräusche unbewusst wahrnahm. Außerdem war er so langsam müde geworden. Er gähnte. Die letzten Sätze kamen ihm auf Japanisch über die Lippen, in einer Sanftheit, die mehr denn sonst irgendwas seiner Müdigkeit zuzuschreiben war. „Gut, bis morgen. Ja, natürlich warte ich auf dich. … Wirklich? Besser ist das. Ich schreib dir gleich ne SMS. Schlaf gut.“ Kai legte auf und streckte sich, kratzte sich dann genüsslich den Hinterkopf. Tyson beobachtete seinen Teamleader eine Weile, ehe sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Was war das denn eben? Hast du etwa ein Date?“ Kai fuhr herum, jetzt erst wurde er sich Tysons Anwesenheit bewusst. Er musterte sein Gegenüber misstrauisch, entschied sich dann für eine kleine Neckerei. Was hatte er zu verlieren? „Als ob ich dir das auf die Nase binden würde, Tyson…“ Sofort stürmte der genannte Wirbelwind aus dem Zimmer und verkündete auf seinem Weg lauthals: „Kai hat ein DATE! Kai hat ein DATE!!“ Seufzend sah der Silberhaarige ihm nach. Er ging ins Bad, um sich rasch die Zähne zu putzen, damit er sich dann endlich in die Federn werfen konnte. Ray folgte ihm und ließ sich auf dem Wannenrand nieder. „Stimmt das?“, fragte der Schwarzhaarige neugierig. Kai wandte sich ihm mit von Schaum bedeckten Lippen zu und schüttelte belustigt den Kopf. Mit der Zahnbürste noch im Mund erklärte er Ray seinen Plan, Tala für das Turnier in ihr Team aufzunehmen. Zwar verstand Ray nur die Hälfte, nickte dann aber und erhob sich wieder. „Kai? – Ich finde es gut, wie du… Ach, vergiss es.“ Lächelnd brach er ab, hob die Hand zum Gruß und ließ den anderen im Bad allein. Kai spuckte aus. „Was war das denn jetzt?“ ~Genau das, wonach es sich anfühlt, Kai. Du fängst an, alles richtig zu machen. Und sie bemerken das.~ Dranzers wohlig gurrende Stimme jagte Kai einen Schauer über die Haut. Natürlich wusste er auch, dass es seinem Phönix auch gefiel, dass er sich schon eine geraume Zeit nicht mehr in Gefahr begeben hatte. Doch das würde sich bald wieder ändern, denn Kai hatte schon einen weiteren lukrativen Auftrag im Sinn, nicht in finanzieller Hinsicht, jedoch glaubte er, dieser würde ihn nun endlich einen richtigen Anhaltspunkt in seiner Suche liefern. Tala hatte vorgeschlagen, ein Kobe-Rind zu entführen, lebendig, und es außer Landes zu bringen. Der Auftraggeber dieses ungewöhnlichen Wunsches hatte gute Kontakte zu einer Organisation in Amerika, die eng mit einer weiteren russischen Organisation im Untergrund zusammenarbeitete. Kai und Tala wussten, dass die russische bereits mehrmals versucht hatte, Indizien gegen die Abtei zu sammeln, jedes Mal aber gescheitert war, wenn sie zu nah an Voltaire oder Boris gekommen waren. Aus diesem Grund versprachen beide sich auch viel dadurch, dass sie ihrem neuen Auftraggeber sozusagen einen kleinen Gefallen taten. Bezahlt wurden sie natürlich, aber vermutlich konnte er ihnen auch genau sagen, wo sich Kais Eltern aufhalten könnten. Und dafür ein Kobe-Rind zu stehlen, war ja beinahe schon lächerlich, auch wenn auf diesen besonderen Kühen Exportverbot bestand. Was Kai, nebenbei bemerkt, ziemlich albern fand. Es war ja nur eine Kuh. Er hatte sich im Internet den aufgezeichneten Beitrag eines TV-Nachrichtensenders über diese Rinder angesehen. Wie die verwöhnt wurden: Massage, besonderes Futter – und all das nur, um später als außerordentlich teures Steak zu enden. Müde schüttelte Kai den Kopf. Als er aus dem Bad kam, warf er einen raschen Blick auf die mit den Stundenplänen zugekleisterte Wand über seinem Schreibtisch. Morgen würde er zum ersten Mal diese Nachhilfestunde abhalten. Aufgeregt oder nervös war er überhaupt nicht. Nur wie kam Mr. Dickenson eigentlich immer auf solch abstruse Ideen? Und warum musste ausgerechnet er, Kai, der Leidtragende dieser Geistesblitze sein? So. Jetzt saß er hier. Vor ihm eine Reihe aufmerksamer Kinder, die ihn mit großen Augen anstarrten. Die Frage, die in ihren Augen brannte, hatte er schon erkannt, ohne dass sie sie stellen mussten. Und wie befürchtet kam sie auch prompt von einem aufgeregt wirkenden Jungen, der beinahe über seinen Ranzen stolperte, als er auf Kai zulief, ein großes Blatt in der Hand. „Kann ich ein Autogramm haben?“ Kai sah auf das Papier, dann in die Runde, wo beinahe alle mit Blättern raschelten, im Begriff, aufzustehen und ihn ebenfalls mit diesem Anliegen zu bestürmen. Er sollte das nicht tun. „Setz dich bitte wieder hin.“ Kai stand auf und stellte sich vor die gut 10 Schüler, musterte jeden von ihnen eindringlich. „Ihr kennt euch untereinander alle? Fein. Ich weiß bis jetzt weder eure Namen, noch wo ihr Schwierigkeiten habt. Vermutlich komme ich nun einmal in der Woche zu euch, um euch bei euren Schwierigkeiten zu helfen. Lernen müsst ihr selbst. Doch bei Problemen, die ihr selbst nicht lösen könnt, fragt ihr mich.“ Mahnend ging sein Blick durch die Klasse. „Ich werde hier keine Autogramme geben. Hier, in dieser Klasse und auf dem gesamten Schulgelände bin ich euer Betreuer. Nicht mehr und nicht weniger. Ihr wisst wer ich bin und ich freue mich, dass ihr an einem Souvenir von mir interessiert seid. Aber wir möchten hier zusammen üben und uns verbessern. Am Ende jeder Stunde gebt ihr mir eure Übungszettel zur Korrektur. Wenn ihr die wieder bekommt, habt ihr sozusagen ein Autogramm darauf. Ich muss die nämlich unterschreiben. Und wenn ihr euch anstrengt, überleg ich mir was Nettes für euch.“ Er zwinkerte Lin kurz zu, die ihn angrinste. Sie hatte ihm am Morgen einen Vorschlag unterbreitet, nach dem er der Übungsgruppe doch als Anreiz Tickets für das Turnier schenken könnte. Die Idee gefiel ihm ziemlich gut, so dass er sie im Hinterkopf behielt. Im Anschluss an seine kleine Rede verteilte er nun die Übungsblätter und ließ sich von einem der Schüler einen Sitzplan zeichnen. „Wenn Fragen sind, versucht sie erst untereinander zu klären. Aber leise! Und wenn ihr nicht weiter kommt, meldet euch. Ich komme dann zu euch.“ Kai setzte sich und schlug sein Mathebuch auf. Erstaunlicherweise gingen ihm seine eigenen Aufgaben leicht von der Hand. Erst nach einer halben Stunde meldete sich eine Schülerin. Kai erhob sich. Die Frage war rasch geklärt. Als er zurück zu seinem Pult gehen wollte, fiel ihm ein Atlas ins Auge. Dem Impuls einer Eingebung folgend schnappte er sich das große Buch und trug es zu seinem Arbeitsblatt. Warum sollte er sich nicht schon auf seinen neuen Auftrag vorbereiten, wenn er dafür Zeit hatte? Und das, was er jetzt tun würde, war mitnichten auffällig. Er zog mit einem Bleistift eine leichte Linie von der Mitte der USA zur Mitte Japans. Mit Blick auf den Maßstab der Karte rechnete er die Entfernung aus, Luftlinie natürlich. Das ergab 14250km. Interessanterweise lagen China und die USA noch weiter auseinander, nach seiner Rechnung 18266 km. Kai vertiefte sich in das Studium der Karte. Er suchte nach unscheinbaren Städten in Küstennähe. Oder zumindest nach Städten, in denen es nicht auffiel, wenn sie ein Tier transportieren würden. Vielleicht sollten sie so ein Rind erst einmal außer Landes bringen, nach Russland zum Beispiel. Oh, das schien ihm eine gute Strecke zu sein. Von Vladivostok nach Eureka in Kalifornien betrug die Luftlinie nur 7982,148km. Aber die Stadt war nur per Flugzeug über den Flughafen Arcata-Eureka zu erreichen. Sie schien keinen Hafen zu haben. Kai seufzte. Im Grunde machten sie viel zu viel Aufhebens darum, eine einzelne Kuh zu verschiffen. Aber der Kunde war bekanntlich König und er sollte bekommen, was er verlangte. Von den Kindern unbemerkt schickte er Tala eine SMS mit den Informationen, die er sich soeben verschafft hatte. Wenn sein Freund bei ihm ankam, würden sie schon eine gute Lösung finden. Tala hatte ihn noch nie hängen lassen. „Gebt bitte jetzt eure Übungsblätter ab. Es ist egal, ob ihr noch nicht fertig seid. Nächste Woche machen wir weiter. Eure Eltern holen euch gleich ab.“ Kai sammelte die Hausaufgaben seiner Schützlinge ein. Eigentlich war der Job hier doch nicht so schlecht wie zuerst angenommen! „Und, wann kommt dein Date? Stellst du sie uns auch vor?“, begrüßte Tyson als Erster Kai, als dieser mit Lin den Hausflur betrat und sich lässig die Schuhe von den Füßen streifte. „Lin – Geh mal eben und tritt Tyson von mir vors Schienbein, ja? Hast meine Erlaubnis.“ Das Mädchen machte große Augen, doch als Kai ihr zunickte und in Tysons Richtung deutete, trat sie zögerlich auf den Blauhaarigen zu. Dann sah sie ihm unverwandt ins Gesicht und Tyson blickte verdutzt auf die Kleine herab, bis sie mit dem Bein ausholte. „Verdammt, Kai! Das ist Anstiftung zur Körperverletzung!“, fluchte Tyson und sprang zurück. Lin grinste und ließ ihren Fuß wieder sinken. Sie hatte das versteckte Lächeln auf Kais Lippen durchaus bemerkt, Tyson dagegen war es entgangen. Fröhlich wirbelt Lin einmal um sich selbst, streckte sich jauchzend und lief ins Wohnzimmer. Tyson sah ihr nachdenklich hinterher, dann wandte er sich wieder an seinen Teamleader: „Warum musst du mich eigentlich immer perforieren, Kai?“ Der Angesprochene unterdrückte ein Lachen, dieser Versuch endete jedoch in einem vergnügten Grunzen. „Perforiert, mein Lieber, ist das, was es dir erleichtert, Blätter aus deinem Collegeblock zu trennen. Was du meinst, ist ‚provozieren’. Und ich tue das, weil es mir Spaß macht.“ Doch bevor der Jüngere etwas darauf erwidern konnte, rief Lin aus dem Wohnzimmer, Kai solle zu ihr kommen. „Wollen wir einen Test machen?“ „Was denn für einen Test?“ Der Silberhaarige setzte sich zu ihr aufs Sofa und sah fragend den großen Notizblock an, der auf ihrem Schoß ruhte. „Wen hast du ganz doll gern? So wirklich, wirklich lieb?“ Das war leicht, Kai überlegte gar nicht lange, wunderte sich nur über die Frage. „Tala.“ Lin ließ sich den Namen von ihm buchstabieren, setzte den von Kai darüber und begann, die Buchstaben durchzustreichen und sie durch Zahlen zu ersetzen. Fasziniert sah Kai ihr dabei zu, wie sie anhand der Zahlen eine zweistellige Summe ausrechnete und dahinter ein Prozentzeichen setzte.*² Dann wiederholte sie diese ganze Prozedur noch einmal, diesmal aber mit Talas Namen über dem Seinen. Die Ergebnisse waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. „Also, pass auf!“ Das Mädchen hockte sich auf die Knie und drehte sich zu ihm. „Dein Prozentsatz beträgt nur 12. Der von Tala ist viel höher.“ Kai sah auf das Blatt. „Aha. Und das sagt mir jetzt was?“ „Na ja… Wir spielen das immer in der Pause. Das sind deine Chancen, die du hättest, weil du ihn doch magst! Ich glaube, das zeigt, wie gut ihr zusammen passt. Wie gern ihr euch habt.“ So langsam begann Kai zu verstehen. Er schmunzelte. Die Grundlage für eine erfolgreiche Beziehung hing also von den Namen ab – na, hätte er das doch nur früher gewusst! „Also meinst du, ich soll ihn mal fragen, ob er mich auch mag? Ob er mit mir gehen will?“ „JA!“ „Auch wenn er ein Junge ist?“ Sie stutzte. Darüber hatte sie gar nicht nachgedacht. Hinter ihrer Stirn schien es angestrengt zu arbeiten. „Ich… ich weiß nicht. Ich glaube, das funktioniert doch nicht… Nicht bei Jungs!“ Kai lachte auf. „Geh und mach deine restlichen Hausaufgaben. Übrigens hat Hiromi angerufen, ob du mit ihr spielen möchtest.“ „Oh, cool! Bringst du mich zu ihr?“ „Wenn deine Aufgaben alle erledigt sind.“ Frohgemut nickte sie und verschwand in ihrem Zimmer. Noch immer schmunzelnd schüttelte Kai den Kopf. Sein Blick fiel auf den Block. Aus reiner Neugier versuchte er dieses Spiel mit Talas richtigem Namen. Aber er vergaß immer irgendwo einen Buchstaben und schließlich gab er entnervt auf. Es genügte ihm, zu wissen, dass sich Talas Zuneigung in einem Bereich von 83-92 Prozent befand. Just in diesem Augenblick klingelte Kais ‚Diensthandy’. „Wenn man vom Teufel spricht…“, murmelte Kai grinsend und nahm den Anruf entgegen. Tala kündigte an, dass er in gut zwei Stunden im Bahnhof eintrudeln würde. Entspannt lehnte sich Kai zurück. Das hieß, er könnte noch schnell duschen und sich vom Schulmuff befreien. „Ja, ich werde pünktlich sein. Oh, und weißt du was?!“ In Kais Stimme schwang ein vergnüglicher Ton mit. Er war verboten gut drauf im Moment. Tyson, der gerade das Wohnzimmer passierte, nickte ihm nur kurz zu. „Den Berechnungen zufolge liebst du mich mehr als ich dich.“ Jetzt spitzte Tyson aber die Ohren. Und Kai wusste, er wurde belauscht, auch wenn Tyson sich alle Mühe gab, das so heimlich wie möglich zu tun. „Das erklär ich dir später. Keine Sorge, Liebling, ich hole dich pünktlich ab. Für meinen Schatz tu ich doch alles!“ Anmerkungen *1 Gab es wirklich, besonders in Klosterschulen und den frühen Stadtschulen, bis ins 18. Jh. ca. Wurde zur Disziplinierung und Züchtigung eingesetzt. Prügelstrafe war Gang und Gäbe. Melanchthon z. B. wurde für jeden Lateinfehler mit der Rute geschlagen. Nachzulesen in: Max Bauer, Sittengeschichte des Deutschen Studententums, Dresden 1926 *² Ich hab das wirklich mal ausgerechnet. Das ist witzig. Und egal, welchen Namen ich verwende, Tala oder Yurij – Tala liebt Kai immer prozentual mehr XD Ihr könnt das ja mal nachprüfen, wenn ihr die Rechenweise kennt. Was für ein lustiges Kinderspiel :D Едь к аде – Fahr zur Hölle! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)