Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 20: Sag's nicht weiter ------------------------------ „Meinst du, er ist jetzt über den Berg?“ „Ich glaube nicht, Tyson. Irgendwas beschäftigt ihn, geh ihm lieber nicht auf die Nerven. Und das sage ich nicht, weil du für ihn eine Nervensäge bist, verzeih, aber ich meine, er braucht echt Abstand, Zeit zum Nachdenken!“ Auf Kennys ruhige Erklärung hin folgte Schweigen. Der Chef bastelte gerade an Rays Blade, um eine Verbesserung der Geschwindigkeit zu erreichen, dabei aber das Maximum an Kraft nicht herabzusetzen. Tyson saß ihm gegenüber, die Beine übereinander geschlagen und er lehnte sich zurück, während er ihm dabei zusah. „Ich werde trotzdem mit ihm sprechen.“ „Was?! Nein, lass das lieber, nicht mal Ray konnte...!!“ Doch Kennys Proteste verliefen im Sand. Hatte Tyson sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann war er nur schwer davon abzubringen. Der Blauhaarige lief also in die Küche, wo Kai am Esstisch saß und noch immer auf einen Zeitungsausschnitt starrte. Das tat er nun schon seit fast zwei Stunden. Allem Anschein nach war der Artikel oder was immer es war, schon ziemlich alt, so vergilbt wie er aussah. Tyson blieb im Türrahmen stehen. Zum wiederholten Mal strich Kai sachte über das alte Papier in seiner Hand. Daneben lag ein weiterer Artikel, sie waren sich ähnlich, wenn nicht sogar gleich, mit dem Unterschied, dass der andere wesentlich jünger wirkte. Kai hatte gedacht, er müsste es nie wieder sehen. Doch als er heute Morgen die Zeitung aufgeschlagen hatte, war es ihm sofort ins Auge gesprungen. Und er hatte gut daran getan, sogleich zur Schere zu greifen, damit den anderen der Anblick erspart blieb. Und ihm unangenehme Fragen. „Was willst du, Tyson?“ Er hatte ihn wohl bemerkt. Es wunderte ihn, dass Tyson so still war. Sowieso ließen ihn alle in Ruhe. Hatte das etwas mit seinem Aufsatz gestern zu tun? Er wusste es nicht. Zwar hätte er auch auf sein Zimmer gehen können, doch er wollte nicht allein sein. Nicht heute. Nicht, nachdem er das gesehen hatte. Wenn er alleine wäre, würde er den Erinnerungen verfallen. Das tat er dem ungeachtet jetzt auch, aber es hielt sich in Grenzen. Vor allem, da ab und zu einer seiner Teamkameraden vorbeischaute, sich etwas zu trinken holte und dabei ein paar Worte mit ihm wechselte. Die Küche, fand er, bildete das Zentrum und zu seiner Erleichterung schaffte sie genau die Nische für ihn zwischen Abgeschiedenheit und Kontakt. Ray hatte versucht, ein ernstes Gespräch zu beginnen, was Kai abgeblockt hatte. Er fühlte sich nicht in der Lage dazu. „Was studierst du da eigentlich die ganze Zeit so interessiert?“ Tyson kam auf ihn zu und lugte ihm über die Schulter. „Nichts weiter. Geh wieder trainieren oder was immer du tust oder machen wolltest.“ „Eigentlich wollte ich zu dir. Ich weiß, wir sind uns nicht besonders grün...“, seufzte Tyson resigniert und ging um Kai herum, um sich ihm gegenüber auf einem Stuhl niederzulassen. Kai lachte leise. „Ja, das ist wahr...“ „Magst du nicht trotzdem mit mir drüber reden? Vielleicht grade weil wir nicht so dicke sind?“ „Was ist denn das für ne Logik?!“ Der Blauhaarige zuckte mit den Schultern. Er streckte sich ausgiebig und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Erwartungsvoll sah er seinen Leader an. Verblüfft über soviel Gelassenheit blickte dieser zurück. Dann legte er seine Handfläche auf den neueren Artikel, auf den er das heutige Datum geschrieben hatte – der andere war 11 Jahre älter – und drehte ihn um. Er schob ihn zu Tyson hin, doch bevor er seine Hand zurücknahm, sah er dem Jüngeren eindringlich in die Augen. „Hör zu, verfall nicht in Panik. Und ich will auch nicht, dass du schreist oder sonst wie auf dich aufmerksam machst. Du sollst wissen, dass nicht wahr ist, was du da lesen wirst. Das ist Voltaires Werk. Ihr kennt ihn. Ein Dramatiker ohnegleichen. Er will mir wieder zeigen, wie witzig er sich selbst findet, okay? Also: Nicht schreien!“ Langsam gab er das Stück Papier frei. Bis auf einen Satz war die Nachricht genau identisch der, die Kai noch in der Hand hielt. Tyson rutschte auf seinem Stuhl vor und erschrak. Sein Blick fuhr sofort auf zu Kai, der still wartete. Der dreimalige Weltmeister hob den Zettel vorsichtig an und begann zögernd, stumm zu lesen. Zum 11. Todestag, aber noch immer in liebevollem Gedenken. Ein Abschied, der endgültig ist. Wir lernen, damit umzugehen. Und doch ist der Schmerz für eine Weile stärker als wir. Sophia Hiwatari * x.x.xxxx + x.x.xxxx Alexander Hiwatari * x.x.xxxx + x.x.xxxx Mit zitternden Fingern legte er den Zeitungsausschnitt wieder auf den Tisch und schob ihn zurück. Er hatte Kai versprochen, nicht laut zu werden. Wie konnte er auch, seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, als er anfing: „Aber... aber das... Wie kann das...“ „Ich sagte doch, das ist gefälscht. Ja, es sind die Namen meiner Eltern, aber... sie leben.“ Skeptisch zog Tyson eine Augenbraue hoch und Kai konnte es ihm nicht verdenken. „Kai, bist du dir sicher, dass du dir nichts vormachst? Ich meine, sie melden sich ja gar nicht bei dir!“ „Das brauchen sie auch gar nicht, ich weiß es einfach.“ „Ach so, aha.“ Also das war wieder typisch Tyson, so eine Reaktion konnte nur er bringen! Doch Kai war froh darüber. Mitleid brauchte er nicht. Aber es tat ihm gut, dass jemand fragte, jemand bei ihm war. Und wenn dies auch nur Tyson – nein, halt, das war gemein! In Gedanken tadelte er sich selbst dafür, es war nett von Tyson, zu ihm zu kommen. „Tut dir das nicht... weh?“ „Was?“ „Tut dir das nicht weh? Immerhin ist das ziemlich fies, weil Voltaire bestimmt weiß, dass du wenig Kontakt zu deinen Eltern hast...“ “Oh...“ Kai verstand. Er lächelte leicht. „Na ja, sicher tut es weh... Aber... Nach Freude ist Schmerz einer der wenigen Gefühle, die einem zeigen, dass man noch lebt, weißt du? Also muss ich schon ziemlich lebendig sein, meinst du nicht?“ „Wenn du das glaubst zu sein, warum bist du dann so leichenblass und hängst hier rum wie ein Häufchen Elend? Demnach müsstest du vor Energie nur so sprühen. Leben, das heißt Kraft, Lebensfreude, Feuer und Flamme sein... Aber du sitzt hier nur rum und starrst Löcher in die Luft. Wo soll das enden, Kai?“ Tyson glaubte schon, zu weit gegangen zu sein. Er sah Kai aufstehen. ~Also geht er jetzt...~ Entgegengesetzt zu seinem Glauben hielt Kai jedoch beim Kühlschrank und holte zwei kalte Cola-Dosen heraus, von denen er eine Tyson zuwarf. Dem Silberhaarigen wurde bewusst, das Tyson Recht hatte. Ausgerechnet Tyson, dem er von allen am wenigsten zutraute, was Vernunft und ähnliche Dinge anging. Wenn er genauer drüber nachdachte, hatte er dem Jüngeren ganz schön Unrecht getan, denn sie hatten schließlich beide zuwenig miteinander zu tun, als dass sie sich ein echtes Bild des jeweils anderen hätten machen können. Obwohl sie unter einem Dach wohnten. Von der Cola-Geste ermutigt, fragte Tyson: „Sag mal, nur rein hypothetisch, wenn deine Eltern jetzt aber wirklich irgendwie.. also wenn ihnen was zugestoßen ist, was...?“ Kai unterbrach ihn. „Tyson, das führt doch zu nichts. Hätte, wäre, wenn... Wir wissen nicht, was kommt, das einzig sichere ist die Vergangenheit. Und die liegt hinter uns, ob erfreulich oder nicht bleibt jedem individuell überlassen. Und ich weiß nicht, ob du jetzt darauf hinaus wolltest, aber: Ich kann dir sagen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Er kann Erlösung sein, weißt du... Der Tod ist nur schlimm für die Lebenden. Denn sie bleiben mit ihrer Trauer zurück. Und das ist... nun ja... mehr als ätzend.“ Ray kam verschwitzt aus dem Garten ins Haus. Er hatte mit Max trainiert, der ihm nun ebenfalls schnaufend ins Wohnzimmer folgte. „Ah, gut, dass ihr kommt, gebt mir mal eure Blades, meine Berechnungen sind nun abgeschlossen!“ Beide reichten Kenny ihre Blades. „Wo ist Kai? Sitzt er noch immer in der Küche und bläst Trübsal?“, fragte Ray und ließ sich erschöpft in einen Sessel fallen. „Kai ist in der Küche...“, bestätigte Kenny nickend. „Und Tyson? Ist der oben?“ Max griff nach einer Wasserflasche zu seinen Füßen und trank gierig. Das Match hatte ihn durstig gemacht. Er reichte die Flasche an Ray weiter, während er auf eine Antwort wartete. „Tyson ist in der Küche...“, meinte der Chef gleichmütig und hantierte gerade an Draciel herum. „Das heißt, die beiden Streithähne sind zusammen dort? Hoffentlich noch nicht lange!!“ Kenny sah auf seine Uhr. „Och, jetzt schon an die eineinhalb Stunden. Scheinen sich ganz gut zu amüsieren.“ „Das glaub ich dir erst, wenn ich das sehe!“ Ray und Max schauten ungläubig zur Küche, wo zwei blaue Haarschopfe durch die offene Anrichte zu sehen waren. Gedämpftes Gelächter und leise Stimmen drangen zu den beiden herüber. Fragend starrten sich der Chinese und der Amerikaner an. Dann gingen sie langsam auf die Anrichte zu. Und sie trauten ihren Augen nicht, was sie sahen. „Kneif mich mal, Max...“ Tyson und Kai saßen über den Tisch gebeugt und hielten Karten in der Hand. „Du kannst den Trumpf nicht jetzt schon ausspielen, den musst du behalten, bis du ihn besser einsetzen kannst. Zum Beispiel, um mein Ass abzuwehren. Siehst du, so geht das.“ Kai nahm die Karten, die vor Tyson lagen, und legte sie beiseite. „Jetzt kannst du mich wieder angreifen. Aber sei gewarnt, ich werde mich wehren!“, grinste der Silberhaarige. „Also, mit der kleinsten Karte beginnen, sagst du? Na ja, gut, dann leg ich diese...“ „Aber Tyson, das ist doch schon wieder Trumpf! Herz ist Trumpf, das sag ich dir doch jetzt schon zum...!“ „Ja, ich weiß, aber was soll ich machen? Ich will dir ja auch noch ne reelle Chance lassen...“ „Das heißt, du hast noch drei weitere Trümpfe in der Hand?! Das glaub ich dir nicht!“ „Ist so!“ „Wehe du schummelst! Russen werden sehr ärgerlich, wenn sie beim Kartenspiel beschissen werden...“ Kai hatte noch so hochwertige Karten in der Hand, dass er Tysons Versuche leicht abblocken konnte. „So, wieder verloren, du bist jetzt siebenfacher Durak in Folge geworden. Reicht das jetzt?“ „Eine Revanche noch, ich kann das doch nicht so auf mir sitzen lassen, fast hätte ich dich gehabt!“ „Was macht ihr beiden da?“ Sprachlos vor Erstaunen, dass sich die beiden Erzrivalen zum Kartenspielen zusammengetan hatten, blieben Ray und Max vor der Anrichte stehen. „Uns war langweilig...“ „... und da hab ich Tyson ein russisches Kartenspiel beigebracht.“ „Ich glaubs nicht! Ihr seid ja bekloppt!“ Lachen erfüllte das Haus, so befreit und ansteckend, dass sie sich nur schwer erholen konnten. Kai ordnete schmunzelnd die Karten. Es tat ihm gut, bei ihnen zu sein. Sein Gemüt war stark angeschlagen. Lange hatte er sich mit Tyson unterhalten. Und ihm eingeschärft, dass dieser kein Wort darüber verlieren solle. Der 16-Jährige war sicher, sich auf Tyson verlassen zu können, er hatte sich während ihres Gesprächs von der Rationalität, die der Blauhaarige durchaus besaß, überzeugen können. Als Ray gegen Abend auf seinem Bett saß und sich noch kurz einige Vokabeln für den morgigen Test einprägte, trat Kai ins Zimmer. Der Schwarzhaarige blickte auf. „Hätte nie gedacht, dass du dich mal mit Tyson vernünftig unterhalten kannst!“ „Oh, das war eine Ausnahme, glaub mir – gerade erst hat er mir wieder verdeutlicht, warum ich das nicht schon früher getan habe.“ Kai schüttelte den Kopf. „Voller Ungeduld und Verlangen nach seinem verbesserten Dragoon hat er sein Blade genommen und ihn gestartet. Aber er wusste nicht, dass Kenny ihn losgeschraubt hatte, deswegen ist Dragoon in seine Einzelteile zersprungen. Tyson sammelt die Stücke gerade im Garten ein.“ „Wird er wieder ganz?“ „Sicher, er ist ja nicht kaputt, nur zerlegt...“ Der Silberhaarige ließ sich seufzend auf sein Bett fallen. Sein Zimmergenosse wandte sich nach einem Nicken wieder den Vokabeln zu. „Wirtschaftswachstum?“ Ray stutzte. Wieso fragte er ihn ab? „Ähm, economic growth?“ „Ein Unternehmenszweig? Armut und technologischen Rückstand bekämpfen?“ „Äh, ähm... a company’s subsidiary! Und, hm… fight against poverty and…” „To combat poverty and technological backwardness.” „Wolltest du nicht einen Spaziergang machen? Und wieso kannst du die alle? Ich seh dich nie lernen!!“ Ray warf sein Heft auf seinen Nachttisch und rollte sich auf den Bauch. Seine Beine überkreuzten sich in der Luft und wippten leicht vor und zurück. Er stützte seinen Kopf auf den Armen ab und sah Kai an. „Wenn ich nachts nicht schlafen kann, hab ich sonst nichts anderes zu tun. Und nein, heute bleib ich hier“, erwiderte dieser darauf. „Ach so, na dann wünsch ich dir eine gute Nacht und schlaf gut. Hoffe, du musst heute nicht lernen und kannst durchschlafen.“ Mit einem Zwinkern kroch Ray unter die Decke und kuschelte sich in sein Kissen. Kai wartete, bis er einen gleichmäßigen Atem vernehmen konnte und stand dann leise auf. „Gute Nacht, Ray.“ Er ging ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Es schäumte, als Kai Badesalz hinzufügte. Nachdem er sich ausgezogen hatte, stieg er in die warme Flut. Er hoffte, dass er so den Träumen entgehen konnte, weil das Einschlafen ihm an diesem Abend Unbehagen bereitete. Denn dass ihn unerwünschte Erinnerungen empfangen würden, dessen war er sich sicher. Anmerkung: Ja, aufmerksamen Lesern wird es aufgefallen sein, ich erwähnte das Kartenspiel „Durak“ schon im vorletzten Kapitel... meine Freundin hat es mir dieses Jahr im Juli beigebracht und seitdem bin ich verrückt danach. Und was Tyson passiert ist, nun ja.. ich war auch schon mal siebenfacher Durak, hab sieben Mal hintereinander verloren. Und gegen jemanden zu verlieren, der das Spiel schon mit Kindesbeinen beherrscht, ist auch nicht groß verwunderlich, oder? ^.~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)