Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 9: Erinnerungen ----------------------- Es war Mitte November. Die letzten Flocken eines Schneeschauers rieselten sanft zu Boden, bis ein alltägliches Ritual die Stille der Landschaft brach. "REKRUTEN AUFSTELLEN!" Dieser Ruf donnerte über den Platz. Die mehr als 150 Kinder stellten sich in Reih und Glied nebeneinander auf. Einige waren kaum älter als 8 Jahre. Sie hatten Angst, aber das durften sie nicht zeigen. Sie hatten sich schon längst ihrem Schicksal ergeben, hier ausgebildet zu werden. Doch es gab auch andere. Andere wie Kai. Boris ließ ihn vortreten. "Name?" "Kai Hiwatari", murmelte der Zehnjährige leise. "Wie war das?!" "Kai Hiwatari, Gospodin!", rief er nun lauter, doch seine Augen funkelten seinen Gegenüber wild an. "Sieh mich nicht so an!", forderte der Befehlshaber gereizt. Doch der Blauhaarige dachte gar nicht daran. Boris wurde böse. "Sieh mich nicht so an!!!", brüllte er. Einige Kinder tauschten verwirrt und nervös Blicke, wagten es aber nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben. Kai festigte nur seinen Blick. Da zog der Boris seine schwarzen Lederhandschuhe aus, legte sie übereinander und nahm sie in seine rechte Hand. Dann schlug er Kai damit ein paar Mal links und rechts ins Gesicht. Der Junge taumelte leicht, fing sich jedoch recht rasch wieder. "Zieh deine Jacke aus, dein Hemd und deine Schuhe! Und jetzt lauf 30 Runden um den Platz! Es gibt kein Abendessen, bis du das nicht geschafft hast!", befahl er barsch. Kai tat was ihm aufgetragen worden war, meinte dann aber widerspenstig: "Ich hab eh keinen Hunger!" Da erhob sich Boris' Stimme über die versammelte Kinderschar: "Das gilt für alle! Sollte Kai es nicht schaffen, seine 30 Runden zu vollenden, wird niemand von euch Abendbrot bekommen!" Ein entsetztes Raunen zog sich durch die Gruppe. Ab jetzt hatte schon jeder für sich abgeschlossen, dass es heute Abend wohl nichts zu essen geben würde. Doch sie blieben ruhig, obwohl sie alle Hunger hatten, denn hinter ihnen lag ein anstrengender Morgen. Kai indes schickte einen bitterbösen Blick zu Boris und machte sich dann auf, seine Runden abzulaufen. Währenddessen übten die Kinder spezielle Moves an ihren Blades. Gegen Abend schickte Boris sie dann rein. Weil der Platz groß war, hatte Kai erst drei viertel seines Weges hinter sich gebracht. Als das letzte Licht des Tages erloschen war und nun die Nacht hereinbrach, war Kai fertig. Boris erwartete ihn an der Tür. Er hatte den anderen Kindern bereits erlaubt, zu essen, denn zu seinem äußersten Bedauern ließ sich der Enkel seines Chefs nicht so einfach brechen. Der Silberhaarige jedoch verspürte nicht den Hauch eines Hungergefühls, nein, er wollte nur noch in sein Zimmer. So ging er schweigend an Boris vorbei, der ihm grinsend hinterher sah, seinen Triumph über Kai auskostend. Halb erfroren kam dieser in seinem Zimmer an und versuchte sich aufzuwärmen. Seine Zehen waren bereits dunkelblau angelaufen, sein Oberkörper unnatürlich stark weiß. Als Tala Kai so sah, erschrak er. Obwohl Kai zunächst immer versucht hatte, zu blocken, hatte der Rothaarige es geschafft, sein Vertrauen zu gewinnen und so die Grundlage für eine gute Freundschaft geschaffen. Der Jüngere schälte sich nun die nassen Kleidungsstücke vom Leib, zog sich trockene Sachen an und legte sich sofort ins Bett. Er zitterte am ganzen Körper. "Kai... Soll ich zu dir kommen?" "NEIN!!" Schlotternd wickelte er sich dichter in die dünne Decke. Es war tiefster Winter und die Schüler in der Abtei bekamen eine Decke, die vielleicht gerade mal für den Sommer reichte, für Minusgrade dagegen aber völlig ungeeignet war. ~Er wird erfrieren!~, sagte Tala sich im Stillen. Er ging auf Kai zu. Der kleine Körper bebte vor Kälte. Entschlossen nahm Tala seine Decke und einen Pullover, den seine Oma ihm gestrickt und geschickt hatte und wollte ihn Kai geben. Doch dieser stieß ihn von sich. "Lass das!" "Nein!" Resolut zog Tala ihm den Pullover an. Kai war zu schwach um sich weiterhin dagegen zu wehren. "Von meiner Babuschka", erklärte der Rothaarige. Dann stieg er selbst zu Kai ins Bett. Er zuckte zusammen, als er den Körper des Jüngeren berührte. Eiskalt. Doch er legt sich ganz dicht neben Kai, deckte ihn und sich selbst mit beiden Decken zu und gab seinem Freund so etwas von seiner Körperwärme ab. Als sie ungefähr eine Stunde so gelegen und geschwiegen hatten, war Kai soweit aufgewärmt, dass er leise fragte: "Besucht deine Babuschka dich? Schreibt sie dir?" "Oh ja... Manchmal schickt sie mir diese Pullover... Wenn wir frei kriegen, gehe ich zu ihr. Sie ist meine einzige Verwandte." Kai nickte. "Hey, ich hab eine Idee: Ich nehme dich mit zu ihr! Was meinst du?" Traurig senkte Kai den Kopf. "Voltaire wird es nicht erlauben..." "Der muss es doch auch nicht wissen!! Ich würde sie dir gern vorstellen!" Freudig lächelte Tala ihn an. "Ehrlich?" Tala nickte. Und da lächelte Kai. Es war das erste Mal, das Tala ihn lächeln sah, und er war erleichtert, dachte er doch schon, Kai kannte diese emotionsvolle Mimik gar nicht. Irgendwann war Kai dann eingeschlafen und schmiegte sich eng an Tala. Noch immer war er unterkühlt, doch langsam wurde seine Haut wieder wärmer. "Diese Schinder...", murmelte der Rothaarige leise, "was hat er denn bloß getan?" Tala verstand nicht, warum Kai immer wieder den Schikanen von Boris ausgesetzt war. Und auch nicht, warum Voltaire dies zuließ, zumal es sein Enkel war und sich auch redlich bemühte. Und darüber weiter grübelnd, schlief auch Tala endlich ein. Mühsam öffnete Kai die Augen. Erst nach mehrmaligem Blinzeln schaffte er es, seine Lider aufzuschlagen. Zunächst war alles dunkel. Als sich seine Pupillen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er langsam die Umrisse in dem Zimmer war, in dem er sich befand. Vorsichtig richtete er sich auf, begann dabei aber fürchterlich zu husten. Er erkannte das Zimmer als seines. Es musste wohl schon Mittag sein, die Vorhänge waren zugezogen, doch schien die Sonne direkt auf das Fenster und ließ den Rahmen gelborange leuchten. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Er fühlte sich kraftlos und ausgelaugt, so als hätte man ihn wie eine Zitrone ausgepresst. Seufzend ließ er sich zurück in die Kissen fallen. Ihm fiel auf, dass er ein anderes T-Shirt und nur noch Boxershorts trug. Jemand musste ihn umgezogen haben. Doch im Moment konnte er sich nicht darüber aufregen. Vor sich hin dösend blieb er noch einige Minuten liegen. Dann raffte er sich innerlich auf und schob sich langsam zum Bettrand. Am liebsten würde er sich jetzt einfach aus dem Bett fallen lassen und dann ins Badezimmer kriechen. Wieder seufzte er schwer. Nun aber stand er auf und schlurfte los zum Bad. Im Gehen zog er sich das T-Shirt aus und warf es in eine Ecke des Zimmers. Im Bad selbst entledigte er sich seiner Shorts und nahm eine erfrischende Dusche. Es tat ihm gut, das Wasser auf sich niederprasseln zu lassen. Er änderte die Temperatur von lauwarm in kalt, dann in warm, dann wieder kalt und zum Schluss wieder lauwarm. Das belebte. Er stellte das Wasser aus, zog ein Handtuch aus dem Schrank und trocknete sich ab. Ein kurzer Blick in den Spiegel sagte ihm, dass er anders aussah, aber was genau so anders an ihm war, wusste er im Moment auch nicht. Also schlurfte er, das Handtuch um die Hüften geschlungen, wieder ins Schlafzimmer, wo er sich anzog. Bei seinem ganzen Tun wirkte er lustlos, seine sonstige stolze Haltung wie weggeblasen. Zurück im Badezimmer kämmte er sich die Haare. Dabei überlegte er fieberhaft, warum ihm sein Spiegelbild so fremd vorkam. Als er die Bürste weglegte, fiel sein Blick auf eine mitternachtsblaue Dose mit kyrillischen Lettern. Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er sah so anders aus, weil er seine Streifen nicht im Gesicht hatte! Sofort änderte er das. Nun gefiel ihm sein Bild wieder. Auch fiel ihm auf, dass er gesünder aussah. Seine Augenringe waren kaum noch erkennbar. Anscheinend hatte er eine Erholung gebraucht. Er lächelte zufrieden. Danach lief er langsam die Treppe runter. Kai betrat die Küche. Sogleich richteten sich fünf Augenpaare auf ihn. Doch niemand sagte ein Wort. "Guten Morgen", meinte Kai und seine Stimme klang rau. "Guten Morgen", erwiderten alle seinen Gruß, weiter sagten sie nichts. Kai legte die Stirn in Falten, überlegte, drehte sich dann zur Anrichte um und begann damit, Kaffee zu kochen. "Zwei Tage", durchbrach Max' ernste Stimme die Stille. "Was zwei Tage?", fragte Kai verwirrt. "Zwei Tage hast du geschlafen." Kai wandte sich seinem Team zu. Er sah in fünf besorgte und ernst dreinblickende Gesichter. "Heute ist der letzte Ferientag", ergänzte Kenny leise. "Und trink keinen Kaffee, das verträgt sich mit deinen Tabletten nicht", erklärte Ray ihm und stellte kurzerhand die Kaffeemaschine aus. Verdutzt sah Kai ihn an. "Was denn für Tabletten?" "Die, die du gekriegt hast, und die, die du nehmen wirst." Ray nickte Tyson zu. Dieser stand auf und öffnete eine Schranktür. Zum Vorschein kamen diverse Packungen. Kai nahm sie nacheinander heraus. Einige waren gegen physische Schmerzen, aber die meisten waren Antidepressiva. "Das ist nicht euer Ernst." Der Silberhaarige war fassungslos. "Doch, ist es. Dein letzte Match war zwar durchaus beeindruckend, aber auch beängstigend. Wir haben Mr. D. die Aufzeichnungen von Dizzy gezeigt. Und zusammen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass du Hilfe benötigst. Und darunter fällt auch ärztliche Hilfe. Für heute ist ein erstes Treffen mit einer Diplompsychologin angesagt." Ray verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn entschlossen an. Kai blickte von einem zum anderen und blieb dann an Mr. Dickensons furchtbar mitleidiger Miene hängen. Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes. "... In Ordnung." "Was?", fragte Tyson verblüfft. Alle hatten mit heftigster Gegenwehr gerechnet. "In Ordnung. Ich gehe heute zu dieser Frau Psychologin." "Aber das ist nicht nur heute, deine Sitzungen sind mehrtägig, das weißt du schon, oder?!", bohrte Ray nach. "Sicher." "Und du bist damit einverstanden?" "Da ihr mir keine Wahl lassen werdet, muss ich ja wohl damit einverstanden sein, oder?" Kai setzte den Kaffee wieder auf. Dabei fragte er: "Wie viel habt ihr mir von den Medikamenten gegeben?" Kenny stellte ihm die Tablettenkonstellation zusammen, die er verabreicht bekommen hatte. "Ok. Aber ihr könnt vergessen, dass ich die jetzt noch nehme. Und die Antidepressiva werde ich auch nicht anrühren. Es ist eine ungeheure Beleidigung, so was von mir zu verlangen!" Die Jungen schauten sich betreten an. "Na ja, aber wir dachten... Also da ist noch was, was wir dir sagen müssen...", begann Tyson langsam. Der Kaffee war fertig und Kai goss ihn sich in eine Tasse. Er wartete darauf, dass jemand fortfuhr. "Du musst jetzt ganz stark sein, Kai. Ähm, also, es ist so... Reg dich jetzt bitte nicht auf, wir haben so was auch noch nie vorher gesehen, aber...", setzte Tyson fort, wurde aber unwirsch von Kai unterbrochen. "Ja, ist gut, hab ich verstanden! Jetzt sagt endlich was ihr mir sagen wollt, ich hab nicht ewig Zeit!" "Wir haben uns gedacht, du würdest die Antidepressiva vielleicht brauchen, weil... Dranzer ist weg." "Was?!" "Das ist das einzige was von ihm übrig ist. Nach deinem Zusammenbruch hat er sich aufgelöst. Der Bitchip ist unrettbar zerstört. Und dein Blade ist versengt und wie durch Hitze verformt, ich bin noch nicht dazu gekommen, das zu reparieren." Kenny gab dem Teamleader eine kleine Schachtel, in der die Überreste des Bitchips lagen, und zeigte ihm seinen verkohlten Blade. Kai nahm die Schachtel an sich und öffnete sie. Sofort dachte er an sein Amulett. Er war sich nicht ganz sicher, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass sein Phönix NICHT fort war. Er öffnete den Schrank, in dem der Mülleimer stand, und kippte den Inhalt der Schachtel in eben diesen. Den Bladebreakers und ihrem Sponsor stand das blanke Entsetzen in ihren Gesichtern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)