Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 45: Mea culpa - Meine Schuld ------------------------------------     When people ask you what happened here, tell them the Wolf remembers. Tell them winter came for Balkov Abbey. — Tala Ivanow             Sie reisten mit dem Zug. Manchmal war der Weg das Ziel. Es war zumindest unauffälliger. Ihr Waggon war relativ leer. Anna Ivanow war eingeschlafen. Während der Zugfahrt nach Hause wollte Kai sich auf die Ankunft in Kyoto vorbereiten und hatte sein Handy wieder angeschaltet, das er während der gesamten Rettungsaktion ausgeschaltet hatte. „Fuck, ich hatte die Rufumleitung in meinem Privathandy drin!“ „Wohin hat es denn umgeleitet?“ „Auf mein ‚Diensthandy‘!“ Sofort prüfte Kai, ob ihn jemand angerufen hatte. „Ray. Er hat es ein paar Mal versucht, aber keine Nachricht hinterlassen. Ich hab einige SMS vom Team bekommen.“ Tala beugte sich vorsichtig nach vorne, um seine schlafende Babuschka nicht zu wecken. „Lies vor.“ Kai öffnete seinen Nachrichtenordner. Nacheinander las er die Nachrichten vor, wie sie eingetroffen waren.     „Montag, 11:43 [Chef]: Hey Kai. Wie sind die Kurse? Ich hoffe, ihr lernt viel. Wie bereiten die euch denn auf die Uni vor? Erzähl doch mal! Kenny.“     Tala nickte. Sie hätten vielleicht eher mal ein Lebenszeichen von sich geben sollen, aber sie hatten andere Sorgen gehabt.     „Donnerstag, 14:52 [Minimum]: Kai, ich hoffe, du und Tala habt eine gute Zeit. Sag Tala bitte, dass es mir Leid tut, ich wollte ihn nicht beleidigen. Sicher ist er einer der besten in euren Kursen. Bye, Max“     Mit einem ärgerlichen Brummen quittierte Tala diese Nachricht. „Was für ein Schleimer“, schnaubte er. Der Disput am letzten Tag im Garten der Bladebreakers-WG war noch immer nicht gänzlich vergessen. Kai ignorierte Talas Einwand und las weiter:     „Freitag, 17:03 [Nervenzwerg]: Hey. Meld dich mal wieder. Wir vermissen dich. Ich vermisse dich. Mit wem soll ich mich denn sonst zoffen? … Schreib mir bitte mal. Tyson“     Kai hielt inne. Das war unorthodox für Tyson. Er verspürte ein Gefühl, was stark in Richtung Vermissen ging, und einen Hauch von Reue. Sollte der quirlige Japaner es tatsächlich geschafft haben, sich irgendwie einen festen Platz in Kais Herzen zu erschleichen…?     „Montag, 06:12 [SamuRay]: Ich habe dich so oft versucht anzurufen. Du gehst aber nie ran. Außerdem hast du eine sehr merkwürde Mailbox. Jedenfalls: Lin fragt nach dir. Ich hoffe, ihr meldet euch irgendwann mal. Ray“     „Dienstag, 12:20 [SamuRay]: Hey, noch mal ich. Ich hoffe, ihr seid nicht sauer auf Max. Oder mich. Wir machen uns einfach nur Sorgen. LG Ray“     „Ray ist ziemlich hartnäckig“, meinte Tala und deckte ihre Babuschka mit seiner Jacke zu. Leider waren alle altmodischen Schlafwagen ausgebucht gewesen. Kai war gerade sehr froh, dass sie während ihrer Erholungszeit bei Annas Freundin, währenddessen sie sich gegenseitig ihre Wunden geleckt hatten, Zeit gefunden hatten, seinem Team wenigstens eine erklärende Email zu schicken. Glücklicherweise hatte Sergej ihnen dabei geholfen, so dass wenigsten an der Front die Wogen ein wenig geglättet waren. Die SMS waren zum Glück älter, so dass man ihre Mail als Antwort darauf verstehen konnte. Der Blaugrauhaarige seufzte schwer. Die hohe Nachfrage nach ihnen machte ihm zu schaffen. Es war anstrengend. Und langsam verlor er den Überblick über die Ausreden und Lügen, die er in Bezug auf ihr Doppelleben bereits erzählt hatte. Kai steckte sein Handy wieder ein und kontrollierte ihren Fahrplan. Es waren noch 3 Stunden bis zu ihrer Haltestelle. „Können wir noch mal durchgehen, was wir – bzw. was ich mache, wenn wir auf mein Team treffen? Lass uns auch noch mal den Zeitplan prüfen, an dem du dich orientierst, um unsere gefälschten Universitätsnachweise zu erstellen.“ Und danach war Zeit für ein Nickerchen…       ~*~     Ein ohrenbetäubender Alarm schrillte mitten in der Nacht los. Kenny landete unsanft auf seinem Hosenboden. Dizzys Alarm hatte er vielleicht etwas zu laut eingestellt. „Is‘ ja schon gut, hör auf zu plärren!“ „Du wolltest benachrichtigt werden!“, entgegnete die Computerstimme unter lauten Sirenengeräuschen und Tröten. „Geht’s noch, Kenny, was soll das?!“ Ray und Max standen in der Tür. Max rieb sich müde die Augen, Ray war alarmiert. Endlich schaffte Kenny es, den richtigen Knopf für Ruhe zu drücken. „Scheint, als ob wir eine E-Mail bekommen haben!“ Ray war sofort hellwach. Diesen Erinnerer hatte Kenny nur dafür eingerichtet, wenn sie eine Nachricht von Kais Mailadresse bekamen. Er schloss die Tür leise hinter sich. Tyson schlief noch seelenruhig in seinem Bett, denn er hatte trainiert. Das tat er jetzt umso intensiver, er wollte Kai beweisen, dass er vernünftig sein konnte – er wollte, dass sein Leader stolz auf ihn war. Aber sein Einsatz forderte einen Tribut. Selbst eine ganze Nashornherde hätte ihn jetzt nicht aufwecken können. Zu dritt setzten sie sich also um Kennys Laptop auf dessen Bett. Den Text, den Dizzy vorlas, lasen sie mit:       Hey Leute. Tala und mir geht es gut. Entschuldigt die lange Funkstille. Erstens sind die Aufgaben wirklich anspruchsvoll und daher zeitaufwändig. Zweitens ist die Ausstattung der Uni eher mittelmäßig. Immerhin gibt es einen Computer-Pool. Wir lernen hier unter anderem, wie man lernt. Es gibt einen Kurs im Methodentraining sowie einen Kurs für wissenschaftliches Arbeiten allgemein. Wir dürfen uns auch verschiedene Vorlesungen ansehen. Tala interessiert sich für eine Einführungsvorlesung zur mittelalterlichen Geschichte. Ich habe mich für eine juristische Vorlesung entschieden, um einfach in so viele Bereiche wie möglich zu schnuppern. Außerdem besuchen wir beide ein Hauptseminar mit dem Titel „Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit im ausgehenden Zarenreich 1861-1914“. Entgegen Max‘ Meinung laufen die Sprachkurse erstaunlich gut, soll ich euch von Tala sagen.   In zwei oder drei Wochen kehren wir wieder zurück. Ich habe hier noch eine Angelegenheit zu klären. Ich weiß nicht, inwieweit ihr es mitbekommen habt, aber Voltaire hatte wohl so etwas wie einen Unfall und seine Anwälte haben mich kontaktiert. Was genau sie von mir wollen, entzieht sich meiner Kenntnis.   Sagt Lin, dass ich sie vermisse. Wir sehen uns. Kai.         „Huh.“ Rays Blick wanderte wiederholt über die Zeilen. Irgendwas an der Art wie Kai schrieb, machte ihn skeptisch, aber… wenn er so drüber nachdachte, war Kais Schreibstil schon immer merkwürdig gewesen. Vielleicht war es, weil er meist wenig redete und selten Email an sie schrieb. Die wenigen SMS, die sie von ihm erhielten, enthielten meist kurze und bündige Aufforderungen wie „Bring Milch mit“ oder „Training heute um fünf“. „Na, das klingt doch gut, oder?“, freute sich Max verhalten, „Aber Tala scheint mir noch nicht verziehen zu haben. Oh man, wie oft muss ich mich noch entschuldigen?“ „Tala ist ein ziemlich stolzer Typ. Da musst du wohl noch länger zu Kreuze kriechen“, meinte Dizzy. Kenny tippte sich ans Kinn: „Also stimmt es, was in den Nachrichten war. Allerdings ist es komisch, dass Kai nicht erwähnt, dass Voltaire tot ist.“ „Vielleicht ist er nicht tot? Der ganze Vorfall war ja alles sehr verdächtig…“ Max zuckte mit den Schultern. „Wir können ihn ja fragen, wenn Kai wieder da ist.“ Ray sah ihn ernst an: „DU fragst ihn nicht, dein Taktgefühl gleicht einem Nilpferd beim Ballett.“ Max wollte protestieren, aber sein Blick fiel erneut auf die Erwähnung seines Namens in der Mail und er verstummte. Kenny klappte seinen Laptop zu und klatschte in die Hände: „Lasst uns Lin und Tyson morgen davon erzählen. Die Nachricht wird sie sicher freuen.“         ~*~       „Du hast versucht, es ihm auszureden?“, fragte Anna Ivanow, während sie auf dem kargen Flur eines Notarbüros saßen und warteten. Tala zuckte mit den Schultern: „Ja. Hat nicht funktioniert.“ „DAS sehe ich!“, äußerte seine Oma sarkastisch und verdrehte ihre Augen. Kai war allein in die Höhle der Löwen gegangen, wie Tala meinte, denn die Anwälte und Nachlassverwalter von John Hiwatari hatten ihn dringlich gebeten, zur Testamentseröffnung zu kommen. Es war ausdrücklich beim Notar vermerkt, dass die letzten lebenden Blutsverwandten allein zur Testamentseröffnung kämen. Kai war jetzt schon zehn Minuten in dem Büro. Ein gefundenes Fressen, so ein Jugendlicher ohne Obhut eines Erwachsenen. „Weißt du, was sie immer als Moral in den alten Samurai-Filmen gesagt haben?“, fragte Anna plötzlich in die angespannte Warteatmosphäre hinein. Fragend sah ihr Enkel sie an. „Man soll niemals ein Schwert aus Wut oder Rache benutzen. Denn eine blutige Klinge richtet sich immer gegen dich selbst.“ Tala starrte wieder auf Bürotür. „Wenn wir das Schwert jetzt nicht geschwungen hätten, hätte es uns irgendwann gerichtet. Und theoretisch führe ich diese Klinge ja dann immer noch. Dann habe auch immer noch ich die Entscheidungsgewalt über sie. Ich kann mit der auf mich gerichteten Klinge leben.         ~*~         Es war schon dunkel, als sie endlich in Kyoto ankamen. Ihr erster Stopp auf japanischem Boden war in Kais altem Elternhaus. Die Reise mit unterschiedlichen Zwischenstopps war aufreibend gewesen. Tala und Babuschka richteten sich häuslich ein, während Kai auf der Einfahrt auf seinem Koffer saß und das Haus anstarrte. Er fühlte sich irgendwie schwerfällig. Sein Kopf spannte, seine Stirn fühlte sich an, als zöge er ständig die Augenbrauen zusammen. „Hey... Meinetwegen können wir“, meinte Tala und stupste ihn an der Schulter an. Kai war dankbar, dass sein Freund ihn zur WG begleitete. Obwohl er sich einerseits auf die Gesichter seiner Teamkameraden freute, sträubte sein Innerstes sich, zurückzukehren und sich möglichen Fragen auszusetzen. Einerseits wollte er in die Sicherheit und die Abkehr des Grauens abtauchen, und sich weit weg von Blut und Gewalt über den Alltag ärgern, andererseits war genau das der Grund, warum er sie nicht treffen wollte. Je mehr zeitlicher Abstand zu den Ereignissen in Moskau entstand, desto häufiger sah er das Blut vor seinem inneren Auge, wenn er diese schloss. Besonders das inkarzerierte Mädchen ließ die Schuldgefühle bei ihm ins Unendliche schießen. Kai seufzte und stand von seinem Koffer auf. „Kann losgehen.“     Leise drehte Kai den Schlüssel im Schloss herum. „Gratuliere! So früh wie heute sind Sie noch nie zu spät gekommen!“, hallte Tysons fröhliche Stimme über den Flur, Mr. Dickenson erwartend. Das fröhliche Getrappel erstarb jäh, als Tyson im Flur ankam und nicht Mr. Dickenson erblickte. „Kai?“, stammelte er überrumpelt. „…und Tala. Hallo, wir sind wieder da“, erwiderte Tala flach und schob Kai ins Haus. Er stieß ihm sanft in die Seite und Kai riss sich zusammen. „Oh mein Gott, Kai!“ Tyson rannte auf ihn zu und zog ihn in eine feste Umarmung. Er schien ihn gar nicht loslassen zu wollen. „Uhm, Tyson… nicht soo fest!“, keuchte Kai etwas erstickt, und hielt sich im nächsten Moment schmerzvoll das Ohr, als Tyson mit Inbrunst durchs ganze Haus schrie: „KAI IST WIEDER DA! LEUTE!!!“ Kurz darauf fand Kai sich umringt von seinen Teamkameraden wieder. Jeder von ihnen wollte sich überzeugen, dass er es wirklich war. Sie brabbelten alle durcheinander. Tala war in einer Ecke abgedrängt worden. Der Rotschopf nahm sein Schicksal an und brachte in der Zeit Kais Koffer aufs Zimmer. „Wo ist Lin?“, fragte Kai endlich, nachdem er nun wirklich jeden einmal umarmt hatte. Nur das Mädchen fehlte. Es öffnete sich eine Schneise für ihn, an deren Ende Lin stand. Sie sah ihn an, biss sich auf die Lippen und als Kai sie anlächelte und etwas die Arme ausbreitete, damit sie zu ihm kam, drehte sie auf dem Absatz um und rannte in die Küche, wo sie sich versteckte. Das schmerzte Kai sehr. „Was… was war das denn?“ Ray legte eine Hand auf Kais Rücken und führte ihn ins Wohnzimmer. „Sie fremdelt vielleicht etwas. Oder ist eingeschnappt. Du warst lange weg. Ich glaub, das ist normal. Mariah hatte das auch damals mit Lee.“ „Kai! Jetzt sag doch mal!“, hibbelte Tyson aufgeregt, „Was ist passiert in der Abtei? Wer ist gestorben, hast du das gehört? Warst du dabei?“ Kai zuckte zusammen bei der letzten Frage. Ray sah Tyson strafend an. „Wir haben doch über Taktgefühl gesprochen!“, zischte der Chinese den Japaner an. „Oh…Entschuldige“, murmelte Tyson ertappt und setzte sich ruhiger auf einen sTuhl. „Nein, mir tut es leid“, fing Kai an, der in seinem Sessel Platz genommen hatte. „Es tut mir leid, dass es länger gedauert hat in Russland. Ich musste Voltaires Erbe antreten. Voltaire und Boris sind beide tot. Und zu deiner letzten Frage, Tyson: Ich war nicht dabei. Aber… Lass es mich so sagen: Wenn mein Großvater ertränke, nähme ich einen Klappstuhl und sähe zu.“ „Du klingst grausam, Kai. Er war immer noch dein Großvater“, warf Ray vorsichtig ein. Es überraschte ihn, dass Kai scheinbar so freimütig über dieses wichtige Ereignis sprach. „Manchmal ist es schwer, Familie zu haben. Blut ist nicht dicker als Wasser, wisst ihr.“ „Ja, aber manchmal ist es auch schwerer, keine zu haben“, entgegnete Ray hartnäckig. „Kai, aber… magst du vielleicht erzählen, was passiert ist? Wie hast du von seinem Tod erfahren?“, fragte nun Max. „Ja, das, oder wenn du darüber nicht sprechen möchtest, erzähl uns von euren Erfahrungen an der Universität? Was habt ihr genau gemacht? Was habt ihr gelernt? Kann man an Universitäten auch Bladen? Und ja, eigentlich interessiert es mich auch brennend, wie Boris und Voltaire gestorben sind…“ Tysons Fragenbombardement brachte eine typische Kai-Reaktion hervor: „Kann ich dein Schweigen mit Tomaten erkaufen? „Wie, zum Essen?“, fragte Tyson irritiert. „Wenn du sie fangen kannst, während ich dich damit bewerfe!“ Die leichte Drohung ließ die Freunde kurz auflachen. Kais brummiger Ton zeigte ihnen, dass er immer noch der Alte war – zumindest oberflächlich. Durch das Lachen angelockt näherte sich nun auch Lin langsam der Gruppe Jungen. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kai das und atmete innerlich erleichtert auf. Immer noch neugierig ruhte der Blick aller auf ihm. Er stieß hörbar besiegt die Luft aus. „Es war wohl ein Unfall. Wenn ihr euch an unsere erste Weltmeisterschaft erinnert: Die Starter, Talas Verschwinden… Es gab verschiedene Experimente unter den Gewölben der Abtei und scheinbar ist … irgendwas schief gegangen. Die Abtei ist zum Teil explodiert.“ Kai hielt sich relativ eng an die Wahrheit. Das machte das Verschweigen einfacher. „Bei dieser Explosion muss Boris gestorben sein, so wie ich das verstanden habe. Trümmerteile haben Voltaire unter sich begraben. Auch er ist also dort gestorben.“   Während er redete, kroch Lin leise und langsam auf seinen Schoß. Ihre schlanken Arme schlangen sich fest um seinen Oberkörper, sie verbarg das Gesicht an seiner Brust und drückte sich einfach nur fest an sich. Kai erwiderte die Geste und legte beide Arme um sie, hielten sie. Instinktiv drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel. Plötzlich überkam ihn eine Erinnerung an seine Eltern. Er spürte ein Zittern durch seinen Körper ziehen, rief sich aber innerlich zur Ruhe. „Warum…  kannst du das so ruhig erzählen? Ich weiß, du hast ihn gehasst… Aber… ich kann mir nicht vorstellen… Ich meine, wenn jemand stirbt, mit dem man verwandt ist, dann… trauert man doch? Irgendwie?“ Kai unterdrückte den Impuls, zu lachen. „Trauern? Ich jubiliere.“ Seine Hände, die vor nicht allzu langer Zeit noch jemandem den Hals umgedreht hatten, streichelten nun den Kopf eines kleinen Mädchens und das so zärtlich, dass man glauben könnte, er könnte nie jemandem etwas zuleide tun. Er konzentrierte sich auf die Berührung, um nicht durchzudrehen. Erinnerungsfetzen ziepten an seinem Verstand. Er wusste, dass ihn gerade eine körperliche Erinnerung zu packen versuchte. Das waren ihm die leidigsten: Körperliche Erinnerungen bedeuteten, dass man die Erinnerung spürte, so als ob man es just in dem Moment noch einmal erlebte. Sein Blick suchte Talas, der an der Wand lehnte.   „Может быть, пришло время рассказать им сейчас.“[2] Kai nickte seinem Freund zu. Er atmete tief durch. „Ihr scheint nicht zu verstehen, warum ich kein familiäres Verhältnis zu meinem Großvater habe. Er war nie ein Großvater, wie ihr das kennt, und mit deinem Opa, Tyson, in keinem Fall zu vergleichen.“ Kai wappnete sich. Ray sah, wie Kais Hand sich öffnete und schloss und die Knöchel dabei weiß hervortraten. „Bis zu meinem 5. Lebensjahr lebte ich nur bei meinen Eltern, Sophia und Alexander Hiwatari. Erst dann lernte ich meinen Großvater kennen. Meine Eltern waren in eine Organisation verwickelt oder so etwas. Ich hab das damals schon nicht verstanden. Und weil sie deswegen oft weg waren und ich noch so klein war, mussten sie mich auch irgendwo unterbringen. Und was lag da näher als mein...“   Er atmete tief ein und aus. Der Schwarzhaarige sorgte sich. Vielleicht hatte die Todesnachricht doch mehr in Kai aufgewühlt als der Halbrusse zugeben wollte?   „… als mein Großvater?! Na ja, Voltaire war der Vater meines Vaters. Und der Leiter der Abtei, wie ihr wisst, in der ich dann unterkam. Es war zwar immer nur für eine kurze Zeit, in der ich bei ihm war; meine Eltern holten mich immer wieder nach Hause. Und das war auch der einzige Grund, warum ich dort blieb: Ich wusste, dass sie mich holen, und das war das Schönste an der Zeit in der Abtei.“   Sein Herz klopfte schneller. Lin schien das aufzufallen, sie hob fragend den Kopf und legte ihr Ohr dann wieder auf seine Brust.   „Ich war nie gern bei ihm, meinem Großvater, es war immer so furchtbar dunkel in seiner Abtei. Das mochte ich gar nicht. Und es war so... überfüllt. Denn viele Schüler arbeiteten in der Abtei... Ich hatte bis zu einem gewissen Datum nur gedacht, es wäre eine normale Trainingsinstitution, in der Kinder völlig verschiedenen Alters mit ihren Beyblades üben... Meistens waren sie zwischen neun und 21 Jahren, die jüngsten vielleicht acht.“ „Aber das war sie eben nicht“, warf Tala von der Wand her ein und verschwand in der Küche. Er brauchte einen Drink. Und Kai würde auch einen brauchen. Kai fuhr langsam fort: „Je öfter ich bei ihm war, desto mehr gewöhnte ich mich an das dunkle Gemäuer, an die Schüler, die vielen Jungen und Mädchen, die mir so viel älter erschienen, und an der rauen Umgangsform, die dort herrschte. Voltaire band mich in das Training ein. Er wusste, woher auch immer, dass ich das Bladen mochte. Und er erkannte recht schnell mein Potenzial dafür. Er ließ mich jeden Tag härter trainieren und auch jeden Tag länger. Ich bemerkte nicht, wie oder dass ich mich veränderte. Doch meinen Eltern fiel es auf...“ Er schwieg kurz, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er weiter sprach: „Ich erinnere mich noch daran, wie meine Eltern mich ... das letzte Mal... nach Hause holten. In der ersten Woche musste ich mich erst wieder an das Licht und die Wärme gewöhnen.“   Es war Wärme, die ihm seine Eltern gegeben hatten. Kai wusste nicht, wie er seinen Freunden das verständlich machen sollte. Er rang nach passenden Worten.   „Die Dunkelheit in der Abtei war oder ist nicht grundsätzlich von der Helligkeit im Gebäude abhängig. Wenn du drin bist, konfrontieren die Wächter dich mit einem täglichen Verhör. Läufst du kurz über den Flur, ohne Grund, wirst du sofort verdächtig, irgendetwas, egal was, Verbotenes zu tun. Boris Balkov, der Chef-Trainer, er, der über allen anderen steht, sagt dir was und du hast es auszuführen. Sein Wort ist Gesetz und wenn du dich sträubst, dich wehrst, dann wirst du wegen Ungehorsam bestraft.“   Er war ins Präsens gefallen, als ob er wieder alles erlebte, was ihm damals geschehen war. Es war ein Indiz dafür, dass seine Vergangenheit ihn noch immer nicht losließ und ihn gefangen hielt. Die Ereignisse in Moskau hatten alles wieder aufgewühlt. Ein kurzes Zittern seiner Stimme war zu hören, doch nur kurz.   „Wenn... Wenn du Glück hast, musst du draußen deine Runden ablaufen, das konnten bis zu 50 werden... Oder du wirst geschlagen, meistens mit der Hand. Oder einmal, das weiß ich noch, da wurde ich mit den schweren Handschuhen meines Großvaters geschlagen...“   Tyson schnappte erschrocken nach Luft. Keiner der Anwesenden konnte sich die Grausamkeit vorstellen, die wirklich dort geherrscht haben musste. Aber allein der Gedanke daran, wie es wäre, in der Abtei aufgewachsen zu sein, schnürte ihnen die Luft ab.   „Wenn du aber Pech hast oder Voltaire und Boris schlecht drauf sind, wirst du ‚aus Züchtigungsgründen’ mit Gürteln oder anderen Lederriemen regelrecht verprügelt, indem ein Wärter oder Boris selbst diese wie Peitschen kraftvoll auf deinen entblößten Rücken niedersausen lässt.“   Der kleine Körper auf ihm zuckte leicht zusammen und bebte. Lin drückte sich enger an Kai. Seine Berichte erinnerten sie an ihre eigene Vergangenheit; sie konnte seine Erfahrungen nachvollziehen. Kai spürte ihr Zittern, aber er konnte nicht aufhören zu reden. Die Worte mussten raus, seine Geschichte wollte jetzt erzählt werden.   „Oder du musst dich bis auf Kleidungsstücke, die Boris bestimmt, ausziehen und in einer Kälte von bis zu zweistelligen Minusgraden, bei jedem Wetter, sogar bei Ankündigungen von Schneestürmen, so und so viele Runden laufen, weil Boris dich ‚zum Trainieren’ nach draußen schickt... So war es eben und es ist mit Sicherheit noch immer so.“ „Wenn die Abtei nicht jetzt abgefackelt wäre“, ergänzte Tala. Sie tauschten Blicke aus. Kai griff zu einem Glas Wasser und nahm einen Schluck. Er erinnerte sich, was er eigentlich erzählen wollte und räusperte sich. Hart stieß er die Luft aus.   „Jedenfalls... Nach dieser Woche, in der ich mich wirklich so benommen hatte, wie Voltaire es sich vorstellte, schlugen meine Eltern vor, in einen Freizeitpark zu gehen.“ Kai erinnerte sich, wie aufgeregt er gewesen war, denn er war noch nie dort gewesen. „Am Abend davor hörte ich meine Eltern über mich sprechen. Meine Mutter sagte, dass ich mich verändert hätte. Ich wäre ruhiger geworden, stiller. Mein Vater meinte, dass er sich nicht wundern würde, wenn ich Wunden oder Narben von ‚Züchtigungen’ besäße.“ Er sah kurz zu Boden, wollte sich keine Blöße geben, doch jetzt war es zu spät und er konnte ihnen getrost die ganze Wahrheit sagen. „Ich bin... weinend ins Wohnzimmer gekommen, in dem meine Eltern saßen, und habe sie gefragt, ob sie mich nun nicht mehr ‚lieb haben‘ würden.“   Seine Mutter zog ihn zu sich auf ihren Schoß und strich ihm durchs Haar, so wie sie es immer getan hatte, um ihn zu trösten. Seine Eltern verneinten beide seine Frage und ihre Versicherung beruhigte ihn, so dass er sich an seine Mutter schmiegte. Irgendwann dann musste er wohl eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen war er im Bett seiner Eltern aufgewacht. Anscheinend hatten sie ihn hochgetragen...   Kai war zu diesem Zeitpunkt noch keine sechs Jahre alt gewesen, hatte aber in diesem einen Jahr mehr Zeit bei seinem Großvater als mit seinen Eltern verbracht. Wieder hielt er inne. Die Erinnerung schmerzte, obwohl oder gerade weil sie so schön war. „Wir gingen dann wirklich in einen Vergnügungspark. Wir hatten so viel Spaß! ... Mein Vater musste mit mir neun Mal in fünf verschiedene Achterbahnen, nachher war ihm speiübel...“ Er lächelte. „Mama ist mit mir in eine Wildwasserbahn und auf das Riesenrad gestiegen. Papa hatte nämlich Höhenangst… Wir lachten viel an diesem Tag. Das wurde das letzte Mal, dass wir so fröhlich und glücklich zusammen waren. Ein paar Wochen später dann sollte ich wieder zu meinem Großvater. Meine Mutter versprach mir, dass es das letzte Mal sein sollte, weil sie die Veränderungen an mir, die nach jedem ‚Besuch’ bei Voltaire deutlicher wurden, schnellstmöglich rückgängig machen wollten. Ich glaubte ihr und hielt diesen Gedanken hoffnungsvoll all die Wochen fest. Damals war ich fast sechs Jahre alt. Mein ‚Großvater’ hatte einen Plan, er hatte etwas ‚Großes’ mit uns Abteischülern vor. Mein Hobby, das Bladen, durfte ich in der Abtei weiterhin betreiben. Voltaire hatte herausgefunden, dass ich auch gut mit einem Bit Beast umgehen konnte. Dranzer nämlich war ein Geschenk meiner Eltern. Sie hatten zu ihrem Hochzeitstag von der Familie meiner Mutter einen Edelstein geschenkt bekommen, der an einem Amulett befestigt war und der laut meiner Großmutter ‚geheimnisvolle Kräfte’ besaß. Diese Kraft war Dranzer.“   Bei dieser Erzählung glitt Tysons Blick zu einem Foto an ihrer Wand, auf dem er und Ryu Kinomiya im Dojo abgelichtet waren. Im Hintergrund war das Schwert, in dem sich Dragoon und dessen Kräfte Generationen lang versteckt gehalten hatte. Auf einmal machte es für ihn Sinn, dass Kai damals bei dem Bruch seines Bitchips nicht ausgerastet war, weil Dranzer noch einen anderen Rückzugsort besaß. Tyson wollte etwas sagen, aber Kais determinierter Blick hielt ihn ab. Er wollte den Redefluss nicht stoppen.   „Voltaire ließ also Tala und mich oft gegeneinander antreten. Wir waren mit Abstand die Besten. Deswegen gab er uns neue Bit Beasts. Tala bekam Wolborg, über den er sich sehr freute, da er vorher noch keines besessen hatte, und mir gab er Black Dranzer, den ich überhaupt nicht wollte. Aber Voltaire zwang mich zum Training.“   Max schluckte. Er erinnerte sich an die gewaltige Präsenz von Black Dranzer in der ersten Weltmeisterschaft. Kai war so stark gewesen, und so herzlos – das war also die eigentliche Macht dieses dunklen Bitbeasts gewesen? „Aber… ich dachte immer, Black Dranzer macht dich stark? Warum hast du ihn in der WM benutzt?“, fragte der Blonde schließlich.   „… Das liegt in der Natur Black Dranzers. Es ist seine Aura. Seine Macht zehrt sich, je dunkler die Gedanken sind, die du hast, und sind es noch so kleine. Er nutzt aus, welche Unsicherheiten du hast und… sagt dir, dass du ihn brauchst, um weiter zu bestehen. Mit ihm war es so: Je mehr ich trainierte, desto mehr spürte ich, wie ich mich veränderte. Ich mochte den Umgang mit Black Dranzer darum nicht. Umso mehr wünschte ich mir, dass mich meine Eltern abholten, fort aus diesem Gefängnis, das sich als eine Abtei tarnte. Wir durften oft tagelang nicht raus, mussten in Kerkerähnlichen Zimmern mit unseren Beyblades trainieren. Wenn Boris uns dennoch rausschickte, dann auch wieder nur zu Trainingszwecken….“   Sein Blick ruhte auf Max, er sah ihm direkt in die Augen und doch durch ihn hindurch. Ray drängte ihn, noch etwas zu trinken, da seine Stimme langsam kratzig klang. Erst nach einer kurzen Pause und weiteren wackligen Atemzügen sprach Kai weiter.   „Ich war der einzige, dem Black Dranzer gehorchte und das als einer der jüngsten Schüler in der Abtei! Auch Voltaire beherrschte ihn nicht. Weil ich Black Dranzer ausprobiert hatte und weil Voltaire ihn mir als erstes gegeben hatte, hatte der schwarze Phönix nur mich als seinen Herrn und Meister angesehen. Darum konnte ihn nach mir keiner mehr kontrollieren und… deswegen brauchte Voltaire mich.“   Wieder nahm Kai einen Schluck Wasser. Er wusste, was er jetzt erzählen würde, was er erzählen wollte. Doch er hatte keine Ahnung, ob er das schaffen konnte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.   „Der Tag, an dem meine Eltern mich abholen wollten, war mein sechster Geburtstag, und das schönste Geschenk, das sie mir hätten machen können, wäre gewesen, mich aus dieser Hölle zu befreien. Aber daraus wurde nichts...“   Sie hatten ihn lange reden lassen. Er war müde und erschöpft. Wie er selbst schon mal gesagt und wie auch Tyson es ihm bestätigt hatte: Er war kein Freund vieler Worte und das, was er ihnen bis jetzt anvertraut hatte, war auch mehr, als er in den letzten zwei oder drei Jahren überhaupt gesagt hatte. Kai schwieg. Er brauchte eine Pause. Tala, der jetzt auf ihn zukam, legte eine Hand auf seine Schulter und drückte sie kurz, als Zeichen, dass er nicht allein war. Der Silberhaarige aber entschuldigte sich und rutschte an den Rand des Sessels. Lin glitt von seinem Schoß und stand er auf. Er musste sich ein wenig die Beine vertreten. Seine Freunde konnten das nur zu gut verstehen. Selbst Lins Stirn war sorgenvoll gekräuselt, als sie an Rays Seite huschte und ihn fragend ansah. Der Chinese war ihr ein guter Freund und Vertrauensperson geworden, und er versicherte ihr, dass es schon gut werde. Zumindest hoffte er das. „Ray.“ Tala bedeutete dem Schwarzhaarigen, ihm zu folgen – ohne das Mädchen. „Was Kai euch gleich erzählen wird, sollte sie nicht hören“, erklärte er ohne Umschweife. „Es war für sie als Opfer von Gewalt eh schon zu viel, was er gesagt hat. Ich werde sie gleich unter einem Vorwand mitnehmen. Bitte sorg dafür, dass sie mich begleitet, falls sie nicht will.“     Kai ging kurz nach draußen, eine kühle Brise beruhigte sein aufgewühltes Gemüt. Tief atmete er ein und aus. Dann verschwand er auf der Toilette und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Immer und immer wieder warf er sich das kalte Nass auf die Haut. Sein Herz klopfte schnell, denn er war aufgeregt. Gleichzeitig war ihm übel. Währenddessen trieb Tala ein Glas auf, in das er Wodka füllte. Das gab er Kai, als dieser wiederkam. Der Silberhaarig stürzte es in einem Zug hinunter. Jetzt konnte es weitergehen. Noch immer war es still im Wohnzimmer. Alle warteten gespannt auf das, was er ihnen noch zu erzählen hatte. Kai rieb sich die Augen und räusperte sich, diesmal mehrmals, um seiner Stimme Herr zu werden. Tala kannte diesen Zustand nur zu gut, und er musste sich zwingen, seinen Freund nun zugunsten der Kleinen allein zu lassen. Es fiel Kai verständlicherweise schwer, darüber zu reden. Seine Stimme klang rau und schien kurz davor, in einen Flüsterton umzuschlagen.   „Ich lief auf der Suche nach meinen Eltern durch die Abtei, als ich ihre und Voltaires Stimmen hörte. Ich lief in den Raum. Meine Eltern saßen aneinander gefesselt auf dem Boden. Sie riefen, ich solle fortlaufen, ganz schnell. Sie… Sie wussten in dem Moment schon, was auf sie zukommen würde.... Aber ich nicht. Ich gehorchte ihnen nicht, ich verstand nicht. Ich lief auf meine Mutter zu, Voltaire lachte irre – sie rief, ich solle stehen bleiben und dann war da ein Schuss. Erschrocken hielt ich an. Vater schrie ihren Namen und er begann bitterlich zu weinen. Ich wollte zu ihm gehen und trat in etwas Feuchtes – ein Pfütze aus Blut…  Mutters Blut! Ich sah meinen Vater an. Ich wusste nicht, was das alles bedeutete. Immer noch bedeutete er mir fortzulaufen. Aber warum? Wohin?“   Kai rieb sich über die Arme. Er fröstelte. Seine Stimmer war nun wirklich nicht mehr als ein Flüstern.   „Ich wollte zu ihm, mich ihm in die Arme werfen, wollte, dass er mir sagt, dass das alles nur ein böser Traum ist und wenn ich aufwache, ist alles so wie früher! Aber so sehr ich mir das auch wünschte, es half nichts. Voltaire wollte mich nicht gehen lassen, er wollte mich alleine für sich. Meine Eltern standen ihm im Weg, mit mir an die Weltherrschaft zu gelangen.“ Zwischendurch sprach Kai schnell und hastig, als wäre er auf der Flucht. Und das war er, denn er flüchtete vor den Gefühlen, die ihn zu überrennen drohten und ihn davon abhalten würden, weiter zu reden. Sein Blick veränderte sich zusehends, er starrte auf die ihm gegenüberliegende Wand und wirkte abgestumpft und leer. „Kurz bevor ich meinen Vater erreichen konnte, drückte Voltaire abermals ab. Die Blutlache zu meinen Füßen vergrößerte sich, Mutters Blut vermischte sich mit dem von Vater.“   Dann lachte Voltaire laut und hohl auf. Verzweifelt warf Kai sich in den Schoß seiner Mutter. ‚Wach auf Mama! Mach die Augen auf! Wir wollen nach Hause gehen!’ ... Der Junge weinte, schüttelte an ihr, doch es half nichts.   „Boris und Voltaire lachten und lachten, als sie das sahen. Das Töten schien ihnen Spaß zu machen. Noch heute höre ich dieses Gelächter, Tag für Tag. Es verfolgt mich bis in meine Träume, es lässt mich nicht mehr los. Vergessen werde ich diesen Tag nie...“   Er wartete. Biss sich auf die Zunge. Sein Atem ging unregelmäßig und flatterte teilweise. Ray kamen langsam die Tränen hoch. Fast schon wollte er aus dem Raum laufen, wollte nicht mehr hören, was weiter geschah. Er konnte es nicht fassen. Der Schwarzhaarige erinnerte sich an die vielen Male, als Kai nachts schweißgebadet aufgewacht war. Jetzt wusste er, warum. Doch das Ausmaß seiner Vergangenheit war ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht gewahr gewesen. Kai setzte seine Geschichte fort:   „Ich lag im Blut meiner Eltern und dieser Anblick mochte für diese beiden Tyrannen wohl so perfekt ausgesehen haben, dass sie freudig einklatschten. Mit halbem Ohr hörte ich noch Boris’ Stimme: ‚Wir haben gesiegt! Über den Kleinen, und über seine Eltern!’ Dann gingen beide aus dem Raum. Als sie fort waren, schien es mir, als ob Mama mir durch die Haare fuhr und Papa mich beruhigend in den Schlaf flüsterte. ... Es ist lächerlich, ich weiß...“   Kai stützte seine Ellbogen auf den Knien ab und grub seine Fingerspitzen in seinen Skalp.   „Ich wachte erst wieder auf, als Voltaire mit seinen Helfern und Helfershelfern den Raum wieder betrat. Er lachte mich erneut aus, dann brachten Boris und seine Schergen meine Eltern weg. Dann sagte Voltaire mit der grausamsten Stimme, die ich bislang von ihm gehört hatte: ‚Du bist schuld, dass deine Eltern nicht mehr leben! Nur deinetwegen mussten sie sterben! Du hast sie umgebracht! Allein deinetwegen sind sie tot!’ Mit dieser Erkenntnis ließ er mich allein im Raum zurück…“   Auf dem Tisch stand ein Behälter mit blauer Farbe, seiner Lieblingsfarbe. Wie in Trance stand er aus der blutigen Pfütze auf und griff nach dem Behälter. Er begann, sich ein Mahnmal aufzumalen. Diese blauen Streifen sollten ihn auf immer daran erinnern, dass er schuldig war. So verließ er den Raum dann, mit blutverschmierter Kleidung und blauer Farbe im Gesicht. Seine Tränen liefen unaufhaltsam seine Wangen hinunter, doch r merkte es nicht einmal. ER musste einen furchterregenden Anblick geliefert haben, denn als er den anderen Schülern begegnete, wichen sie entsetzt zurück.   „In den folgenden Wochen zog ich mich in ein inneres Schneckenhaus zurück. Wollte nichts sehen, nichts hören. Mein Herz wurde mit der Zeit dunkel und kalt, schwer wie ein Stein. Trostlos wie meine Umgebung. Selbst Dranzer, der vorher immer gekommen war, um mich zu trösten, wenn ich Sorgen hatte, kam nicht mehr. Ich wurde wütend, sehr wütend. Und dann ergriff mich das Gefühl des Hasses. Ein Hass, der mich innerlich zerfraß. Ich hasste Boris, ich hasste Voltaire, ich hasste Black Dranzer.... Aber vor allem hasste ich mich selbst. Dafür, dass ich die Todesursache meiner Eltern war, dass ich dafür verantwortlich war. Als mir dies klar wurde, verlor ich mich selbst...“   Die Luft im Wohnzimmer war zum Schneiden. Das Schuldeingeständnis wiegte schwer im Raum. „A-Aber du hast doch… du hast doch gesagt, dein Eltern würden noch leben!?“, fragte Tyson verwirrt. Kai rieb sich das Gesicht.   „Ja. Ich weiß, das klingt… naiv und unglaubwürdig aber… noch in derselben Nacht kamen meine Eltern zurück zu mir. Sagten, ich solle mir keine Vorwürfe machen, ich wäre nicht allein, ich hätte ja Dranzer. Sie wirkten so real… Und erst hielt ich alles für einen Traum, aber sie hinterließen mir ein Amulett, in dem Dranzer war, sowie ein Medaillon mit dem Wappen der Hiwataris und Fotos von uns allen. Ich trage es immer bei mir...“   Dabei fuhr er mit der Hand über seine Brust und berührte sanft die Kette, die er trug, und ganz leicht begann das Amulett zu leuchten. Dranzer war bei ihm. Er fühlte, wie ihm das Kraft gab. Also machte er weiter.   „Ihr müsst wissen: Uns Schülern wurde damals eingeredet, dass Vertrauen etwas Schlechtes sei. Und dazu gehörte auch Freundschaft und Liebe. Egal wie man diese Begriffe auslegt, es hat mit Vertrauen zu tun und gegenseitigem Verständnis. Das wurde bei uns ausgemerzt oder wenigstens versucht. Mit Erfolg.“ „Ein zweifelhafter Erfolg!“, warf Tala zähneknirschend ein, der aus der ersten Etage zurückkam und Lin mit einer Aufgabe versorgt hatte. Er schüttelte den Kopf. Aber Kai ließ sich nicht beirren. Er war auf der Zielgeraden und das wollte er noch durchziehen.   „Es hat bei mir ziemlich gut funktioniert. Denn das, was Voltaire und Boris am besten verstanden, war die psychologische Kriegsführung. Ziemlich kurz nach der Ermordung meiner Eltern stellte mich Voltaire vor versammelter Mannschaft in einer seiner Ansprachen bloß. Er sagte: ‚Freundschaft und Liebe sind überflüssig. Vergesst diese Gefühle. Kai, du weißt doch von allen am besten Bescheid: Aus Liebe zu dir sind deine Eltern gestorben: Du hast sie sozusagen mit deiner Liebe getötet!!’ Dabei lachte er triumphierend.“   Kenny umklammerte seine Dizzy mit hartem Griff. Rays Handflächen waren feucht. All das erklärte, warum Kai solche Schwierigkeiten gehabt hatte, mit ihnen warm zu werden, aufzutauen, ihre Freundschaft anzunehmen. Ray wollte etwas erwidern, doch der Kloß im Hals hinderte ihn. Kai sah in die Runde.   „Ich wollte nie wieder jemandem nahe kommen, nie wieder jemanden mögen. Damit ich nie wieder jemanden in Gefahr bringe, ihn verletze oder schlimmstenfalls umbringe. Darum wollte ich auch nicht, dass Tala in mein Leben tritt. Aber er war hartnäckig. Wisst ihr, was einem früh eingetrichtert wird, vergisst man nicht so leicht und man kann sich aus so einer Doktrin wenn überhaupt nur schwer lösen. Ich lebe jeden Tag mit der Angst, dass Tala eines Tages tot daliegt, nur weil…“ Er verstummte, als Tala ihn sanft an sich zog und ihn mit einem beruhigenden Zischen zum Schweigen brachte. Der Rothaarige hielt ihn eine Weile so, bis das Zittern von Kais Körper nachließ, das eingesetzt hatte, als Kai nicht aussprechen konnte, dass er Tala liebte. Tala drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Schwachsinn, Kai. Das wird nie passieren“, versicherte er ihm nachdrücklich. Im Innern musste Tala selbst die Bilder aus seinem Verstand eliminieren, die sich hartnäckig hielten: Kai leblos am Boden, Kai blutüberströmt und ohne Reaktion… Nur ein Zentimeter weiter rechts, neben die schusssichere Weste… Tala lockerte die Umarmung, damit Kai weitersprechen konnte, verschränkte aber ihre Hand miteinander. Der Teamleader seufzte schwer und brauchte ein paar Atemzüge, um wieder anzusetzen. Aber es war seinen Freunden ganz Recht, kurz zu verschnaufen. Die Bladebreakers waren erschüttert. Nein, schlimmer noch. Aber es gab kein Wort, um zu beschreiben, wie tief und schwer sie Kais Geschichte berührte. Tala klopfte Kai auf die Schulter und drückte seine Hand. Er ergänzte: „Die Abtei war ein Ausbildungslager für Kindersoldaten... Kinder, mit den richtigen Mitteln gelockt, sind die perfekten Soldaten: willig, loyal, manipulierbar. Und die Beyblades wurden nur als Vorwand genutzt. Andererseits dienten sie aber auch dazu, die Reflexe und Reaktionsfähigkeit der Kinder zu testen und zu trainieren. Kai war...“ Der Rothaarige seufzte. „Kai war Voltaires liebstes Vorzeigepüppchen. Und das eine sehr lange Zeit. Als sein Enkel hatte er es im Gegensatz, wie man es vielleicht glauben möchte, schwerer als die anderen. Denn falls er versagte, war dies gleichzusetzen mit Voltaires Versagen in seinen Erziehungsmaßnahmen. Darum war sein Training härter und länger als das der anderen. Auch denke ich, dass Voltaire nicht als verweichlicht abgestempelt werden wollte, weil Kai sein Enkel ist. Ich weiß nicht, was in seinem kranken Hirn vorgehen mag und ich will es auch gar nicht wissen. Das einzige, was mich immer beschäftigt hat, ist, wie man ihn vernichten kann.“ Talas Stimme hatte einen aggressiven Ton angenommen. Voltaire war es, der ihr Leben zerstört hatte. „Einmal in seinen Fängen, lässt er einen nicht mehr los. Auch nicht, wenn man gehen will. Voltaire nimmt auf – lässt aber keine Fluchtversuche zu. Und wenn du das Pensum, das er von dir erwartet, nicht schaffst, dann... wirst du gegangen...“ Der Körper neben dem Rothaarigen bebte. Die Bilder waren wieder da, die Blutlache, das schreckliche Geräusch, als die Kugel aus Voltaires Pistole in die Körper von Kais Eltern eindrang, das irre Lachen, dass in seinen Ohren schrill klang... Kai schlug sich die Hände auf die Ohren und schrie: „Er hat sie umgebracht, er hat sie erschossen!! Vor meinen Augen!!!“ Dann flüsterte er: „Überall war Blut... auf dem Boden... an meinen Händen... Der Teppich hat sich damit vollgesogen... Ich sehe es immer wieder vor mir... ich kann diese Bilder nicht aus meinem Kopf kriegen!!“ Während er das sagte, klopfte er mit der Faust wütend gegen seine Schläfe, bis Tala seine Hand festhielt. „Diese... grässlichen Bilder... haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt... Wisst ihr, wie scheiße sich das anfühlt?!!“ Nein, sie wussten es nicht, denn sie hatten so etwas noch nicht erlebt. Kai stand auf und begann, die Länge des Wohnzimmers auf und ab zu gehen. Dabei wurde er immer energischer und wütender. „Es ist manchmal so, als würde ich den Verstand verlieren... Und ihr, steht da und... redet ständig von Vertrauen... Aber ihr tut nichts, ihr TUT nichts! Ihr seid PASSIV! Und wir, wir versuchen, etwas zu ändern, Bewegung in die Sache zu bringen, und was macht ihr? Bremst uns aus!! Ihr seid so... Verdammt noch mal, wir sind Kro-“ Er verstummte. Tala hatte ihm einen zielgenauen Hieb in die Magengrube verpasst. Kai kippte nach vorn und wurde vom Rotschopf aufgefangen. „Du redest zu viel, малы́ш...“ Das Team schrie erschrocken auf. Ray fand als erster seine Sprache wieder. „Tala! Spinnst du, was soll die Gewalt!?!“ „Entschuldigt. Ich wollte verhindern, dass er sich weiter in Rage redet.“ Max räusperte sich, ehe er fragte: „Tala? Wovon hat er gesprochen? Warum hat er uns diese Vorwürfe gemacht?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nehmt euch das nicht zu Herzen. Euch das alles über sich zu erzählen... das war zu viel für ihn. Es tut mir sehr leid. Ich bringe ihn wohl besser hinauf in sein Zimmer.“ Und mit diesen Worten schulterte Tala seinen langjährigen Freund und brachte ihn in dessen Bett. Lin wartete bereits auf seine Ankunft – das war die Aufgabe, die Tala ihr gegeben hatte: Alles für Kai vorzubereiten, damit er sich ausruhen konnte. Tala legte den erschlafften Körper vorsichtig aufs Bett ab. „Отдохни немного... Ты идиот, правда. Ты чуть не предал нас, дурак!“[3], murmelte er ihm leise zu. Er strich zärtlich über Kais Wange und lächelte, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte und mit einem „Schlaf gut!“ das Zimmer verließ.                                       ______________________________________     [2] „Vielleicht ist es jetzt Zeit, es ihnen zu sagen.“ [3] Отдохни немного... Ты идиот, правда. Ты чуть не предал нас, дурак! - Ruh dich aus... Du bist ein Trottel, echt. Fast hättest du uns verraten, du Depp! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)