Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 44: Vir fortis umeros – ein Held mit starken Schultern -------------------------------------------------------------- „Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich richtig mag?" „Ja, ich kenn das... nach ner Schießerei wirst du immer so gefühlsduselig!"     ~*~     Die Geräte piepten gleichmäßig. Für die Ärzte war es ein Wunder, dass dieser Mann noch lebte. Man hatte ihn aus den Trümmern der eingestürzten Balkov-Abtei geborgen. Wie sich herausstellte, war er deren Namensgeber. Das monumentale Bauwerk hatte irreparable Schäden davon getragen. Damit war ein großer Teil der Geschichte Moskaus untergegangen. Neben ihm hatten sie die sterblichen Überreste von John Hiwatari gefunden. Die Anwälte und Notare der BioVolt Corporation setzten sich bereits zusammen, um im Fall der Fälle bereit zu sein. Das Fortbestehen der Abtei und das Erbe des Verstorbenen musste geregelt werden. Bevor das Testament nicht geöffnet wurde, war noch unklar, ob Boris Balkov der Begünstigte war oder ob der letzte Verwandte das Erbe in Empfang nehmen sollte. Und der momentane Zustand des Abteileiters war sehr kritisch. Er hatte einen Durchschuss im Stirnbereich erlitten. Zu seinem Glück war nicht der Schädel durchschossen worden, sondern nur die Stirn. Es grenzte an ein Wunder: In der linken Schläfe war die Kugel ein-, in der rechten wieder ausgetreten. Sie hatte das Gehirn nicht durchschlagen, was die Möglichkeit nahelegte, dass Boris Balkov aus dem Koma erwachte. Dagegen schienen seine Prellungen und Schnittwunden sowie Verbrennungen an den Händen beinahe trivial. Die Nachrichten hatten fälschlicherweise von seinem Tod berichtet. Bald würde wohl eine Berichtigung der Ereignisse stattfinden. Noch immer waren sich die Ermittler nicht sicher, ob die Ursache der Explosionen das Duo кровавыа война war – oder eine interne Störung in den Laboren unterhalb der Abtei. Denn dort waren erhebliche Spuren einer größeren Kraftquelle gefunden worden, die es auch nahe legten, es handelte sich um einen Laborunfall. Die Ermittlungen waren also noch längst nicht abgeschlossen...     ~*~     „Mach dir keine Sorgen, Yuriy. Mir geht’s gut.“ „Du wurdest angeschossen, Kai. Dir geht’s nicht gut.“ „Ich bin schon mal angeschossen worden. Und du auch.“ „… Man wird gegen Schusswunden nicht immun, weißt du?!“ Auf ihre eigene, eigenbrötlerische Art versuchten Tala und Kai, mit dem Geschehenen umzugehen, um so lange durchzuhalten, bis sie ihre Masken in sicherer Umgebung ablegen konnten. Sie hatten Anna Ivanov zur Notaufnahme gebracht. Nach ein bisschen Überzeugungsleistung der beiden aggressiven Jugendlichen war sie tatsächlich sehr rasch an die Reihe gekommen, auch wenn sie dafür ihre Enkel in einem privaten Moment schalt. Aber Tala und Kai war das egal – sie waren erst beruhigt, als ein Arzt ihnen bestätigte, dass es ihrer Großmutter den Umständen entsprechend gut ging und sie sich erholen sollte. Sie erhielt noch ein paar Rezepte für Blutdruckmedikamente und einige Schmerzmittel frei aufs Haus, dann wurden sie entlassen. Allerdings wussten sie nicht, wohin. In Annas Wohnung waren sie nicht sicher, von dort hatte Boris sie verschleppt. Sie würden bei Gelegenheit dort vorbeischauen, wenn sie es sich erlauben konnten, in Erfahrung zu bringen, was aus der Wohnung geworden war. Es würde das letzte Mal sein, dass Anna Ivanov sich auf russischem Boden aufhielt. Tala schwor sich, sie ein für alle Mal nach Japan mitzunehmen. Hier hielt ihn nichts mehr. „Ich habe eine alte Freundin. Bei ihr können wir sicher unterkommen“, schlug Anna schließlich vor. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zu der von ihr genannten Adresse. Während der Reise wurden die beiden Jugendlichen immer ruhiger, blieben aber wachsam. Annas Freundin staunte nicht schlecht, als sie die drei sah. Aber ohne Zögern lud sie sie in ihr Haus ein. Sofort machte sie ihnen einen Tee. Nachdem sich Tala und Kai versichert hatten, dass niemand ihnen gefolgt war, dass sie hier – vorerst – sicher waren, ließ die Anspannung nach. Das Adrenalin in ihren Adern verlor seine Wirkung und jetzt erst wurden sie sich ihrer Schmerzen und Verletzungen bewusst. Ohne Umschweife schickte Babuschka Anna ihre Enkel ins Bad. Sie sollten unter ihrer Aufsicht duschen. In der Zwischenzeit plünderte ihre Freundin – Pelageja war ihr Name[1] – ihren Medizinschrank. Sie kam mit Mullbinden und Pflastern zurück. „Pelageja war Krankenschwester. Kommt her, wir werden euch jetzt verarzten“, bestimmte Anna resolut. Sie trocknete Tala ab und zog ihm letzte Putzbrocken aus den Haaren, die er beim Waschen übersehen hatte. Derweil kümmerte sich Pelageja um Kai und tastete ihn vorsichtig ab. „Der Bluterguss ist sehr groß. Aber du scheinst nichts gebrochen zu haben.“ Sie umwickelte seinen Brustkorb mit einer elastischen Fixierbinde. Auch seine beiden Handgelenke wurden bandagiert. Tala erging es ähnlich. Einige Kugeln hatten ihn doch gestreift. Diese Fleischwunden verband Anna mit einer Kompresse und einer festen Mullbinde. Schließlich durften sich die beiden Patienten vollständig anziehen. Die beiden Frauen bereiteten ein Bett vor. Sie drückten jedem Jungen einen heißen Becher Tee in die Hand. Dann wurden sie von ihnen in die Kissen gedrückt und unter einer warmen Federdecke begraben. Weder Kai noch Tala sagten während der ganzen Prozedur ein Wort. Die erlebten Ereignisse holten sie ein. Tala hatte ein vermutlich unschuldiges Mädchen erschossen. Beide hatten blutjunge Wachen getötet, ohne groß darüber nachzudenken. Boris war tot. Kai hatte Voltaire erschossen… Beide lagen auf dem Rücken und starrten die Zimmerdecke an. Für eine sehr lange Zeit sprach keiner der beiden ein Wort, bis Kais Wispern die Stille durchschnitt: „Ich habe meinen Großvater umgebracht…“ Er klang nicht reuevoll. Er klang nicht traurig. Er klang auch nicht euphorisch. Stattdessen hatte sich eine seltsame Ruhe über ihn gelegt. Nein, Kai befand sich in einem ganz bestimmten Depressionszustand. Jenem, in dem man einfach gar nichts machen wollte. Seine Gedanken überschlugen sich, aber mit einem Mal war plötzlich Ebbe. Meistens erfüllte ihn dann ja dieser höllische Schmerz, so dass er einfach nur weinen und schreien wollte, aber er riss sich immer zusammen. Oder es erfasste ihn jener Depressionszustand, der in einem Zusammenbruch mündete. Einen solchen eben, den Tala kurz nach Annas Entführung erlebt hatte. Aber diese Seite der Depression jetzt – über die allgemein fast nie jemand sprach – die, die beide gerade durchlitten, hatten sie selten und noch nie mit dieser Intensität erfahren. Sie lagen einfach so da, hörten die gedämpften Stimmen der beiden alten Frauen aus dem angrenzenden Raum, aber hörten nicht zu. Sie hatten ein großes Loch in ihrem Innern, das sie nicht zu füllen wussten. Sie hatten ein wichtiges Etappenziel erreicht. War BioVolt jetzt zerstört? Boris und Voltaire waren es jedenfalls. Aber wie sollte es weitergehen? Doch sie waren zu erschöpft, zu müde, um irgendetwas zu tun, geschweige denn an etwas zu denken. Nicht einmal Dinge, die ihnen sonst Spaß machten, erschienen ihnen in diesem Augenblick erstrebenswert. Das einzige, was sie jetzt wollten, war, dass der Tag endlich endete und der Schlaf sie auf eine möglichst traumlose Reise schickte. Aber auch an Schlaf war nicht zu denken, denn obwohl jede Faser und jede Zelle ihres Körpers nach Erholung schrie, und sie physisch und mental völlig erledigt waren, schaffte es ihr Körper nicht, abzuschalten. Und so lagen sie da, beide in ihre Nicht-Gedanken verstrickt, verbrachten die Zeit mit Schweigen und Nichtstun und fühlten sich dabei miserabel, weil sie sich einfach so leer und deshalb gleichzeitig so schuldig fühlten. Zugleich schützte sie diese Apathie aber auch davor, tiefer in die Erinnerung an die Ermordung dieser vielen Menschen einzutauchen. Das hätten sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht verkraftet. Das einzige, was Kai noch vollbrachte, war, dass er nach Talas Hand suchte. Sofort schlossen sich bei der Berührung die Finger des Älteren um seine Hand. In stummer Eintracht harrten sie aus. Es stimmte schon, was man sagte: Stille machte die wirkliche Unterhaltung zwischen Freunden aus. Nicht etwas zu sagen, sondern nichts sagen zu müssen, war das, was zählte.     „Wie geht es dir?“ Pelageja schob eine Tasse Tee zu ihrer alten Freundin herüber. Sie hakte nicht nach, was geschehen war. Das musste sie nicht wissen. Sie hatte immerhin zwei Augen im Kopf und konnte sehen, dass die drei etwas Furchtbares durchgemacht hatten. „Ich weiß nicht… Es fühlt sich alles so unwirklich an. Wie in einem bösen Traum. Meine Jungs haben mich aus einer schlimmen Gefahr befreit… Aber zu welchem Preis…“ Liebevoll tätschelte Pelageja Annas Unterarm. Anna fuhr mit gepresster Stimme fort: „Ich möchte schreien und um mich schlagen und … und diesem Bastard den Schädel zertrümmern…“ Ihre alte Freundin wusste nur zu gut, wie ernst Anna dies meinte. Sie war sich auch mehr als sicher, dass Anna dazu in der Lage war. „… Aber … Ich kann es mir nicht leisten, jetzt zusammen zu brechen. Meine Söhne brauchen mich….“, murmelte die ergraute Rothaarige. „Wenn du das jetzt nicht rauslässt, wenn du deinen Kummer vor ihnen verheimlichst, wird das keinem von euch helfen. … Hey, du kennst mich… halt dich nicht zurück.“ Anna biss sich auf die Lippen, dann ließ sie ihren Kopf auf ihren Arm sinken und schluchzte. Sie ließ ihren Tränen jetzt freien Lauf. Sanft streichelte Pelageja ihren Rücken in kreisenden Bewegungen. Es dauerte lange, bis die Schluchzer verebbten und die Tränen versiegten. Mittlerweile flackerten die Flammen von Kerzen auf dem Tisch und ein frisch aufgebrühter Tee dampfte in einer Kanne. Als sich die Tür zum Schlafzimmer öffnete und Tala in die Stube eintrat, hob Anna ihren Blick. Sie wischte sich das feuchte Nass aus ihrem Gesicht und winkte ihn zu sich. Stumm kam er auf sie zu und wie ein Kleinkind kletterte er auf ihren Schoß, schlang seine Arme um ihren Oberkörper und bettete seinen Kopf auf ihrer Schulter. Sein Alter, sein Gewicht und seine Größe waren beiden dabei egal. Im Herzen waren sie beide sehr viel jünger als in diesem Augenblick. Tala brauchte genau diese Geborgenheit in genau diesem Moment. „Schluck nicht alles runter, Yura…“, murmelte sie mit immer noch von Tränen belegter Stimme, „Du darfst auch mal weinen. Du bist stark, und du tust noch stärker, wenn du es eigentlich nicht bist. Das hast du von deinem Vater – Gott hab ihn selig.“ Sie streichelte seinen Rücken sanft, als ein Beben durch seinen Körper ging. Kurz darauf spürte sie, wie ihr Hals und Nacken nass wurden. „Lass uns zusammen ein bisschen weinen…“, murmelte Anna erstickt und hielt ihren Enkel fest in ihren Armen, während beide sich ihrer Angst und Hilflosigkeit gegenüber ihrer Überladung an Gefühlen hingaben. Ihre Körper bebten im Gleichtakt. Wie früher wiegte Anna ihren Enkel leicht hin und her, was ihm ein tröstendes Gefühl von Sicherheit schenkte. Hier in diesen unbekannten vier Wänden, in ihren Armen, nach ihrem Sieg, konnte ihm nichts mehr geschehen.   Kai indes starrte immer noch an die Decke. Er hörte die gedämpften Stimmen und die leisen Schluchzer. Obwohl er das Gefühl von Yuriys warmer Hand auf seiner vermisste, wollte er Yuriy und Anna diesen intimen Moment lassen. Es war wichtig, dass Enkel und Großmutter sich jetzt aussprachen und unter sich blieben. Abgesehen davon war er ohnehin nicht fähig, sich zu bewegen. Sein Geist machte wirre Gedankensprünge, derer er sich nicht erwehren konnte. Er sah den leblosen Körper seines Großvaters vor sich, kurz darauf die lachenden Gesichter seiner Eltern. Allerdings verblasste diese Erinnerung sehr schnell und sie wurden zu schemenhaften Silhouetten. Kai wollte diesen Tag jetzt einfach nur vergessen. Eigentlich müsste er glücklich sein. Befreit. Aber alles was er fühlte, war neben der allesumfassenden Leere nur ein Hauch von Traurigkeit. Zu seinem Glück war die Fähigkeit, etwas zu verdrängen, ein essentieller Überlebensmechanismus. Es war, als wüsste sein Körper, dass eine von Trauer und Pein geplagte Seele schneller töten konnte als jegliche physische Krankheit[2]. Daher stellte sein Körper seine Funktionen langsam ein, von außen nach innen. Da Kais Geist ihm keine Ruhe geben wollte, nutzte sein Körper eben die Ohnmacht als drastisches, aber einzig mögliches Mittel, um sich die dringend nötige Erholung zu holen, bevor Kai der wirkliche Exitus bevorstand.   Nach einer Weile verebbten die Schluchzer und auch die Tränen versiegten. Tala wusste selbst nicht, wie er die Kraft aufgebracht hatte, überhaupt aufzustehen. Er löste sich etwas aus der zusammengekauerten Haltung und sah seine Großmutter entkräftet an. Diese wischte seine Tränen mit ihren Daumen von seinen Wangen und hielt sein Gesicht dann sanft fest. „Ihr habt es geschafft. Ihr habt euch befreit. Ihr könnt jetzt anfangen, loszulassen.“ Talas Augen wurden wieder feucht. „Du weißt nicht, was wir getan haben…“ „Yura. Ich bin mir sicher, dass ihr Dinge getan habt, die ihr bereut oder bereuen werdet. Ich muss diese Dinge nicht wissen. Es sei denn, ihr möchtet darüber sprechen. Schmerzliche Dinge, die uns in der Vergangenheit widerfahren sind oder die wir getan haben, haben nie damit zu tun, wer wir heute sind. Du musst dich morgen nicht über deine Vergangenheit definieren.“ Anna streichelte zärtlich über seine Wange. Tala schmiegte sich in diese Berührung. „Moj Angelotchok… Hab keine Angst. Ich habe erlebt, wie Kinder die Einflüsse ihres bösen Erbes erfolgreich überwunden haben. Denn Reinheit ist ein angeborenes Merkmal der Seele.[3] Und ob du das glaubst oder nicht: Auch in dir und Kai steckt noch das Kind, das ihr einst wart. Und nur das bildet die Grundlage für das, was ihr bis heute wurdet, was ihr seid, und was ihr sein werdet.“[4] Darüber musste Tala freudlos lachen. „Wir hatten nicht gerade viel Kindheit. Was hat sich da wohl für ein Kind entwickelt?“ Aber Anna schüttelte den Kopf: „Solange ihr bei mir wart, konnte ich in eurem Verhalten wenig Unterschied zu anderen Kindern eures Alters ausmachen. Und vergiss nicht: An dem, was euch widerfahren ist, tragt ihr nicht die Schuld.“ Tala biss sich auf die Lippe. Anna wiederholte es: „Ihr wart unschuldige Kinderseelen. Und die habt ihr euch im Grunde bewahrt. Ihr… Ihr musstet nur leider schneller erwachsen werden als andere. Und das, mein Junge, ist meine Schuld. Nicht eure. Ich hätte das sehen müssen.“ Sie umarmte ihren Enkel ein weiteres Mal. „Ich war die Erwachsene und ich habe es zugelassen, dass du mir beinahe entglitten bist. Dabei hatte ich doch nur noch dich. Das passiert mir kein zweites Mal.“ Tala seufzte. Allerdings wurde ihre Unterhaltung unterbrochen. „Ihr solltet euch jetzt hinlegen. Es ist sehr spät geworden. Ihr müsst euch ausruhen. Erholt euch. Ihr könnt hier so lange bleiben, wie ihr möchtet. Aber aufgrund meiner Erfahrung muss ich euch sagen, dass es Zeit wird. Schlaft. Ihr werdet euch morgen besser fühlen“, meinte Pelageja. Gemeinsam mit ihrer alten Freundin schaffte sie Tala zurück ins Bett. Anschließend sorgte sie sich um Anna.   Tala hatte immer noch Schwierigkeiten, einzuschlafen. Er war so müde, jede alte und neue Wunde an seinem Körper schrie vor Schmerz. Er wusste, er müsste sich ausruhen, eine gute Mütze voll Schlaf nehmen, um sich für die kommenden Tage vorzubereiten. Denn die psychischen Nachwehen ihrer Aktion würden sie gewiss noch wochenlang heimsuchen. Aber er konnte nichts anderes tun, als wach dazuliegen, in die Dunkelheit zu starren und Kais leisen, regelmäßigen Atemzüge zu lauschen. Seinem Freund schien es leichter gefallen zu sein, heute Ruhe zu finden. Kein Wunder, da der Jüngere doch einige schwere Treffer hatten einstecken müssen. Tala konnte es immer noch nicht ganz fassen. Sollte der heutige Tag wirklich ihren Albtraum beendet haben? Noch hatten sie zwar Kais Eltern nicht gefunden, aber vielleicht könnten sie jetzt endlich mit der Vergangenheit abschließen. Tala wusste, dass seine eigenen Eltern tot waren. Ihm war nur seine Babuschka geblieben. Daher wünschte er sich für Kai, dass dieser seine Eltern finden würde. Manchmal hatte er schon seine Zweifel gehabt. Aber Kais Glaube daran, dass sie noch lebten, war so inspirierend, dass es einfach wahr sein musste. Früher hatte er Kai manches Mal um seinen Glauben beneidet. Denn diese Überzeugung hielt für Kai ein so tiefes Grundvertrauen in sich und seine Fähigkeiten bereit, dass sie zu seiner grundeigenen Kraftquelle wurde und ihn deshalb in der Abtei immer wieder hatte aufstehen lassen. Tala drehte sich auf die Seite und betrachte seinen besten Freund, dessen Umrisse er nur schemenhaft im Dunkeln ausmachen konnte. Ein Gedankenblitz durchzuckte ihn: Wie Kai von einem Geschoss getroffen wurde und in Zeitlupe fiel und nicht wieder aufstand. Er hätte heute seinen besten Freund verlieren können. Oder seine Babuschka. Oder beide. Hätten die Wachleute nur ein bisschen besser gezielt, ein bisschen mehr Erfahrung gehabt; wenn sie zum Kopf gezielt hätten statt auf die Brust… Aus einem Impuls heraus hastete er nach vorn, umklammerte Kais schlafenden Körper und hielt ihn fest. Erst, als er den regelmäßigen Herzschlag in dessen Brust hörte, das Pochen tatsächlich spürte, beruhigte sich auch sein eigenes. Mit der Gewissheit, dass sie beide lebten, und Kais Geruch von „Zuhause“ in der Nase, schaffte Tala es endlich, auch einzuschlafen.     ~*~     „Hör zu, Yura. Vielleicht…“, fing Kai an, unsicher, wie er fortfahren sollte. „Wir sollten meine Suche aufgeben“, meinte er dann mit überzeugenderer Stimme. „Was? Warum?!“ Dieser plötzliche Ideologiewechsel irritierte Tala zutiefst. Sie waren gerade dabei, eine kleine Reisetasche zu packen. Die Rückkehr nach Kyoto stand kurz bevor. Sie hatten die Gastfreundschaft von Annas Freundin nun lange genug ausgenutzt. Ihre Wunden waren verheilt – zumindest äußerlich. Kai stoppte in seinem Tun und hob entschlossen den Blick. „Der Beinahe-Verlust von Babuschka – das war unerträglich. Und … Wie oft hätte ich dich schon bei diesen wahnwitzigen Aufträgen verloren! Nein… ich will das nicht mehr. Vielleicht sollten wir uns auf das konzentrieren, was wir haben. Neu beginnen.“ „Aber Kai!“ „Nein, Yura. Wir können nicht das opfern, was uns lieb und teuer ist, für einen … einen utopischen und albernen Traum. Von dem ich nicht mal weiß ob er wahr ist oder meiner Fantasie entspringt. Ich… ich könnte es nicht ertragen, dich oder Babuschka oder Lin zu verlieren.“ Vielleicht war es damals doch alles Einbildung gewesen, dass er in dieser einen Nacht seine Eltern gesehen hatte. Er war ein Kind, er war zutiefst traumatisiert. Vielleicht hatte er sich aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung die Worte und Berührungen seiner Eltern nur eingeredet, vielleicht war das alles nur Phantasie gewesen, um alles zu verarbeiten und um überhaupt in der Lage zu sein, nach dem frühkindlichen Schicksalsschlag weiterzuleben. „Sag mal… erlebe ich gerade ein Déjà-vu oder…? Diese Unterhaltung hatten wir doch schon mal vor gar nicht allzu langer Zeit!“ Tala wusste ganz genau, dass er Kai schon in ihrem Urlaub in Kroatien den Kopf deswegen wieder zurecht gerückt hatte. Ebenso wusste er, dass Kai entgegen seiner Worte ein kleines Quäntchen Hoffnung nicht aufgeben würde, dass seine Eltern noch lebten und dass er sie finden würde. Aber Kai lächelte ihn ruhig an. „Ich habe nicht vergessen, was du mir damals gesagt hast. Aber ich muss Prioritäten setzen.“ Der Blaugrauhaarige ging um das Bett herum auf Tala zu und nahm seine Hände in die eigenen, drückte sie fest: „Ich liebe dich dafür, dass du einfach ignorierst, dass ich ein Narr oder Schwächling sein könnte, und fest an das Gute in mir glaubst.[5] Und deshalb brauch ich dich noch. Du darfst mich nicht allein lassen. Ich brauche dich zum glücklich sein. Du bist doch mein Ein und Alles. … Ich brauche dich zum Leben!“ Wie elektrisiert stand Tala da und wusste nichts darauf zu antworten. Er spürte etwas in seinem Inneren aufflammen, konnte dieses Gefühl in seiner Substanz und Bedeutung aber zunächst kaum erfassen. Kai strahlte in diesem Moment Selbstvertrauen und Zuversicht aus. Und… ~Was du da fühlst, ist Glück, du Muskopf!~ Hatte sein Bitbeast Recht? Dann bestand wohl sein höchstes Glück im Leben in dem Wissen, dass er geliebt wurde. Nicht nur von seiner Babuschka, sondern auch von Kai. Ja, natürlich, das hatte Kai schon oft bewiesen, aber… dieses Urvertrauen, das er ihm entgegenbrachte, und diese… Selbstaufgabe… Immerhin gab Kai seinetwegen seinen größten Traum auf, der ihn während der Jahre in der Abtei am Leben gehalten hatte. Als könnte Kai seine Gedanken lesen, packt er ihn zuversichtlich an den Schultern und schüttelte ihn kurz. „Du warst es, auf den ich mich immer verlassen konnte. Du hast für mich dein Leben gegeben. Du hast dich mir und meiner fixen Idee verschrieben und standst immer hinter mir. Und… Hey, wage es nicht, jetzt zu weinen! Wir sind starke Menschen und wir weinen nicht, wenn wir Probleme haben!“ Tala lachte auf. „Oma hat gesagt, wir dürfen das“, meinte er und wischte sich verstohlen über die Augen. Mittlerweile fiel auch Kai das Sprechen schwer. Seine Stimme klang spröde, als er fortfuhr: „Du hast mir Kraft gegeben, als ich meinen Glauben verloren hatte. Vielleicht leben meine Eltern noch. Aber dann ist es jetzt an ihnen, mich zu finden. Ich will nicht das verlieren, was mir am wichtigsten ist. Я клад нашла, Он носит твоё имя.[6]“ „Oh Kai, du blöder Softie, jetzt hör aber auf!“ Tala boxte seinen Freund. Er war gerührt und auf peinliche Art ergriffen. „Aber die Message ist angekommen?“ Ja, die Message war angekommen. Die Liebe, die Tala fühlte, die an ihn gerichtet war, legte sich wie ein warmer Mantel um sein Herz, und hielt die Kälte, die sich dort immer wieder sporadisch einnisten wollte, erfolgreich auf Abstand. Tala nickte. Dann zog er Kai in eine innige Umarmung. „Ich danke dir. Dennoch solltest du deine Einstellung noch mal überdenken. Sonst haben wir uns den Namen als кровавыа война ganz umsonst gemacht.“ Er hielt ihn eine Armlänge auf Abstand. „Und! Ich hätte mir von diesem vermaledeiten Bullen ganz umsonst den Hintern blau treten lassen! Ganz zu schweigen von der Sache, über die wir nicht mehr reden, die aber mit dem Kuhnapping zu tun hatte!!“ „Du meinst das Bullensper-“ „DARÜBER REDEN WIR NICHT MEHR! NIE WIEDER!“ Kai lachte. Tala hatte ihn losgelassen und war mit Fingern in den Ohren aus dem Raum gelaufen. Irgendwie war es ein Wunder, dass sie beide trotz ihrer Erlebnisse noch immer lachen konnten. Ebenso, dass sie aus einer eigentlich ernsten Angelegenheit eine erheiternde Situation schaffen konnten. „Na, hier ist ja eine Stimmung bei euch! Habt ihr fertig gepackt?“ Müde, aber ebenfalls schmunzelnd, kam Anna in das Gästezimmer. „Wie macht Yura das immer? Egal, wie niedergeschlagen ich war, er hatte immer den passenden Spruch auf den Lippen – er weiß immer, was zu tun ist, damit ich mich besser fühle.“ „Na, ihr seid euch eben nah. Ihr seid beste Freunde. Freunde haben immer etwas, was dir fehlt, wie z. B. Optimismus. Ihnen verdankst du das Gefühl, dass alles gut wird mit der Welt, solange sie in deiner Nähe sind.[7]“ Dem konnte Kai nur zustimmen. Er wurde von Anna liebevoll umarmt. Dann strich sie ihm ein paar widerspenstige Fransen hinter die Ohren. „Hast du dir schon Gedanken gemacht, ob du deines Großvaters Erbe antreten wirst?“ Kai zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Gleichgültig schulterte seine und Talas Reisetasche und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. „Wenn… falls er mich in seinem Testament berücksichtig hat… Darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn es soweit ist.“ Sie hatten in den letzten drei Wochen so gut wie keine Nachrichten gesehen, einzig Pelageja hatte hin und wieder etwas aufgeschnappt. Sie wussten nicht, inwieweit Voltaires und Boris‘ Ableben an die Öffentlichkeit gelangt war. Allerdings waren sie sich bei Boris nicht ganz sicher, ob er wirklich in die ewigen Jagdgründe eingegangen war. „Wir hätten uns vergewissern sollen, dass seine rechte Hand auch definitiv tot ist. Nachher kriegt er noch die Schlüsselgewalt über Voltaires Nachlass“, sinnierte Kai leise vor sich hin. „Den Gefallen eines Gnadenstoßes wollte ich ihm nicht tun“, knurrte Tala, die Wut aber gegen ihren ehemaligen Gaspadin gerichtet. „Beeilt euch. Sonst kriegt ihr euren Zug nicht mehr.“ Die drei bedankten und verabschiedeten sich von Pelageja, unter dem Versprechen, dass sie sie unbedingt einmal in Japan besuchen musste. Dann traten sie im Schutze der Abenddämmerung die Heimreise an.   [1] Pelageja ist die russische Form von Pelagia. Pelagia bzw. Pelageja bedeutet "Frau vom Meer" [2] © „Eine traurige Seele kann einen schneller töten, viel schneller, als ein Krankheitskeil.“ (John Steinbeck) [3] © Oscar Wilde [4] © „In uns allen steckt noch das Kind, das wir einmal waren. Dieses Kind bildet die Grundlage für das was wir wurden, was wir sind und was wir sein werden.“ (Dr. Rhawn Joseph) [5] © Roy Croft. [6] Я клад нашла, Он носит твоё имя. – Ich habe einen Schatz gefunden, und er trägt deinen Namen. [7] © Bessie Head. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)