Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 43: A true warrior feels fear but says „fuck it“ -------------------------------------------------------- „Guten Tag. Sie rufen außerhalb der Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht.“   Mailbox. Tatsächlich die Mailbox. Zum Teufel noch mal mit Kai Hiwatari!!!     ------     „Also los. Es ruft die Pflicht!“ „Ich hör nichts“, murmelte Kai und schob sich dichter an Tala heran. Er hatte ein Déjà-vu-Erlebnis, weil er wegen Talas Rettung in einer ähnlichen Situation und ähnlich nervös gewesen war. „Geduld, Yuriy, Geduld… Wir können da nicht unüberlegt einbrechen. Wir können den Zaun auch nicht ablaufen, weil man unsere Fußspuren entdecken könnte.“ „Dann lass uns hoffen, dass die alten Schleichwege noch intakt sind.“ „Darauf müssen wir vertrauen.“ Sie schlichen weiter, näher an das Gebäude heran. Es hatte geregnet, die Luft war frisch und kühl, der Boden stellenweise rutschig durch die originalgetreuen abgerundeten Steine, die als Kopfsteinpflaster die mittelalterliche Abtei umgaben. Das graue Wetter bot ihnen aber einen gewissen Schutz, und wenn sie Glück hatten, würde es einen erneuten Sturzbach geben. Kai schraubte seinen Schalldämpfer auf seine Waffe, und legte noch ein schwarzes Tuch, das er in einer Pfütze befeuchtet hatte, zwischen Lauf und Dämpfer, damit dieser nicht zu heiß wurde. Er hatte nämlich vor, diesen heute öfter zu benutzen. Bis jetzt hatten sie den Überwachungskameras aus dem Weg gehen können. Sie waren nicht so dumm gewesen, zu glauben, diese wären noch an denselben Orten angebracht. Einzelne zwar schon, aber die Mehrheit war verschoben worden, seit sie der Abtei den Rücken gekehrt hatten. Sie waren über den angelegten Klostergarten gekommen, wo ein unliebsamer Flashback sie kurzzeitig umklammert hatte. Noch immer standen ihnen die Nackenhaare zu Berge und Tala rieb sich umbewusst über beide Unterarme, wenn er zurück auf die leeren Pfahlspitzen blickte. Sie standen jetzt ganz eng an die Mauerwand des ehemaligen Geräteschuppens gepresst. Nur zwanzig Meter trennten sie von einem Hintereingang, der früher Küche und Waschküche verbunden hatte. Aber der Weg führte über eine freie Fläche, auf der sie ihrem Gegner schutzlos ausgeliefert wären. Es war töricht, einfach hineinzuspazieren. „Noch zehn…“, murmelte Tala. Kai nickte. Er zählte stumm. Die Überwachungskamera schwang in ihrem Überwachungswinkel um. „Jetzt!“, zischte er und Tala sprintete los. Er hechtete um die Ecke des Geräteschuppens, rannte zur Tür, an der er rüttelte und mit einem beherzten Schulterstoß aufstieß. Er krachte lärmend in altes Gerümpel, der achtlos dort hingestellt worden war. Schnell schloss er die Tür und lehnte sich dagegen. Trotz der harten Ausbildung klopfte sein Herz schnell. Er schluckte, um sich zu beruhigen. „Alles okay?!“, hörte er die durch das Mauerwerk gedämpfte Stimme Kais. „Ja. Rühr dich nicht, bevor ich es dir sage.“ Tala klang für einen Moment herrisch, und Kai blieb wo er war. Im Stillen zählte er weiter die Sekunden und beobachtete, in welchem Rhythmus sich der Kamerawinkel verstellte. Außerdem blieb er wachsam, ob der Krach von eben jemanden angelockt hatte. Aber es blieb ruhig. Fast zu ruhig für Kais Geschmack. Auch fand er es merkwürdig, dass er nirgends Wachhunde entdecken konnte. Ob Boris und Voltaire sie abgeschafft hatten? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Tala schob sich unterdessen einen Weg durch alte Gießkannen, Schubkarren und sonstige Gartengeräte frei, bis er die verstaubte und vertrocknete Regentonne erreichte, die auf mehreren, teilweise morschen Holzpaletten stand. Sie schien sehr lange nicht bewegt oder befüllt worden zu sein. Er hob die leere Tonne von ihrem Podest und stellte die Paletten entlang der Wand auf. Darunter lag ein hässlicher, zerschlissener und angefressener Orientteppich, auf dem Mäusekot lag. Den schlug Tala auch zur Seite. Zum Vorschein kam eine altertümliche Falltür. Tala zog an dem gusseisernen Ring. Mit einem schauderhaften Quietschen ging sie auf. Sogar Kai hörte es, was daran lag, dass er genau auf der gegenüberliegenden Wandseite kauerte und seinen Einsatz abwartete. „Das musst du mal ölen, das klingt ja tierisch“, hörte Tala es dumpf von eben dort kommen. „Tierisch?“ „Ja. Wie vögelnde Ratten!“ Kai musste einfach einen Witz reißen. Ihre Nerven waren zum Bersten gespannt. Und es entlockte Tala auch tatsächlich ein leises Auflachen. Er nahm jetzt seine Taschenlampe und leuchtete in den freigelegten Gang hinein. „Ich geh jetzt runter. Ich schreib dir, wenn’s wirklich frei ist.“ Vorsichtig kletterte er die abgenutzten Treppenstufen hinunter. Der Gang war etwa 1,70 Meter hoch. Tala musste sich leicht bücken, um aufrecht hindurchzugehen. Hier hatten vermutlich im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit die Bediensteten des monasterischen Vorbesitzers der Abtei ihre Dienstwege absolviert. Tala und Kai hatten diesen Gang einst entdeckt, als sie für eine gewisse Zeit regelmäßig draußen im Strafdienst eingesetzt worden waren. Jetzt hatten sie nur hoffen können, dass es diesen Geheimgang noch gab. Und wie es schien, war er noch nicht entdeckt worden. Tala kam ohne größere Probleme – er musste sich nur ein paar Spinnweben aus dem Gesicht wischen, in die er hineingelaufen war – am Ende des Ganges an. Also schrieb er Kai rasch eine SMS und wartete. Dem potentiellen Empfänger ging unterdessen ein Licht auf: Wenn sich sein Partner unter der Erde befand, würde die Reichweite des Handyfunks vermutlich nicht ausreichen. Er sah auf die Uhr. Tala war nun seit 10 Minuten weg. Das schien Kai genügend Zeit zu sein, ihr vorläufiges Etappenziel zu erreichen. Also huschte auch er um die Ecke durch die Tür in den Schuppen. Von innen verriegelte er sie mit einem Querbalken. Dann folgte er Tala in die Tiefe und Dunkelheit des Geheimganges und zog die Falltür unter Ächzen der Scharniere hinter sich zu. Es war so finster, dass sogar der Lichtkegel der Taschenlampe sichtbar war. Auch Kai musste den Kopf einziehen, da er mit dem Haar die Kellergewölbedecke berührte. „Yuriy?“, rief er seinen Freund flüsternd. „Wird aber Zeit, ich warte schon ewig auf dich!“ „Dir ist schon klar, dass wir hier unten keinen Empfang haben?!“ „… Jetzt wo du’s sagst…“ Kai stieß Tala daraufhin an und gab ihm seine Taschenlampe, damit er ihm bei der Suche nach der Luke leuchtete. Er fand auch hier einen gusseisernen, leicht rostigen Ring vor. Jetzt hieß es alles oder nichts – ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sie in dem Gang hinter diesem Tor auf niemanden stießen. „Auf drei… 1… 2… 3!!!“ Mit einem großen Kraftaufwand zog er den Ring in seine Richtung. Die Luke gab darunter nach. Dahinter schimmerte es metallen. „Was ist das?!“ Tala trat näher heran, um es zu inspizieren. Im ersten Moment glaubte er, ihr Zugangspunkt wäre versperrt. Aber dann sah er genauer hin und stellte fest, dass es sich bei dem kühlen Material um eine Art Metallschrank handelte, den sie nur zur Seite schieben mussten. Er ließ sich auch leicht bewegen. Also packten beide Jungen beherzt zu und schoben sich einen Spalt frei, durch den sie auf den Flur hinausschlüpften. Dieser Part ihres Planes war leicht. „Shht! Ich höre jemanden!“, zischte Tala plötzlich, schnappte sich Kais Arm und zog ihn mit sich hinter besagten Metallschrank. Das Geräusch schwerer Stiefel auf hartem Boden drang an ihre Ohren. Ihre Atmung wurde flach, sie pressten sich dichter aneinander. In einiger Entfernung stoppten die Schritte. Kai und Tala lauschten angestrengt. Sie konnte nicht aus ihrem Versteck hervorlugen, sonst würde man sie entdecken. Schließlich traten die Schritte wieder den Rückweg an. Patrouille also. Erleichtert atmeten die Freunde auf. Fürs Erste waren sie drin. Kai nickte Tala zu. Leise traten sie aus ihrem Versteck hervor. Tala wechselte auf die gegenüberliegende Seite, damit sie einen weiten Rundumblick hatten und sich gegenseitig Rückendeckung gaben. Am Ende des Ganges spionierte Tala um die Ecke. Nur eine Wache. Wortlos sprintete er hervor und stieß seinem Gegner das Knie in den Rücken, während er gleichzeitig seinen Arm um dessen Hals schlang und mit seinem Unterarm die Kehle des Wachmannes abdrückte, bis dieser sich nicht mehr wehrte, weil er ohnmächtig geworden war. Kai folgte ihm und half ihm bei der Beseitigung des Bewusstlosen, um ihre Spuren zu verwischen. Sie stopften ihn in eine nahe Besenkammer, banden ihm die Füße mit den Schnürsenkeln seiner Soldatenstiefel zusammen und fesselten seine Hände auf dem Rücken mit der Krawatte. Zum Schluss knebelte Tala ihn noch mit einem alten Putzlappen. „Hinter der nächsten Tür erwarten uns sicher mehr Wachleute. Wir sollten die äußeren Gänge nutzen und unnötige Zimmerbegehungen vermeiden“, wisperte Kai, als sie aus der Besenkammer stiegen. „Wir teilen uns auf“, meinte Tala im sachlichen Ton. Er schickte Kai vor, sobald sie einen Raum erreichten, den sie durchqueren mussten, da sie sonst im Kreis liefen. Sie hatten bald den „Verhörraum“ erreicht. Dort, so vermuteten sie, wurde ihre Babuschka festgehalten. Der Titel dieses Raumes war so ironisch wie Voltaire und Boris selbst. Fragen waren so gut wie nie gestellt worden, dafür wurden von den Wärtern viel zu gerne die verschiedenen Folterwerkzeuge benutzt. „Halt“, zischte Tala dann und hielt Kai am Arm davor zurück, weiter zu gehen. Ein Wachmann saß an einem Tisch, die Füße auf der Arbeitsfläche, und kippelte mit dem Stuhl, während er mit einem Secutor[1] spielte. Er sah gelangweilt aus. „Liefer’ ihm ein Ziel!“, beschwor Tala Kai. „Was?! Liefer’ du ihm ein Ziel!“ „Du bist der hübschere Köder!“ „Ja, und ich möchte auch noch länger der Hübschere bleiben!“ Nach einigem Hin und Her über nonverbale Kommunikation tauchte Kai schließlich aus dem Nichts vor dem Wachmann auf. Dieser, völlig verdattert ob des plötzlichen Auftauchens, hastete aus seinem Stuhl und richtete das Kampfmesser sofort auf Kai. Der Junge seufzte. „Dein Leben steht auf dem Spiel.“ „Was sagst du!?“, spuckte der Wachmann aus und kam bedrohlich auf Kai zu. „Wenn jemand eine Waffe auf mich richtet, steht sein Leben auf dem Spiel. Das ist keine Drohung, sondern Tatsache.“ Während Kai die Ablenkung übernahm, lauerte Tala wie eine Königskobra versteckt hinter einem Regal. Er atmete ruhig ein und aus. Mit Leichtigkeit rief er sich Sergeis helfende Worte in Erinnerung, als sie gemeinsam das Schießen gelernt hatten. ~“Schießen hat mit dem ganzen Körper zu tun! Einatmen und ausatmen. Lass dich von der Kugel überraschen…“~ Kai spürte einen Luftzug nahe seinem Oberarm, dann hörte er eine Kugel Fleisch und Knochen durchbrechen. Der Wachmann vor ihm sackte zusammen. Kai packte ihn rasch und drapierte den leblosen Körper so auf Tisch und Stuhl, dass es aussah, als würde er schlafen. Tala trat aus der dunklen Ecke hervor und sah ihm dabei zu. Schließlich blickte Kai auf. „ Erwartest du Lob von mir?“ Tala zuckte mit den Schultern: „Wäre nett, ja.“ „Na du bist ja ein Feiner! … Und jetzt komm, genug herumgetrödelt. Es wird Zeit für deinen Ring-Trick.“   Wortlos folgten sie ihrem unbeirrten Weg. Sie kamen an den Zellen vorbei, in denen „Aufsässige“ aufbewahrt worden waren, bevor sie in den Verhörraum geschleift wurde. Eine dieser Zellen war nicht leer. Leise näherten sie sich. Sie wussten nicht, was sie erwartete. Die Person, die ihnen den Rücken zugedreht hatte, wandte sich zu ihnen um. Tala zuckte zurück. Das Mädchen vor ihm starrte ihn mit trüben Blick an. Breit verteilte sich die getrocknete Blutspur über ihrem Kinn. „Sei bloß still!“, zischte Tala es warnend an. Das Mädchen verzog ihr Gesicht zu einer verächtlichen Fratze. Tief dunkles Blut quoll über ihre Lippen, als sie ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen. „FUCK!“, keuchte Kai und konnte nicht verhindern, sein Blick für einen Moment von ihr abzuwenden. Man hatte diesem Mädchen die Zunge abgeschnitten. Und es hatte scheinbar das letzte, abebbende Blut in ihrem Mund behalten. Es begann, modrig und nach Eisen zu riechen. „… Sind die noch brutaler geworden?“ Tala und Kai wichen zurück, zum Fenster. Plötzlich hob das Mädchen die Hand und zeigte mit dem Finger auf selbiges Fenster. Stirnrunzelnd hielt Kai dem Blick des Mädchens stand. Schließlich verstand er und öffnete, nach einem versichernden Blick, eine Seite des Fensters. Mittlerweile im ersten Stock, war er über den Schatten dahinter irritiert. „…Baumelt da… eine Leiche?“ Nach einem Blick zu dem Mädchen, das wild nickte, sah er zu Tala. „Muss das sein? Jetzt?!“ „Er kann da doch nicht hängen bleiben… und es scheint ihr wichtig zu sein.“ „Schön!“ Nachdem der Rotschopf sich versichert hatte, dass sie noch nicht entdeckt worden waren, kletterte er auf den Fenstersims und zückte sein Taschenmesser, um den Toten von dessen Strick zu befreien, während Kai ihn an der Gürtelschleife festhielt, damit er nicht aus dem Fenster fiel. „Warum mussten sie ihn so weit oben aufhängen?“, knurrte Tala und sägte sich durch das Tau. „Keine Ahnung. Vielleicht dachten sie, er wäre dann besonders tot?!“ Gemeinsam schleppten sie die Leiche zu den Gitterstäben der Zelle, in dem das Mädchen gefangen war. Tala huschte sofort wieder zum Fenster, um sich umzusehen. Die Aktion hatte sie Zeit gekostet. Aber Kai war nun mal so. Mitfühlend. Trotz allem und vor allem trotz der Situation. Das Bisschen Menschlichkeit wollten sie sich bewahren. Aber jetzt wurde es Zeit. Kai richtete sich auf, nachdem er dem Mädchen einen Schlüsselbund, von dem er nicht wusste, ob er passte, und ein paar Werkzeuge in die Zelle geworfen hatte, die er hier hatte finden können. Er sah auf das Mädchen hinab und entsicherte seine Waffe, um auf es zu zielen. „Wir waren nett zu dir, weil wir dein Schicksal kennen. Aber kommst du uns in die Quere… Zögern wir nicht, dich zu töten. Verstanden?“ Doch statt einer bejahenden Antwort griff das Mädchen zur Waffe und drückte sich den Lauf an die Stirn, schloss die Augen und flehte stumm mit jeder Faser ihres Körpers, er möge doch bitte, bitte abdrücken. „Lass los!“ Kai hatte Schwierigkeiten, ihren eisernen Klammergriff von seiner Beretta zu entfernen. Plötzlich sackte sie zusammen. Kai hatte den Lufthauch kaum gespürt, die die Kugel verursacht hatte, bevor sie sich durch die Mitte der Stirn des Mädchens fraß. Ein sauberer Durchschuss. Kai erhielt die Gewalt über seine Waffe zurück. Fassungslos drehte er sich um. Tala stand hinter ihm, senkte gerade die Arme. Der Schalldämpfer rauchte noch. Seine erstarrte Miene glich einer Maske und vermochte nicht zu verbergen, wie kalkweiß er erblasst war. „Sie ist uns in die Quere gekommen.“ Kai, der schon immer etwas sensibler gewesen war als Tala, unterdrückte den Brechreiz, der sich seine Speiseröhre emporschlich. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Blick hart und bestimmt. Der Glanz seiner Rubine erloschen, nickt er Tala nur zu. Ihre Mission hatte Vorrang.   Sie huschten durch die nächste Tür. Vor ihnen eröffnete sich der lange Korridor zum Verhörzimmer: Der Weg zum Schafott. „BORIS!!!“ Kai zuckte zusammen. Talas laute Stimme hallte wütend von den Steinmauern wider. Für ihn war jetzt Schluss mit Zurückhaltung. Die Angst und die Wut hatten sich gefährlich hoch in ihm hochgeschaukelt und die Erlebnisse eben hatten ihn zudem so weit getrieben, dass sein Verstand aussetzte und nur die Tollkühnheit seines Herzens ihn regierte. „Boris, ich weiß, dass du hier bist!“ Tala griff an seinen Gürtel. Mit einer flinken Handbewegung riss er den Sicherungsstift aus der Handgranate, schleuderte sie in Richtung der Tür und drückte in einer Bewegung sich und vor allem Kai schützend an die Mauer. Durch die Wand spürten sie beide die Erschütterung der Detonation. Schutt und Putz rieselten von der Decke. Kai kämpfte sich aus Talas eisernem Griff frei. „Blödmann! Kannst du kurz aufhören, Zeug in die Luft zu jagen?!“ „Hast du Angst?“ „Nein, ich hab keine Angst, meine Vernunft schreit nur VORSICHT!“ „Du wolltest, dass ich den Ringtrick benutze.“ „Ja, aber dahinter sitzt Baba! Denk mal ein bisschen nach!“ Kai boxte Tala gegen die Schulter und gestikulierte mit einem Kopfnicken in Richtung des gewaltigen Lochs, das der Ältere soeben in das alterwürdige Mauerwerk gesprengt hatte. Nachdem sich der Staub und der Rauch gelegt hatten, kletterten sie durch das Geröll. Als sie es endlich hindurch geschafft hatten, klopfte Talas Herz heftig in seiner Brust. Dort, hinter einem schützenden Glaskasten, saß Anna Ivanov! Ihre Hand- und Fußgelenke waren durch die Reibung der Fesseln aufgeschürft und angeschwollen. Das Gesicht konnten sie nicht sehen, es war von einem hässlichen Sack verdeckt. Wieder stieg unbändige Wut in Tala auf. Er schoss auf das Glas, aber erst nach vier Schüssen splitterte es. Kai nahm einen großen Geröllbrocken und schleuderte diesen in das Glas, welches dann gänzlich zersprang. Sie stiegen über die Scherben und eilten auf ihre Oma zu. Tala riss ihr sofort den Sack vom Kopf. Ihr Gesicht war geschwollen, ihre Lippen trocken von der Reibung am Knebel. Auch diesen entfernte Tala ihr, während Kai ihre Fesseln durchtrennte. „Ein Glück, du lebst!“, rief der Rotschopf aus. Anna lächelte erleichtert: „Was hab ich nur für dumme Jungs!“ „In der Tat…“ Die gehässige Stimme ließ das Blut in den Adern der Jugendlichen gefrieren. Sie drehten sich in die Richtung, aus der sie kam. „Hätte nicht gedacht, dass ihr kommt…“ „Man muss immer mit Leuten rechnen, auf die man nicht zählen kann“, gab Kai schlagfertig zurück. „Das war doch kugelsicheres Glas!“, motzte Boris, der Voltaires wallendem Umhang folgte und fassungslos die Schäden betrachtete, „Warum heißt es kugelsicher, wenn es nach ein paar Schüssen zerberstet?“ Mit nur einer Handbewegung schnitt Voltaire Boris das Wort ab. „Tu mir den Gefallen und benutz das nächste Mal die Tür. Ich steh nicht so auf Löcher in den Wänden“, meinte Kais Großvater spitzfindig, aber mit einer zu ruhigen Stimme für den Geschmack der beiden Jugendlichen. Boris fiel in Voltaires abfällige Bemerkung ein: „Jahhh…  da sind sie wieder. Unsere Macho-Machos, aufgeblasene kein-Anschluss-für-die-Birne-Fatzkes!“ Subtil und Beherrscht war nicht unbedingt Balkov zweiter Vorname. Beide Jungen stellten sich schützend vor ihre Babuschka. Kai reichte ihr sein Messer, damit sie sich selbst von der letzten Fessel um ihren Knöchel befreien und sich im Notfall selbst verteidigen konnte. „Piss mir nicht in meine Hosentasche und sag mir, dass es regnet!“, knurrte Tala Boris an und wollte seine Waffen ziehen, aber Boris war schneller. „Na, na na!“ Der alte Mann zielte mit einer Desert Eagle auf ihn. Diese halbautomatische Single-Action-Pistole war aus israelischer Anfertigung, was Tala daran erkannte, dass sich rasch braune Prints bildeten. Das war eine Eigenheit dieser Handfeuerwaffe; die israelische Produktion nahm aufgrund der ursprünglichen Brünierung ohne anschließender Polierung aggressiven Handschweiß besonders intensiv auf. Dieses Wissen war wichtig für Tala, denn das sagte ihm, dass Boris schwitzte – und längst nicht so locker war, wie er es nach außen zeigte. Und das würde кровавыа война zu seinem Vorteil nutzen, sofort, wenn sich die Gelegenheit bot. Voltaire schnipste und hinter ihm tauchten drei Schüler auf, bewaffnet mit dicken Пистолет-пулемёт Бизон[2], die auf sie gerichtet waren. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich Voltaire Hiwatari und Boris Balkov in Sicherheit wogen, zeigte sich offensichtlich in ihren Gesichtern. Und da Voltaire nun anwesend war, begannen sie, in Sachen psychologischer Kriegsführung nun zu Höchstleistungen aufzulaufen, so schien es. „Das selbstbestimmte Subjekt ist Resultat von Unterwerfungsprozessen: Gehorsam fällt unter die Vor-stellungen der Selbstbestimmung“, erklärte Voltaire süffisant grinsend und ging einen Schritt auf die drei zu. Kai und Tala wechselten einen fragenden und skeptischen Blick. „Jetzt dreht er durch…“, murmelte Kai seinem Freund leise zu. „Keineswegs, mein lieber Enkelsohn…“ Kai schauderte bei der Bezeichnung. Er wollte alles sein, nur nicht Voltaires Enkel. Die Blutsbande mit ihm bedeuteten ihm nicht mehr als absoluten Ekel. Voltaire fuhr weiter fort, anklagend: „Ihr beide seid einfach nicht selbstbestimmt, weil ihr euch MIR immer wieder unterordnet… So wie jetzt!“ Mit etwas Verzögerung, in deren Pause das Gesagte unheilschwanger im Raum stand, entgegnete Kai: „JEDER ist ein solches Resultat, die Idee der Freiheit als Telos der Führung ist Selbstbestimmung. Denn außerhalb von Führung leben wir nicht. Jedes Leben ist ein Projekt – die Lebenspläne sind von uns geschaffen. Unsere eigene Führung ist nicht vordefiniert und wenn du irgendwas damit zu tun hast, dann nur als Negativbeispiel, niemals so wie du zu werden!!!“ Kai holte tief Luft und ging einen Schritt vorwärts. Die Scharfschützen entsicherten bedrohlich ihre Bisons. „Kai, stell dich gerade hin! Kai, mach dein Bett ordentlich! Wie? Du kannst deinen Namen noch nicht buchstabieren? Dann gibt es für dich kein Essen, bis du es kannst! … Ich war erst 4! 4 Jahre alt! Ich hasse dich!“ „Mein Gewissen war rein!“, erwiderte Voltaire, angestachelt von der Vehemenz seines Enkels. „Weil du es nie benutzt hast! Und nie benutzen wirst! Und ich hoffe, dass mein Hass dir gegenüber irgendwann umschlägt in völlige Gleichgültigkeit, aber im Moment genieße ich jeden Augenblick, in denen ich dieses Gefühl in meinen Adern spüre. Denn es sagt mir, dass ich noch am Leben bin! Und es erinnert mich an den Zweck meines Lebens: Das deinige zu beenden!“ So schnell, wie Kai seine Beretta im Anschlag hatte und Voltaire damit ins Visier nahm, so schnell konnte keiner der Umstehenden reagieren, nicht einmal Tala. Aber Voltaire lächelte nur spöttisch. „Den Lauf solltest du niemals auf etwas richten, dass du nicht töten willst.“ „Nein, eher würde ich ein brennendes Streichholz in einen Benzintank werfen!“ Ein Schuss fiel. Trotz allem unvorbereitet, traf er Voltaire in die rechte Schulter. Niemand reagierte, es war, als stünde die Zeit für einen Moment still. Dann schrie Voltaire vor Schmerz auf, und richtete einen wilden Blick auf Boris: „Du wirst das erledigen, oder ich erledige dich!“ Boris nickte und wandte sich voller Vorfreude an Kai und vor allem Tala: „Das ist nichts Persönliches. Das ist rein geschäftlich.“ „Es war schon immer persönlich“, erwiderte Tala trocken, und nicht zu früh duckte er sich. Die Geschosse flogen wild, aber geradlinig auf sie ein. Tala schnappte sich seine Großmutter, schirmte sie mit seinem Körper ab und rannte zu einem größeren Geröllhaufen, der von der vorherigen Explosion gebildet worden war. Dieser würde ihnen etwas Schutz bieten. Kai war in die andere Richtung gelaufen, strategisch klug, denn so mussten sich die gegnerischen Schützen aufteilen. „Sind das deine besten Bodyguards und Schützen?“, schrie Kai über die andauernden Schüsse hinweg. „Ich würde sie ja nicht einsetzen, wenn ich du wäre! Wir sind um ein Vielfaches besser als sie!“ „Ehrlich, Kai? Du willst sie damit provozieren?“ Die Einschläge der Munition kamen näher. Die Bisons waren auf Automatik eingestellt. Kai und Tala hatten keine Chance, ein Gegenfeuer zu erwidern, ohne Gefahr zu laufen, getroffen zu werden. Im Moment jedenfalls. „Wieso, klappt doch!“ „Ja, sie schießen unaufhörlich auf uns! Klasse!“, schrie Tala ihm entgegen. Wie üblich in solchen Extremsituationen, waren sie sich uneins. Plötzlich lachten beide auf, unbewusst. Als Tala es bemerkte, lachte er Kai an: „Ich schwöre dir, unsere Gehirne haben schon gelacht, bevor wir sprechen können!“ „Vermutlich sogar immer gleichzeitig“, grinste Kai zurück. Im selben Moment versagte das Nachladen bei dem Schützen, der Kai am nächsten stand. Der Silberhaarige stand auf, schoss erst blind auf seine Gegner und erledigte dann zwei von ihnen mit einem gezielten Kopfschuss. Ganz so, wie Tala zuvor das Mädchen in der Zelle ausgeschaltet hatte. Übrig blieben Voltaire, Boris und der letzte Bodyguard, der so jung war, dass ihm jetzt, im Angesicht des Todes, doch die Knie schlotterten und er einige Schritte zurücktaumelte, das Gewehr zwar schützend vor sich erhoben, aber nutzlos in seinen unerfahren Händen. „Es wird Zeit“, verkündete Kai, „Zeit für euch, zu gehen. Schnuppert Friedhofsluft.“ „Ich will nicht auf den Friedhof!!“, brüllte sein Großvater ihn an. Jetzt war es an Kai, überlegen zu grinsen: „Jeder muss dort einmal früher oder später hin. Du früher, ich später.“ Mit einer lang erhofften Befriedigung zog sein Zeigefinger den Abzug durch. Voltaire versuchte zu entkommen, doch dieses Mal hatte Kai mehr als genau gezielt: Auf Voltaires Herz nämlich. Es war, als würde die Welt anhalten. In Zeitlupe sackte der alte Mann zu Boden. Ebenso langsam senkte Kai voller Genugtuung seinen Waffenarm. Auch die Szene vor ihm, in der Boris, vor Verzweiflung um seinen – ja, man konnte sagen, langjährigen, besten und einzigen Freund, an dessen Seite eilte, spielte sich in Zeitlupentempo ab. Boris tastete nach der blutenden Wunde, presste seine Hände fest darauf, aber es war bereits zu spät. Voltaires Seele hatte den irdischen Körper bereits verlassen. Kai fühlte sich leicht und unbesiegbar und so, als hätte er einen triumphalen Erfolg erreicht. Deshalb nahm er auch die Gefahr nicht wahr, die sich plötzlich aufbaute, als die Erde sich weiter drehte. Boris riss dem unnützen Jungen die Bison aus den Händen und feuerte blind vor Tränen um seinen toten Freund in Kais Richtung. Er wollte diesen Jungen tot sehen, wollte dies schon, seitdem er sich im Alter von knapp fünf Jahren das erste Mal frech gegenüber seinem Gaspadin verhalten hatte. „Kai!!!“ Tala konnte seine Babuschka nicht alleine lassen. Aber er würde heute weder sie, noch seinen Partner verlieren! Das schwor er sich, als er eine Salve an Schüssen abfeuerte. Überall fielen Patronenhülsen zu Boden. Der Raum rauchte vor Schutt und ob der Einschusslöcher zerberstende Trümmerteile des Mauerwerks. Als sich der Rauch legte, standen nur noch Tala und Anna aufrecht. Talas Herz setzte aus. Nein, das durfte nicht wahr sein…. Wut, so kalt wie ein Fisch, erklomm sein Herz. Sein Blick verdunkelte sich. Eine dunkle, bestialische Aura umgab ihn. Aus der Ferne ertönte ein Heulen. Dann leuchtete ein eisblaues Licht aus seiner Hosentasche wie ein Laser in Richtung Decke. Wolborg, sein Wolf, manifestierte sich aufgrund Talas starker emotionaler Reaktion. Er entsprang seinem Bit Chip in Talas Hosentasche, den dieser immer bei sich trug, und rannte auf Boris zu. Knurrend blieb das Bitbeast über dem Erzfeind stehen. Tala folgte Wolborg und kniete sich neben Boris. Zähflüssiges, fast schwarzes Blut sickerte aus einer Eintrittswunde an dessen Schläfe. Dennoch war dieser noch bei Bewusstsein. Wolborg fletschte geifernd seine Zähne; Dampf stieg aus seinen Nüstern auf, die Luft um sie herum klirrte vor Kälte. „Du lebst ja noch…“ Tala kickte mit einem schnellen Tritt gegen die leblosen Beine von Voltaire. „Kann man von deinem Gaspadin nicht sagen. … Du hast an uns gezweifelt.“ Seine Feststellung klang leise, rau, emotionslos. Seine Hand griff in Wolborgs dickes Nackenfell, liebkoste den Wolf. Seine Stimme war ruhig, so wie die liebevolle Geste gegenüber dem Bitbeast, und duldete keinen Widerspruch, als er fortfuhr: „Das hier ist unser Sieg, über dich, über euch. Aber das muss dir nicht peinlich sein. Unbesiegbarkeit gehört nicht zu den menschlichen Eigenschaften. Und du bist einfach nur ein armloser Mensch, ohne Freunde und Familie.“ Bitterkeit mischte sich in seinen Ton. „Entgegen all deiner Versuche, uns beiden genau das zu nehmen, hast du es doch nie geschafft.“ Der Boden vereiste. Die Macht Wolborgs wurde zunehmend stärker, je dunkler die Gefühle wurden, die sich in Tala aufstauten. „Solltest du dies überleben, rate ich dir: Halte dich fern von mir und meiner Familie. Drohe uns nie wieder. Das hier wird unsere letzte Begegnung sein, ублюдок[3].“ Mit diesen Worten überließ er Boris Balkov seinem Schicksal. Er ging schnellen Schrittes auf seinen am Boden liegenden Freund zu. Jeder schritt ließ den Boden unter seinen Füßen gefrieren. Anna kniete bereits hinter Kai und hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt. Ein rötlich-goldenes Licht schimmerte um seinen Körper und es hüllte zunehmend auch sie ein. Sie lächelte ihm gutmütig zu. Zugegeben, so lebendig wie jetzt hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Das könnte allerdings auch mit Dranzers magischer Heilwirkung zu tun haben, die er als Phönix innehatte. „Ich muss schon sagen, Yura… verdammt gute Arbeit. Verdammt einschüchternd deine Rede eben.“ „Ja, war es das?“ Tala konnte sich nicht so recht konzentrieren. Erst musste Kai seine Augen öffnen. „Dieser flache, ausgeglichene Ton deiner Stimme… Wie aus dem Einmaleins der Bedrohungen. Nur wenige Dinge sind furchteinflößender als eine gleichmäßige, ruhige und sanft ausgesprochene Drohung.“ Tala sah sie an und lächelte das erste Mal ehrlich und fast befreit. Es half, wie seine Großmutter mit ihm redete. Das Lächeln erreichte auch seine Augen und die kleinen Lachfältchen machten ihn zum ersten Mal seit Jahren wieder jünger, statt älter. Dennoch blieb Wolborgs Kraft, die er in der Phase absoluter Wut und unbändigen Hasses heraufbeschworen hatte, erhalten. Irgendetwas reagierte auf und zog an seiner Kraft, und das merkte selbst Tala. Bitbeast und Besitzer wurden unruhig. Da grollte es auch schon aus den Tiefen der Katakomben der Abtei. Ein leichtes Beben folgte. Im selben Moment regte Kai sich, fasste sich an den Kopf. Ihm war dank der schusssicheren Weste nichts Schlimmeres als ein bald entstehender Bluterguss passiert. Pures Glück. Und vielleicht ein bisschen Hilfe seines Phönixes. „Hey, Yuriy… Warum hast du mich nicht geweckt?“ „Weil ich leider kein Dynamit hatte“, meinte Angesprochener wohlwollend neckend. Als ein erneutes Beben den Boden unter ihren Füßen erschütterte, richtete Kai sich rasch auf. „Was zum-?“ Kai spürte eine bekannte, unheimliche Kälte in sich aufsteigen. Seine Pupillen erweiterten sich vor Angst. Diese Macht, die sich züngelnd ausbreitete, nach ihm im Speziellen lechzte, nachdem Tala sie mit der Power seines Bitbeasts scheinbar geweckt hatte, konnte nur eines bedeuten: Black Dranzer war erwacht! Und er gierte nach Zerstörung. Dieses unheilvolle Gefühl konnte Kai nicht abschütteln, ebenso wenig wie das Blitzlichtgewitter an Erinnerungen, die er an den pechschwarzen Phönix hatte. Er fühlte das korrumpierende Tätscheln unsichtbarer Flügel, die ihn in trügerischer Sicherheit lobten für seinen tief sitzenden Hass, den er heute zur Schau gestellt hatte. Am Ende waren sie ja doch nicht so verschieden, und Black Dranzer genauso missverstanden wie Kai… „Er ist wieder da… und er will mich mit seiner Power verführen…“ Irritiert sahen beide Ivanovs zu Kai. Der Silberhaarige begann zu zittern. Langsam dämmerte es Tala. Sein Wolf knurrte, sein Beschützerinstinkt war entfacht. „Kai, nein. Das lässt du nicht zu. Du bist nicht allein. Wir lassen das nicht zu!“ Affirmativ heulte Wolborg auf. ~Nein, wir passen auf dich auf.~ Unter Kais Schutzweste leuchtete das Amulett auf. In einem hellen Licht manifestierte sich nun auch der rote Phönix. Sie alle hatten sich nun um Kai versammelt, denn sie würden ihn beschützen – komme, was wolle. Auch Wolborg schaltete sich nun ein. ~Überlass es uns. Ihr habt genug gekämpft heute. Leckt eure Wunden. Wir sind bald wieder da.~ Kurz danach verschwanden beide in einem ihren Elementen farblich charakteristischen Lichtstrahl. Aber das änderte nichts an der in Kai immer stärker anwachsenden Panik. Je stärker sein Phönix, der offenbar in den Katakomben den Kampf mit Black Dranzer aufgenommen hatte, ihn verteidigte, desto stärker spürte er den Sog der Finsternis. „Yuriy, komm her, ich brauche deine starken Arme“, forderte Anna Ivanov schließlich. Tala gehorchte ohne Nachfragen. „So, hier… Aufstehen… hinstellen…“ Anna half Kai dabei, und behandelte dann Tala wie eine Marionette. Sie stellte beide eng aneinander und ließ ihren leiblichen Enkel ihren angenommen Enkel fest an sich drücken. „Fester, Yura. Du musst ihn festhalten. Ganz fest. Das wird seine Nerven beruhigen. Zuerst steigt die Panik an, also halte ihn gut fest. Aber dann sinkt der Blutdruck und seine Panik wird nachlassen. Drückt euch fest aneinander. Ja. So ist es gut.“ Kais Herz begann tatsächlich zu rasen, und erst wollte er sich wehren, aber Tala drückte seinen Kopf gegen seine Brust und hielt ihn in einem eisernen Griff fest. Der gleichmäßige Herzschlag seines Partners und die Sicherheit, die seine Umarmung bot, beruhigten Kai schließlich doch. Aus den Tiefen dröhnte ein Donnern, das die Erde erzittern ließ. Phönixschreie, kaum voneinander zu unterscheiden, so schrill, dass der Putz von den Wänden bröckelte und die ohnehin zerbombte Halle noch um einiges mehr verunstaltete, zeugten von dem sich unten abspielenden Kampf. Durch beide Blader floss die Energie ihrer Bitbeasts und ließ sie in einer bläulichen bzw. rot-goldenen Aura schimmern. Anna legte jedem Jungen eine Hand auf die Wange. Plötzlich erhob sich ein dröhnendes Tosen, aus dem Boden züngelten schwarze Flammen. Dämonische Energien schienen sich freisetzen zu wollen. Die Grundmauern stürzten ein. Tala löste ihre Umarmung und schob Kai vorwärts. Gemeinsam legten sie jeweils einen Arm um Anna und rannten aus dem Gebäude, wobei Anne vielmehr schwebte, da sie von den beiden eher getragen wurde. Gerade noch rechtzeitig schafften sie es ins Freie. Hinter ihnen verursachte der Zusammensturz von mehreren Stützpfeilern Druckwelle, die sie Nase voran in den Dreck stieß. Heftig atmend drehten die drei sich auf den Rücken. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte auch die Außenmauer des angrenzenden Gebäudes ein. Black Dranzers Zerstörungskraft hatte tiefe Risse im Mauerwerk hinterlassen, und es war vorhersehbar, dass dieser Einsturz sicher nicht der letzte sein würde. Nachdem sich das sehr unangenehme, andauernde und laute Pfeifen in ihren Ohren etwas gelegt hatte und der Tinitus bei Tala halbwegs verschwunden war, fragte er: „Alles in Ordnung bei euch?“ Anna nickte. Beide warteten auf Kais Antwort, die ausblieb. Aber die Ankunft von Dranzer und Wolborg lenkte beide kurz von Kai ab. „Hey mein Großer! Wie lief‘s?“ Wolborg lief sofort auf seinen Herrn zu und drückte seine Schnauze gegen Talas Gesicht und ließ sich gebührlich kraulen, bevor er nachdrücklich mit der Nase gegen Talas Hände stupste, bis dieser sie offen hielt. ~BLEHRG!~ „Bah, Wolborg, was… Oh…“ In seinen Händen hielt er den zerbrochenen Bitchip von Black Dranzer. Aber so was war schon einmal vorgekommen, bei Dranzer selbst. „Ist... ist es wirklich vorbei?“ Dranzer landete auf Wolborgs Rücken und gurrte. ~Es ist anders als bei meinem Verschwinden aus dem Bitchip. Sieh genau hin. Er ist gebrochen. Sein Emblem ist verblasst. Ich kann zwar nicht ausschließen, dass nicht doch irgendwo noch ein bisschen seiner Magie versteckt ist, aber so wie er jetzt ist, ist er unbrauchbar. Der Riss in seinem Emblem verhindert, dass er sich materialisieren kann. Ihr solltet ihn irgendwo sicher und unzugänglich aufbewahren.~ „Danke euch beiden. Ohne euch… Danke….“ Tala konnte nicht in Worte fassen, wie gesegnet sie durch die Hilfe ihrer Bitbeasts waren. Ohne sie hätten sie den Angriff Black Dranzers vermutlich nicht überlebt. Vor allem, da Kai anfällig für die Dunkelheit war. Das brachte Talas Aufmerksamkeit wieder zu seinem besten Freund. Dieser lag auf dem Rücken, ein Arm über seine Augen und biss sich auf die Lippen. „Hey, hey… Hast du Schmerzen? Was ist?“ „Es ist alles meine Schuld…“, murmelte Kai. „Hättest du mich nie kennen gelernt, hätte ich euch beide nie da hineingezogen. Dann hätten Voltaire und Boris ihre Abscheu nur gegen mich gerichtet. Und Boris hätte Babuschka nicht entführt und…“ „Shhhh, Kai, hatten wir das nicht schon? Diese Schuldzuweisungen sind irrational, du-!“ Aber alles Gut-Zureden half nichts, denn Black Dranzers Dunkelheit hatte an Kais tiefsitzenden Ängsten und Schuldgefühlen gerüttelt und losgebrochen, was gerade aus dem emotional überforderten Jungen herausquoll. Mit einer hastigen Bewegung richtete er sich plötzlich auf, packte Talas Hand und klatschte ihm dessen Glock in selbige. „Yuriy, töte mich! Los töte mich!!“ „Bist du verrückt geworden?!“ Unbeirrbar ahmte er die Szene nach, die sich ihnen kurz vor der Action der Rettungsaktion abgespielt hatte. Nur hatte er seine Zunge nicht verloren. „Yuriy, drück ab! Nun mach schon, bitte!“ „Nein!“ „Yura! Ich flehe dich an! …“ „Bullshit, Kai! Hör auf damit, sterben zu wollen!“ „Bei dem Mädchen hast du nicht gezögert!“ Tala schluckte: „Das war…“ Jetzt mischte sich auch ihre Babuschka ein, konnte das Leid nicht länger ertragen. „Versuchs mit einer kognitiven Neukalibrierung, Yura.“ „Einer… was?!“ „HAU IHM KRÄFTIG EINE RUNTER!!!!“ Tala holte aus, ballte eine Faust und schlug Kai hart und kräftig ins Gesicht. Er traf seinen Wangenknochen. Fast augenblicklich bildete sich ein wütendes Rot auf Kais Wange, dass wohl violett anlaufen würde. Tala hielt den Atem an. Eine Zeit lang starrte Kai nur in die Richtung, in die sein Kopf nach dem Schlag geflogen war. Schließlich wandte er sich wieder Tala zu. „Tut mir leid.“ „Warum entschuldigst du dich jetzt?“ „Weil du mich und meine Ausraster immer ertragen musst.“ „Okay, halt die Klappe jetzt.“ Tala beugte sich vor, streichelte kurz das sich bereits verfärbende Veilchen und zog Kai im Nacken näher zu sich. Er gab ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Wie wärs, wenn wir jetzt nach Hause gehen?“, schlug Baba mild lächelnd vor. Ihr schlug Fassungslosigkeit, Ärger und Besorgnis in einem Sekundbruchteil und nur in prüfenden Blicken entgegen. „Du, Baba, kommst nicht nach Hause…“ „… sondern ins Krankenhaus…“ „… wo man sich um dich und deine Wunden kümmert!“ „Denn du warst tage-, wenn nicht wochenlang eingesperrt!“ Resigniert seufzend fügte sie sich ihrem Schicksal. „Von wem ihr das wohl habt…“, murmelte sie. „Na von wem wohl?!“, kam es unisono von beiden Jungen. Gemeinsam stützten sie die alte Dame und verließen das Grundstück.   [1] Secutor: Ein Kampfmesser, vornehmlich für Sondereinsatzkräfte. Besitzt versetzten Rückenschliff. Lässt sich auch mit Handschuhen schnell öffnen. [2] Die PP-19 Bison (Pistolet Pulemjot Bison, russisch Пистолет-пулемёт Бизон) ist eine russische Maschinenpistole, die zwischen 1993 und 1995 von Wiktor Kalaschnikow und Alexej Dragunow, beide Söhne namhafter Waffenentwickler Russlands, entwickelt wurde. [3] ублюдок - Bastard Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)