Guilty von WeißeWölfinLarka (Schuldig - Kann ich es je wieder gut machen?) ================================================================================ Kapitel 41: Die Saat des Zweifels ist gesät ------------------------------------------- Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht. § 25,1 StGB     Ray schüttelte den Kopf. Nicht nur, dass Kenny nichts in Kais Unterlagen über ihren Vorkurs finden konnte, auch schien das College, dass sie angeblich anbot, nicht zu existieren. „Mir kam das gleich komisch vor. Wann sollten sie denn dafür Zeit gehabt haben? Wohl kaum, während sie uns auf das wichtige Turnier vorbereitet haben. Und schon gar nicht kurz danach.“ „Ich weiß, was du meinst. Seine Behauptungen decken sich logisch nicht und passen nicht in die zeitliche Abfolge. Da müsste Kai ja drei Leben leben, um alles das zu schaffen, was er angeblich alles angeleiert hat.“ „Vor allem dieser College-Vorkurs. Selbst wenn es diesen geben WÜRDE – Kai hat nicht annähernd so gute Noten, dass er genommen werden würde. Ich meine nicht, dass er dumm ist, aber seine mündlichen Noten ziehen seinen Schnitt ganz schön runter.“ „Nun, es gibt natürlich diese Kurse, die einen auf die Universität vorbereiten sollen, das heißt, dass Noten dafür unerheblich sind. Aber im Allgemeinen macht das, was er da gesagt hat, einfach keinen Sinn.“ Kenny legte die Hände in den Schoß und seufzte laut. Dass er mit Ray in dessen und Kais gemeinsamen Zimmer in den Sachen ihres Teamleaders schnüffelten, hielten sie für mehr als gerechtfertigt. Nach dem zum Himmel schreienden Unsinn über Motiv und Motivation für die Abwesenheit von Tala und Kai mussten beide Freunde jetzt endlich aktiv werden. Sie beide hatten schnell die fortschreitende Skepsis des jeweils anderen bemerkt. Max schien zwar auch besorgt, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Schuld für die Ultimatumsdebatte in ihrem letzten gemeinsamen Gespräch zu geben. Und Tyson war… ja, der war einfach am Boden zerstört über Kais Fortgang. Es war deutlich zu merken, dass der junge Kinomiya sehr an Kai hing. Er verkraftete es seltener, wenn sie sich stritten. Auf seine Art wurde Tyson reifer und verstand es immer ein bisschen besser, mit Kai und dessen Launen umzugehen. Im Augenblick saß er vor dem Fernseher und starrte die Mattscheibe an, während seine Hände unentwegt eine Prospektbeilage kneteten. So hatten Kenny und Ray ihn noch vor etwa einer Stunde im Wohnzimmer gesehen – und daraufhin beschlossen, in den wenigen Habseligkeiten, die Kai in seinem Zimmer hatte, nach Hinweisen zu suchen. Allerdings fanden sie keine: Weder Beweise dafür, dass die beiden Russen logen, noch dass sie es nicht taten. Es gab wirklich nichts, was ihre notdürftige Geschichte untermauerte. „Ob er alles mitgenommen hat? Vielleicht haben sie ja Anmeldungen und was sie sonst noch so hatten, eingepackt, weil sie es vorzeigen müssen?“ Kennys halbherziger Versuch einer Erklärung, die er selbst nicht glauben konnte, fand auch bei Ray kein Gehör. Schließlich richteten sie Kais Arbeitsplatz wieder so her, wie er vor ihrer Durchsuchungsaktion ausgesehen hatte. „Sag mal Kenny… du und Dizzy… könnt ihr nicht Kais Email-Account einsehen? Oder Talas? Es muss doch eine Korrespondenz mit dieser Universität geben.“ Kennys Gesicht erhellte sich, nur um kurz darauf wieder in sorgenvolle Falten zu fallen. „Ray, nein, das können wir nicht bringen. Das wäre wirklich… Das wäre ein unverzeihlicher Eingriff in Kais Privatsphäre, den er uns niemals verzeihen würde. Von Tala ganz zu schweigen! Das bisschen Vertrauen, das Kai zu uns aufgebaut hat, würde uns vollends entgleiten. Und wir würden ihn nie wieder sehen. Unser Verhältnis steht doch schon wieder auf der Kippe.“ Ray nickte niedergeschlagen, versuchte es aber noch einmal: „Aber sie müssten es ja nicht erfahren…“ „Das geht nicht. … Und wir würden uns strafbar machen!“         Aufmerksam hockte das Mädchen im Schneidersitz auf ihrem Bett und wartete darauf, dass Kai, der ihr gegenüber saß, anfing zu sprechen. Er hatte angekündigt, dass er ihr etwas Wichtiges zu sagen hatte. „Lin, sicher hast du bemerkt, dass Yura und ich in den letzten Tagen sehr hektisch waren und wenig Zeit hatten.“ Sie nickte. „Wir werden für einige Zeit nicht hier sein.“ Es fiel Kai schwer, sie anzulügen, aber er konnte nicht zwei Lügen jonglieren und sie war zu jung, um das Ausmaß eines versehentlichen Verplapperers zu begreifen. Und ihr die Wahrheit zu nennen stand noch weniger zur Debatte. Das Mädchen liebte Anna Ivanov. Kai seufzte. Wäre es nicht einfacher gewesen, sie hätten gesagt, ihre Babuschka wäre krank? Dass sie sich kümmern müssten? Aber vermutlich hätten sie dann keinen Freistellungsschein für die Schule bekommen. Vielleicht sogar wäre Mr. Dickenson auf die Idee gekommen, selbst dafür zu sorgen, dass es Talas Oma gut ging, hätte versucht, sie herzufliegen oder was ihm auch immer eingefallen wäre. Das musste man dem Sponsor der Bladebreakers lassen, er kümmerte sich wirklich, wenn seine Schützlinge Probleme hatten. Leider hatte das auch den Nachteil, dass er sich in Dinge einmischte, aus denen er seine Nase besser raushielt. „Ray, Max und Tyson werden aber bleiben. Und Kenny natürlich. Sie werden auf dich aufpassen, mit dir Hausaufgaben machen und wenn du Probleme hast, egal was, dann wende dich damit an… Ray.“ „Wo geht ihr denn hin? Warum… warum kann ich nicht mit?“ „Weil du Schule hast, Liebes.“ „Ihr doch auch!“ „Jaaaah, aber wir gehen weg, um zur Schule zu gehen. Wenn wir später mal arbeiten wollen, dann ist es wichtig, einen guten Schulabschluss zu haben. Und wenn man noch bessere Arbeit haben will oder wenn man eine bestimmte Arbeit haben will, dann muss man zur Universität gehen. Weil wir uns die Möglichkeit offenhalten wollen, dass wir mal zur Uni gehen können, gehen wir jetzt für einige Zeit dorthin und lernen was Neues.“ Lin knautschte mittlerweile ein Kissen vor ihrem Bauch. Sie verstand, was er ihr erklärte. „Was willst du denn mal arbeiten, wenn du groß bist?“ Darüber musste Kai etwas lachen. „Meine Arbeit soll so geheim sein, dass ich selber nicht weiß, was ich tue.“ Das wiederum verstand Lin nun nicht, auch wenn Kai sich für sehr witzig hielt. Schließlich aber räusperte er sich und stand von ihrem Bett auf. „Versprich, dich zu benehmen, wenn ich nicht da bin.“ Er umarmte sie fest, drückte sie minutenlang an sich, während sie ihm zusicherte, ‚brav‘ zu sein. Ungewiss seiner Zukunft, ob er sie oder seine Teammitglieder je wieder sah, übertrat er die Türschwelle der WG, hinaus in den Vorgarten, wo Tala auf ihn wartete. Gemeinsam ließen sie die bohrenden Blicke von Ray und Kenny hinter sich.         Mittlerweile war bereits die zweite Woche angebrochen, seit sich Kai und Tala verabschiedet hatten. Allerdings hatten beide sich nicht bei den Bladebreakers gemeldet. Bei niemandem von ihnen. Eigentlich müssten sie sich keine Sorgen machen, denn dass Kai sich nicht meldete, hatte eine – traurige – Tradition bei ihnen. Dennoch hatten sie ja seit dem letzten Turnier die Hoffnung gehabt, das Verhältnis zwischen ihnen und ihrem Teamleader hätte sich stabilisiert. Aber so wie Kais Einstellung zum Leben, war auch die Beziehung zu seinen Teamkameraden eine ewige Achterbahnfahrt. „Weißt du, was ich glaube, Chef? Es gibt keine Beweise für ihre Geschichte, weil ihre Geschichte erstunken und erlogen ist.“ „Ich dachte, so weit wären wir schon, Ray“, meinte Kenny trocken und drehte sich auf dem Bürostuhl einmal um sich selbst. Plötzlich piepste sein Laptop laut auf. Er fuhr herum und scrollte sich durch die Einträge, die Dizzy ausgespuckte. „Ray, schau dir das an.“ Zwar hatten sie entschieden, nicht Kais Email-Account zu hacken, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, an anderer Stelle weiter zu stöbern. Kenny hatte mehrere Suchbefehle gleichzeitig eingegeben. Sein Bitbeast ermöglichte es ihm, dass mehrere Suchen nebeneinander laufen konnten und sich auch untereinander durch Querverweise miteinander vernetzten. „Sie spuckt etwas zu Kais Eltern aus. Die Todesanzeige aus der Zeitung, die wir schon kennen, ist auch dabei. Aber da ist noch eine von vor 12 Jahren. Vermutlich ist das die ursprüngliche. Dizzy, gib uns das mal in Papierform aus.“ Während der Drucker laut brummend an die Arbeit ging, klickte Kenny einige Fenster weg. „Warte mal, was ist das denn? … Wieso sind – ich kann das gar nicht lesen, geschweige denn aussprechen, aber…“ „кровавыа война… mein Russisch ist zwar eingerostet, aber ein bisschen kann ich.“ „Wie, was? Seit wann?“ „Ist das wichtig? Wenn Tala und Kai sprechen, verstehe ich sowieso kein Wort, aber-“ „Er hat ja mich, und ich lerne schnell!“ kiekste Dizzys digitale Stimme vergnügt aus den Lautsprecherboxen. „Wie auch immer… Also dieses кровавыа война – warum wird das hier angezeigt? Was hast du für Suchbegriffe eingegeben?“ Kenny überblickte die Suche rasch: „Hmm, Hiwatari, Moskau, Aktuelles. Dizzy, von wann ist der aktuellste Eintrag zu кровавыа война?“ „Von heute. Eine Tagesmeldung aus den Moskauer Nachrichten. Soll ich es euch übersetzen und ausdrucken?“ Kenny bejahte. Er und Ray waren so gespannt auf den Inhalt, dass sie kaum darauf warteten, bis die Tinte trocken war und das Blatt sofort aus dem Drucker rissen.   ~ Professionell geplanter Angriff auf Abtei. Stellvertretender Leiter der Abtei schwer verletzt aufgefunden. Moskau. Boris Balkov, Verwalter der renommierten russischen Talentschmiede für junge Blader, hat einen lebensgefährlichen Angriff nur knapp überlebt. Ärzte kämpfen momentan um sein Leben. Die Abtei selbst wurde bei dem Anschlag schwer beschädigt. Der linke Flügel, in dem sich Lager- und Trainingshallen befanden, ist komplett zerstört. Zu dieser Zeit hielten sich keine Kinder dort auf, allerdings wurden einige Erwachsene verletzt. Es wird vermutet, dass das Duo кровавыа война diese Zerstörung zu verantworten hat. Ihnen wird zudem Brandstiftung vorgeworfen. Die Banditen waren in letzter Zeit auffällig häufig in Moskau und Umgebung tätig. Warum sie die Abtei angriffen, ist unklar. Die zuständigen Behörden vermuten aufgrund der Spuren, es handle sich um ein gezieltes Attentat, um an bestimmte Entwicklungspläne der Forschungseinheit innerhalb der Abtei zu gelangen. Balkov ist für seine Erfolge im Bereich des Beysports bekannt, die er durch Forschung und Weiterentwicklung erzielte. Das berühmteste Team, das von ihm in der Abtei trainiert wurde, waren die Demolition Boys. Balkov war der einzige russische Trainer, dem es gelang, von den Japanern besiegt zu werden. ~   „Wartet, hier ist noch eine neuere Meldung!“, plärrte Dizzy in die entstandene Stille hinein und ein weiteres Papier fand seinen Weg in Kennys Hände.   ~ Newsticker: кровавыа война ermordete Boris Balkov auf eine seiner Gesundheit höchst nachteiligen Weise. ~   Sprachlos senkte Kenny beide Blätter und starrte ins Leere. „Boris… ist tot?“ „… Ob Kai und Tala das wissen?“ „Ist das dein Ernst, Ray? Die werden wohl eher als wir davon erfahren haben, die sitzen doch sozusagen direkt an der Quelle!“ „Quelle… warte mal… Weißt du… Als Tala neulich hier war, und diesen Zusammenbruch hatte, erinnerst du dich? Ich habe ein Gespräch belauscht, in dem Kai Lin erklärt hat, dass Tala etwas ihm sehr wichtiges verloren hat.“ „Und?“ „Was, wenn er das gemeint hat? Wenn es mit Boris zu tun hatte?“ „Äh?!? Kausalzusammenhang?! Talas Zusammenbruch war zeitlich VOR der Ermordung von Boris. Und warum sollte ausgerechnet DER ihm wichtig sein?“ „Das meinte ich doch gar nicht. Aber wenn Boris dafür gesorgt hat, dass Tala dieses Ding, was ihm so viel wert ist, verliert? Ich weiß auch nicht… Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass da irgendwas ist, was das alles verbindet.“ Kenny starrte ihn daraufhin sehr lange an, was Ray mit der Zeit sehr unangenehm wurde und er sich haareraufend in seinen Sitzsack in der Ecke schmiss. Da schob sich Kenny seine Brille tief ins Gesicht und begann, lautstark und pfeilschnell in die Tasten zu hauen. „Was machst du denn jetzt?“, fragte Ray irritiert. „Fehler sind menschlich – aber wer richtigen Mist bauen will, braucht einen Computer.“ „EY!“, quittierte Dizzy das lautstark protestierend, aber Kenny ignorierte sie. „Ich werde jetzt einen Suchalgorithmus entwerfen, der deine Skepsis und dein Bauchgefühl miteinander vereint. Dafür werde ich die bisherigen Suchbegriffe, die wir heute benutzt haben, um кровавыа война und Balkov erweitern. Mal sehen, ob sich deine Theorie damit unterstützen lässt.“ „Das kannst du?“ Ungläubig rutschte Ray nach vorne. Kenny war ein Genie, aber dass er ein so großes Ausmaß an Genialität außerhalb des Beysports besaß, war dem Chinesen nicht bewusst gewesen. „Ich kann es zumindest versuchen. In Amerika haben sie jemanden, der hilft dem FBI mit seinen Algorithmen, um Menschen zu suchen oder potenzielle Gefahrenquellen auszuschalten. Hat Emily mir mal erzählt. Wir haben uns eine Weile darüber unterhalten, ob sowas wirklich geht und die Möglichkeiten und Grenzen dieser Methode ausgelotet. Allerdings kann die Suche jetzt ein paar Tage dauern.“ Das war Ray egal. Hauptsache, sie kamen dem Geheimnis einen Sprung näher. „Ich weiß, das hat zwar beim letzten Mal nicht funktioniert, aber… ich versuche mal, Kai anzurufen. Oder zu simsen. Vielleicht schreibt er ja zurück. Es ist zwar anstrengend, aber wir müssen ihm nur immer wieder zeigen, dass wir da sind, auch wenn er uns wegstößt.“ Der Schwarzhaarige wählte Kais Handynummer. Kai sollte wissen, dass sie von den Neuigkeiten erfahren hatten und dass sie alle ihm beistehen wollten, wenn er es nur zuließ. Es knackte im Hörer und Ray horchte hoffnungsvoll auf, sein Herz fing schon an schneller zu schlagen. Doch eine digitale Frauenstimme erklärte „Sie werden umgeleitet. Der Gesprächsteilnehmer ist demnächst für Sie bereit.“ Leicht enttäuscht blies Ray die Luft aus seinen Backen und wartete weitere 30 Sekunden. Endlich hörte er Kais Stimme. Sie klang ernst, irgendwie erwachsener und ein wenig so, als hätte er ein Reibeisen verschluckt:   „Guten Tag. Sie rufen außerhalb der Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)