Die letzten Elben von niiv (Eldar na veduir) ================================================================================ Kapitel 1: Elbenlied -------------------- Die letzten Elben Eldar na veduir Elbenlied Zwischen den dunklen Bäumen versank die Sonne und wich einer fahlen Düsternis, die über den laubbedeckten Waldboden kroch. Die Vögel Ithiliens sangen ihre Melodien in der Abenddämmerung, während die ersten Sterne zu funkeln begannen. Schattenhafte Gestalten bewegten sich in der Dunkelheit, nur von den wachsamen Augen wilder Tiere begleitet, lautlos und schnell wie der Westwind ... Tirmo blieb zwischen einer Felsgruppe stehen und schnappte nach Luft. Er schwor sich, nie wieder den Pfad zu verlassen- falls er je aus diesen Wäldern heraus finden würde. Nachdem er den letzten Schluck aus seinem Wasserbeutel getrunken hatte, blickte er zum Himmel. Den Sternen nach war er auf dem richtigen Weg, und so ging er weiter. Nach einiger Zeit gelangte er an einer steil abfallenden, jedoch nicht sehr hohen Felswand an- um weiter zu kommen, würde er hinunterklettern müssen. Vorsichtig ließ er sich über die Kante gleiten und suchte mit den Füßen Halt in einer der zahlreichen Spalten und Vorsprünge. Als er jedoch ein Stück nach unten gekommen war, hörte er hinter sich ein Geräusch, das Knacken eines Astes in der Dunkelheit, und drehte sich erschrocken um. Er verlor den Halt, rutschte ab und landete unsanft am Fuß der Steinwand. Vögel stoben, durch den Lärm aufgeschreckt, auf und es war still. Eine Weile blieb Tirmo unbewegt auf der Erde sitzen, in der Angst, plötzlich ein Raubtier vor sich auftauchen zu sehen. Und während er so dort kniete und auf die grauen Zweige starrte, hörte er auf einmal entfernten Gesang: A! Elbereth Gilthoniel! elye, in ien norenÏon no dairen tiralve di enyaliën tennoio silme or aer numenyan... Diese Sprache kannte er nicht, und er wusste nicht, dass dies Elbisch war. Als die letzten Töne verklungen waren, schwieg der Wald, und Tirmo, der immer noch wie versteinert da saß, hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er blickte um sich, aber da war nichts außer Bäumen und Erde. Langsam stand er auf, darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu verursachen, denn er hatte beschlossen, in diese Richtung zu gehen, aus der das Lied gekommen war- vielleicht würden ihm diese Leute den Weg zeigen können. "Sie werden mir sicher weiterhelfen können" dachte er sich, "jemand, der sich um diese Zeit im tiefen Wald herumtreibt..." Nun kam er durch einen Hohlweg, und überall waren Felsen, dunkel und bedrohlich im letzten Licht des Tages. Für einen kurzen Moment glaubte er, wieder Gesang zu hören, doch dann war es totenstill. Tirmo hielt an und überlegte, ob er rufen oder die Nacht hier verbringen und am Morgen den Rückweg suchen sollte. Plötzlich sirrte die Luft und als er sich umdrehte, steckte ein hell gefiederter Pfeil zitternd in dem Baum hinter ihm. Mit klopfendem Herzen sah Tirmo, dass jemand hinter einem Felsen hervortrat. Sein Haar schimmerte silbern im Mondlicht und er schien offensichtlich den Pfeil abgeschossen zu haben, denn er hielt einen weißen Langbogen. Er blickte mit funkelnden Augen auf Tirmo, der sich vor Angst nicht zu rühren wagte, und rief leise: "Amdir, Ethuil, telo!" Lautlos lösten sich vor Tirmos Augen zwei weitere Gestalten mit erhobenen Bögen aus den Schatten des Waldes und die drei umringten ihn. Dann trat der Mittlere auf ihn zu, ließ seine Waffe sinken und fragte ihn in der Gemeinsamen Sprache: "Was hast du hier zu suchen, Mensch, auf dem Gebiet meines Volkes?" "I-ich habe mich verlaufen", stammelte Tirmo, "es war nicht meine Absicht, irgendjemandes Gebiet zu betreten!" Er sah, dass die Ohren des Sprechers oben spitz zuliefen, und seine hellen Augen funkelten, als sich die Sterne in ihnen spiegelten. Er war ganz sicher kein Mensch. Oft hatte Tirmo Lieder von Waldgeistern gehört, die unwissende Menschen mit ihrem Zauber tief in die Wälder lockten, um sie dort zu töten. Waren diese Märchen nun etwa Wahrheit geworden? Als ob sein Gegenüber Tirmos Gedanken gelesen hätte, sagte er nun: "Wir sind Waldelben. Nur wenige unseres Volkes weilen noch in der Dunkelheit Mittelerdes, und vermutlich habt ihr Sterblichen uns längst vergessen. Und nein, wir haben nicht vor, dich zu töten. Noch nicht." Elben! Dies waren tatsächlich elbische Krieger, und nun, da Tirmo ihnen in die schönen, aber unbewegten Gesichter blickte, konnte er es sehen: Zwar schienen sie auf den ersten Blick sehr jung, doch ihre Augen wirkten alt. "Wie ist dein Name, Menschenkind?" fragte der Elb weiter. "Ich heiße Tirmo." "Tirmo?" Der Elb schien zu lächeln. "Scheinbar habt ihr uns nicht ganz vergessen. Dies ist ein elbischer Name- und wie es mir scheint, wird er dir nicht gerecht..." "Warum nicht?" Jetzt sprach der Elb, der links stand. "Tirmo bedeutet soviel wie >Der Wachsame< - doch das bist du wahrlich nicht! Wir verfolgen dich schon seit einiger Zeit, und du hast uns nicht bemerkt! Wobei- einen Elben im Wald zu entdecken, wenn er es selbst nicht will, ist fast unmöglich. Trotzdem wäre vielleicht der Name >Orlostar<, >Tagträumer<, passender." "Du hast Recht, Amdir!" meinte der erste lachend. Doch dann wurde seine Miene wieder ernst und er wandte sich an Tirmo: "Wir werden dich vorerst mit uns nehmen und später beratschlagen, was wir weiterhin mit dir machen." Er ging voran und der, der Amdir genannt wurde, und der Elb, der bis jetzt geschwiegen hatte (Er schien der jüngste der Drei zu sein), nahmen Tirmo in ihre Mitte und bedeuteten ihm, mitzukommen. Während sie auf diese Weise ihren Weg fortsetzten, besah Tirmo sich die Elben genauer. Sie trugen alle drei dunkelgrüne Kleidung, die mit Ranken und Blättern bestickt war. Ihre Füße steckten in leichten Schuhen, über die sie Lederstulpen gezogen hatten und um die Schultern hatten sie hellbraune Mäntel mit silbernen, blattförmigen Spangen geschnallt. Ihre hellen Haare glänzten im Mondlicht, das nun die Blätter und Äste mit Silber überzog. Ihre Gesichter waren ernst, doch sie schienen freundlich gesinnt zu sein. "Wohin bringt ihr mich?" fragte Tirmo nach einer Weile. "Erst einmal kommst du mit in unsere Siedlung", antwortete der Elb, der vor ihm ging, "aber versuche lieber nicht, zu fliehen. Im Dunklen und bei Tage sind unsere Sinne zehnmal schärfer als die eines Menschen, und dazu noch eines so unachtsamen." "Ich habe nicht vor, zu fliehen. Wohin auch? Ich würde mich wieder verirren." Schweigend gingen sie weiter. Als sie über einen felsigen, baumlosen Hügel kamen, von dem man den freien Himmel sehen konnte, flog ein Schwarm Seevögel mit klagendem Ruf über ihre Köpfe hinweg. Der Elb vor Tirmo sagte in seiner Sprache: "Elo! Te, in maiweni rhenior na-chaered or i aer, ar cuinolve oia nev mi en dair Endóren!" Seitdem waren die drei sehr schweigsam, und als Tirmo einmal wissen wollte, wie weit es noch sei, antworteten sie nicht. Der Mond stand hoch am Himmel, und Tirmos Füße schmerzten, als die Elben erneut stehen blieben und sich leise berieten. Schließlich sagte der Elb, der scheinbar so etwas wie der Anführer war, in der Gemeinsamen Sprache: "Du bist müde, wie ich sehe. Wir werden hier bis zum Sonnenaufgang rasten, und du kannst dich ausruhen." Die Elben ließen sich unter einer großen Eiche nieder und legten ihre weiß leuchtenden Bögen in das Gras. Amdir reichte Tirmo ein Stück Brot und etwas von einem Getränk, das nach Waldkräutern schmeckte. Dann kehrte er zu den anderen Kriegern zurück und die drei begannen, auf dem Boden sitzend und die Arme um die Knie geschlungen, sich auf Elbisch zu unterhalten. Sie schienen Tirmo nicht zu beachten, also versuchte er, es sich auf dem steinigen Boden so bequem wie möglich zu machen. In ihrem Gespräch schien es um etwas Wichtiges zu gehen- Tirmo verstand zwar kein Wort von dem, was gesagt wurde, doch ihr Tonfall ließ erkennen, dass es ernsthaft war, und sie sprachen leise. Irgendwann, als die Mitte der Nacht längst vorüber war, schlief Tirmo ein, eng zusammengerollt unter den grauen Ästen und den silbernen Sternen. Kapitel 2: Caras-di-Dairan -------------------------- Caras-di-dairan "Aufwachen, wir müssen weiter!" rief einer der Elben und riss Tirmo damit aus seinen Träumen. Zuerst glaubte dieser sich, noch im Halbschlaf, zuhause in seinem warmen, weichen Bett, aber dann wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er immer noch auf dem ziemlich harten, kalten Waldboden lag. Langsam richtete er sich auf, gähnte und blickte verschlafen um sich. Er hatte das Gefühl, nur einige Minuten geschlafen zu haben- die Sonne war noch nicht einmal richtig aufgegangen, und diese rücksichtslosen Elben (die scheinbar selber kein Auge zugemacht hatten und jetzt trotzdem einen für diese Tageszeit viel zu wachen und munteren Eindruck auf Tirmo machten) hatten ihn einfach geweckt! Im Morgengrauen konnte Tirmo die Gestalten der drei wieder nur schemenhaft erkennen- am besten schienen sie zu sehen zu sein, wenn man sie nicht direkt anzuschauen versuchte, sondern beispielsweise den Baum hinter ihnen ansah- sie saßen noch genau so da, wie als Tirmo eingeschlafen war. Der größte von ihnen drehte den Kopf und sah Tirmo an. "Bist du jetzt endlich wach?" fragte er in belustigtem Ton. "J-ja" stotterte der Junge und beeilte sich, auf die Füße zu kommen. "Mit Frühstück- so nennt ihr es doch?- können wir jetzt nicht dienen, aber ich denke, in Caras-di-Dairan, unserer Stadt, wirst du etwas bekommen. Wenn alles glatt läuft, sind wir dort, bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht" sagte der Elb, erhob sich und klopfte Erde und Blätter von seinem Mantel. "Verzeiht mir, mein Herr, ... aber könntet ihr mir nicht Euren Namen sagen?" fragte Tirmo leise. "Oh, wir haben uns wirklich noch nicht vorgestellt- wir dachten nicht, dass einen Sterblichen die Namen von >Märchenwesen< interessieren würden, aber wenn du meinst..." Wieder sprach der Elb mit spöttischem Unterton. "Gestatten... Ich bin Legolin Aduial, Sohn von Legolas Grünblatt" sagte er, mit einer wirklich nur sehr leicht angedeuteten Verbeugung. Dann wies er auf die zwei anderen, die neben ihm standen. "Meine Begleiter sind Amdir und Ethuil. Wir alle sind Waldelben, Tawarwaith vom Volk der Sindar- Grauelben." "Sehr erfreut, zu euren Diensten." Tirmo verbeugte sich. "Es erfreut auch mich- zu sehen, dass deine Eltern dir wenigstens Manieren beigebracht haben. Sind alle Sterblichen so höflich?" Tirmo kam sich seinerseits ziemlich verspottet vor- dieser Legolin schien alles, was er sagte, nicht ganz ernst zu meinen- aber er blieb still, denn es kam ihm nicht sehr klug vor, mit drei Elben einen Streit anzufangen. Vermutlich hätten sie ihn sowieso nur ausgelacht. Ohne ein weiteres Wort drehte Legolin sich um und lief leichtfüßig den Hügel hinab; die anderen folgten ihm. Tirmo bemühte sich, im Halbdunkel nicht über Wurzeln und Steine, die aus dem Boden ragten, zu stolpern. Nachdem sie ein Stück zwischen den Bäumen gelaufen waren, begleitet vom morgendlichen Lied der Waldvögel, und vereinzelte kalte Sonnenstrahlen sich ihren Weg zwischen den taubenetzten Spinnweben hindurch suchten, sagte Ethuil etwas zu Legolin, zog sich dann die Kapuze seines Mantels über die leuchtenden Haare und verschwand lautlos im Dickicht. "Was ist los?" wollte Tirmo wissen. "was tut er?" Legolin, der plötzlich stehen geblieben war, antwortete mit gedämpfter Stimme: "Nichts, kein Grund zur Sorge. Er kundschaftet nur die Gegend aus." Aber auch er klang nicht überzeugt von dem, was er sagte. "Sind wir etwa in Gefahr?" "Merk dir das: Solange wir außerhalb von Caras-di-dairan herumlaufen, sind wir immer in Gefahr! In diesen Zeiten ist es unsicher überall, wo du hingehst. Und jetzt Schluss mit diesen Fragen!" Der Elb schien irgendetwas gespürt zu haben; er hatte seinen Bogen gespannt und blickte wachsam um sich. Plötzlich flog in der Nähe ein kleiner Schwarm Vögel auf und wenige Sekunden später sprang Ethuil auf den Pfad hinunter und rief ihnen zu: "Schnell, macht euch kampfbereit! Zum Verstecken reicht die Zeit nicht!" Kaum hatten die drei ihre Bögen erhoben, kam ein Dutzend riesiger, grauer Wölfe knurrend zwischen den Ästen hervor. Die Sehnen der Elbenbögen zischten und drei der Angreifer fielen zu Boden. Legolin zog ein langes, weißes Messer und befahl Tirmo, hinter ihm zu bleiben- das hätte er ihm allerdings gar nicht sagen müssen, denn der Junge bemühte sich, in der Nähe der Elben zu bleiben um nicht zum Frühstück eines hungrigen Riesenwolfes zu werden. Die Krieger hatten das Problem schnell gelöst und die übrigen Tiere, die fliehen wollten, ließen sie nicht am Leben. "Das waren keine würdigen Gegner für uns" meinte Ethuil, der, wie die anderen, keinen einzigen Kratzer davongetragen hatte, während er seine Pfeile wieder einsammelte. "Trotzdem bedeutet es nichts Gutes" sagte Legolin und bestand darauf, sofort weiterzugehen, "und ihr Menschen seid ja auch keine große Hilfe..." "Bedeutet das, wir könnten noch einmal angegriffen werden?" fragte Tirmo, die letzte Bemerkung überhörend. Legolin antwortete nicht, packte Tirmo so fest an der Schulter, dass es weh tat, und ging schnellen Schrittes weiter nach Südosten. Nach einer Weile hatte Tirmo Schwierigkeiten, mit den dreien mitzuhalten, aber sie beachteten ihn nicht weiter. Irgendetwas stimmte nicht, Tirmo kam aber anfangs nicht darauf, was es war. Auch die Elben hatten es gespürt- sie legten noch einen Zahn zu und rannten nun beinahe; außerdem sah Tirmo, dass Legolin seinen Bogen packte. Jetzt merkte er, was ihm seltsam vorgekommen war: Alle Vögel waren verstummt und der Wald schien den Atem anzuhalten. Dann war hinter ihnen ein lauter werdendes Brüllen und das Geräusch von splitterndem Holz, Tirmo sah jedoch nicht, wer oder was diesen Laut verursacht hatte, denn Amdir packte ihn am Ärmel und rannte wie der Blitz los. Verzweifelt versuchte Tirmo, Schritt zu halten und nicht zu stolpern, das Blut in seinen Adern schien gefroren zu sein: Was war dieses Ding, vor dem sie da flohen? Hinter sich hörte er Legolin rufen: "Torog!" Dann brüllte das Monster wieder, so laut, dass die Bäume erzitterten und Legolin rief: "Amdir, Ethuil! Trevédo na Caras-di-dairan! Im 'hilyantan!" Amdir blieb stehen und schien zu zögern, aber Ethuil sagte zu ihm: "Er hat es so befohlen! Wir müssen fliehen!" "Alcariolve!" erwiderte Amdir. "Schnell, wir trennen uns und verstecken uns einzeln, dann wird er uns nicht alle bekommen!" Die beiden waren spurlos verschwunden, bevor Tirmo auch nur hätte fragen können, was überhaupt los war. Hastig sah er sich nach einem geeigneten Versteck um. Als er dabei den Weg entlangblickte, den sie gekommen waren, sah er es: Eine riesige, mindestens 12 Fuß hohe Kreatur, gespickt mit weißen Elbenpfeilen, stand vor Legolin! Der Elb lag auf dem Boden und war unbewaffnet. Das Monster hatte sein Messer zerbrochen, nun packte es mit einer hornigen Pranke den Bogen und den Köcher und schleuderte sie weit von sich- genau vor Tirmos Füße. Die restlichen Pfeile fielen klappernd heraus; einige zersplitterten. Für einen kurzen Moment stand Tirmo unschlüssig da und starrte auf den weißleuchtenden Bogen zu seinen Füßen. Sicher, er konnte mit Schusswaffen umgehen, eigentlich relativ gut für sein Alter- nur war dieser Elbenbogen um einiges zu groß für ihn... Die Kreatur hob mit beiden Händen eine unförmige, stachelbewehrte Keule über ihren Kopf, um dem Elben einen letzten, tödlichen Schlag zu verpassen. Doch sie traf ihr Ziel nie. Der helle Elbenpfeil zischte heran und bohrte sich mit einem Knacken in den Schädel des Monstrums. Es schien für einen Augenblick verwundert zu sein, dann taumelte es einige Schritte rückwärts und stürzte krachend zu Boden, eine Wolke von Staub und Blättern aufwirbelnd. Tirmo glitt der Bogen aus der Hand. Er war selber überrascht, einen so guten Treffer gelandet zu haben; vielleicht hatten sich die Übungen mit der Waffe seines Vaters doch gelohnt... Aber was war mit dem Elben? Tirmo rannte zu ihm. Legolin lag keuchend auf dem Boden, sein Mantel war blutverschmiert. Als Tirmo seinen Namen rief, öffnete er die Augen und richtete sich mühsam auf. Erschrocken sah der Junge, dass Legolins Gewand blutgetränkt war und dass sich auf dem Boden eine große Lache davon gebildet hatte. "I-Ich glaube, du bist ziemlich schwer verletzt..." stammelte er. Zu seiner Verwunderung lächelte der Elb (es gelang ihm aber nicht so gut): "Es geht schon, das meiste davon ist Trollblut...au!" Er griff sich an die Seite. "Er hat mir ein paar Rippen gebrochen, das ist alles..." Plötzlich kamen Ethuil und Amdir angerannt und knieten sich neben Tirmo. "Wir hätten Euch zu Hilfe kommen müssen, Herr!" sagte Amdir bestürzt. "Allerdings hat ja der Menschenjunge es alleine geschafft..." "Ja, das war ein hervorragender Schuss- fast schon so gut wie der eines Elbenjungen!" meinte Ethuil beifällig, aber Legolin sagte: "Der Troll wäre auch von alleine umgekippt, er war sozusagen durchlöchert mit meinen Pfeilen!" "Aber- mit Verlaub- dann wärt ihr vorher von seiner Keule getötet worden, Herr!" Das war das erste Mal, dass einer der Elben sich für Tirmo einsetzte! "Der Junge wird noch Vergeltung dafür erhalten; jetzt ist das Wichtigste, Caras-di -Dairan zu benachrichtigen!" Legolin versuchte aufzustehen, ließ sich aber mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zu Boden sinken. "Es wird noch jemand anderes Vergeltung erhalten" keuchte er. "Ethuil, hole mein Pferd!" Dieser stand auf und verbeugte sich. "Und bring mir einen sauberen Umhang mit!" rief Legolin ihm nach. Bevor es Mittag wurde, kehrte Ethuil mit drei wunderschönen, silbergrauen Elbenpferden zurück. Er ritt ohne Sattel und Zaumzeug. Auch für Tirmo hatte er ein Tier mitgebracht: Ein kräftiges Bergpony ("Es war das einzige, dass ich für jemanden deiner Größe auftreiben konnte"), aufgezäumt und mit einem leichten Sattel. Tirmo war etwas beleidigt, da er sehr gut ohne Zaumzeug zurechtkam, sagte aber nichts. "Kannst du überhaupt reiten?" war der einzige Kommentar von Legolin, als Tirmo wortlos aufstieg. Der Elb trug einen neuen Mantel und hatte seinen Bogen wieder umgeschnallt, saß während des Rittes aber schweigend auf seinem Pferd. Er sah ziemlich blass aus, fand Tirmo. Wiederum einige Zeit später überquerten sie einen kleinen, schnell fließenden Fluss an einer seichten Stelle, und als sie das andere, sandige Ufer hinaufkamen, liefen zwei Elben, in Grün gekleidet und mit Langbögen bewaffnet, auf sie zu. Beide sahen Tirmo etwas verwundert an. Legolin wechselte einige Worte mit ihnen und sie ließen die kleine Gruppe passieren. Ein schmaler Pfad führte bergauf und schlängelte sich zwischen Bäumen und weiß blühenden Büschen hindurch, bis er in ein reich mit Schnitzereien verziertes Tor, hinter dem sich eine Lichtung befand, mündete. In den Bäumen ringsum waren, nur von der Lichtung aus sichtbar, fletts* angebracht, auf denen bewaffnete Wachtposten standen und ein Netz von geschwungenen, hölzernen Treppen und Brücken führte bis in die Baumkronen. "Nach Caras-di-Dairan hinein und auch wieder hinaus kommt nur der lebendig, dem der Herr die Erlaubnis gegeben hat." sagte Amdir nicht ohne Stolz. Tirmo konnte jedoch nicht lange über die Schönheit der Elbenstadt staunen, denn Ethuil bedeutete ihm, mitzukommen und führte ihn über eine schmale Treppe in einen kleinen Raum, der sich ebenfalls auf einem flett befand. Durch ein Fenster, das nach Westen blickte, fiel goldenes Licht herein, auf einem niedrigen Tisch in der Mitte stand eine Schale. "Ruh dich hier aus und iss etwas. Ich bringe dir neue Kleidung." sagte Ethuil mit einem Blick auf Tirmos schmutziges und zerrissenes Wams. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Tirmo kniete sich vor den Tisch und griff nach der Schale. Hungrig, wie er war, verschlang er die Mahlzeit geradezu; die Elben hatten ihm ein Stück Wildfleisch, dunkles Brot sowie einige Waldfrüchte aufgetischt. Nachdem er alles in kurzer Zeit verspeist und seinen Durst mit kaltem Quellwasser gestillt hatte, stand Tirmo wieder auf, ging zu dem Fenster und spähte hinaus. Sein Zimmer lag hoch oben über der Lichtung, nahe den Baumkronen. Unten auf der Wiese und auch auf den Pfaden die sich, kunstvoll geschwungen, zwischen den fletts hin- und herwanden, befand sich Elbenvolk, in helle Gewänder und Mäntel gekleidet. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der Nachmittagssonne, die ihre Strahlen nun schräg zwischen den Ästen hindurchschickte. ___________________________________________________________________________________________________ * flett: Hölzerne Plattform, die (meist im oberen Drittel der Gesamthöhe) zwischen den Ästen eines Baumes (Mallorn, Eiche, Buche) angebracht wurde und nur mithilfe einer einrollbaren Strickleiter erreicht werden konnte. Die Elben benutzten fletts für gewöhnlich als Aussichtsplattform, die gleichzeitig Schutz vor Feinden bot; es ist jedoch bekannt, dass die Waldelben des 3. Zeitalters ihre Städte teilweise auf durch Treppen miteinander verbundenen fletts errichteten. Diese Technik wurde später von einigen primitiven Menschenstämmen (im Gebiet um den Lamedon-Wald) übernommen. ____________________________________________________________________________________________________ Von hier aus konnte Tirmo hinunter ins Tal sehen: Zu seiner Rechten, über viele Baumwipfel hinweg, ragten einige Felsen schwarz und drohend auf: Ein Ausläufer des Schattengebirges. Im Süden erstreckte sich, soweit das Auge reichte, der dunkle, grüne Wald von Ithilien; das Gelände schien sanft abzufallen, in Richtung der großen Ebene des Wüstenlandes Harad. Nach Westen hin lagen, irgendwo hinter dem Waldsaum, Minas Tirith, die frühere Stadt der Könige Gondors, und die Pelennor-Felder. Jetzt sah Tirmo jedoch nur ein fernes, weißes Funkeln, kaum mehr wahrnehmbar. Was er dort erblickte, war das Glitzern des Lichtes auf den Wassern des großen Anduin, der sich von den Ered Mithrin, der Grenze der Nördlichen Öde zu Wilderland, zwischen dem großen Eryn Lasgalen oder Grünblattwald und den gewaltigen Nebelbergen, von vielen Zuflüssen gespeist, hindurchschlängelt, dann durch Anorien und Ithilien fließt und schließlich im Land Lebennin in die Bucht von Belfalas mündet. In der dunstigen Ferne stiegen Myriaden von Seevögeln über dem Delta des Anduin auf und bildeten eine riesige, weiße Wolke. Tirmo wünschte sich schon immer, einmal das Meer zu sehen; jetzt, da Südwind aufkam und einen Hauch von Seeluft mit sich über die Wälder trug, war es auch hier, weit im Landesinneren, zu erahnen. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich die Tür aufging und Ethuil hereinkam. Er stellte einen Bottich mit dampfendem Wasser auf den Tisch und legte ein Bündel Kleidung daneben. "An Flucht denkst du nicht, wie ich sehe. Nun, das ist auch besser für dich... Sicher wird der Herr dich demnächst rufen lassen- bis dahin bleibst du hier." Ethuil nahm die leere Schale an sich, verabschiedete sich kurz und ließ Tirmo allein. Dieser beeilte sich, seine alten Lumpen loszuwerden und legte die Elbenkleidung an, nachdem er sich mit dem heißen Wasser gewaschen hatte. Sie bestand aus gewebten Hosen, einem leichten, hellblauen Hemd, einem dunkleren, knielangen Überwurf, der von einem silbernen Gürtel zusammengehalten wurde und einem Paar Schuhen mit den dazugehörigen hohen Lederstulpen. Frisch angezogen setzte Tirmo sich auf die niedrige Bank am Fenster, lehnte den Kopf an den Rahmen- und wartete; ihm blieb nichts anderes übrig. Kapitel 3: Rätsel über Rätsel ----------------------------- Rätsel über Rätsel Die Sonne sank immer tiefer und Tirmo fröstelte. Gestern morgen war er noch zuhause, bei seinen Eltern und Geschwistern, gewesen... und nun befand er sich in einer Elbenstadt tief im Wald verborgen, und war, sozusagen, gefangen. Auch wenn die Elben es nicht direkt aussprachen, war es im Grunde so. Er konnte sich nicht gerade über schlechte Behandlung beklagen- er hatte gutes Essen und Kleidung sowie ein Zimmer mit schönem Ausblick bekommen, außerdem hatten Amdir, Ethuil und Legolin ihn vor den Wölfen und dem Troll beschützt, doch sagten sie ihm nicht, ob er zurückkehren dürfe, er konnte sein Zimmer nicht verlassen und Legolin ließ nichts von sich hören. Der Herr ließ Tirmo an diesem Tag nicht mehr rufen. Auch am nächsten würde er das nicht tun. Der orange lodernde Himmel wechselte seine Farbe zu einem düsteren Grau und als die Sonne untergegangen war, überspannte der Nachthimmel den Wald wie ein riesiges Zelt aus blauem Samt. Tirmo hatte das Gefühl, ein wenig Schlaf vertragen zu können, und sah sich nach einer passenden Ruhestätte um. Zu seiner Rechten bemerkte er eine Nische, die ihm vorher nicht richtig aufgefallen war; dort befand sich eine Art Liege mit einigen Polstern und gewebten, mit silbernen Rankenmustern bestickten Decken darauf. Tirmo legte sich hin, das Gesicht in Richtung des Fensters gewandt. Er konnte die sich leicht im Wind wiegenden Äste sehen, die sich schwarz gegen den nächtlichen Himmel abhoben. Nach und nach erschienen immer mehr Sterne und glänzten zwischen dem Blattgeflecht und den Baumkronen hindurch. Die gewaltigen Stämme wurden von einem sanften, flackernden Licht, wie von unzähligen Fackeln, angestrahlt und Tirmo konnte dann und wann zu ihm hinaufsteigende Geräuschfetzen wahrnehmen, Klänge von Harfen und vielen Stimmen: Das Elbenvolk hatte sich auf der Lichtung zu einer Feier versammelt. Schließlich drehte der Wind, und ein klares Lied, von einer einzelnen Stimme gesungen, schwebte hinauf zum dunklen Himmel: A! Elbereth Gilthoniel, silivren penna mÍriel o menel aglar elenath... Na-chaered palan-dÍriel O galadhremmin ennorath, Fanuilos, le linnathon, Nef aëar, sÍ nef aëaron ! Es war das schönste, was Tirmo jemals gehört hatte... Als er aufwachte, war es bereits hell, doch der Himmel war grau und stürmisch; dicke Regenwolken jagten über Ithilien hinweg. Die Vögel hatten sich unter dem Blätterdach verkrochen und sangen nicht. Tirmo stand auf und bemerkte, dass auf dem Tisch wieder eine Waschschüssel und Frühstück standen, außerdem lag auf der Bank ein Stapel Kleider. Die Elben schienen einen längeren Aufenthalt für ihn geplant zu haben... Wieder konnte Tirmo nichts anderes tun, als zu warten. Er setzte sich an das Fenster und starrte in den inzwischen strömenden Regen hinaus. Was am vorigen Tag einen so schönen Anblick geboten hatte, wirkte jetzt nur noch trist und grau. Auch war der Anduin nicht mehr zu sehen: Nach allen Himmelsrichtungen fiel der Wald sanft ab und verlor sich dann in nebliger Ferne zwischen den Regenschleiern. In der Siedlung selbst konnte Tirmo ebenso wenig entdecken: Hin und wieder kam eine in Laubgrau und Grün gewandete Wache von einem der fletts hinunter, oder ein Elb mit einem Kelch ging zum Wasserholen über die Wiese- sonst geschah nichts. Kurz gesagt- es war langweilig. Auch in seinem Raum konnte Tirmo nichts finden, womit er sich hätte beschäftigen können, also vertrieb er sich die Zeit damit, die Kleider in ein kleines Wandregal zu stapeln. Für ihre Gewänder gebrauchten die Elben größtenteils weiches Leder und leichte Webstoffe in den Farben der Erde und des Waldes; die meisten Menschen trugen in jener Zeit einfache Leinenkleidung- und ihre Rüstung... In den letzten Jahren hatte es immer wieder Unruhen in den Ländern östlich der Nebelberge gegeben, und die Menschenvölker waren einander fremd geworden, von den Elben und Zwergen gar nicht zu reden. Es gab ohnehin fast keine mehr von ihnen. Die übrigen Zwerge hatten sich in ihre Minen zurückgezogen und duldeten dort keine Fremden; die Elben waren aus der Welt und aus den Gedanken der Sterblichen verschwunden. An langen Winterabenden erzählte man sich Geschichten über die Kinder der Sterne, von versteckten Festungen, deren weißer Stein nun längst zerfallen war, und von vergangenen Zeiten, in denen alle Völker friedlich miteinander gelebt hatten. Und schließlich von grauen Schiffen, die in sternklaren Herbstnächten aus den Elbenhäfen ausgelaufen waren, um nie nach Mittelerde zurückzukehren. Doch Tirmos Vater und auch die meisten anderen hielten dies alles für nichts weiter als eine Art Gutenachtgeschichte für Kinder. Überhaupt waren alle der Meinung, es nütze nichts, einer verlorenen Vergangenheit nachzutrauern und diese auch noch mit Märchen von unsterblichen Elben auszuschmücken. Es sei wichtig, an die kommenden Zeiten zu denken und sich auf den immer näher rückenden, unvermeidlichen Krieg vorzubereiten. Tirmo fragte sich, wie es mit Legolin und den Waldelben war: Würden sie einfach, von allen übrigen unentdeckt, bis ans Ende aller Zeiten in tiefen Wäldern leben? Würden sie Gondor beistehen können, wenn es zum Krieg käme? Oder... würden auch sie eines Tages mit einem grauen Schiff über das Meer fahren? Tirmo wusste nichts über die Erstgeborenen, wusste nicht, wie viel Leid es ihnen bereitete, unter all den Sterblichen zu leben, deren Dasein wie im Flug verging und bei denen alles so schnell in Vergessenheit geriet, während sie selbst in der Ewigkeit weilten und die Jahrhunderte träge vorbeiglitten wie ein breiter Strom; er wusste nicht, dass sie hier in Mittelerde wie im Exil lebten und dass sie ein anderes Land, unerreichbar und für sie doch allgegenwärtig, vor Beginn aller Zeitalter schon zu ihrer Heimat gewählt hatten. Trotzdem stimmte ihn der Gedanke daran, dass es irgendwann nur noch Menschen, die sich gegenseitig bekämpften, geben würde, traurig. An diesem regnerischen Tag geschah nichts Berichtenswertes mehr. Der Himmel blieb die ganze Zeit über grau und wolkenverhangen, und abends, als Tirmo sich schlafen legte, blieb es ruhig in der Elbenstadt. Nachdem er aufgewacht war, stellte Tirmo fest, dass der Regen über Nacht kaum nachgelassen hatte, und vom Ozean her wehten immer noch Wolken heran. Plötzlich drangen von unten Stimmen und das Geräusch von Hufen hinauf. Schnell lief Tirmo zum Fenster und spähte hinaus in die Morgendämmerung: Er sah, dass Legolin und zwei andere Elben ihre Pferde zum Tor führten. Die drei waren in voller Rüstung, trugen schwere, dunkelgrüne Mäntel und ihre üblichen Waffen: Bögen und Langmesser. Einige weitere, unbewaffnete Elben- darunter erkannte Tirmo auch Amdir und Ethuil- kamen nun hinzu und sprachen mit den Kriegern. Einige Worte konnte Tirmo hören: " Inye anÍron alma lin, enya hÎr..." "...te Valar beruviénte..." "SÍ lelyon!" Legolin und seine Begleiter stiegen auf ihre Reittiere, verabschiedeten sich und ritten in schnellem Galopp durch das Tor. Tirmo hörte das Hufgeräusch nach Westen verklingen. Er fragte sich, wohin sie ritten; es hatte ausgesehen, als brächen die drei zu einem Kampf auf. Kurz zog er die Möglichkeit in Betracht, dass die Elben ihn als Geisel genommen hatten und jetzt die Menschen benachrichtigten; doch er war nur der Sohn eines einfachen Händlers, außerdem hatten die Elben selbst betont, dass sie nichts mit den Sterblichen zu schaffen haben wollten... Vielleicht war Legolin einfach nur auf Jagd gegangen... Die anderen Elben gingen schweigend durch den Regen zurück in die Stadt. Später am Nachmittag kam ein Elb mit etwas zu essen, er sprach aber nicht mit Tirmo. Er hätte gerne Amdir und Ethuil wiedergesehen und sie nach dem Grund für Legolins Aufbrechen gefragt, doch auch die nächsten Tage verliefen ereignislos; kein Bekannter Tirmos ließ sich blicken und das Wetter verschlechterte sich zusehends. Kapitel 4: Tod eines Unsterblichen ---------------------------------- Tod eines Unsterblichen Wenn Tirmo sich nicht verzählt hatte, war es nun bereits die fünfzehnte Nacht, die er in der Elbenstadt verbrachte. Er fragte sich, was seine Eltern jetzt taten- hielten sie ihn bereits für tot? Auf den Gehöften hatten sie sicher längst die Ernte eingefahren... Der Spätsommer war dem Herbst gewichen, und jeden Tag fegten Stürme über das Land. Wolken bedeckten den Himmel und verhüllten Mond und Sterne. Ein starker Regen prasselte auf die Blätter, die sich allmählich golden verfärbten. Tirmo konnte nicht einschlafen, er beobachtete die sturmgepeitschten Äste und lauschte dem Geräusch des Regens, der über ihm unermüdlich auf das Dach trommelte. Als der pfeifende Wind für einen kurzen Moment nachließ, glaubte er, gedämpftes Hufgeräusch zu hören. Erst hielt Tirmo es für eine Täuschung, doch bald wurde es lauter und übertönte den Sturm. Er sprang auf und sah hinaus: Drei Pferde kamen den Weg hinauf und Tirmo hörte Legolins Stimme etwas rufen. Der wachhabende Elb, in der Dunkelheit kaum sichtbar, kam von seinem Posten herunter und öffnete im Licht einer schwach glühenden Fackel einen der Torflügel. Als die Zurückkehrenden in den Lichtkreis traten, konnte Tirmo sehen, dass eines der Pferde reiterlos war. Legolin stieg von seinem Tier herunter; er trug keinen Mantel, seine Kleidung war zerrissen und schlammbespritzt und sein Haar klebte in nassen, goldschimmernden Strähnen an ihm. Er drehte sich zu seinem Pferd und hob etwas aus dem Sattel, über das er sich vorher gebeugt hatte. Etwas Großes; es schien schwer zu sein und Legolin hatte es in seinen Mantel gewickelt. Vorsichtig legte er das Ding auf die Erde. "Tavaron... ea firin." Sagte der Elb leise. Er und die Wache knieten nieder. Als Legolin den dunkelgrünen, vom Regen durchweichten Stoff anhob, zuckte Tirmo vor Schreck zusammen: Der rote Schein des Feuers fiel auf das blutbefleckte Gesicht eines Elben- er war der Reiter des dritten Pferdes... "Hiruva sÎdh... ad gwannath." "Hilyaviénte lin ovras na enya Eledhrim." Legolin und der andere Elb trugen den Leichnam in die Stadt, während der Wächter das Tor schloss und die Pferde wegführte. Wie versteinert stand Tirmo da, der hereinwehende Regen durchnässte seine Kleidung. Einer der Elben, eines dieser unsterblichen Wesen... war tot. Wie konnte es dazu kommen? Wer brachte es fertig, ein solches Geschöpf zu töten...? Obwohl Tirmo ihn nicht gekannt hatte, war der Gedanke an den Elb schmerzlich. Es gab nur noch so wenige von ihnen... Langsam ging er zurück zu seinem Bett und legte sich hin; während Tirmo einschlief, vermischten sich Regentropfen und Tränen auf seinen Wangen. Als der Sturm die Wolken auseinander trieb, bedeckte strahlendes Mondlicht alle Blätter und Äste mit kaltem, flüssigen Silber... Am nächsten Tag, kurz nachdem Tirmo aufgestanden war, kam Amdir zu ihm. Der Elb trug ein langes Gewand aus weißer Seide und ein silbernes Diadem. "Ich habe schlechte Nachrichten." Tirmo sprang von seinem Frühstück auf. "Ich habe gesehen, dass Legolin in der Nacht zurückgekommen ist..." "Also weißt du, was passiert ist?" Amdir schien etwas überrascht. "Ja... das heißt; eigentlich nicht so richtig..." "Warum unterbrichst du mich dann?" "Ist... ist dieser Elb wirklich tot?" "Seine Seele weilt nicht mehr in Mittelerde, falls du das meinst." Amdir drehte sich wieder um und ging zur Tür, hielt aber noch einmal inne. "Heute nacht ist die nurumereth, die Totenfeier für Tavaron. Der Herr bittet dich, auch teilzunehmen." Tirmo zögerte kurz, nickte dann aber. "Ich werde seiner Bitte Folge leisten." "Gut. Ich hole dich heute abend ab." Der Elb verließ den Raum und schloss die Tür. Etwas später kam noch jemand zu Tirmo- es war Ethuil. Erst ließen sie sich wochenlang nicht blicken, und dann kamen sie alle auf einmal! "Hier. Dein Festgewand für die nurumereth." Auch Ethuil war weiß gekleidet und trug, ebenso wie Amdir, ein Diadem. Er überreichte Tirmo ein gleichartiges Gewand mit einem Gürtel aus hellem Silber. "Wir sehen uns heute abend." Der Elb verließ das Zimmer. Als der Junge gegen Mittag aus dem Fenster schaute, konnte er unten, am Fuß eines großen Baumes, Legolin erkennen. Noch einige andere Elben standen bei ihm, sie waren alle wie Amdir und Ethuil gekleidet. An diesem Abend würde er Legolin wiedersehen- der Elb war Tirmo einige Antworten schuldig. Kapitel 5: Nurumereth --------------------- Die Tür öffnete sich leise und Amdir trat ein, gefolgt von Ethuil. Inzwischen war die Sonne tief zwischen die Baumwipfel gesunken und hinterließ den Himmel und die Wolken in einem feurigen Meer; Tirmo hatte bereits das weiße Elbengewand angelegt. "Komm mit uns" sagte Ethuil und Tirmo folgte den Elben. Zum ersten Mal seit- so schien es ihm- Ewigkeiten setzte er wieder einen Fuß hinaus aus dem kleinen Zimmer. Auf dem Berg war ein leichter Wind zu spüren und noch war das Klima angenehm, doch jeden Tag schritt der Herbst weiter fort; selbst so weit südlich kamen die Winter Jahr für Jahr früher und wurden zunehmend kälter. Tirmo folgte den zwei Elben hinunter auf die Lichtung, wo sich noch andere eingefunden hatten, alle in die gleichen Gewänder gekleidet. Sie verließen die Elbenstadt in einem langen Zug nach Norden hin, wo ein befestigter Pfad in den Wald hinein und leicht bergauf führte. Schweigend gingen sie eine Weile zwischen kahler werdenden Büschen und Bäumen dahin und kamen schließlich an eine schmale Treppe aus hellem, verwittertem und von Rissen durchzogenen Stein. Oben angekommen sah Tirmo, dass er sich erst jetzt am höchsten Punkt des Berges befand: Weiter unten blitzte hier und dort das Weiß von Caras-di-Dairan zwischen den Ästen hindurch und hinter ihm ragte, dunkel und bedrohlich, das Schattengebirge auf. Sie befanden sich auf einem kreisrunden, baumlosen Platz. Der Boden war mit weißen Steinplatten gepflastert, zwischen denen Moos und graue Flechten wuchsen. Tavarons Leichnam war auf einem Altar, auf der anderen Seite des Platzes, aufgebahrt; auf der Brust des Elben lag, unter seinen verschränkten Händen, ein weißer, reich verzierter Langbogen und um den Altar herum waren trockene Äste und Zweige aufgeschichtet. Amdir trat an Tirmo heran und bedeutete ihm, mitzukommen. Er führte ihn zu Legolin, der schweigend neben einem anderen Elben stand und Tirmo ernst zunickte, als er ihn sah. "Schön, dass du gekommen bist. Wir haben uns - für deine Verhältnisse - lange nicht gesehen." Als Tirmo gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, sagte der andere Elb etwas zu Legolin und verschwand. "Wir sprechen später weiter" sagte Legolin leise. "Komm mit." Die Anwesenden stellten sich in einem Kreis um den Altar und schwiegen; nach kurzer Zeit kam der Elb, der vorher bei Legolin gestanden hatte, mit einer brennenden Fackel zurück auf die Plattform. "Tavaron war sein Bruder" flüsterte Legolin Tirmo zu und senkte den Kopf, als der Fackelträger gemessenen Schrittes an ihnen vorbeiging. Dann trat Legolin vor die Versammelten; Der andere Elb stand jetzt neben dem Altar und als Tirmo sein Gesicht, vom Schein der Fackel rot erleuchtet, sah, musste er an Tavaron denken, der jetzt tot neben seinem Bruder lag. "Ea . Alataire teva lith dÎn anmar. Naur vása...thilio sinome an silme ar Ithil!" Nachdem Legolin diese Worte gesprochen hatte und wieder an seinen Platz neben Tirmo zurückgekehrt war, senkte Tavarons Bruder seine Fackel. Augenblicklich sprangen die Funken über und die trockenen Zweige gingen knisternd in Flammen auf. Schnell wurde das Feuer größer und verdeckte den Blick auf den Toten. Da es inzwischen dunkel geworden war, ging das einzige Licht von dem brennenden Scheiterhaufen aus, der jetzt Funken zu den blassen Sternen hinaufsprühte. Lange standen sie so da und der rote Widerschein strahlte von den unbewegten Gesichtern der Elben, bis das Feuer -nach einer für Tirmo nicht einschätzbaren Zeit- irgendwann kleiner wurde. Als von dem Scheiterhaufen schließlich nur noch etwas glühende Holzkohle und von dem Toten nur noch Asche übrig war, trat Legolin wieder nach vorne. "Ni sûl eaviénte lith annuva. Ea téva na- chaered di annûn!" Der Prinz ging zu dem steinernen Sockel und nahm die Asche mit einer Hand auf. Er wartete kurz ab, bis der Wind etwas stärker wurde und von Osten her wehte; dann hob er den Arm und öffnete langsam die Hand. Der feine Staub wurde vom Wind erfasst, trieb in einem dünnen, hellgrauen Schleier über den Rand der Plattform und verschwand in der Dunkelheit. "Möge er Frieden finden an der westlichen Küste." Nach und nach traten die Elben zurück und verließen den Platz, um in ihre Stadt hinunterzugehen. Schließlich waren nur noch Legolin und Tirmo da. Der Elb stand noch immer neben dem Altar und blickte schweigend über den Wald; seine schmale Gestalt hob sich deutlich von dem grauen Himmel ab. Als Tirmo neben ihn getreten war, drehte er sich zu ihm und blickte dann nach Osten. "Die Nacht geht vorbei." Tirmo folgte seinem Blick und sah, dass der Himmel über den schwarzen Berggipfeln heller wurde und die Sterne verblassten. "Aber hier, im Schatten des Gebirges, dauert es lange, bis das Licht die Bäume erreicht." Eine Weile standen sie schweigend da. Dann sprach Legolin wieder. "Du hast eine Frage an mich, nicht wahr? Wie lautet sie?" "... Wo seid ihr hingeritten?" "Du meinst, vor vier Tagen?" "Ja,... warum ist Tavaron tot?" "Das sind zwei Fragen auf einmal, deren Antworten jedoch miteinander zusammenhängen... Du erinnerst dich sicher an den Troll und die Wölfe, von denen wir auf dem Weg hierher, wie soll ich sagen,... aufgehalten wurden?!" Der Elb wartete Tirmos Antwort gar nicht erst ab, sondern sprach weiter. "Das war kein Zufall. Sie wurden von jemandem geschickt. Ich denke, ihr würdet ihn als >Zauberer< bezeichnen... Er kam vom Süden hier herauf, es ist schon einige Jahre her... Zunächst beobachteten wir ihn einfach nur, um herauszufinden, ob er uns überhaupt feindlich gesinnt war, aber alles, was wir herausbekamen, war, dass er Verbindungen zu einigen Kriegerstämmen in Haradwaith hatte... bis eines Nachts, ohne jede Vorwarnung, Caras-dí-Dairan von riesigen Wölfen und Trollen angegriffen wurde. Es waren mindestens einhundert; wir schafften es nur knapp, den Angriff abzuwehren. Dieser >Zauberer< hat die Macht über derartige Kreaturen, aber die Kraft der Istari selbst, ob gut oder böse, ist seit der Altvorderenzeit immer geringer geworden, wie auch die Macht der Elben schwindet. Es ist eine Kraft, die hinter allen Dingen steckt und die uns Elben am Leben erhält- ihr Sterblichen jedoch braucht sie nicht, ihr begreift sie nicht und nennt es >Magie< oder >Zauberei<.... und eben jene Kraft wird schwächer in Mittelerde; sie fließt schon seit langer Zeit aus dieser Welt heraus, doch in letzter Zeit zunehmend schneller, und immer öfter spüre ich diese Leere... und ich spüre, dass hier bald kein Platz für uns mehr sein wird." Einen Moment lang schwieg der Elb und blickte in die verblassende Nacht hinaus über das Land, als könnte er, weit im Westen, das Große Meer sehen. "Wie dem auch sei... da dieser >Zauberer< uns nun schon öfter angegriffen hatte, planten wir vor einigen Tagen, einen Gegenangriff zu versuchen." "Aber ihr wart doch nur zu dritt...!" "Unsere einzige Chance war es, ihn zu überraschen, sonst wären wir gar nicht an ihn herangekommen. So jedoch konnten wir bis zu seiner Behausung gelangen, die nur von einigen Wölfen bewacht wurde, mit denen wir schnell fertig wurden. Er hat Tavaron getötet, aber schließlich haben Falmarin und ich es geschafft, ihn zu vertreiben; er ist nach Osten ins Schattengebirge geflohen und dorthin gehen wir nicht. Eines jedoch hat mich mit Schrecken erfüllt: Noch ein Stück weiter nördlich hatte er im Wald sicherlich fünftausend Kreaturen versammelt: Höhlentrolle und Wölfe aus Mordor und sogar Berglöwen aus den Ered Lithui- da diese Wesen aber nicht von Natur aus böse sind, gingen sie zurück ins Gebirge, als er seine Macht von ihnen zurückzog. Ich bin mir sicher, dass ein Angriff geplant war: ich weiß nur nicht, auf wen. Doch euch in Gondor rate ich in der nächsten Zeit zu größter Vorsicht, Tirmo. Ich werde dich gehen lassen, doch du darfst niemandem von uns und unserer Stadt erzählen! Viele gibt es inzwischen, die uns fremd geworden sind und nichts mehr von uns wissen; und Unwissenheit ist gefährlich. Wenn sie von uns erfahren würden, sähen sie uns am liebsten tot..." "Ich werde kein Wort über euch verlieren, das schwöre ich." "Gut. Ich weiß, dass du vertrauenswürdig bist. Du hast mein Wort: Sobald der erste Schnee fällt, wirst du auf dem Heimweg sein." In den nächsten Tagen hatte Tirmo die Erlaubnis von Legolin, sich in der Stadt umzusehen. Eines Nachmittags stand er neben Ethuil unten auf der Lichtung und er wollte eine Frage loswerden, die ihn schon seit längerem beschäftigte. "Sag mal... gibt es bei euch eigentlich auch Frauen?" Der Elb sah ihn einen Augenblick verständnislos an, dann lächelte er und deutete auf einige Elben, die auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung standen. "Natürlich, was denkst du denn?! Dort, in dem grünen Gewand steht, zum Beispiel, Losselothen. Sie ist meine Tochter. Auf der Brücke dort oben, in dem weißen Kleid, das ist Mîluiwen, die Frau von Falmarin. Warum fragst du?" "Oh,... es hat mich einfach nur... interessiert, nichts weiter." Ethuil lachte. "Wenn du meinst. Ich muss jetzt weiter, Wasser holen." Er lief leichtfüßig über das am Boden liegende Laub in den Wald. Als er schon zwischen den Bäumen stand, drehte er sich noch einmal um; die Sonne ließ sein Haar golden aufleuchten. "Tirmo?" "Ja, was ist?" "Schau... dort hinten kommen die ersten Schneewolken!" Kapitel 6: Heimweg I -------------------- Heimweg Als Tirmo abends in seinem Bett lag, musste er lächeln bei dem Gedanken an die Frage, die er Ethuil gestellt hatte. Aber er hatte sich seit einiger Zeit ernsthaft gefragt, ob es auch Elbenfrauen gab- alle Angehörigen dieses Volkes, die er bisher gesehen hatte, waren schlank, zierlich und hochgewachsen und alle hatten mindestens schulterlange Haare, so dass man auf den ersten Blick tatsächlich nicht sicher sagen konnte, ob das jeweilige Wesen nun weiblich oder männlich war...! Tirmo drehte sich um, sodass er aus dem Fenster sehen konnte. In der Dunkelheit hörte er das Rascheln der übriggebliebenen, verwelkten Blätter an den kahlen Ästen und vor den klaren Sternenhimmel schoben sich langsam schwere Wolken, die den ersten Schnee mit sich vom Norden brachten. Mit dem Gedanken, bald wieder zu Hause zu sein, schlief Tirmo schließlich ein, während die letzten Blätter im aufkommenden Wind fielen. Er träumte, auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene zu stehen, über der ein trockener, heißer Wind wehte. Am Horizont erhob sich ein dunkles Gebirge und als er sich umdrehte, sah er die tiefstehende Sonne, die das Steppengras in ein goldenes Licht tauchte. Plötzlich wurde der leichte Wind zum Sturm, und hinter ihm erklang ein Donnern wie das eines entfernten Gewitters. Er blickte zu den Bergen und sah, dass von dort eine schwarze Wolkenfront auf ihn zukam. Es schien ihm, als würde sie aus lebendigen Wesen bestehen: Vermummte Reiter auf riesigen Pferden, begleitet von Tausenden schwarzer Vögel. Sie galoppierten pfeilschnell über den Himmel, die dunklen Banner im Wind wehend; und hinter ihnen blieb eine Nebelschicht zurück, die den goldenen Himmel bedeckte und kein Licht mehr hindurchließ. Tirmo wollte vor ihnen fliehen, in die weite Steppe hinaus, doch wie aus dem Nichts erschienen, war jemand hinter ihm. Die Gestalt saß auf einem silbergrauen Pferd, ohne Sattel und Zaumzeug, und war in einen langen Mantel gehüllt. Tirmo konnte ihr Gesicht nicht erkennen- zum einen, weil der Reiter seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte; zum anderen stand die Sonne direkt hinter ihm, sodass praktisch nur sein Umriss erkennbar war. Er drehte den Kopf, sah Tirmo einen Moment lang aus unsichtbaren Augen an und gab seinem Reittier einen stummen Befehl. Das Pferd schnaubte, machte einen Satz und galoppierte direkt in den Himmel hinein, auf das dunkle Heer zu. Der Sturm riss dem Reiter die Kapuze vom Kopf, sodass sein langes, silberhelles Haar zum Vorschein kam, während er ein glänzendes Schwert zog und immer weiter nach oben stieg. Das Letzte, was Tirmo von ihm sah, war ein blitzender Sonnenstrahl, der die Klinge blutrot aufleuchten ließ... dann verschluckte ihn der schwarze Nebel. Tirmo wachte frierend auf; er erinnerte sich nur undeutlich an seinen Traum und ahnte jetzt noch nicht, dass dieser von Bedeutung sein würde- viele Jahre später. Er legte die Kleidung an, mit der er nach Ithilien gekommen war, zusätzlich noch einen mit Fell gefütterten Umhang, den ihm die Elben geschenkt hatten. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, graue Wolken hingen tief am Himmel und über Nacht war es um einiges kälter geworden. Tirmo öffnete die Tür und trat hinaus. Dort, wo die Wolkendecke aufriss, konnte er die Sterne kalt funkeln sehen und die Wachtposten auf den fletts hatten kleine Laternen in die Äste gehängt, sodass die Bäume leuchtende Blüten zu tragen schienen. Unten auf dem Platz standen Amdir und Legolin, die Tirmo grüßten, als er zu ihnen hinunterkam. "Wir werden dir genügend Proviant mitgeben... bei diesen Wetterverhältnissen kann ich nicht sagen, wie lange du brauchen wirst, um nach Pelennor zu gelangen. Aber solange es nicht zu stark schneit, dürftest du in 9 oder 10 Tagen dort sein." "Neun Tage? Aber hierher habe ich nur drei gebraucht...!" "Ja... du bist von Nord-Ithilien in unser Gebiet gekommen, was allerdings kein sonderlich kluger Weg für jemanden ist, der nicht einmal ein Schwert halten, geschweige denn damit kämpfen kann." Legolin zog die Augenbrauen hoch. "Ich würde dir jedenfalls raten, dich zuerst nach Westen zu wenden, dem Lauf des Poros flussabwärts zu folgen und erst nach Norden zu gehen, wenn du an die alte Harad-Strasse gelangst. Dieser Weg dürfte einigermaßen sicher sein." Tirmo nickte, obwohl er kein gutes Gefühl dabei hatte. Er hatte die Region um den Mindolluin-Berg so gut wie nie in seinem Leben verlassen, und wenn überhaupt, dann in nördliche Richtung... "Ich weiß, dass du in dieser Gegend noch nie gewesen bist. Aber wenn du dich auf dem Weg entlang des Flusses hältst, kannst du die alte Straße gar nicht verfehlen; und wenn du dich nach Norden wendest, wirst du bald auf deinesgleichen treffen." Amdir trat auf Tirmo zu und überreichte ihm einen Lederbeutel. "Hier. Darin befinden sich Proviant und einige nützliche Dinge." "Und damit du es den Wölfen nicht zu einfach machst", fügte Legolin hinzu, "möchte ich dir noch das hier geben..." Er holte einen einfach gearbeiteten Dolch und die dazugehörige Scheide aus dunklem Leder hervor und reichte ihn Tirmo. Dieser bedankte sich überrascht bei den Elben und Legolin meinte, es sei nun an der Zeit für ihn, aufzubrechen. Sie verließen die Stadt und gingen nach Süden, bis sie auf einer Lichtung am Bergeshang standen. Zu Tirmos Linken erhob sich das Schattengebirge, rechts von ihm ein vereinzelter Berg. Über den mächtigen, dunklen Gipfeln färbte sich der Himmel hellgrau. "Du musst dieses Tal durchqueren, dann gelangst du an den Fluss. Der Berg, den du rechts siehst, erstreckt sich in südlicher Richtung bis kurz vor die Straße." Legolin sah ihn an. "Es ist jetzt endgültig Zeit, zu gehen." "ich habe noch eine Frage an Euch... Wieso habt ihr mich gefangen genommen und lasst mich nun einfach gehen?" "... Zunächst nehmen wir jeden gefangen, der unerlaubt unser Gebiet betritt, sofern wir ihn nicht ohne Vorwarnung erschießen. Allerdings stellte sich dann ja heraus, dass du offensichtlich harmlos bist. Zuerst waren wir nicht sicher, aber aus Gründen, die du noch früh genug erfahren wirst, lassen wir dich jetzt zurückgehen." "Oh...in Ordnung... Ich wünsche euch alles Gute- und vielen Dank nochmals." Legolin lächelte traurig. "Ich hoffe, dein Wunsch geht in Erfüllung... ich hoffe es für uns und die Menschen. Mögen die Sterne auf das Ende deines Weges scheinen!" Tirmo ging den Hang einige Schritte hinunter und drehte sich nochmals um. Die zwei Elben standen, in schwere Wollmäntel gehüllt, da und hoben die Hände zum Gruß; ihre dunklen Gestalten verschwimmend hinter dem dünnen Schleier der Schneeflocken, die lautlos vom Himmel zu fallen begonnen hatten. Die Sonne stieg über den Gebirgskamm, als Tirmo am Talgrund angelangte. Hier und dort wuchsen vereinzelte Bäume; zwischen den hohen Büscheln aus gelblichem Gras ragten Felsblöcke aus dem Boden. Tirmo zog sich den Umhang fester um die Schultern: es war sehr kalt, aber die Schneeflocken schmolzen, sobald sie die Erde erreichten, anstatt liegenzubleiben. Links und rechts von ihm stieg der Boden immer weiter an und in einiger Entfernung mündete der grasbewachsene Untergrund rechts in einen dichten Wald, links in steil aufragenden, schwarzen Fels, auf dem nur einige Flechten wuchsen. Tirmo schätzte, dass es früher Abend war (die Sonne war schließlich über das Schattengebirge gestiegen und nach einiger Zeit hinter dem Gipfel des Berges zu seiner Rechten versunken), als er, noch weit entfernt, das Band des Flusses schimmern sah. Als Tirmo das Gewässer schließlich erreichte, war es beinahe stockfinster und er beschloss, sich einen Schlafplatz zu suchen. Ein Stück weiter flussabwärts stand eine Gruppe kleiner Büsche, die genügend Windschutz bieten würden, am Ufer. Um den Schnee einigermaßen abzuhalten, brach Tirmo die unteren Äste einer in der Nähe wachsenden Tanne ab und legte sie überkreuzt zwischen die der Büsche. Obwohl er damit das Risiko einging, Raubtiere anzulocken, musste er ein Feuer entzünden, wenn er nicht erfrieren wollte. Tirmo öffnete den Beutel und fand nach kurzem Suchen das, was er sich erhofft hatte: ein Paar Feuersteine. Vom Flussufer holte er einige flache Steine und schichtete darauf trockene Äste und Reisig. Im Licht des Feuers nahm Tirmo den weiteren Inhalt des Beutels in Augenschein: einige flache, helle Brote und getrocknete Früchte, in Stoff eingeschlagen; ein Seil, aus silbergrauem Material geknüpft, das zwar dünn war, aber trotzdem sehr haltbar zu sein schien, und ein lederner Trinkbeutel, größer als der, den er besessen hatte. Als Tirmo nach der Tasche griff, um die Dinge wieder zu verstauen, fiel etwas heraus. Neugierig hob er den Gegenstand hoch und hielt ihn ins Licht: Es war ein kleiner Anhänger an einer leichten, silbernen Kette. Er bestand aus einer glänzenden, ovalen Platte aus dunklem Holz, in das ein verschlungenes Muster aus dünnen Silberfäden eingelassen war. Am unteren Ende des Anhängers befand sich ein weißer Edelstein, der im Feuerschein dunkelrot schimmerte. Erstaunt fragte sich Tirmo, wie die Elben dazu kamen, ihm ein so wertvolles Geschenk zu machen- mit einem reinen Diamant dieser Größe wäre er vermutlich in der Lage, zwei gute Pferde mitsamt Zaumzeug zu bezahlen... Vorsichtig streifte er die Kette über und schob den Anhänger unter sein Hemd. Anschließend aß er etwas von den Früchten- da er nicht wusste, wie lange seine Reise dauern würde, beschloss er, sparsam mit dem Proviant umzugehen- und versuchte, in einer halbwegs bequemen Lage einzuschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)