Die letzten Elben von niiv (Eldar na veduir) ================================================================================ Kapitel 2: Caras-di-Dairan -------------------------- Caras-di-dairan "Aufwachen, wir müssen weiter!" rief einer der Elben und riss Tirmo damit aus seinen Träumen. Zuerst glaubte dieser sich, noch im Halbschlaf, zuhause in seinem warmen, weichen Bett, aber dann wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass er immer noch auf dem ziemlich harten, kalten Waldboden lag. Langsam richtete er sich auf, gähnte und blickte verschlafen um sich. Er hatte das Gefühl, nur einige Minuten geschlafen zu haben- die Sonne war noch nicht einmal richtig aufgegangen, und diese rücksichtslosen Elben (die scheinbar selber kein Auge zugemacht hatten und jetzt trotzdem einen für diese Tageszeit viel zu wachen und munteren Eindruck auf Tirmo machten) hatten ihn einfach geweckt! Im Morgengrauen konnte Tirmo die Gestalten der drei wieder nur schemenhaft erkennen- am besten schienen sie zu sehen zu sein, wenn man sie nicht direkt anzuschauen versuchte, sondern beispielsweise den Baum hinter ihnen ansah- sie saßen noch genau so da, wie als Tirmo eingeschlafen war. Der größte von ihnen drehte den Kopf und sah Tirmo an. "Bist du jetzt endlich wach?" fragte er in belustigtem Ton. "J-ja" stotterte der Junge und beeilte sich, auf die Füße zu kommen. "Mit Frühstück- so nennt ihr es doch?- können wir jetzt nicht dienen, aber ich denke, in Caras-di-Dairan, unserer Stadt, wirst du etwas bekommen. Wenn alles glatt läuft, sind wir dort, bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht" sagte der Elb, erhob sich und klopfte Erde und Blätter von seinem Mantel. "Verzeiht mir, mein Herr, ... aber könntet ihr mir nicht Euren Namen sagen?" fragte Tirmo leise. "Oh, wir haben uns wirklich noch nicht vorgestellt- wir dachten nicht, dass einen Sterblichen die Namen von >Märchenwesen< interessieren würden, aber wenn du meinst..." Wieder sprach der Elb mit spöttischem Unterton. "Gestatten... Ich bin Legolin Aduial, Sohn von Legolas Grünblatt" sagte er, mit einer wirklich nur sehr leicht angedeuteten Verbeugung. Dann wies er auf die zwei anderen, die neben ihm standen. "Meine Begleiter sind Amdir und Ethuil. Wir alle sind Waldelben, Tawarwaith vom Volk der Sindar- Grauelben." "Sehr erfreut, zu euren Diensten." Tirmo verbeugte sich. "Es erfreut auch mich- zu sehen, dass deine Eltern dir wenigstens Manieren beigebracht haben. Sind alle Sterblichen so höflich?" Tirmo kam sich seinerseits ziemlich verspottet vor- dieser Legolin schien alles, was er sagte, nicht ganz ernst zu meinen- aber er blieb still, denn es kam ihm nicht sehr klug vor, mit drei Elben einen Streit anzufangen. Vermutlich hätten sie ihn sowieso nur ausgelacht. Ohne ein weiteres Wort drehte Legolin sich um und lief leichtfüßig den Hügel hinab; die anderen folgten ihm. Tirmo bemühte sich, im Halbdunkel nicht über Wurzeln und Steine, die aus dem Boden ragten, zu stolpern. Nachdem sie ein Stück zwischen den Bäumen gelaufen waren, begleitet vom morgendlichen Lied der Waldvögel, und vereinzelte kalte Sonnenstrahlen sich ihren Weg zwischen den taubenetzten Spinnweben hindurch suchten, sagte Ethuil etwas zu Legolin, zog sich dann die Kapuze seines Mantels über die leuchtenden Haare und verschwand lautlos im Dickicht. "Was ist los?" wollte Tirmo wissen. "was tut er?" Legolin, der plötzlich stehen geblieben war, antwortete mit gedämpfter Stimme: "Nichts, kein Grund zur Sorge. Er kundschaftet nur die Gegend aus." Aber auch er klang nicht überzeugt von dem, was er sagte. "Sind wir etwa in Gefahr?" "Merk dir das: Solange wir außerhalb von Caras-di-dairan herumlaufen, sind wir immer in Gefahr! In diesen Zeiten ist es unsicher überall, wo du hingehst. Und jetzt Schluss mit diesen Fragen!" Der Elb schien irgendetwas gespürt zu haben; er hatte seinen Bogen gespannt und blickte wachsam um sich. Plötzlich flog in der Nähe ein kleiner Schwarm Vögel auf und wenige Sekunden später sprang Ethuil auf den Pfad hinunter und rief ihnen zu: "Schnell, macht euch kampfbereit! Zum Verstecken reicht die Zeit nicht!" Kaum hatten die drei ihre Bögen erhoben, kam ein Dutzend riesiger, grauer Wölfe knurrend zwischen den Ästen hervor. Die Sehnen der Elbenbögen zischten und drei der Angreifer fielen zu Boden. Legolin zog ein langes, weißes Messer und befahl Tirmo, hinter ihm zu bleiben- das hätte er ihm allerdings gar nicht sagen müssen, denn der Junge bemühte sich, in der Nähe der Elben zu bleiben um nicht zum Frühstück eines hungrigen Riesenwolfes zu werden. Die Krieger hatten das Problem schnell gelöst und die übrigen Tiere, die fliehen wollten, ließen sie nicht am Leben. "Das waren keine würdigen Gegner für uns" meinte Ethuil, der, wie die anderen, keinen einzigen Kratzer davongetragen hatte, während er seine Pfeile wieder einsammelte. "Trotzdem bedeutet es nichts Gutes" sagte Legolin und bestand darauf, sofort weiterzugehen, "und ihr Menschen seid ja auch keine große Hilfe..." "Bedeutet das, wir könnten noch einmal angegriffen werden?" fragte Tirmo, die letzte Bemerkung überhörend. Legolin antwortete nicht, packte Tirmo so fest an der Schulter, dass es weh tat, und ging schnellen Schrittes weiter nach Südosten. Nach einer Weile hatte Tirmo Schwierigkeiten, mit den dreien mitzuhalten, aber sie beachteten ihn nicht weiter. Irgendetwas stimmte nicht, Tirmo kam aber anfangs nicht darauf, was es war. Auch die Elben hatten es gespürt- sie legten noch einen Zahn zu und rannten nun beinahe; außerdem sah Tirmo, dass Legolin seinen Bogen packte. Jetzt merkte er, was ihm seltsam vorgekommen war: Alle Vögel waren verstummt und der Wald schien den Atem anzuhalten. Dann war hinter ihnen ein lauter werdendes Brüllen und das Geräusch von splitterndem Holz, Tirmo sah jedoch nicht, wer oder was diesen Laut verursacht hatte, denn Amdir packte ihn am Ärmel und rannte wie der Blitz los. Verzweifelt versuchte Tirmo, Schritt zu halten und nicht zu stolpern, das Blut in seinen Adern schien gefroren zu sein: Was war dieses Ding, vor dem sie da flohen? Hinter sich hörte er Legolin rufen: "Torog!" Dann brüllte das Monster wieder, so laut, dass die Bäume erzitterten und Legolin rief: "Amdir, Ethuil! Trevédo na Caras-di-dairan! Im 'hilyantan!" Amdir blieb stehen und schien zu zögern, aber Ethuil sagte zu ihm: "Er hat es so befohlen! Wir müssen fliehen!" "Alcariolve!" erwiderte Amdir. "Schnell, wir trennen uns und verstecken uns einzeln, dann wird er uns nicht alle bekommen!" Die beiden waren spurlos verschwunden, bevor Tirmo auch nur hätte fragen können, was überhaupt los war. Hastig sah er sich nach einem geeigneten Versteck um. Als er dabei den Weg entlangblickte, den sie gekommen waren, sah er es: Eine riesige, mindestens 12 Fuß hohe Kreatur, gespickt mit weißen Elbenpfeilen, stand vor Legolin! Der Elb lag auf dem Boden und war unbewaffnet. Das Monster hatte sein Messer zerbrochen, nun packte es mit einer hornigen Pranke den Bogen und den Köcher und schleuderte sie weit von sich- genau vor Tirmos Füße. Die restlichen Pfeile fielen klappernd heraus; einige zersplitterten. Für einen kurzen Moment stand Tirmo unschlüssig da und starrte auf den weißleuchtenden Bogen zu seinen Füßen. Sicher, er konnte mit Schusswaffen umgehen, eigentlich relativ gut für sein Alter- nur war dieser Elbenbogen um einiges zu groß für ihn... Die Kreatur hob mit beiden Händen eine unförmige, stachelbewehrte Keule über ihren Kopf, um dem Elben einen letzten, tödlichen Schlag zu verpassen. Doch sie traf ihr Ziel nie. Der helle Elbenpfeil zischte heran und bohrte sich mit einem Knacken in den Schädel des Monstrums. Es schien für einen Augenblick verwundert zu sein, dann taumelte es einige Schritte rückwärts und stürzte krachend zu Boden, eine Wolke von Staub und Blättern aufwirbelnd. Tirmo glitt der Bogen aus der Hand. Er war selber überrascht, einen so guten Treffer gelandet zu haben; vielleicht hatten sich die Übungen mit der Waffe seines Vaters doch gelohnt... Aber was war mit dem Elben? Tirmo rannte zu ihm. Legolin lag keuchend auf dem Boden, sein Mantel war blutverschmiert. Als Tirmo seinen Namen rief, öffnete er die Augen und richtete sich mühsam auf. Erschrocken sah der Junge, dass Legolins Gewand blutgetränkt war und dass sich auf dem Boden eine große Lache davon gebildet hatte. "I-Ich glaube, du bist ziemlich schwer verletzt..." stammelte er. Zu seiner Verwunderung lächelte der Elb (es gelang ihm aber nicht so gut): "Es geht schon, das meiste davon ist Trollblut...au!" Er griff sich an die Seite. "Er hat mir ein paar Rippen gebrochen, das ist alles..." Plötzlich kamen Ethuil und Amdir angerannt und knieten sich neben Tirmo. "Wir hätten Euch zu Hilfe kommen müssen, Herr!" sagte Amdir bestürzt. "Allerdings hat ja der Menschenjunge es alleine geschafft..." "Ja, das war ein hervorragender Schuss- fast schon so gut wie der eines Elbenjungen!" meinte Ethuil beifällig, aber Legolin sagte: "Der Troll wäre auch von alleine umgekippt, er war sozusagen durchlöchert mit meinen Pfeilen!" "Aber- mit Verlaub- dann wärt ihr vorher von seiner Keule getötet worden, Herr!" Das war das erste Mal, dass einer der Elben sich für Tirmo einsetzte! "Der Junge wird noch Vergeltung dafür erhalten; jetzt ist das Wichtigste, Caras-di -Dairan zu benachrichtigen!" Legolin versuchte aufzustehen, ließ sich aber mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zu Boden sinken. "Es wird noch jemand anderes Vergeltung erhalten" keuchte er. "Ethuil, hole mein Pferd!" Dieser stand auf und verbeugte sich. "Und bring mir einen sauberen Umhang mit!" rief Legolin ihm nach. Bevor es Mittag wurde, kehrte Ethuil mit drei wunderschönen, silbergrauen Elbenpferden zurück. Er ritt ohne Sattel und Zaumzeug. Auch für Tirmo hatte er ein Tier mitgebracht: Ein kräftiges Bergpony ("Es war das einzige, dass ich für jemanden deiner Größe auftreiben konnte"), aufgezäumt und mit einem leichten Sattel. Tirmo war etwas beleidigt, da er sehr gut ohne Zaumzeug zurechtkam, sagte aber nichts. "Kannst du überhaupt reiten?" war der einzige Kommentar von Legolin, als Tirmo wortlos aufstieg. Der Elb trug einen neuen Mantel und hatte seinen Bogen wieder umgeschnallt, saß während des Rittes aber schweigend auf seinem Pferd. Er sah ziemlich blass aus, fand Tirmo. Wiederum einige Zeit später überquerten sie einen kleinen, schnell fließenden Fluss an einer seichten Stelle, und als sie das andere, sandige Ufer hinaufkamen, liefen zwei Elben, in Grün gekleidet und mit Langbögen bewaffnet, auf sie zu. Beide sahen Tirmo etwas verwundert an. Legolin wechselte einige Worte mit ihnen und sie ließen die kleine Gruppe passieren. Ein schmaler Pfad führte bergauf und schlängelte sich zwischen Bäumen und weiß blühenden Büschen hindurch, bis er in ein reich mit Schnitzereien verziertes Tor, hinter dem sich eine Lichtung befand, mündete. In den Bäumen ringsum waren, nur von der Lichtung aus sichtbar, fletts* angebracht, auf denen bewaffnete Wachtposten standen und ein Netz von geschwungenen, hölzernen Treppen und Brücken führte bis in die Baumkronen. "Nach Caras-di-Dairan hinein und auch wieder hinaus kommt nur der lebendig, dem der Herr die Erlaubnis gegeben hat." sagte Amdir nicht ohne Stolz. Tirmo konnte jedoch nicht lange über die Schönheit der Elbenstadt staunen, denn Ethuil bedeutete ihm, mitzukommen und führte ihn über eine schmale Treppe in einen kleinen Raum, der sich ebenfalls auf einem flett befand. Durch ein Fenster, das nach Westen blickte, fiel goldenes Licht herein, auf einem niedrigen Tisch in der Mitte stand eine Schale. "Ruh dich hier aus und iss etwas. Ich bringe dir neue Kleidung." sagte Ethuil mit einem Blick auf Tirmos schmutziges und zerrissenes Wams. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Tirmo kniete sich vor den Tisch und griff nach der Schale. Hungrig, wie er war, verschlang er die Mahlzeit geradezu; die Elben hatten ihm ein Stück Wildfleisch, dunkles Brot sowie einige Waldfrüchte aufgetischt. Nachdem er alles in kurzer Zeit verspeist und seinen Durst mit kaltem Quellwasser gestillt hatte, stand Tirmo wieder auf, ging zu dem Fenster und spähte hinaus. Sein Zimmer lag hoch oben über der Lichtung, nahe den Baumkronen. Unten auf der Wiese und auch auf den Pfaden die sich, kunstvoll geschwungen, zwischen den fletts hin- und herwanden, befand sich Elbenvolk, in helle Gewänder und Mäntel gekleidet. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der Nachmittagssonne, die ihre Strahlen nun schräg zwischen den Ästen hindurchschickte. ___________________________________________________________________________________________________ * flett: Hölzerne Plattform, die (meist im oberen Drittel der Gesamthöhe) zwischen den Ästen eines Baumes (Mallorn, Eiche, Buche) angebracht wurde und nur mithilfe einer einrollbaren Strickleiter erreicht werden konnte. Die Elben benutzten fletts für gewöhnlich als Aussichtsplattform, die gleichzeitig Schutz vor Feinden bot; es ist jedoch bekannt, dass die Waldelben des 3. Zeitalters ihre Städte teilweise auf durch Treppen miteinander verbundenen fletts errichteten. Diese Technik wurde später von einigen primitiven Menschenstämmen (im Gebiet um den Lamedon-Wald) übernommen. ____________________________________________________________________________________________________ Von hier aus konnte Tirmo hinunter ins Tal sehen: Zu seiner Rechten, über viele Baumwipfel hinweg, ragten einige Felsen schwarz und drohend auf: Ein Ausläufer des Schattengebirges. Im Süden erstreckte sich, soweit das Auge reichte, der dunkle, grüne Wald von Ithilien; das Gelände schien sanft abzufallen, in Richtung der großen Ebene des Wüstenlandes Harad. Nach Westen hin lagen, irgendwo hinter dem Waldsaum, Minas Tirith, die frühere Stadt der Könige Gondors, und die Pelennor-Felder. Jetzt sah Tirmo jedoch nur ein fernes, weißes Funkeln, kaum mehr wahrnehmbar. Was er dort erblickte, war das Glitzern des Lichtes auf den Wassern des großen Anduin, der sich von den Ered Mithrin, der Grenze der Nördlichen Öde zu Wilderland, zwischen dem großen Eryn Lasgalen oder Grünblattwald und den gewaltigen Nebelbergen, von vielen Zuflüssen gespeist, hindurchschlängelt, dann durch Anorien und Ithilien fließt und schließlich im Land Lebennin in die Bucht von Belfalas mündet. In der dunstigen Ferne stiegen Myriaden von Seevögeln über dem Delta des Anduin auf und bildeten eine riesige, weiße Wolke. Tirmo wünschte sich schon immer, einmal das Meer zu sehen; jetzt, da Südwind aufkam und einen Hauch von Seeluft mit sich über die Wälder trug, war es auch hier, weit im Landesinneren, zu erahnen. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich die Tür aufging und Ethuil hereinkam. Er stellte einen Bottich mit dampfendem Wasser auf den Tisch und legte ein Bündel Kleidung daneben. "An Flucht denkst du nicht, wie ich sehe. Nun, das ist auch besser für dich... Sicher wird der Herr dich demnächst rufen lassen- bis dahin bleibst du hier." Ethuil nahm die leere Schale an sich, verabschiedete sich kurz und ließ Tirmo allein. Dieser beeilte sich, seine alten Lumpen loszuwerden und legte die Elbenkleidung an, nachdem er sich mit dem heißen Wasser gewaschen hatte. Sie bestand aus gewebten Hosen, einem leichten, hellblauen Hemd, einem dunkleren, knielangen Überwurf, der von einem silbernen Gürtel zusammengehalten wurde und einem Paar Schuhen mit den dazugehörigen hohen Lederstulpen. Frisch angezogen setzte Tirmo sich auf die niedrige Bank am Fenster, lehnte den Kopf an den Rahmen- und wartete; ihm blieb nichts anderes übrig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)