Ohne Schlips und Tadel von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Happy Birthday to me? -------------------------------- Mit einem gewaltigen Scheppern ging eine Lawine zu Boden. Und dann noch eine. Und noch eine! Tausende und abertausende runde Metallstücke ergossen sich auf den Boden vor dem Rathaus. Thilo sah es und stöhnte. „Ist nicht euer Ernst.“   Tabea, die zusammen mit Liv einen der drei Säcke ausgeschüttet hatte, grinste frech.   „Und ob das unser Ernst ist, Bruderherz. Also los, dann mal ran an die Bouletten. Wir wollen was sehen.“ Thilo stöhnte erneut. Und stöhnte nochmal, als er auf das Instrument in seiner Hand hinabblickte. Es war, passend zum Rest seines Outfits, eine Klobürste. Ein absolut ungeeignetes Utensil für die Aufgabe, die ihm gestellt worden war. Und doch musste er wohl.   „Na los, nun zier dich nicht so.“   Thilo schoss einen weiteren giftigen Blick ab. Dieses Mal traf er damit seinen besten Freund, der, ganz unschuldig, ebenfalls mit einem leeren Sack in der Hand dastand. Wenn Thilo hätte raten müssen, war mit Sicherheit er es gewesen, der die ganzen Kronkorken besorgt hatte. Tom kannte immer jemanden, der jemanden kannte, und somit mit Sicherheit auch den einen oder anderen Barbesitzer. Dass er sich jetzt so über Thilos Leid beömmelte, passte jedenfalls ins Bild. Als wenn 30 werden nicht schon bescheuert genug wäre.   „Nu sabbel nicht, mach endlich“   Liv, die ihre Kamera gezückt hatte, wedelte ungeduldig mit der Hand. Thilo grummelte. „Müsste euch das hier nicht eigentlich gegen den Strich gehen? Ich meine, ich bin ne Putzfrau. Feminismus wo?“ Seine Schwester und ihre Freundin grinsten jedoch nur, während Tom sich immer noch einen ablachte. Von denen war also offenbar keine Hilfe zu erwarten.   Thilo zog die Nase kraus. Über ihm wölkte der trübe Hamburger Märzhimmel vor sich hin. Wind zauste seine Haare – nun ja, nicht seine, sondern die der grauen Lockenperücke, die zu tragen man ihn gezwungen hatte – und ein paar Tauben eilten flügelschlagend vorbei. Wer leider nicht vorbeieilte, waren die Besucher des Hamburger Rathausplatzes, die offenbar wissen wollten, was hier vor sich ging. Als wenn er der Erste gewesen wäre, der sich im absolut lächerlichen Fummel hier abmühen musste. Thilo bezweifelte allerdings, dass irgendjemand dabei eine so armselige Figur gemacht hatte wie er. Immerhin trug er eine Kittelschürze. In rosa!   „Fegen! Fegen! Fegen!“   Tabea hatte angefangen, auf und ab zu hüpfen. Liv, an deren Arm sich ihre schlimmere Hälfte gehängt hatte, hüpfte notgedrungen ein bisschen mit. Tom, wie immer tadellos in Schale, sah ihn auffordernd an und auch die sich versammelnde Menge wartete offenbar nur darauf, dass Thilo endlich loslegte. Ihm schien wirklich nichts anderes übrig zu bleiben.   „Na schön, na schön, ich mach ja.“   Je eher er anfing, desto schneller würde er wieder reingehen können. Es war wirklich lausig kalt.   „Loooos! Fegen!“, jubelte Tabby. Sie und die anderen hatten leicht reden. Immerhin waren sie in wunderbar warme Wintermäntel gehüllt, wohingegen Thilo … Egal. Augen zu und durch.   „Okay, okay. Ihr habt es nicht anders gewollt.“   Thilo warf die künstlichen Locken zurück, zückte die Klobürste und begann, dem Altmetall zu Leibe zu rücken. Hinter ihm skandierten seine Schwester und ihre Freundin immer noch und die ersten Besucher, begannen im Takt mitzuklatschen. Thilo beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und wippte mit dem Hintern dazu. Pfiffe wurden laut, noch mehr Klatschen und irgendwer schrie sogar: „Ausziehen! Ausziehen!“ Thilo bedachte die Menge mit einem schrägen Blick, bevor er seine Kittelschürze ein Stück lüftete und so tat, als wolle er auch noch sein Hosenbein hochziehen. Wieder erntete er Pfiffe und Gelächter. „Mami, was macht der Mann da?“ „Na, das siehst du doch. Er macht sauber.“   Die Kleine, die gefragt hatte, beobachtete ihn mit kritisch gerunzelter Stirn. Offenbar leuchtete ihr nicht so recht ein, warum der alberne Mann dazu nicht was Sinnvolleres nahm wie einen Laubbläser oder einen Staubsauger. Thilo hätte das auch gerne gewusst.   „Jahaaa“, rief Tabby jedoch von hinten und zog damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und das macht er solange, bis eine Jungfrau kommt und ihn mit einem Kuss befreit. Also los! Freiwillige vor!“   Verstohlen sah Thilo sich um. Nicht, dass er sich ausmalte, wirklich jetzt schon von seiner Bürde erlöst zu werden, aber gucken konnte man ja mal. Leider bestand mehr als die Hälfte der Zuschauer aus älteren Damen mit den dazugehörigen Herren oder aber aus jungen Müttern mit Kinderwagen. Wer halt so an einem Mittwochmittag Zeit hatte, um spazieren zu gehen. Dazwischen gab es noch ein paar Shopper, Schüler, Studenten. Okay, von den letzteren war sicherlich keiner mehr Jungfrau, aber mit etwas Glück … „Hey, du da! Ja du. Komm doch mal rüber.“   Thilo, dem es mittlerweile fast gelungen war, die Kronkorken zu einigermaßen ordentlichen Haufen zusammenzubürsten, horchte auf. Hatte Tabby etwa wen gefunden? Hoffnungsvoll linste er in ihre Richtung.   Neben seiner Schwester stand ein Junge oder vielmehr ein junger Mann. Er musste etwa Anfang 20 sein. Sein dunkles Haar lag in wirren Locken um seinen Kopf, während der Rest von ihm fast vollständig in einem karamellfarbenen Dufflecoat verschwand. Ein wollweißer Schal um seinen Hals betonte seinen leicht gebräunten Teint. Er sah aus wie eine Erscheinung. Eine absolut göttliche Erscheinung. „Wow.“   Thilo war sich sicher, dass er gerade unheimlich dämlich aussah. Immerhin starrte er einen Typen an, während ihm der Sabber förmlich aus dem Mund lief und er eine Klobürste in Händen hielt. Vom Rest des Outfits mal ganz zu schweigen. Schnell griff er zu und riss sich die Perücke vom Kopf. Darunter war er vermutlich völlig zerzaust, aber wenigstens … „Sag mal, du bist doch bestimmt ein Netter, oder?“   Der Fremde wusste offenbar nicht so recht, wie er diese Anmache finden sollte, aber Tabby quasselte einfach weiter.   „Denn weißt du, mein Bruder wird heute 30 und weil er noch nicht verheiratet ist, muss er hier so lang vor dem Rathaus die Stufen fegen, bis eine holde Jungfrau kommt und ihn mit einem Kuss befreit.“ Die fein geschwungenen Augenbrauen des Fremden wanderten in die Höhe.   „Oh“, machte er und schien immer noch nicht zu wissen, worauf Tabea hinauswollte. „Und wie kann ich dabei helfen?“   Tabby grinste bis über beide Ohren. „Na, ich hab mir gedacht, ich frag mal, ob du das mit dem Kuss übernehmen möchtest. Du wärst nämlich voll sein Typ, musst du wissen.“   Thilo starb. Er starb wirklich ganz furchtbar und das nicht zum ersten Mal aufgrund seiner wirklich, wirklich grässlichen kleinen Schwester. Nicht nur, dass sie einem vollkommen Fremden ungefragt seine sexuelle Orientierung um die Ohren schlug, nein, sie musste ihn ja auch noch fragen, ob er Thilo küssen wollte. Und jetzt drehte sich diese Erscheinung von einem Mann auch noch zu ihm um. Thilo starb noch einmal.   Braune Augen taxierten ihn. Thilo war sich bewusst, wie lächerlich er aussehen musste. Auch ohne die Perücke waren da immer noch die ganzen anderen Sachen. Und der Lippenstift! Den hatte er vollkommen vergessen. Am liebsten wäre Thilo stehenden Fußes im Boden versunken. Er musste …   „Nein, tut mir leid. Ich glaube, ich erfülle die Bedingungen nicht.“ Während der Fremde das sagte, sah er Thilo die ganze Zeit an. Was mit Sicherheit hieß, dass er nicht generell abgeneigt war, sondern nur … jetzt gerade? Oh Himmel, das durfte doch nicht wahr sein. Thilo musste aus diesem Outfit raus. Ganz dringend. Sofort.   „Aber ich wünsche noch viel Glück bei der Suche. Und außerdem: Happy Birthday.“   Thilo konnte nur nicken. Der Rest seiner Gehirnzellen versackte nämlich gerade in den Vorstellungen, was er mit diesem Bild von einem Mann anzustellen gedachte. Auf dem Bett, neben dem Bett, unter dem Bett. Seinetwegen sogar auf dem Klohäuschen da drüben neben dem Kiosk, auch wenn er sich sicher war, dass in den Taschen seiner Kittelschürze keine 50-Cent-Münze zu finden war. Aber die würde er schon irgendwo auftreiben. Er musste! „Ja. Danke“, sagte er jedoch stattdessen.   Der Fremde im Dufflecoat nickte Thilo noch einmal zu, bedachte die Truppe hinter ihm mit einem letzten amüsierten Blick und drehte sich dann um, um langsam über den Platz davonzugehen. Thilo sah ihm nach und konnte es nicht glauben. Warum nur musste das ausgerechnet ihm passieren? Warum?! „Uuuuund wir haben eine … Gewinnerin!“ Wie betäubt drehte Thilo sich um. Da stand Liv mit einer Mutter, die eine verschmierte Dreijährige auf dem Arm hatte. Alle drei grinsten Thilo meterbreit an. Offenbar war das die versprochene Jungfrau, die ihn aus seiner Not retten würde. Als wenn ihn das jetzt noch interessiert hätte. „Geht auch ein Luftkuss?“, fragte er hoffnungsvoll, auch wenn ihm klar war, dass Tabby das nicht durchgehen lassen würde. Dazu quälte ihn seine Schwester viel zu gern. Schicksalsergeben schloss Thilo die Augen. Er würde diesen gut aussehenden Fremden wohl nie wiedersehen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)