Heilende Hände von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Heilende Hände ------------------------- Angewidert starrte Will seine zitternden Hände an. Seine heilenden Hände, die so ziemlich das einzige Zeugnis waren, dass er ein Sohn des Apollo war. Ansonsten besaß er nur durchschnittliche Fähigkeiten als Bogenschütze, war ein unterirdischer Musiker (wenn man mal seine Ultraschallpfiffe ausklammerte) und hatte absolut kein Gespür für Poesie. An seine peinlichen und nutzlosen Leuchtfähigkeiten wollte er gar nicht erst denken. Nein, das Einzige, in dem er wirklich gut war, war das Heilen. Kein anderer Halbgott im Camp hatte auch nur annähernd ein so gutes Gespür dafür, was einem Verletzten wieder auf die Beine half, wie er. Und trotzdem hatte er heute Abend fast seinen eigenen Vater umgebracht, der auch noch der Gott der Heilkunst war. Will spürte, wie ein hysterisches Lachen in ihm aufstieg, das er nur mit Mühe zurückhalten konnte. Das musste der Adrenalinabfall sein. Und gleichzeitig mit diesem brach auch die Erschöpfung des ganzen, verfluchten Tages über ihn herein. Müde rieb Will sich über die Augen und vergrub anschließend sein Gesicht in den Händen. Was für ein lausiger Heiler und Hüttenältester er nur war. Er war doch derjenige, der immer wusste, was zu tun war, der alle verängstigen Campbewohner beruhigen konnte und doch stand er jetzt selbst kurz vor einem Zusammenbruch. Er dankte den Göttern, dass er seine beiden jüngeren Geschwister kurz vorher zu Chiron geschickt hatte, um ihren Campleiter auf den neusten Stand zu bringen. Sie sollten ihn so nicht sehen. Nicht, wo sie doch selbst kaum verstanden, was heute eigentlich passiert war und schockierter waren, als sie sich anmerken ließen. Vor seinen geschlossenen Augen blitzten Erinnerungsfetzen des heutigen Abends auf: Apollo, der zusammen mit einem jungen Mädchen aus dem Wald gestolpert war und am Lagerfeuer des Camps zusammengebrochen war. Austin, der Will dabei geholfen hatte, ihren Dad eilig nach drinnen zu schleppen, während Kayla und Nico losgestürzt waren, um Nektar und Ambrosia zu besorgen. Seine Hände, die trotz seiner Panik absolut ruhig gewesen waren, als er den Göttertrunk in Apollos geöffneten Mund geträufelt hatte. Kaylas entsetzter Aufschrei, als plötzlich dunkler Rauch von den Lippen ihres Vaters aufgestiegen war. Nico, der fast zeitgleich zusammengezuckt war und „Stop!“, geschrien hatte. Wie er selbst mit wild pochendem Herzen das Nektarfläschchen zur Seite geworfen und zu seinem Erschrecken gespürt hatte, dass Apollos Lebenskraft immer weiter abgenommen hatte, anstatt zuzunehmen. Und wie er schließlich verzweifelt seine Augen geschlossen und angefangen hatte, eine altgriechische Heilhymne zu summen, als der Herzschlag seines Vaters unter seinen Fingern immer schwächer geworden war. Das leichte Knarren, das immer ertönte, wenn die Tür zu Hütte 7 geöffnet wurde, ließ ihn aus seinen düsteren Erinnerungen aufschrecken. „Du solltest schlafen, Will.“ Kayla legte ihm eine tröstende Hand auf die Schulter. Ausgelaugt blickte Will zu seiner jüngeren Schwester auf und unterdrückte mühsam ein Gähnen. „Ich kann nicht. Dad wäre heute fast gestorben.“ Gerade noch rechtzeitig biss er sich auf die Lippen, um zu verhindern, dass ihm die Worte „Ich hätte ihn fast umgebracht. Wie soll ich da schlafen?“ entschlüpften. „Ich sollte auf ihn aufpassen“, murmelte er stattdessen. „Was, wenn sich sein Zustand wieder verschlechtert?“ Kayla knuffte ihn in die Seite. „Du hast ihn gerettet, Will. Du hast die Ruhe bewahrt und blitzschnell reagiert. Er lebt wegen dir. Und jetzt ist er stabil. Im Moment kannst du nichts tun, außer abzuwarten.“ Mahnend hob sie ihren Zeigefinger, um den Widerspruch ihres Bruders im Keim zu ersticken. „Du bist doch derjenige, der uns immer einschärft, wie wichtig genügend Ruhe und Erholung sind. Zwing mich nicht dazu, zu einem Schlaflied greifen zu müssen.“ Wider Willen musste Will grinsen. Um Kaylas Gesangskünste war es fast so gut bestellt, wie um seine eigenen. „Mögen die Götter mich davor bewahren.“ Etwas unsicher blickte er in die blauen Augen seiner Schwester. „Glaubst du das wirklich?“, fragte er dann. „Dass er ohne mich gestorben wäre?“ Ohne zu zögern nickte Kayla. „Hundertprozentig. Ich habe vorhin mit Nico gesprochen. Er hat gespürt, wie schlecht es um Apollo stand, als er hier im Camp erschienen ist. Und jetzt ist seine... Aura, oder wie man das nennen will, viel beständiger und stärker im Leben verankert. Das liegt an deiner Heilhymne und an den Medikamenten für Sterbliche, die du ihm gegeben hast. Diesen Fiebersenkern. Und die hatten wir schließlich nur, weil du nach der Schlacht um Manhattan darauf bestanden hast, dass wir im Camp Medikamentenvorräte anlegen sollten.“ Will nickte nachdenklich. Kayla hatte recht. Es war seine Idee gewesen, dass sie immer einen Vorrat von sterblichen Medikamenten zur Hand haben sollten. Er fand es unklug, sich nur auf Nektar und Ambrosia zu verlassen. Besonders, da Halbgötter diese nur in geringen Mengen vertrugen und immer die Gefahr einer Überdosierung bestand. Und mit Rachel hatten sie schließlich auch eine Sterbliche in ihren Reihen. Nektar und Ambrosia waren tödlich für sie. Im Notfall konnte ihr nur Medizin aus der Welt der Sterblichen helfen. Und ja, Apollos gefährlich hohe Temperatur war erst gesunken, nachdem er zu den Fiebersenkern gegriffen hatte. Seine Heilhymne hatte zwar bei den verletzten Rippen und der malträtierten Nase etwas ausrichten können, aber kaum Einfluss auf das Fieber gehabt. Das hatte er erst mit den Medikamenten in den Griff bekommen. Er hatte ihm das Leben gerettet. Als ihm das klar wurde, fiel Will ein riesiger Stein vom Herzen. Trotzdem sträubte sich etwas in ihm dagegen, von der Seite seines Dads zu weichen. Er konnte aber auch nicht leugnen, dass er stehend - oder vielmehr sitzend - k.o. war. Seine Augen brannten mittlerweile und es nützte niemandem etwas, wenn er sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten konnte. Will warf erneut einen Blick auf die schlafende Gestalt seines Vaters, die ihm seltsam klein und zerbrechlich vorkam, und biss sich unschlüssig auf die Unterlippe. „Behälst du ihn im Auge?“ Kayla schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Natürlich. Deswegen bin ich ja hier. Austin müsste auch gleich zurück sein, er kann mich dann später ablösen. Und wenn irgendwas sein sollte, wecken wir dich sofort auf. Versprochen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)