Die Frage, die ich dir nie gestellt habe von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 2: Kapitel 2 -------------------- 2 Adrial äußerte beim zweiten Termin seine Vermutung, seine immer wiederkehrenden Bandscheibenvorfälle hätten sicher psychische Ursachen. Er hätte kürzlich eine Psychotherapie begonnen, um alles aufzuarbeiten, was ihn seit der Kindheit nicht losließ und immer noch Auswirkungen auf sein Leben hätte. In Form von Komplexen; Gefühle für sich behalten, einfach nicht weinen können; der starke Mann sein müssen. Ich weiß noch, wie ich die Stirn dabei runzelte und mich in seinen Worten wiedererkannte. Meine zustimmenden Worte, dass solche Zusammenhänge durchaus existierten, schienen einen inneren Staudamm in ihm zu brechen. Schon sprudelte er los, machte Andeutungen, dass er zu sehr für seinen Beruf gebrannt hatte, sich nach dem Abi mit vollem Herzen ins Studium gestürzt, mit riesigen Selbstvertrauen und der Gewissheit, dass ihm die ganze Welt offenstand. Sehr zügig seine Karriere und ein Netzwerk aufgebaut und sich einen Namen in der Verlagswelt gemacht. Irgendwann war aber die Bruchlandung gekommen, ein fettes Stoppschild in Form eines komplizierten Bandscheibenvorfalls und Burnout, nein nennen wir das Kind beim Namen: einer Depression. Weil er sich viel zu wenig um sich selbst gekümmert und bloß für seine Karriere, seinen Verlag gelebt hatte, so seine Vermutung. Das würde er heute anders machen. Irgendwas rührte er in mir. Dieser Satz. Meine eigene Biografie, in der vieles nicht so verlaufen war, wie ich es geplant hatte. Was ich etwas in meiner Vergangenheit ändern könnte, was wäre es? Wer kennt dieses Dilemma nicht? Diese acht Jahre, die ich Dominique an Lebenserfahrung voraushabe, bestehen leider nicht nur aus Erfolgserlebnissen, Liebe und geilem Leben. Sondern aus vielen Enttäuschungen, Frustration, Trauer und Selbsthass, doch das verdrängt er gut. Eines Tages rückte Adrial ganz nonchalant damit heraus, dass er immer darauf hingearbeitet hatte, so auszusehen wie ich. Für wen denn?, versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken, geschmeichelt über das verpackte Kompliment, doch erntete ein Achselzucken. Dieser Körper wäre doch das Idealselbst eines jeden jungen Mannes, schon seit der Antike. Gut aussehen, sich geil fühlen und alles anpacken, was man nur wollte. Durch seinen Bandscheibenvorfall war er aber gezwungen, jeglichen Kraftsport einzustellen und sich stattdessen Sportarten zu widmen, mit denen er seinen Körper nicht übermäßig belastete. Die ihm ein jungenhaftes Aussehen verliehen, mit dem man ihn niemals auf Ende Dreißig schätzen würde. Für mich besaß er den perfekten Körper. Von Natur aus ein schmales Kreuz, zierlichen Körperbau bei über eins achtzig Größe; diese verdammt ausdrucksstarke Augen, und er hatte dazu auch schon die Schattenseiten des Lebens kennengelernt… Scheiße, er war total mein Typ! Aber den Gedanken schob ich weit von mir, das war absolut nicht in Ordnung. Erstens war es hochgradig unprofessionell, zumal er sich ja immer noch in Physiotherapie befand, er auf meine Hilfestellung bei den Übungen angewiesen war, denn sein Körper war eine Baustelle. Außerdem, hell no! Ich war vergeben, an den schärfsten Austauschstudenten von ganz Paris! Adrials Genesung machte zügig Fortschritte, es war schön mitzuerleben, wie er sich Woche um Woche mehr bewegen konnte und seine Lebensfreude und sein Optimismus zurückkam, wie eine alte Haut, die er abstreifte und sein neues, schmerzfreies Ich zum Vorschein kam. Genau aus diesem Grund hatte ich mich für diesen Beruf entschieden. Den Flirt nahm er nicht mehr auf, Flirt wäre auch schon übertrieben, ich hatte wohl zu viel hineininterpretiert. Er war nett zu mir, ohne Hintergedanken. Fand mich einfach sympathisch, nicht mehr und nicht weniger, und das tat sehr gut. Bei seinem letzten Termin erwähnte er fast schon zu beiläufig seine Lieblingskneipe, einen Irish Pub in der Innenstadt, wo er gerne Samstagabend zum Fußballschauen hinging. Immer noch dieser einladende Blick, ein betontes Abwarten auf seine unausgesprochene Einladung. Dieses Lächeln dazu, verdammt! Klar, sagte ich unverbindlich, könnte man mal machen. Wenn es dir wieder besser geht, wobei Sitzen ja ziemlich Gift für den Rücken ist. Januar. Draußen war es dunkel, kalt und ungemütlich, aber ich dachte tatsächlich darüber nach, hinzugehen. Zum Fußball schauen. Aber mit welchen Konsequenzen? Er war höchstwahrscheinlich hetero, aber sollte ich Dominique nicht zumindest Bescheid sagen? Am Abend hatten wir unseren Videocall. Ich hörte mir seine Sorgen an, nahm ihm ein bisschen den Stress; etwas Beef in der WG; seine Schwester, sein Studium hier, seine Kommilitonen da…und ganz ehrlich? Ich sprach es nicht aus, aber der Gedanke drängte sich auf, dass er gar nicht wusste, wie gut er es hatte! Ich würde sofort mit ihm das Leben tauschen! Und was machst du heute noch?, kam dann am Ende die Frage, vor der ich mich ein bisschen gefürchtet hatte. Mal schauen. Noch nichts Bestimmtes vor, vielleicht Gitarre… Da war ein Kloß in meinem Hals und plötzlich der Widerwille, Adrials Namen auch nur zu erwähnen, es würde ihn hellhörig werden lassen, würde nachfragen, wer das war. Dass er bloß ein Patient von mir gewesen war, hetero dazu und wir bloß in einem Pub Fußball anschauen wollten, würde er mir niemals abkaufen. Ich hörte seine Fragen bereits im Kopf: Warum denn Fußball, das hätte mich doch nie interessiert, warum jetzt auf einmal? Und auch noch Bier, auf das ich doch sonst dankend verzichtete? Denn mir hatte er keine Erlaubnis gegeben, durch fremde Betten zu steigen… ich hatte aber auch nie danach gefragt und auch nicht das Verlangen danach. Ich müsste ihm dann erklären, was genau es war, wieso ich Adrial unbedingt wiedersehen wollte, außerhalb der Praxis und nicht als Patient. Was an ihm so besonders war, dass ich das erste Mal eine Ausnahme machte, denn es hatten bereits einige Patienten derartige Einladungen ausgesprochen, mal mehr, mal weniger ernst gemeint und nie war ich angesprungen. Bereits beim Versuch dieser Erklärung hatte ich mich dabei ertappt, wie es sich nach Rechtfertigen anhörte. Was es ja eigentlich nicht war, und darum würde ich es am besten verschweigen. Warum ihn auf diesen Gedanken bringen? Es war nicht der Rede wert. Diese Saat wollte ich erst gar nicht pflanzen. So verabschiedeten wir uns, ohne dass ich ihm mein Vorhaben verriet. Am Abend stand ich tatsächlich auf der Schwelle des Pubs und sah Adrial lässig in der Ecke sitzen, Pulli und Jogginghose an, als säße er in seinem Wohnzimmer. Just in diesem Moment entdeckte er mich, und von da gab es kein Zurück mehr. Er freute sich sehr, hätte wohl nicht mit meinem Erscheinen gerechnet und ich war in diesem Moment sehr froh, doch über meinen Schatten gesprungen zu sein. Auf dem großen Bildschirm lief bereits das Länderspiel kurz nach dem Anpfiff. Wie es seinem Rücken gehe? Nun, mittlerweile konnte er schon wieder einigermaßen sitzen, das würde schon, war er zuversichtlich. Nach dem ersten Guinness begann er, aus dem Nähkästchen zu plaudern, und wie ich vermutet hatte, war er hetero…ein klein wenig schade war das ja schon. So allgemein für die schwule Welt. Er erwähnte, dass es in seiner Ehe schlecht lief – ein Ehering, derartig rustikal, dass man ihn auf den ersten Blick gar nicht als solchen erkannte, und er trug ihn auch noch an der falschen Hand. Mit Ende Zwanzig schon Ja gesagt, der Erste im Freundeskreis. Unkonventionell auf so viele Arten! Mit mir könne man gut reden, sagte er in der Halbzeit. Ob er ganz offen zu mir sein dürfe? Viele Freundschaften aus alten Zeiten wären ihm nicht geblieben. Das gab mir zu denken. Der Abend verging im Flug. Mit ihm waren Bier und Fußball gar nicht so übel, da machte ich gern mal für ihn eine Ausnahme. Er strömte etwas Positives aus, das ansteckte. Wir verließen gemeinsam den Pub, bis zur Straßenecke, wo wir uns trennten. Ob ich auch liiert wäre, das fragte er die Woche darauf, in der wir wieder nebeneinander im Pub saßen und ein Spiel anschauten. Abermals ohne Dominiques Wissen. Ich bejahte ohne zu zögern. Seit mehr als zwei Jahren glücklich mit meinem Partner. Anders als andere Hetero-Männer, die verstummt wären und diskret und verschämt das Thema gewechselt hätten, als befänden sie sich auf offenem Meer auf einer Eisscholle, die ganz sicher irgendwo einbrechen würde, fragte er sogar nach. Fragte weiter, aus Interesse, sogar sehr private Fragen, entschuldigte sich dafür, doch warum? Ich erzählte ihm von der Fernbeziehung nach Paris, und dass ich Dominique bald besuchen wollte. Es wurde ein ganz amüsanter Abend. Zum Abschied wünschte er mir eine gute Zeit in Paris. Zu Dominiques Geburtstag hatte ich eine Überraschung geplant: Ich buchte eine Bootsfahrt auf der Seine, wo eine Band Chanson spielte. Und kaufte ein ganz besonderes Geschenk. Fragte ihn am Flughafen, wo er heute Abend feiern würde. Er nannte mir den Namen einer Fastfood-Kette, ohne zu wissen, dass ich unterwegs zu ihm war. In jenem Restaurant angekommen, das die Bezeichnung gar nicht verdiente, erwartete mich an seinem Tisch ein buntes Bouquet von Twens, wie vom Cover eines Französisch-Schulbuches entsprungen, alle Typen waren vertreten. Bloß dass die mit dem Spagettiträger-Top kein Mädchen war, sondern ein Typ mit Lidschatten, der sich bedenklich nah an Dominique schmiegte, sogar an seinem Glas nippen durfte. Blondierte Haare, Smoky Eyes und Make-up, das die Augenringe aber kaum verdeckten. Unterernährt und übernächtigt aussehend, als warte er nur auf seine nächste Dosis, diesen Blick kannte ich nur zu gut. Ob da etwas zwischen ihnen lief? War Dominique mit dieser Person in dem Club gewesen, und hatte das LSD von ihm bekommen? Ton petit-ami, fragte er ihn mit vor Ironie triefender, gepresster Stimme und da erst bemerkte mich Dominique, seine Stimme klang erfreut: Oui, mon petit-ami d´almagne. Très almond! Boah, konnte dieser Drogi einfach die Klappe halten, am besten für immer? Sehr ungern sprang er von seinem Schoß, damit Dominique aufstehen und mich mit ausgebreiteten Armen begrüßen konnte. Ein Kuss reichte nicht und zwei erst recht nicht. Ich wollte ihm nah sein, ganz nah, am liebsten bis zur Verschmelzung unserer Atomkerne. Er roch so gut, aber es war ein anderes Parfüm, als das, welches er normalerweise benutzte. Ich habe heute Abend was geplant für uns, Süßer. Kommst du mit?, flüsterte ich ihm zu. Da kann ich wohl nicht Nein sagen! Er zögerte keine Sekunde, verabschiedete sich herzlich und aufwändig und vor allem sehr französisch von all seinen Freunden; Küsschen hier, Küsschen da, sich schon richtig hier eingelebt, um sich mir anzuschließen. Seinem Freund. Der acht Jahre älter war, müde vom Flug und morgen eigentlich wieder zurückfliegen und arbeiten musste. Ich kam mir vor wie sein Trostpreis heute. Fehl am Platz. Zu uncool, zu alt und zu unfranzösisch. Er hing für meinen Geschmack viel zu lange an seinem Handy. Mit diesem Emmanuelle schreiben, der vorhin an ihm geklebt hatte und ich seufzte entnervt auf, mehr musste ich gar nicht sagen, er konnte schon immer jede Lautäußerung von mir interpretieren, jedes Schnauben, jede gezogene Braue, jedes Kräuseln der Mundwinkel, was mir anfangs imponierte. Ich sollte mich nicht lächerlich machen, es bestand überhaupt kein Grund zur Eifersucht, Emma war total harmlos und stand nur auf Kerle, die genau das Gegenteil von Dominique waren. Aha. Wie beruhigend, denn mein Süßer war das genaue Gegenteil von diesem Emma-Typen. Ein Glas Wein und ein Appetithappen dazu, den wir auf dem Boot auf der Seine einnahmen, untermalt von der Band, die gar nicht übel war (aber den ein oder anderen Ton danebengriffen, meinem Gehör entging das nicht) Das war ja wohl mal viel romantischer als diese profane Fastfood-Kette, wo er sich mit seiner Clique verabredet hatte… Trotzdem schien er mir nicht so begeistert, wie ich es erwartet hatte. Sie hatten vorgehabt, heute noch in ihrem Lieblingsclub abzuhängen, auch wenn morgen Uni war. Aber dann urplötzlich verschwand das Missfallen aus seinem Gesicht, er zog mich näher zu sich. Dass ich heute extra seinetwegen hergeflogen wäre, das würde ihm sehr viel bedeuten, sagte er ganz aufrichtig und ich verlor mich in seinem Blick. Jetzt, sagte eine innere Stimme, jetzt wäre der perfekte Moment…! Doch ich ließ ihn ungenutzt verstreichen. Irgendetwas ließ mich zögern. Vielleicht, weil mir an diesem Abend der Altersunterschied zwischen uns ganz besonders bewusst geworden war, als ich ihn, den ich so reif und besonnen kannte, mit seinen kindischen Peers erlebt hatte. Nur so ein Bauchgefühl. An diesem Abend landeten wir in seinem winzigen, aber geschmacklich eingerichteten Zimmer in seinem Appartement unterm Dachboden, das er mit drei anderen internationalen Studenten teilte. Er ließ sich von mir rücklings auf die Matratze legen, zog mich zu sich. Ich senkte den Kopf auf seinen Schritt, wo seine Lust pochte, bis er sie heiß ausspie. Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte er sich um und ließ sich, noch immer vor Ekstase zuckend, von mir ficken. Unsere gut eingeübte Choreographie beherrschten wir noch immer. Körpergedächtnis. Fast wie ein Automatismus. Wir waren immer noch ein Paar, wir beide. Glückliche, monogam liierte, geoutete, leicht untervögelte Kerle im saftigsten Alter, auf freiwilliger Enthaltsamkeit während ihrer halbjährigen Zwangs-Fernbeziehung. Nur dass heute etwas anders war als sonst. Ob es die Eifersucht war oder die Sehnsucht oder das zweite Glas Wein auf dem Boot… Das Gummi jedenfalls hatte ich total vergessen im Eifer des Gefechts. Seine heiße Enge fühlte sich verlockend an, so pur, so richtig. Es war so intensiv wie noch nie. Nach wenigen Minuten explodierte bereits mein Unterleib. Das hatten wir noch nie, ohne Gummi, in der Hinsicht hatte er mir immer vertraut, weil wir es am Anfang besprochen hatten und mir das ebenso wichtig war. Er bemerkte es und stellte mich zur Rede. Ich murmelte etwas von, hast schon schlimmeres in dieser Stadt angestellt, oder nicht? und drehte mich erschöpft und verschwitzt zur Seite, wo mich die Müdigkeit überfiel. Dabei hatte ich doch ursprünglich etwas ganz anderes gewollt... Ich hörte nur sein verächtliches Schnauben, und wie er aufstand und das Zimmer verließ. Kurz darauf brauste die Dusche im Nebenzimmer los. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, doch ich war schon eingeschlafen. Am nächsten Tag ging verdammt früh mein Flug zurück nach Deutschland, in den grauen Alltag ohne ihn. Viel zu früh für mich, ich hätte einfach wachbleiben können. Ich wollte ihn nicht wecken und stahl mich aus dem Bett, was nicht schwer war. Denn es mussten keine Arme oder Beine von ihm, die sich im Schlaf um meine geschlungen hatten, behutsam gelöst werden. Dieses viel zu breite Bett demonstrierte die Distanz zwischen uns; Zeit und Raum hatte uns bereits so entzweit, dass wir uns an ein einsames Bett gewöhnt hatten, in dem man sich an niemanden anschmiegen konnte. An der Türschwelle ein letzter müder Blick zu ihm: Ruhig atmend lag er da, den Kopf in meine Richtung. Aber, war da eine Reflexion in seinen Augen vom Lichtschein im Flur? Oder bildete ich mir das bloß ein? Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Ob er schlief, oder nicht doch wach war und nach mir schielte und nur deswegen nichts sagte, weil er wegen der Aktion gestern sauer auf mich war. Völlig zu Recht. Oder aber, er hatte in meiner Jackentasche etwas entdeckt, schließlich war ich vor ihm eingeschlafen... Mit einer gemurmelten Entschuldigung zog ich die Schlafzimmertür zu und machte mich auf den Rückweg. In dem Wissen, einen Augenblick, eine Chance verpasst zu haben, die nie mehr wiederkam. Gegen Mittag eine SMS von ihm: Du bist schon abgereist?! Wie stellst du dir das vor, antwortete ich in meiner Mittagspause, traumwandlerisch übermüdet, schlecht gelaunt und unkonzentriert, nur noch den Feierabend ersehnend, nicht mal Kaffee zeigte Wirkung. Ich kriege momentan keinen Urlaub, mir geht es nicht wie dir, der du das Studentenleben genießen darfst. Erst viel zu spät realisierte ich, dass ich ihm damit auf die Füße getreten war, denn seine Antwort lautete: So redest du nicht mit mir, und im Übrigen habe ich keinen Bock mehr, bei dir einzuziehen. Das schmerzte wie ein Dolch in die Brust… Ich rief ihn an, um das richtig zu stellen, um mich zu entschuldigen, doch kam nicht durch. Obendrein hatte er mich blockiert, wie es schien, so bockig kannte ich ihn gar nicht. Also löschte ich meine Nachricht, die ich zuletzt geschrieben hatte, bevor sie ihn erreichte. Ich konnte nicht fassen, dass ich es tatsächlich geschrieben hatte, schwarz auf weiß. Was ich für ihn in Wahrheit geplant hatte. Der Gedanke, der aus dem Nichts gekommen war, kurz bevor ich die Zugfahrt und das Restaurant gebucht hatte. Die verwegene Idee…der kitschigste Einfall, den ich je im Leben hatte… Etwas, das so untypisch für mich war, dass ich es niemals für möglich gehalten hätte, darüber jemals einen Gedanken zu verschwenden. Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht fertig gebracht hatte. Nicht der Partner sein konnte, den er sich wünschte und den er verdiente und ihm das geben konnte, was er brauchte. Das hatte er mich deutlich spüren lassen in Paris. War er nicht die ganze Zeit über geistig abwesend gewesen? Hatte er mich im Bett nicht lustlos an sich herangelassen, nach dem Motto, wenn es sein muss, wenn du drauf bestehst, schließlich hast du so viel Geld heute für mich ausgegeben, dann nimm, als Gegenleistung, wir tun es eh nie so oft wie du gerne würdest. Als hätte er auf jemand anderen viel mehr Bock gehabt. Hatte er sich überhaupt gefreut mich zu sehen, oder war es reine Maskerade gewesen vor seinen Freunden? Jetzt im Nachhinein... Klar, eine Überraschung, ich durchkreuzte seine Pläne. Doch bis jetzt hatte ich angenommen, jemand zu sein, der ihm sehr wichtig war. Ich wollte nur noch schlafen, aber der pochende Schmerz hielt mich die ganze Nacht wach. Ich wollte pinkeln, doch Gott verdammt, es brannte wie Säure und trieb mir Tränen in die Augen. Das war wirklich die Höchststrafe. Mich bei ihm mit irgendetwas angesteckt zu haben, weil er doch nicht so treu gewesen war, wie er mich hatte glauben lassen. Die Woche verging, ohne dass ich noch etwas von ihm hörte, und ich saß im Wartezimmer des Arztes, zu dem ich mich geschleppt hatte und malte mir dabei schlimmste exotische Geschlechtskrankheiten tief aus der Pariser Drogenszene aus. Das hatte ich nun davon. Am Ende war es bloß eine Blasenentzündung. Ein paar Tage Antibiotika schlucken und es ertragen wie ein Mann. Und Dominique? Keine Reaktion auf meine Nachricht. Würde er am Wochenende endlich nach Hause kommen, weil die Vorlesungen vorbei waren, oder blieb er noch eine Weile dort? Auf diese Frage bekam ich ebenfalls keine Antwort von ihm. Er las die Nachrichten noch nicht mal. An einem Samstag kam eine Nachricht, aber nicht von ihm, sondern von Adrial. Ob ich wieder Lust auf Fußball mit Guinness hätte. Erst da realisierte ich, dass wir uns länger nicht gesehen hatten, und sagte zu. Es war eine willkommene Abwechslung. Und, wie war Paris?, begrüßte er mich in unserer Stammkneipe. Als er aber meinen Gesichtsausdruck bemerkte, wechselte er subtil das Thema, wofür ich dankbar war. Entschuldigte sich, sich nicht gemeldet zu haben, denn ihn hatte etwas beschäftigt. Die Art, wie er es sagte, ließ mich nachhaken. Irgendetwas war anders an ihm… Nicht nur die Augenringe. Lässt du dir einen Bart wachsen? Steht dir! Er strich gedankenverloren über sein Kinn. Eigentlich nicht, das wäre bloß Nachlässigkeit, ihm wäre im Moment so vieles egal, weil ihn so vieles beschäftigte. Daraufhin wollte ich wissen, was ihn denn so sehr beschäftigte, und es dauerte bis zur Halbzeit, bis er endlich damit herausrückte. Bei seiner Frau war Krebs festgestellt worden, sie, die immer so gesund und sportlich gelebt hatte! Eierstockkrebs. Glücklicherweise in einem sehr frühen Stadium. Sie müsste entscheiden, Bestrahlung oder Entfernen. Aber mit dem Kinderwunsch hätte es sich erledigt, und im Job musste sie jetzt auch kürzertreten, wo sie doch kurz vor einer Beförderung gestanden hatte. Wollte er denn Kinder, fragte ich vorsichtig. Nein, SIE wollte immer welche, irgendwann, aber er dachte, es bliebe noch Zeit dafür. Zeit, um das Leben zu genießen, bis die lästige Pflicht schrie, im wahrsten Sinne des Wortes. Viel zu viel Verantwortung. Und er hätte sich ohnehin nie als Vater gesehen, wenn er ehrlich war. Ich verriet ihm, dass mein Zwillingsbruder mit neunzehn Jahren Vater geworden war. Neunzehn!, rief Adrial aus, geschockt. Halb so alt wie er selbst jetzt war! Wie das für ihn gewesen war? Tja. Mario war gestorben, bevor sein Sohn das Licht der Welt erblickte. Das zu hören, ließ ihn schlucken. Wir waren Gefährten in unserem Kummer, und ich fühlte mich von ihm wertgeschätzt und wahrgenommen. Endlich mal jemand, der nicht mit dem Hintergedanken mit mir Zeit verbrachte, weil er mit mir ins Bett wollte. Oder weil wir uns eine Wohnung teilten oder in derselben Band spielten. Meine allererste, aufrichtige Männerfreundschaft. Man kann eben nie von außen erkennen, welches Päckchen ein Mensch mit sich herumträgt, sagte Adrial kurz darauf und ich stimmte ihm zu. Seit Paris war ein Päckchen mehr auf meinen Schultern abgeladen worden. Aber wenn ich ihn so anschaute – an diesem Abend schaute ich öfter ihn an als den Fernseher – ihn umgab ein rätselhafter Mix aus Ehrlichkeit, Melancholie und Verlebtheit. Wer hatte in seinem Alter schon vieles, auf das er zurückblicken konnte? Eine verwandte Seele. Kameraden im Schmerz. Just in diesem Moment erhielt ich eine Nachricht von Dominique, die mich fast vom Stuhl fallen ließ: Ich habe jemanden kennengelernt und werde mit ihm schlafen. Das riss mir den Boden unter den Füßen weg. Es schwarz auf weiß zu lesen, war etwas anderes, als ihm zum wiederholten Male zu garantieren, dass ich nicht sauer wäre, wenn er sich in Paris so richtig austobte. Nein, wollte ich im ersten Moment schreiben, denke noch nicht mal daran! Das Angebot gilt nicht mehr, du bist nicht mehr in Paris und ich ziehe es hiermit zurück! Doch das schrieb ich nicht, sondern gar nichts, denn es kam mir nach der Funkstille heuchlerisch vor. Ich war wütend auf mich selbst. Wo hatte er diesen Jemand kennengelernt? Und wann? Hatte er etwa mit ihm die ganze Zeit getextet, als ich bei ihm gewesen war? Da er ihn erst kennengelernt hatte, war es immerhin nicht dieser Emmanuelle. Adrial sah mir an, dass mich etwas zu bewegen schien. Ich muss los, verkündete ich. Erst, als ich vor Dominiques Wohnungstür stand, erfuhr ich, dass er umgezogen war. Die Uni gewechselt hatte, zum Sommersemester in Berlin weiterstudieren würde. Berlin?! Das alles teilte mir seine ältere Schwester mit, bei der er zuletzt gewohnt hatte, mit ihrem kühlen Blick, als hielte sie mich für den größten Trottel unter der Sonne. Wir waren nie so richtig warm geworden. Eine Männerstimme rief aus dem Wohnzimmer nach ihr und da schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Er war weg. Hatte mir nichts von seinen Plänen erzählt, nicht mal in Andeutungen. Still und heimlich hatte er sich aus seinem Leben geschlichen und seinen Platz hier mit Berlin getauscht. Und dort hatte er nun jemanden gefunden. Das war ein neuer Tiefpunkt in meinem Leben. Es ging mir scheiße. Jetzt im Nachhinein, kann ich dunkel erahnen, wie scheiße. Die Gedanken, die Karussell fuhren. Das Stück, das aus meinem Herzen gerissen und in den Müll geschmissen worden war. Nächsten Samstag war Adrial wieder im Pub. Ich erschien, ohne dass er mich einladen musste, und er war nicht überrascht. Und wie geht es dir, euch?, fragte ich vorsichtig, denn Adrial war sehr nachdenklich heute. Seine Frau hatte ihm heute eröffnet, nach der Krebsgeschichte ihr Sabbatjahr in Marseille zu machen. Marseille. Das Reizwort, das mich fast kotzen ließ. Adrial vertraute mir an, dass er sich veräppelt fühlte von ihr. Benutzt. So viel für sie tat, tagein, tagaus und Samstagabend seine einzige freie Zeit in der Woche war, an dem er nur an sich selbst dachte. Nur diesen einen Abend – und er hatte doch so schmerzhaft erst lernen müssen, auch mal an sich selbst zu denken. Niemals ein Dankeschön für all die Wärmflaschen, die er ihr kochte oder das Essen. Den Haushalt, den er alleine schmiss. Oder sie selbstverständlich zu ihren Untersuchungen fuhr, im Wartezimmer auf sie wartete. In die Apotheke ging und ihren Eltern eine Stütze war, die sich bei ihm ausheulten über das Schicksal ihrer einzigen Tochter. Kein fucking Dankeschön jemals, nie. Er fühlte sich hin- und hergerissen von dem Wunsch, sie loszuwerden, und dem Schuldgefühl, falls sie die Krankheit doch nicht überstehen würde… Exakt das waren meine Gefühle meinem Vater gegenüber, als ich ihn damals gepflegt hatte, bis endlich ein Platz im Altenheim frei wurde. Wo er merklich abgebaut hatte, obwohl er auf eigenen Wunsch dorthin gegangen war. Allzu lang würde das nicht mehr dauern, schätzte ich. Wollte sie schon immer nach Marseille? Und hat erst jetzt durch diese Krankheit den Mut dazu? Nein, nie hätte sie es ihm gegenüber erwähnt. Sie war nicht mehr dieselbe. Dominique war auch nicht mehr derselbe wie vorher… Er stimmt mir zu, so ein Auslandssemester konnte einen ganz anderen Blick auf die Welt vermitteln, das prägte sehr… Er erzählte mir von seinem Auslandssemester Dublin, wo er Guinness lieben gelernt hatte. Ich hörte nur halb zu. Ich war ganz klar derjenige, der stehen geblieben war. Der sich nicht weiterentwickelt hatte. Ich konnte einfach nicht mehr mit Dominique mithalten, das war alles, ein kleines, aber bedeutsames Detail. Ich stand still und er zog weiter. Keine meiner Beziehungen hatte länger gedauert als vier Jahre. Wir hatten unser Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten, uns auseinandergelebt, uns in verschiedene Richtungen entwickelt. Er wollte Paris; wollte Berlin, wollte Partys, Drogen, Psychologie und Philosophie und Transzendenz. Und ich all das nicht. Aber was wollte ich? Das Beisammensein mit Adrial tat mir so gut. Weil er mich mochte und akzeptierte, so wie ich war, auf rein platonischer Basis, und ich nichts beweisen musste, ihn nicht beeindrucken musste. Was so viel wert war. Umso mehr verwunderte mich sein Vorschlag, nachdem das Spiel zu Ende war. Ich fragte nach, glaubte erst, mich verhört zu haben. Aber nein, das stand tatsächlich auf seiner Bucket List: Ein Mal in eine Gaybar gehen. Ob ich heute Abend Lust drauf hätte? Ich kenne doch sicher die ein oder andere. Könnte ihn in meine Welt ausführen. Es war zwar nicht meine Welt, und stellte das auch klar, aber Bock hätte ich irgendwie schon. Wir zahlten und brachen auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)