Unter endlosen Sommerhimmeln von MyHeartInTheAttic ================================================================================ Kapitel 1: Happily Never After: Wie Henry Tilney und Catherine Morland ---------------------------------------------------------------------- Der Regen prasselte laut genug gegen die Autoscheiben, um das hyperaktive K-Pop-Gedudel, das Lee so gern mochte, fast vollständig zu übertönen. Er trommelte den Beat mit den Fingern auf dem Lenkrad nach, während er darauf wartete, dass die Ampel auf Grün umstellte. Sakura war dankbar, dass er nicht vor sich hin summte oder mitsang. Sie hatte Kopfschmerzen; die Luftverschmutzung in Tokio war seit einigen Tagen unerträglich, besonders für ein ehemaliges Dorfkind wie sie. Mit geschlossenen Augen hatte sie den Kopf gegen die kühle Scheibe gelehnt und versuchte, das Pochen hinter ihren Schläfen wegzuatmen. Die Scheibenwischer gingen pausenlos, im Kampf gegen die Wassermassen, die der schwarze Nachthimmel ausschüttete. Trotz der zahlreichen Hintergrundgeräusche und dem ewigen Gemurmel der Großstadt herrschte zwischen ihnen eine bezeichnende Stille. Sie hatten sich einfach nichts mehr zu sagen. Manchmal – und in letzter Zeit war das ziemlich oft – fragte Sakura sich, ob Lee nicht merkte, wie unzufrieden sie war, oder ob er es schlicht ignorierte, in der Hoffnung, dass sich ihre Beziehung von allein wieder verbessern würde. War er glücklich? Sie öffnete die Lider einen Spalt breit und musterte sein Profil von der Seite. Sie liebte ihn oder hatte es wenigstens mal, denn jetzt war sie sich nicht mehr so sicher, doch selbst mit viel gutem Willen konnte man ihn schwerlich als klassisch attraktiven Mann bezeichnen. Zugegebenermaßen tat Lee sehr viel dafür, um so unvorteilhaft wie möglich auszusehen. Seit Jahren trug er sein dickes, glänzendes Haar unverändert in diesem unmöglichen Topfschnitt, seine Augen waren zu groß und zu rund – das Wort Glubschaugen drängte sich auf –, seine Augenbrauen waren eine Katastrophe und in seinen geliebten hautengen, meist dunkelgrünen Rollkragenpullovern und den engen Jeans sah er aus wie ein Lauch auf zwei Beinen. Er war ein erwachsener Mann mit dem Äußeren eines Kleinkindes aus den Siebzigern. Sakura biss sich auf die Unterlippe. Sie schämte sich dieser Gedanken, weil sie oberflächlich und gemein waren. Lee war ein herzensguter Mensch und so arglos wie ein Kind. Wahrscheinlich lag genau darin das Problem: Er war zu nett und sie fühlte sich oftmals mehr wie seine Mutter denn gleichgestellte Partnerin. Er war freundlich, respektvoll und gut, aber auch zutiefst langweilig und kindisch. Und sie war wohl ein wandelndes Klischee; die Frau mit dem liebevollen Mann an ihrer Seite, die sich wünschte, dass er ein bisschen mehr Macho wäre. Seufzend atmete sie aus, als die Ampel endlich grün wurde und Lee mit einem ungeschickten Ruck anfuhr, der eine Schmerzwelle durch ihren Schädel zucken ließ. Er war ein miserabler Autofahrer und weil sie sowieso schon schlechte Laune hatte, war ihr danach, sich darüber aufzuregen. „Hoppla. Verzeihung bitte“, sagte er vergnügt und schenkte ihr eines seiner strahlenden Zahnpastawerbung-Lächeln, das unverzüglich in eine ernstere Miene umschlug, als er ihren mürrischen Gesichtsausdruck bemerkte. „Alles okay, Liebling?“ „Kopfschmerzen“, antwortete sie motzig. Lee stellte das Radio aus. „Zuhause nimmst du ein schönes heißes Bad und ich mache dir eine warme Milch mit Honig.“ „Warme Milch mit Honig hilft bei Halsschmerzen“, fauchte sie. Er sah sie unglücklich an und natürlich fühlte sie sich prompt schlecht, dass sie ihn angegangen war. „Entschuldige“, sagte sie zerknirscht. „Und danke, aber vielleicht mischst du zusätzlich noch ein oder zwei Aspirin rein.“ „Wird gemacht, für dich tue ich doch alles“, trötete er. Das Auto machte einen Satz nach vorne, weil er vor lauter Tatendrang das Gaspedal durchgedrückt hatte. Der Fahrer im Wagen vor ihnen hupte verärgert und machte eine rüde Geste, die einen bestimmten Finger seiner linken Hand involvierte. Sakura rang sich mühsam ein Grinsen ab. Sie hasste es, wenn er solche Dinge sagte, weil es zwar einerseits stimmte, es andererseits jedoch selten das war, was sie brauchte und wollte. Lee war gleichzeitig aufmerksam und ignorant. Freilich war das zum Teil ihre Schuld, weil sie einfach nicht den Mund aufmachte und ihre Bedürfnisse kommunizierte, dabei sollte sie unterdessen wissen, dass er nicht aus dem berühmt-berüchtigten Subtext schließen konnte. Sie blickte an sich herab, direkt auf das beachtliche Dekolleté, das ihr Push-up-BH mogelte. Sie kamen von einem Event ihres Krankenhauses, das zu Ehren irgendeines stinkreichen Gönners, der ihnen eine Milliarde Yen gestiftet hatte, veranstaltet worden war. Sie trug ein aufregendes scharlachrotes Kleid, in dem sie einige lüsterne Blicke auf sich gezogen hatte. Verdammt, sie sah gut aus, sie war eine attraktive Frau und doch war Lees einzige Reaktion die Sorge, dass sie sich erkälten könne, gewesen. Es war süß. Und unglaublich frustrierend. Sakura hielt sich im Grunde nicht für einen besonders sexuellen Menschen – vor Lee hatte sie lediglich einen Freund und einen One-Night-Stand gehabt –, doch Lee war der reinste Mönch. Er war wie ein Kind, schoss ihr abermals durch den Kopf. Das letzte Mal, als sie miteinander geschlafen hatten, hatte noch Schnee gelegen. Mittlerweile war Anfang Juli. Sakura verschränkte die Arme, spürte die altbekannte, ungerechtfertigte Wut auf ihn in sich aufsteigen und schluckte sie runter. Sie hätte es besser treffen können. Sie hatte sich überhaupt nur auf ihn eingelassen, weil ihr geschmeichelt hatte, wie bedingungslos und tief seine Liebe zu ihr war, wie unermüdlich er sich um ihre Gunst bemüht hatte, obwohl sie ihm anfangs einen Korb nach dem anderen serviert hatte. Lee liebte sie, da war sie ziemlich sicher, doch er liebte sie wie ein kostbares Sammlerstück, das man hinter Glas bewunderte und selten in die Hand nahm. Ihre fraulichen Reize waren nie wirklich von Interesse für ihn gewesen. Jenseits des Autos pulsierte, trotz des Starkregens, das Tokioter Nachtleben. Vor den Clubs standen leicht bekleidete Frauen und schick angezogene Männer und rauchten lachend und schwatzend ihre Zigaretten. Ein junger Mann wurde von seinen Freunden johlend in Richtung eines Mädchens geschubst, das sich giggelnd ihrer Gruppe Freundinnen zuwandte und desinteressiert tat, ihr Make-up jedoch rasch in einem kleinen Taschenspiegel überprüfte. Ein anderes Paar stand wild knutschend vor dem Eingang zur U-Bahn, die Frau wurde von dem Mann fast von den Füßen gehoben und stand nur noch auf den äußersten Zehenspitzen. Den Regen schienen sie nicht mal zu bemerken und es hatte etwas Verzweifeltes, wie sie sich küssend aneinanderklammerten, als könnte der eine ohne den anderen nicht atmen, nicht existieren, nicht sein. Sakura fragte sich unweigerlich, ob sie sich begrüßten oder verabschiedeten oder ob sie nur schlicht sehr verliebt waren. Wie es sich wohl anfühlte, jemanden derart heftig zu lieben, dass man ebenso gut wahnsinnig geworden sein könnte? Allein dieses Paar zu beobachten, vermittelte ihr den Eindruck, dass es zugleich das schönste und schrecklichste Gefühl auf der Welt sein musste. Ihre Liebe für Lee war nie übermäßig von Leidenschaft oder Verlangen geprägt gewesen, sie war funktional und leise, eher ein sacht dahinplätschernder Bach denn eine alles verschlingende Naturgewalt. Solche Gefühle kannte sie lediglich aus Liebesromanen und sie waren ihr stets überspitzt und absurd vorgekommen, doch tief in ihrem Inneren spürte sie ein sehnsüchtiges Ziehen. „Denkst du manchmal über uns nach?“, fragte sie plötzlich. „In welche Richtung sich unsere Beziehung entwickelt.“ „Hm? Wie meinst du das?“, hakte er nach. Seine buschigen Augenbrauen trafen sich vor angestrengter Konzentration fast über der Nasenwurzel und er löste ein empörtes Hupkonzert aus, als er noch im letzten Moment, in dem die Ampel gerade auf Rot sprang, über die Kreuzung bretterte. „Ich meine…“ Sie seufzte tief. „Schon gut, vergiss es.“ Vermutlich hörte er ihr sowieso bloß mit einem halben Ohr zu oder schlimmer noch, er verlor die Fassung und baute einen Unfall. Das Schweigen staute sich erneut zwischen ihnen auf und Sakura schaltete das Radio an, in dem eine quirlige Moderatorin monsunartige Regenfälle für die gesamte kommende Woche ankündigte und ihre Zuhörer ermahnte, trotz des nassen Wetters ausreichend hydriert zu bleiben. Sie starrte aus dem Fenster. In der Reflexion der Scheibe sah sie, wie Lee nervös immer wieder zu ihr herüberschaute. „Bist du sauer auf mich, Liebling? Wenn ich was falsch gemacht habe, dann…“ „Hast du nicht“, unterbrach sie ihn und im Grunde war das die Wahrheit. Es lag nicht an ihm, sie war das Problem. Sie wollte irgendetwas, von dem sie nicht mal genau wusste, was es war, nur, dass Lee es ihr nicht gab. Vielleicht strengte sie sich nicht genug an, weil sie gewohnt war, dass er derjenige war, der sich um sie bemühte, und nun verharrte sie selbstgerecht in ihrer Unzufriedenheit und warf ihm insgeheim vor, dass er nichts daran änderte, anstatt selbst die Initiative zu ergreifen. Er zog wie ein gescholtener Schuljunge den Kopf ein und sie rang sich ein zartes Lächeln ab, beugte sich leicht zu ihm herüber und legte die Hand auf seinen Oberschenkel. Seine Augen huschten verstohlen zu ihrem Ausschnitt, seine Pupillen weiteten sich dramatisch und sein Teint färbte sich eine oder zwei Nuancen dunkler. Sie spürte die Wärme seiner Haut und die sehnigen Muskeln durch den Stoff seiner Hose. Gelegentlich vergaß sie regelrecht, dass der Mann mit der peinlichen Frisur einen ansehnlichen Körperbau hatte, den man ihm gar nicht zutraute. Ihre Hand wanderte ein kleines Stückchen höher, dann kniff sie zu. Lee hopste vor Schreck einige Zentimeter in seinem Sitz hoch. „Wie wär’s mit einem Blowjob?“ Sie ließ die Augenbrauen ironisch hüpfen. „Sa-sa-sa-sakura“, stotterte er, während sein Gesicht schlagartig eine ungesunde Rotfärbung annahm. Sein Adamsapfel erzitterte, als er trocken schluckte. „D-d-das geht doch nicht. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren, jemand könnte uns sehen, wir könnten von der Polizei angehalten werden und außerdem hast du doch Kopfschmerzen“, rasselte er kurzatmig herunter. Sakura blinzelte. „Wow! Du hast vergessen, dass die Scheiben beschlagen könnten oder du mit heruntergelassener Hose in ein UFO gebeamt werden könntest.“ Lee kniff die Lippen zusammen, was ihn ungewohnt ernst aussehen ließ. Normalerweise war er ein bisschen schwer von Begriff, doch diesmal schien er verstanden zu haben, dass sie ihn verspottete. Seine Augen lagen wie festgeklebt auf der Straße vor ihnen. Angesäuert zog sie sich zurück. Was war eigentlich sein verdammtes Problem?! Als er kurz darauf vor dem Appartement-Gebäude, in dem sie wohnten, parkte, stieg sie aus, ehe der Wagen richtig stand, und knallte die Autotür schwungvoll hinter sich zu. Im strömenden Regen stapfte sie zum Hauseingang, war binnen Sekunden bis auf die Unterwäsche durchweicht. Das Kleid klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper, überließ nur wenig der Fantasie. Lee rief ihr irgendetwas nach, doch der Regen machte es leicht, zu tun, als ob sie ihn nicht gehört hätte. Ihr war nach weinen zumute und sie hatte das Gefühl, ihn für den Moment nicht ertragen zu können. Es lag weniger daran, dass er sie frustrierte, als vielmehr daran, dass der Frust ein gemeines Biest aus ihr machte. In ihren hohen Pfennigabsätzen fand sie kaum Halt auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster, doch sie drosselte ihr Tempo trotzdem nicht. Einmal glitt sie beinahe aus, fing sich im letzten Augenblick mit rudernden Armen, aber beim zweiten Mal rutschte ihr Fuß endgültig unter ihr weg und sie ging mit einem spitzen Aufschrei und einem Autsch, das mehr von Schreck denn Schmerz zeugte, zu Boden. Erst fühlte sie nichts, außer der latenten Resignation, ihr bestes Kleid mit Dreck beschmiert zu haben, dann flammte der Schmerz in ihrem Knöchel auf und schoss ihr gesamtes Bein hinauf. „Sakura!“ Sie hörte das schnelle Knirschen von Lees Segelschuhen, als er auf sie zu joggte. „Bist du verletzt? Oh Schreck, du blutest.“ Tatsächlich hatte sie eine hässliche Schürfwunde am Knie, die Haut sah aus, als wäre sie mit Schleifpapier bearbeitet worden. Winzige Blutströpfchen quollen hervor, aber der Regen ließ es schlimmer aussehen als es war. Er zog ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche und drückte es fest auf die Wunde. Sakura verzog das Gesicht. Lee meinte es gut, doch wie so oft machte er damit alles nur schlimmer. Sie musste sich beherrschen, ihn nicht anzuschnauzen. „Kannst du aufstehen?“ „Ich denke schon, du musst mir vielleicht helfen“, sagte sie. Er legte einen Arm um ihren Rücken und zog sie auf die Füße, ließ sie jedoch zurück auf den Boden sinken, als sie leise zischte. „Mist, ich habe mir wohl den Knöchel verdreht“, grummelte sie und rieb besagtes Körperteil, das bei näherer Betrachtung leicht angeschwollen schien. Kurzerhand schob Lee seine Arme unter ihre Kniekehlen und den Rücken und hob sie hoch. Sakura keuchte erschrocken auf, als sie mühelos in die Luft gehoben und an seine Brust gedrückt wurde, konnte sogar ihre Wangen ein bisschen warm werden spüren. Lee war ein großes Kind, aber manchmal war er auch ein kleiner Held, und dass er sie tragen konnte, als wöge sie nicht mehr als ein Vögelchen, war nicht nur schmeichelhaft, sondern auch ziemlich sexy. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter, konnte das Gefühl allerdings nicht genießen. All die Jahre hatte sie ihn als Selbstverständlichkeit genommen, weil er sie unbedingt gewollt hatte, insgeheim hatte sie es wohl als rechtens angesehen, dass sie stets ein Stückchen über ihm stand, nahm und sich geben ließ, doch nun wisperte ein kleines Stimmchen, dass womöglich sie es war, die ihn, trotz all seiner Fehlern und Macken, nicht verdiente. Wann hatte sie ihn das letzte Mal wertgeschätzt? Hatte sie das überhaupt jemals aufrichtig getan oder immer für genug befunden, dass er mit ihr zusammen sein durfte? Als wäre sie die Kaiserin von China und es eine Ehre, den Boden zu ihren Füßen küssen zu dürfen. Sie fühlte sich eklig, wie ein schlechter Mensch. In ihrer Wohnung angekommen setzte er sie auf dem Sofa ab, zog ihr die mörderischen High Heels aus und brachte ihr eine Kühlkompresse für ihren Knöchel. Dann wuselte er ins Badezimmer, ließ die Wanne volllaufen, brachte ihr Aspirin und ein Glas Wasser und stellte einen Topf Sojamilch auf den Herd. Seine Energie war beneidenswert, dachte Sakura, die sich unsagbar erschöpft fühlte und mit müden Augen auf die Tokioter Skyline blickte. Das Appartement lag eigentlich über ihrem Budget – als Assistenzärztin in einem staatlichen Großstadtkrankenhaus verdiente sie eher schlecht, Lee als Altenpfleger verdiente sogar deutlich weniger –, doch das Panorama war es ihr wert gewesen. Der Tokyo Tower erstrahlte in einiger Entfernung in seinem orange-goldenen Licht, erinnerte sie vage an die Weihnachtsbäume, die sie im Dezember vor zwei Jahren auf einem Kongress in Genf bewundert hatte. Die Innenstadt breitete sich wie ein funkelndes Lichtermeer zu ihren Füßen aus. Für sie als Dorfmädchen war der Anblick gleichzeitig atemberaubend magisch und beängstigend. Die Stadt schien einen Puls zu haben, die Straßen waren ihre Adern und die Menschen die Blutkörperchen. Sie fand faszinierend, wie unbewusst die Technologie der Menschen die Natur kopierte. Sakura humpelte zu der bodentiefen Fensterfront, die aus einem speziellen Sicherheitsglas bestand. Damals hatte die Maklerin ihnen erzählt, dass das Glas selbst einer Kanonenkugel standhalten könnte. Lee war beeindruckt gewesen, doch sie hatte die Frau nur belächelt, denn wer würde heutzutage noch mit Kanonenkugel schießen. Darauf hatte sie keine Antwort gehabt. Sie legte Handflächen und Stirn gegen die kühle Scheibe, weil sie sich dann stets schwerelos fühlte, als würde sie schweben, als könnte sie einfach losfliegen, hoch in den Himmel, unter sich die Lichter, die die Sterne imitierten, über sich die Unendlichkeit. Der Himmel ist die Grenze. Von wem stammte das? Manchmal jedoch fühlte sie sich, als würde sie fallen, jeden Augenblick von der schieren Dichte der Millionenmetropole zermalmt werden. Lee sagte, dass das wohl allen Menschen gelegentlich so ging, aber er verstand sie nicht, er war hier geboren und aufgewachsen. Tokio war ihr noch immer fremd, obwohl sie mittlerweile seit acht Jahren in der Stadt wohnte. Es war ihr Zuhause, aber nicht ihre Heimat. Heimat war der Ort, den die Alten noch immer das Dorf versteckt unter Blättern nannten, wo üppige Laubwälder auf das weite Meer trafen. „Du erkältest dich.“ Sie zuckte unmerklich zusammen, als Lee plötzlich hinter ihr stand. Sie betrachtete ihn in der Reflexion des Glases. Die Stadt verschwand, Lee und ihre Wohnung rückten in den Fokus. Ihr rosa Frottee-Bademantel hing über seinem linken Arm. „Komm, ich helfe dir, die nassen Klamotten auszuziehen.“ Er geleitete sie zurück zum Sofa und sperrte Tokio aus, indem er die blickdichten, cremefarbenen Vorhänge schloss. „Du hast deine Tabletten noch nicht genommen. Sind deine Kopfschmerzen besser geworden?“ „Ja“, log sie, während sie ihm den Rücken zudrehte, damit er den Reißverschluss ihres Kleides besser erreichen konnte. Lees Handgriffe waren sanft, seine Finger warm und ein bisschen rau, aber es lag keinerlei Leidenschaft in seinen Berührungen, nicht mal als er ihren BH öffnete und die Daumen unter den Trägern verhakte, um ihr den Stoff abzustreifen. Sakuras Oberweite schrumpfte zu ihrem gewohnten A-Körbchen zusammen, nachdem ihre Brüste entgegen den Gesetzen der Gravitation seit Stunden hochgedrückt worden waren, fühlten sie sich schwer und empfindlich an. Die kühle Luft auf ihrer feuchten Haut ließ sie frösteln und sorgte dafür, dass sich ihre Brustwarzen zusammenzogen. Er rubbelte ihre Rückseite trocken, als sie sich in einer fließenden Bewegung umdrehte, sodass er auf einmal ihre Brust in der Hand hielt. Zum zweiten Mal nahm sein Gesicht eine dunkelrote Färbung an. „Entschuldige bitte“, nuschelte er beschämt und zog die Hand zurück. „Du bist mein Freund, es nichts Verwerfliches daran, wenn du mich anfasst.“ Verlegen um Worte huschten seine Augen durch den Raum, überall hin, nur nicht zu ihrem Oberkörper, selbst ihr Gesicht mied er. In einem Anflug von Trotz drückte sie den Rücken durch, bis ihre Brüste gegen seinen Körper drückten. Ihre Augen rutschten zu der engen Jeans, die nichts verstecken konnte. Nichts war auch, was sie sah. Er wich zurück und wieder spürte sie diese abartige Genugtuung, ihn zu quälen. „Ich dachte, dir geht es nicht gut.“ „Ich bin keine von deinen Patientinnen, und du darfst mir auch mal Widerworte geben, wenn dir etwas nicht passt. Meine Güte, Lee, ich will, dass du das tust. Sind wir zusammen oder bist du mein Knecht?“, fauchte sie. „In Ordnung.“ Er stand auf. „Ich habe jetzt keine Lust auf diese Art Gespräch.“ „Hast du nie.“ Sakura umklammerte seinen Arm, damit er nicht weggehen konnte. „Verdammt, was stimmt eigentlich nicht mit dir?“ „Mit mir? Du benimmst dich doch wie ein… wie ein… ein Flittchen.“ Er blinzelte heftig, als wäre er selbst überrascht, dass die Worte in ihm gesteckt hatten. Sakura reagierte, ehe sie darüber nachdenken konnte, und verpasste ihm eine klatschende Ohrfeige. Bereits in der nächsten Sekunde schlug sie erschrocken die Hände vor den Mund. „Oh Gott, Lee, das tut mir leid. Ich weiß gar nicht, was da über mich…“ Sie verstummte. „Schon okay“, murmelte er. Ihr Handabdruck begann bereits, sich auf seiner gebräunten Haut abzuzeichnen. „Nein, es ist nicht okay“, schrie sie kläglich. „Du hast mich Flittchen genannt und ich habe dich geschlagen.“ Sie weinte jetzt, weil sie sich schämte und weil er sie Flittchen genannt hatte und es so meinte und weil er dafür sorgte, dass sie sich tatsächlich wie eines fühlte. Sie hob den Bademantel auf, der von ihren Schultern gerutscht war, und bedeckte sich. Ihre Nacktheit kam ihr töricht vor. „Hmm“, brummte er nur und wandte sich mit hängenden Schultern von ihr ab. Mehr denn je erinnerte er an einen geprügelten Welpen. „Lee?“ Sie atmete zittrig ein. „Was denn?“ „Ich… ich denke, wir sollten uns trennen.“ Kapitel 2: Home, Sweet Home: Die holprige Reise nach Hause ---------------------------------------------------------- „Ach, der arme Lee“, sagte Hinata mitleidig am anderen Ende der Telefonleitung und drehte damit das Messer, das sie Sakura unbewusst in den Rücken gerammt hatte, tiefer in ihre Wunde. „Er ist doch so ein Lieber.“ „Du kennst ihn doch gar nicht“, entgegnete Sakura dumpf, in dem schwachen Versuch, sich zu rechtfertigen und vielleicht selbst ein Fünkchen Mitgefühl abzustauben. Wie vom Wetterdienst vorhergesagt regnete und stürmte es beinahe ununterbrochen. Der Niederschlag klatschte frontal gegen das Küchenfenster, das sich aus Sicherheitsgründen aber sowieso nicht öffnen ließ, obwohl Sakura Lust hätte, das Fenster aufzureißen und den Kopf in den strömenden Regen zu halten. Sie fühlte sich eingesperrt, die Luft kam ihr stickig vor. Unglücklich saß sie auf der Fensterbank, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, die von ihrem Atem und Kaffeedampf beschlug, das Smartphone zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt. Wie ein Teenager mit Liebeskummer malte sie gebrochene Herzen in das Kondensat. Ein Teenager war sie zwar schon lange nicht mehr, aber der Liebeskummer fühlte sich sehr real an und kein Stück erträglicher als mit vierzehn. Wer behauptete, dass solche Dinge im Alter einfacher wurden?! Fast eine Woche lag ihre Trennung von Lee nun zurück. Sechs Tage. Fünf Tage und siebzehn Stunden, um ganz genau zu sein. Der Trennungsschmerz hatte sie unerwartet heftig getroffen, umso mehr, da sie wohl davon ausgegangen war, den Bruch einigermaßen unbeschadet abschütteln zu können. Aber sie vermisste ihn. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie kaum atmen konnte. Noch immer befand sie sich in der Phase, in der man zu spontanen Tränenausbrüchen neigte. Tsunade, die leitende Oberärztin ihrer Abteilung, hatte wenig Verständnis gezeigt und sie am Vortag völlig entnervt dazu verdonnert, mit sofortiger Wirkung Urlaub einzureichen. Mit den ungenutzten Urlaubstagen der vergangenen zwei Jahre kam sie auf stattliche drei Wochen Arbeitsverbot. Ihr Kollegium war grün vor Neid, aber Sakura hätte die Ablenkung gutgetan und sie kam sich entbehrlich vor. Dass Lee sich einfach nicht zuckte, goss Öl ins Feuer. Alle paar Sekunden überprüfte sie, ob er sich womöglich gemeldet hatte, obgleich sie es besser wusste. Auch diesmal wurden ihre Hoffnungen enttäuscht. Sie zog die Nase hoch. „Das stimmt, aber du hast oft genug von ihm erzählt und, naja, es ist doch immer schlimmer, verlassen zu werden als zu verlassen“, meinte Hinata betrübt. „Wie macht ihr das jetzt mit eurer Wohnung?“ „Keine Ahnung“, sagte sie achselzuckend, obwohl Hinata sie logischerweise nicht sehen konnte. „Den Mietvertrag kündigen, jeder sucht sich was Eigenes, wie man das eben so macht. Ich habe seitdem noch nicht wieder mit ihm gesprochen.“ Lee hatte die Trennung wortlos akzeptiert. Sakura hatte wie erstarrt auf dem Sofa gesessen, während er das Nötigste zusammengepackt hatte und gegangen war. Sie wusste nicht mal, wo er war, ob er bei jemandem Unterschlupf gefunden oder ein Motelzimmer angemietet hatte oder gar im Auto übernachtete. Und er meldete sich nicht. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr sie davon ausgegangen war, dass er sie anbetteln würde, es sich anders zu überlegen, dass er sie Tag und Nacht mit Nachrichten bombardieren würde. Sie selbst musste sich davon abhalten, seine Nummer zu wählen. Sie wusste, dass sie ihn anflehen würde, zurückzukommen, und dass er sie auf ein Wort von ihr vermutlich erhören würde, doch unter all dem Schmerz war sie felsenfest überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Auch wenn ihr Herz momentan aufs Schärfste protestierte. Sie wusste aber auch, dass es tausend Dinge zu klären gab, dass es ihr gemeinsames Leben säuberlich in zwei aufzuteilen galt. Sakura schloss die Augen, überwältigt von dem, wozu sie sich nicht in der Lage sah. „Soll ich nach Tokio kommen?“ „Sei nicht albern“, wiegelte Sakura ab. „Tokio würde dich vollkommen erschlagen und dein Vater würde es doch sowieso nicht erlauben, oder?“ „Wahrscheinlich nicht, aber ich bin alt genug, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen.“ Es klang wie eine Frage und das war Antwort genug. „Weißt du, was das wirklich Traurige ist? Ich wohne seit acht Jahren hier und habe keinen einzigen Freund in der Stadt, nur Lee und den kann ich ja wohl schlecht volljammern, wie mies es mir geht.“ Denn wie Hinata sagte: Es war immer schlimmer, verlassen zu werden als zu verlassen. Sie hatte doch eigentlich gar kein Recht, in Selbstmitleid zu versinken oder Mitleid zu erwarten. Das änderte nur nichts daran, dass sie sich hundeelend fühlte. Ihr Herz wollte ihn zurück, aber ihr Verstand wollte ihn nicht zurückhaben wollen. Wenn sich doch bloß dieses beschissene Fenster öffnen ließe. „Oh, ich habe eine Idee.“ Hinatas euphorischer Tonfall verhieß nichts Gutes. „Wieso kommst du nicht her zu mir?“ „Ach, Hinata, ich kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen.“ „Warum nicht? Du bist beurlaubt und hast sonst keine Verpflichtungen“, argumentierte sie. „Ablenkung ist das Beste, was du in dieser Situation machen kannst. Ich bin da, um dich zu unterstützen, das Wetter ist toll und in zwei, drei Wochen sieht die Welt schon wieder viel freundlicher aus. Ich kenne dich doch, Sakura-chan, du sitzt Trübsal blasend in deiner Wohnung, bis du wieder arbeiten darfst, und in drei Wochen bist du keinen Millimeter weiter als jetzt.“ Sakura knabberte ertappt an ihrem Daumennagel, weil sie genau das vorgehabt hatte. Und das stand ihr, verdammt noch mal, zu. Sie wollte in ihrer Wohnung versauern, wo sie alles an Lee erinnerte, wo sie sich ihrem Selbstmitleid hingeben konnte, wo sie ungesehen weinen und sich einsam und verlassen fühlen konnte, ohne sich dafür rechtfertigen oder sich anhören zu müssen, dass es ihr nicht zustand, weil sie Lee verlassen hatte. „Möchtest du denn noch mit ihm zusammen sein?“, fragte Hinata vorsichtig. „Nein.“ Das kam überraschend energisch, dafür dass sie sich wie ein Misthaufen fühlte. Sie seufzte verzagt. „Ich glaube nicht, dass es noch Sinn hat. Unsere Beziehung lief nicht gut, schon länger nicht mehr, um ehrlich zu sein, und ich habe meine Unzufriedenheit ständig an ihm ausgelassen. Er ist ein guter Mensch, aber… das allein reicht mir nicht mehr, denke ich. Lee hat was Besseres verdient. Und ich auch. Er fehlt mir trotzdem, sehr sogar. Bescheuert, oder?“ „Gar nicht“, widersprach sie sanft. „Komm mich besuchen, der Abstand wird dir guttun und du kannst darüber nachdenken, was du wirklich willst. Du bist hier jederzeit willkommen.“ Über Tokios Himmel zuckte ein violetter Blitz, dem unverzüglich ein tiefes Donnergrollen folgte. Sakura hasste Gewitter und entfernte sich vorsichtshalber vom Fenster. Normalerweise würde sie sich jetzt quietschend an Lee drücken, bis es vorbei war. Er hatte sich nie über ihre Ängste lustig gemacht, war es nie leid geworden, ihr tröstend übers Haar zu streicheln. Ihre Kehle schnürte sich zu. „Ich überleg’s mir“, sagte sie nasal und verabschiedete sich. Zwei Tage später – oder einen Tag und zweiundzwanzig Stunden, um genau zu sein – wurde Sakura vom Klingeln ihres Telefons aus dem Schlaf gerissen. Sie wachte mit rasendem Herzen auf, ihre Hände wurden feucht und das Smartphone rutschte ihr zwischen den Fingern hindurch, als sie verschlafen und zittrig danach griff. Panisch warf sie die Bettdecke zurück, voller Angst, dass der Anruf unterbrochen worden sein könnte oder Lee auflegte. Ihre Finger waren derart schweißgetränkt, dass sie drei Anläufe benötigte, um den Anruf anzunehmen. „Lee!“, hauchte sie tonlos und drückte das Telefon fester als nötig gegen ihr Ohr. Ihr Herz klopfte laut und schmerzhaft. Sie hörte ihn atmen, dann sagte er: „Ähm… Hey Sakura.“ „Hallo. Hi. Wie geht es dir?“ Wann kommst du zurück? Du fehlst mir. Ich will nicht mehr allein sein. Sie sagte nichts davon. „Naja, geht so. Und dir?“ Beschissen. „Geht auch so.“ „Ich, ähm, wollte dir eigentlich nur Bescheid geben, dass ich die Tage mal vorbeikommen muss. Also, falls du nicht da sein willst, oder so.“ „Okay! Okay, aber sag mal, Lee, wo bist du denn?“, fragte sie, geflissentlich ignorierend, dass er ihr keine Rechenschaft ablegen musste. Er zögerte lange genug, um ihr klarzumachen, dass die Antwort definitiv nicht im Auto lautete. „Bei einer Arbeitskollegin. Du erinnerst dich an Karin?“ „Karin?“, echote sie schwach. Und ob sie sich an Karin erinnerte. Die Frau war eine S.c.h.l.a.m.p.e., die alles bumste, was Genitalien besaß. Da weinte sie sich seinetwegen die Augen aus dem Kopf und er ließ sich von dieser anorektischen rothaarigen Furie durchvögeln. „Ich verstehe.“ „Nein, Sakura, so ist das nicht“, sagte er müde. „Schon gut, geht mich ja nichts an“, meinte sie steif. In ihrem Inneren stieg eine eisige Kälte auf, die vielleicht Schock war, vielleicht Wut. „Komm vorbei, wann immer du willst. Ich bin ab morgen selbst für einige Tage bei einem Freund. Shikamaru.“ Die Lüge war schneller ausgesprochen, als sie sich bewusst geworden war, dass sie ihr durch den Kopf gegangen war. Lee wusste, dass Shikamaru ihr Exfreund war, von dem sie sich damals schweren Herzens getrennt hatte, weil sie nach Tokio gezogen war und er in Konoha hatte bleiben wollen. Bevor sie zusammengekommen waren, hatte Sakura oft genug von ihm geschwärmt, wie klug Shikamaru war, wie witzig sein trockener Humor war, wie zielstrebig er war, wie süß er schmollen konnte. Ausgeschlossen, dass Lee sich nicht an ihn erinnerte. Dann fiel ihr ein, was Lee einst mit todernster Miene zu ihr gesagt hatte, nämlich dass Shikamaru gar nicht so intelligent sei könne, wenn er eine tolle Frau wie Sakura einfach gehen gelassen hatte. Aber hatte Lee sie nicht selbst einfach gehen lassen? Nein, das war nicht fair, sie – Sakura – hatte Lee gehen lassen. Sie öffnete den Mund, um ihre Lüge, nun, nicht zu beichten, aber wenigstens abzuschwächen, als er enthusiastisch sagte: „Das ist toll, du hast deine alten Freunde doch schon ewig nicht mehr gesehen.“ Sakuras leicht geöffnete Lippen klappten zu einer ungläubig offenstehenden Kinnlade herunter. Hatte er vergessen, wer Shikamaru war? Machte er auf cool? Tat er, als interessiere ihn das nicht? War er etwa bereits über sie hinweg? Sakura gab ein seltsam kehliges Geräusch von sich, weil sie etwas sagen wollte, aber keine Worte hatte. Im Hintergrund hörte sie Karins ätzende Plärrstimme. Moment mal, war sie etwa bei Lee, jetzt in diesem Moment, während er mit ihr telefonierte? „Komme gleich“, sagte Lee gedämpft, dann wieder klarer: „Ich muss auflegen. Wir… ähm… naja, wir sehen uns, denke ich.“ „Lee!“ „Mach’s gut, Sakura.“ „Warte ma-“, setzte sie an, als ihr klar wurde, dass er bereits aufgelegt hatte. Lee hatte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, abgewürgt. Fassungslos starrte sie auf ihr Display, dann scrollte sie mit zitternden Fingern ihre Kontakte durch. Die meisten waren Kollegen, bei einigen alten Schulfreunden wusste sie nicht mal, ob die Nummern noch aktuell waren. Hinata nahm nach dem dritten Klingeln ab. Sakura schob ihre Sonnenbrille den schweißnassen Nasenrücken hoch und bereute, Jeans und Baumwollpullover angezogen zu haben. Als sie in Haneda ins Flugzeug gestiegen war, hatte es in Tokio noch immer wie aus Kübeln gegossen, doch in Konoha zeigte sich der Sommer von einer übertrieben freundlichen Seite. Mit ihrem kellerblassen Teint und dem pastellrosa Oberteil, das sie noch heller aussehen ließ, stach sie optisch aus der gebräunten Masse hervor. Wahrscheinlich hielt man sie für eine Touristin und sie hatte sich noch nicht entschieden, wie sie das fand. Es lag nicht nur an ihrem modisch geschnittenen Bob, der Designer-Brille, die sie für läppische dreitausend Yen in einem Secondhand-Geschäft ergattert hatte und mit der sie sich in diesem ländlichen Habitat ein bisschen albern vorkam, oder dass sie bei achtunddreißig Grad und strahlendem Sonnenschein langärmlig gekleidet war. Es war ihre ganze Art, wie sie durch die Welt lief, hektisch, um zielstrebig von A nach B zu kommen, mit verschlossener, neutraler Miene, Augenkontakt vermeidend, wie sie sich wie ein Falke im Beuteflug auf ein freies Taxi gestürzt hatte. Sie hatte schon halb im Auto gesessen, als der Fahrer sie mit hochgezogenen Brauen gefragt hatte, ob sie es eilig habe. „Nein, eigentlich nicht“, war ihre Antwort gewesen, selbst erstaunt, dass sie das erste Mal seit Jahren nicht schnellstmöglich irgendwohin musste und doch unweigerlich verärgert über die mangelnde Arbeitsmoral. In Tokio… Aber sie war nicht mehr in Tokio. Sie hatte Urlaub, sie hatte Zeit, sie durfte sich entspannen und durchatmen. „Wozu dann die Hektik?“, hatte er mit einem schiefen Grinsen gefragt und gemütlich seine Zigarette aufgeraucht. Nun holperte die Schrottmühle über die unebenen Wege. Sakuras Hintern spürte jedes Schlagloch, jeden verdammten Kieselstein und es würde sie nicht verwundern, wenn ihnen die Karre unter besagtem Körperteil auseinanderfiel. Einmal war sie derart hochgeschleudert worden, dass sie sich den Kopf beinahe an der niedrigen Decke gestoßen hatte. Natürlich gab es keine Klimaanlage. Stöhnend fächelte sie sich Luft zu und obwohl die Fenster weit runtergekurbelt waren, schien es sekündlich heißer in dem Auto zu werden, und ihr dezentes süßlich-fruchtiges Parfum waberte zum Schneiden dick im Wageninneren herum. „Sie sind nicht von hier“, stellte er feixend fest. Seine dunkelbraunen Augen fixierten sie im Rückspiegel. „Geboren und aufgewachsen“, widersprach sie kurz angebunden und blickte aus dem Fenster, an dem endlose Felder vorbeizogen. In einigen Kilometern würde der dichte Wald sie vollkommen verschluckt haben. Sakura war nicht übermäßig ängstlich, doch ihr gefiel nicht, wie der Typ sie begaffte. Er musste um die vierzig sein und mit seinem längeren, strähnigen Haar, dem Kopftuch und dem Grashalm im Mundwinkel war er für sie das Paradebeispiel eines Hillbillys, dennoch hatte er diese selbstverliebte Womanizer-Ausstrahlung, als könnte er sie problemlos um den Finger wickeln, wenn er es darauf anlegte. Sie schluckte nervös und durchkramte die Handtasche demonstrativ nach ihrem Handy, um Hinata zu schreiben oder wenigstens einen Anhaltspunkt zu liefern, falls man in ein paar Wochen ihre zerstückelte Leiche fand. „Damit werden Sie keinen Erfolg haben. Das Netz in dieser Gegend ist noch immer miserabel ausgebaut.“ Wie erbaulich. Sakura fluchte innerlich, da ihr Empfang tatsächlich besorgniserregend schwächelte. „Dann hatte ich wohl Glück“, log sie aalglatt und wedelte triumphierend mit ihrem Telefon, hielt es jedoch mit weiß hervortretenden Knöcheln auf ihrem Schoß umklammert. „Gut für Sie“, sagte er nur. „Darauf sollten Sie sich allerdings nicht verlassen. Sie wären nicht die Erste, die sich im Wald verläuft und krepiert. Aber wenn Sie von hier sind, wissen Sie das natürlich.“ Er grinste süffisant. „Auf Familienbesuch?“ „Unter anderem“, meinte sie ausweichend, während sie weiterhin nach draußen schaute. Die frühe Nachmittagssonne stand hoch. Oberkörperfreie Landwirte arbeiteten auf ihren Feldern. In Konoha wurde noch viel Wert auf Tradition und Handwerk gelegt; die Region lebte hauptsächlich von der Holzindustrie und Onsen-Tourismus, war allerdings auch für ihren vorzüglichen Sake bekannt. Der Taxifahrer brummte und steckte sich eine weitere Zigarette an. Sakura wollte protestieren, ließ es dann aber doch bleiben, weil sie nicht noch mehr das Klischee der versnobten Städterin bedienen wollte und so schon das Gefühl hatte, den Mann beleidigt zu haben. „Pardon, ich wollt Sie mit meinem Geschwätz nicht belästigen.“ „Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich bin nicht besonders gut drauf und… ich war schon ewig nicht mehr…“ Zuhause? In Konoha? Sie presste die Lippen aufeinander und endete den Satz schließlich mit einem nichtssagenden hier. Abermals kreuzten sich ihre Blicke im Rückspiegel. Er sah sie ernst an, als würde er nicht nur verstehen, was sie sagte, sondern was sie meinte. Plötzlich glaubte sie doch, dass er ziemlich gut bei der Damenwelt ankam. „Hier hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel verändert, gar nichts eigentlich.“ „Aber was, wenn ich mich verändert habe?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)