Bazar Noir von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 2: Wurzeln ------------------ 2. Wurzeln „Wir ihr ja wisst, liegen meine Wurzeln in Ägypten – einem Land, in dem Homosexualität leider noch weniger geduldet ist als hier in Japan“, sagte Yami in die laufende Kamera in dem kleinen Studio, das er sich für seinen Youtube-Kanal eingerichtet hatte, „einem Land, in dem homosexuelle Menschen sogar unter Vorwänden verfolgt und bestraft werden und Angst vor dem Gesetz haben müssen. Natürlich macht mich das oft sehr traurig. Heute freue ich mich deshalb besonders, dass ein guter Freund von mir in diesem Video zu Gast ist, dem es genauso wie mir am Herzen liegt, dass sich daran bald etwas ändert. Begrüßt also mit mir meinen Freund Umko Bari, der ebenfalls in Ägypten aufgewachsen ist und jetzt hier in Japan lebt. Hi Umko.“ Yami lächelte seinem Freund mit dem schwarzen, widerspenstigen Haar und den azurblauen Augen ermutigend zu und dieser rückte seine Brille zurecht. „Ja, hi Yami. Ich freue mich auch total, dass du mich gebeten hast, bei diesem Video mitzuwirken!“ „Ganz wichtig zu sagen: Wir können heute hier nur so offen sprechen, weil du nicht mehr die ägyptische Staatsbürgerschaft hast und auch nicht mehr dem ägyptischen Recht unterstellt bist.“ „Ganz genau“, bestätigte Umko. „Umko, erzähl doch mal unseren Zuschauerinnen und Zuschauern ein bisschen über deine Entscheidung, Ägypten zu verlassen.“ Umko nickte. „Also, das hat für mich persönlich schon sehr lange festgestanden. Ich wusste ziemlich früh, dass ich mich nicht für Frauen interessiere, hab aber gleichzeitig auch immer mitbekommen, dass das in meinem Heimatland ein großes Problem ist: Dass Menschen, die so waren wie ich, sich verstecken mussten, und man von niemandem wirklich sicher wusste, dass er oder sie homosexuell ist. Es gab immer nur Gemunkel hinter vorgehaltener Hand. Ja und glücklicherweise stammt meine Mutter aus Japan und ich bin auch zweisprachig aufgewachsen. Deshalb war mir schnell klar, dass ich nach der Schule in Japan studieren wollte. Ich weiß zwar, dass das Thema in Japan leider auch noch nicht so gut aufgearbeitet ist, wie man es sich wünscht, aber da mein Englisch nicht so gut ist, habe ich mir dann doch nicht zugetraut, in ein anderes Land zu gehen. Hier ist es zumindest so, dass man nicht für seine Sexualität bestraft werden kann, sondern es den Leuten egal ist, für wen man sich interessiert, solange man es nicht in die Öffentlichkeit trägt. Und prominente Personen wie du zum Beispiel gehen mit gutem Beispiel voran, indem sie ihr Privatleben offen kommunizieren.“ „Danke, das freut mich zu hören. Es gab aber noch einen Grund, wieso es für dich wichtig war, nach Japan zu gehen, richtig?“ „Richtig. Und zwar stammte mein damaliger Partner aus Japan. Überraschenderweise hatten wir uns in Ägypten kennengelernt und es war natürlich dann erst mal eine große Herausforderung, diese Beziehung geheimzuhalten. Vor allem meinem damaligen Freund, der in Japan vorher schon offen in der LGBTQ-Szene unterwegs war und auch in seiner Familie schon lange dafür gekämpft hatte, sich nicht verstellen zu müssen, ist das schwergefallen.“ „Und da war es dir dann natürlich nochmal wichtiger, dass ihr in ein anderes Umfeld gelangt.“ „Ja, definitiv.“ ~*~ „Danke, dass du dich dazu hast überreden lassen“, sagte Yami grinsend, als er mit Umko später die Uferpromenade entlangschlenderte. Über ihnen erstreckte sich ein strahlend blauer Frühsommerhimmel und die Sonne schien ihnen wärmend in den Nacken. Die geplatzte Hochzeit lag nun ein dreiviertel Jahr zurück und es war eingetreten, was Bakura für Yami vorhergesagt hatte: Er hatte neue Bekanntschaften geschlossen und genoss es regelrecht, Zeit mit Menschen zu verbringen, die nichts von seiner mystisch-antiken Vergangenheit ahnten. Einfach zu existieren. Ohne doppelten Boden. In den vergangenen Monaten hatte Yami einige Dates gehabt, doch er hatte selbst gespürt, dass er eigentlich noch nicht bereit gewesen war, wieder eine feste Bindung einzugehen. Deshalb genoss er in erster Linie nette Gesellschaft und anregende Gespräche. „Nein, nein. Du musst dich nicht bedanken. Ich hab‘ mich echt gefreut, dass du mich gefragt hast“, winkte Umko ab, „Ich find’s wirklich gut, dass du als jemand mit Einfluss was bewegen willst.“ Yami nickte nur. „Wie geht’s dir denn eigentlich?“, hakte Umko nach, wobei er forschend Yamis Gesicht in Augenschein nahm, „ich meine dir als Privatperson, nicht als Influencer.“ Wieder nickte Yami. „Ach, gut soweit. In letzter Zeit war viel zu tun und es blieb wenig Zeit, um in mich zu gehen. Aber doch, es füllt mich aus, was ich mache. Es ist alles okay.“ „Das ist schön“, sagte Umko offen, „ehrlichgesagt finde ich, du wirkst viel selbstsicherer und zufriedener seit deiner Trennung von Kaiba.“ Nun sah Yami etwas verlegen aus. „Ja, da hast du vielleicht Recht. Da war einfach so viel, was ich nicht ausprobiert habe, während meiner Beziehung mit ihm. Das hat alles so viel Raum in meinem Leben eingenommen. Zu viel mittlerweile.“ Umko nickte verstehend. „Und du?“, fragte Yami nun seinerseits nach und sah wieder zu Umko auf, „wie läuft es bei dir?“ „Auch gut“, Umko lächelte, „auch wenn ich mich manchmal frage, was mein Leben noch so für mich bereithalten könnte – ob es das schon gewesen sein soll.“ Yami blieb stehen und wandte sich zu ihm um. „Ja, den Gedanken kenne ich gut. Wenn du Limono zurückhaben könntest, für immer, würdest du es wollen?“, fragte er ernst und unvermittelt. Umko seufzte. „Hach, schwere Frage. Ich weiß es nicht. Aber das spielt keine Rolle. Er wird mir immer entgleiten, wie ein Phantom. Und das führt mich einfach nirgendwo mehr hin. Das weiß ich sicher. Dieser letzte Korb war nur noch erniedrigend. Ich will einfach nicht mehr dieser Typ sein, den alle bemitleiden und über ihn sagen: ‚Der arme Kerl, lernt es einfach nicht.‘“ Yami berührte aufmunternd Umkos Arm. „Na, das hast du immerhin selbst in der Hand. Niemand zwingt dich, in dieser Sackgasse zu bleiben.“ Umko hatte das Pech ereilt, zum bereits dritten Mal vom selben Mann abserviert zu werden – demselben Mann, mit dem Yamis Verlobter und der bekannteste Geschäftsmann Dominos, Seto Kaiba, einen One-Night-Stand gehabt hatte. Erst kurz vorm Trauungstermin hatte Yami gemerkt, dass er Setos Seitensprung nicht richtig aufgearbeitet hatte und nicht bereit dazu gewesen war, Seto zu heiraten. Danach war diese jahrelange Beziehung in die Brüche gegangen. Umkos Ex-Mann hatte die Affäre nichts bedeutet. Sie war nicht der Grund dafür gewesen, weshalb seine Ehe mit Umko wenig später in einer Scheidung endete. Zumindest nicht der einzige Grund. Diese Begebenheiten hatten Umko und Yami, die sich vorher nur flüchtig kannten, einander nähergebracht und nachdem sie sich viel über alles ausgetauscht und ihren Redebedarf gestillt hatten, waren sie gute Freunde geworden. Nicht zuletzt verband sie ihr gemeinsames Heimatland. „Wie sieht es denn beruflich mit einer neuen Herausforderung aus?“, fragte Yami jetzt. „Ja, diesen Gedanken hatte ich auch schon, aber so richtig ausgereift ist er noch nicht“, gab der gelernte Krankenpfleger zu, „aber vielleicht wäre es wirklich schön, mal was Neues zu lernen, obwohl ich meinen Job sehr gerne mache. Und obwohl ich mich erst auf eine andere Station habe versetzen lassen – und das war aufregend genug.“ Auch diese Versetzung hatte er indirekt seinem Ex-Mann zu verdanken, dessen homophober Vater sein ehemaliger Chef gewesen war. Nach einer unangenehmen Auseinandersetzung mit ihm hatte er nicht mehr auf seiner alten Station arbeiten wollen. „Ja, verstehe. Ich meine ja nur: Es gibt ähnliche Optionen“, schlug Yami vor, „ein neues Umfeld, neue Kolleginnen und Kollegen. Überleg's dir mal“ „Okay, danke. Vielleicht werd' ich das.“ Yami selbst arbeitete nicht nur als Youtuber und fürs Fernsehen. An zwei Tagen die Woche ging er seinem erlernten Beruf als Sozialarbeiter nach und betreute bei einer speziellen Anlaufstelle spielsüchtige Jugendliche. Es war ihm wichtig, dass er auch in dem Beruf arbeitete, zu dem er sich mühevoll hatte ausbilden lassen. „Und? Schon Pläne für deinen Heimaturlaub?“, wechselte Yami jetzt das Thema. Er spürte, dass Umko noch Zeit brauchte, sich mit einem Berufswechsel gedanklich auseinanderzusetzen, und wollte nicht weiter in ihn dringen. „Ja, ich fahre in einer Woche schon“, bestätigte Umko, „ich brauche das irgendwie gerade. Ich muss mal raus.“ Yami grinste. „Ehrlich? Bakura und ich fahren in vier Tagen! Ich hab Shadi eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen, ich freue mich schon seit Monaten darauf! Dann überschneiden wir uns ja!“ Shadi war in Yamis Zeit als Pharao dessen Leibdiener gewesen, den er kannte, seit er vier Jahre alt war. Und da der Ägypter sieben Jahre älter war, war er für Yami so etwas wie ein älterer Bruder geworden. Leider sahen sie sich nur sehr selten, da Shadi in Ägypten lebte. Bakura, Yamis bester Freund, der ebenfalls bereits mit ihm aufgewachsen war, hatte eine ebenso starke Bindung zu seinem Heimatland wie Yami. Jeden Sommer zelebrierten sie die Zeit, die sie dort zusammen verbringen konnten. „Wie schön!“, sagte Umko ehrlich, „würde mich freuen, wenn wir mal was zusammen unternehmen!“ Yami lächelte. „Mich auch. Sehr!“ ~*~ Limono Otoya schaltete das Video aus, in dem sein Ex-Mann vor einigen Tagen über die Anfänge ihrer Beziehung ausgepackt hatte, und rollte genervt mit den Augen. „Der redet eindeutig zu viel“, murrte er. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Kopfschüttelnd klappte er den Laptop zu und ging, um zu öffnen. „Hey Taro“, begrüßte er einen Jungen mit Pilzfrisur und riesigem Geigenkoffer auf dem Rücken, „komm rein.“ Als sein Schüler sich wenige Minuten später sortiert hatte, die Geige ans Kinn hob und zu spielen begann, was er geübt hatte, zog Limono kritisch eine Augenbraue nach oben. Nachdem Taro mit seiner Tortur in C-Dur geendet hatte, blickte Limono ihn streng an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast schon wieder nicht geübt“, stellte er trocken fest. „Keine Zeit“, nuschelte Taro betreten und blickte auf seine Zehen. Limono zog die Luft ein. „Taro, was soll ich mit dir machen? Wir können das auch einfach lassen. Wenn du keine Fortschritte machst, machen deine Eltern mich dafür verantwortlich, und dann bin ich den Job ohnehin los.“ „Das ist nicht wahr! Die wissen genau, dass es an mir liegt!“, platzte es aus dem Geigenschüler heraus, „ich hab ihnen auch gesagt, dass ich gar nicht Geige spielen will! Ich will lieber was Cooles lernen, wie Gitarre! Kannst du mir nicht statt der blöden Geige was auf der Gitarre zeigen?!“ Er schielte zu der grünen Telecaster aus Limonos Zeit als Frontmann der Band „Green Leviathan“ hinüber, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Limono seufzte. Seine Gedanken schweiften ab zu einem Tag vor vielen Jahren. Seine Schwester hatte gerade das Haus verlassen, auf dem Weg zum Tennistraining. Mit zitternder Hand und pochendem Herzen drückte der achtjährige Limono behutsam die Klinke ihrer Zimmertür herunter, huschte hinein und drückte lautlos die Tür hinter sich zu. Da an der Wand stand sie: Limettas schöne ¾-Westerngitarre mit Fichtendecke. Eilig nahm Limono sie vom Ständer und schnappte sich das Buch mit dem Titel „Gitarrenschule“. Letzte Woche hatte er bereits den zehnten und elften Akkord geübt. Jetzt musste er sich beeilen, damit er sie noch einmal wiederholen und die nächste Lektion beginnen konnte, bevor Limetta wieder da war. Sollte sie Wind davon bekommen, dass er ihre Sachen benutzt hatte, würde sie ihm die Hölle heiß machen. Vertieft spielte er das Zupfmuster im Buch, stellte zufrieden fest, dass alle Saiten durchgängig klangen, und blätterte dann voller Tatendrang weiter, als sich plötzlich die Tür öffnete und er zusammenzuckte. Doch in der Tür stand nicht Limetta, sondern sein Vater, Dr. Otoya. Limono starrte ihn mit offenem Mund an. „Ich … äh ... ich wollte …“, begann er und wusste eigentlich selbst nicht, was er sagen sollte. Doch Dr. Otoya wartete gar nicht erst auf eine Erklärung seinerseits. Er ging auf ihn zu, nahm ihm bestimmt das Instrument aus der Hand und stellte es zurück auf seinen Platz. Dann hielt er die Hand auf und Limono reichte ihm gehorsam das Buch, das der Chefchirurg der Uniklinik Domino bestimmt zurück ins Regal stellte. „Limono, kannst du denn schon deine Lektion für den Geigenunterricht diese Woche?“, fragte sein Vater streng. „Nein, aber …“, setzte Limono an. Dr. Otoya wandte sich ihm wieder zu. „Dann solltest du dich doch auch nicht von anderen Dingen ablenken lassen, habe ich Recht?“ „Aber … ich will nicht mehr Geige spielen!!“, begehrte Limono wütend auf, „es macht keinen Spaß! Ich will auch Gitarre lernen, wie Limetta! Warum muss gerade ich diese blöde Geige lernen!“ „Limono, das hatten wir schon oft genug: Ihr lernt bereits beide Klavierspielen. Wir möchten, dass ihr auch verschiedene Instrumente beherrscht, damit ihr beide zusammenspielen könnt. Du wirst die Geige lernen, ob es dir passt oder nicht! Wenn du gut genug bist, können wir über ein drittes Instrument sprechen.“ „Nein! Ich will es JETZT!“, schnappte Limono patzig, doch verstummte, als Dr. Otoya sich angsteinflößend in voller Größe vor ihm aufbaute. „Das wird nicht passieren und das ist mein letztes Wort!“, bellte er, „und für dein freches Benehmen hast du eine Woche Hausarrest. Jetzt raus mit dir!“ Limono blieb an Ort und Stelle stehen und rührte sich nicht. Kochend vor Wut schritt sein Vater auf ihn zu, packte ihn schließlich rabiat am Arm und zog ihn aus dem Raum bis hin zu seiner eigenen Zimmertür. Dann ließ er ihn wortlos stehen. Dicke Tränen kullerten über Limonos erhitztes Gesicht, als er die Tür seines eigenen Zimmers zuschlagen ließ. Hasserfüllt starrte er auf die zierliche Violine auf seinem Bett. Er begriff nicht, wieso seine Eltern ihn nicht verstanden, nicht sehen wollten, wofür er brannte. „Otoya-sensei?“, fragte Taro zögerlich, nachdem Limono zum wiederholten Mal nicht reagiert hatte. „Was? … entschuldige.“ Limono schüttelte die Erinnerung ab. Er seufzte. „Also schön. Ich werde mal mit deinen Eltern sprechen und sehen, was ich ausrichten kann, okay? Aber versprechen kann nicht nichts.“ „Ehrlich?“, Taros Augen weiteten sich vor Überraschung. „Das ist … danke!!“, er sprang energisch auf und umarmte Limono stürmisch. Dieser stand stocksteif da und ließ die Geste über sich ergehen. „Okay, kein Ding. Aber unter einer Bedingung: Bis zum nächsten Mal kannst du dieses Stück hier perfekt auf der Geige vorspielen. Ich will sehen, dass du es ernst meinst und die nötige Disziplin aufbringen kannst.“ „Versprochen! Ich werde dich nicht enttäuschen!“, strahlte Taro über beide Ohren. „Also gut, dann mal ab mit dir! Ich will dich nicht mehr sehen, bis du mir was vorspielen kannst, klar?“ Taro nickte eifrig und packte zusammen. Als der Schüler Limonos Wohnung verlassen hatte, umfing den jungen Mann mit den kinnlangen grünen Haaren eine aufdringliche Stille und eine ungewohnte Beklemmung überkam ihn, die ihn tief anrührte. Als er die Tür verriegelt hatte und wieder das kleine Wohnzimmer seiner Dachgeschoßwohnung betrat, blieb sein Blick abermals an der Gitarre an der Wand hängen. Ein deplatziertes Überbleibsel aus einem anderen Leben, wie es schien. Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass er mit seiner Garagenband überraschend einen Charthit landen würde. Mit ihrer Single „Lemonade and Poison“ waren sie über Nacht national bekannt geworden, aber der Plattenvertrag und der damit einhergehende Druck war der Anfang vom Ende gewesen. Heute, mit 27, musste Limono wieder ganz von vorn anfangen. Seine Ehe war in die Brüche gegangen und er hatte er einen riesigen Kredit abzubezahlen für den Club, den er nach dem Band-Aus gekauft hatte. Nun saß er hier und erteilte untalentierten Teenagern Unterricht, statt auf der Bühne zu stehen. Er zuckte verschreckt zusammen, als plötzlich das schrille Klingeln seines Handys seine Gedanken durchbrach. Er atmete einmal tief durch, bevor er abheben konnte. „Ja“, sagte er kurz angebunden in den Hörer. Und dann: „Okay … verstehe. Ja. Ich komme gleich hin. Danke, dass du angerufen hast. Bis dann.“ Einen Moment lang starrte er auf das verstummte Mobiltelefon, bevor er eine weitere Nummer wählte. „Hey Sigi“, sagte er, als die Person am anderen Ende der Leitung sich meldete, „hör zu, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Kannst du vorbeikommen und mich ins Krankenhaus fahren? Mein Vater hatte einen Herzinfarkt.“ ~*~ Limono konnte die beiden grünen Haarschöpfe seiner Mutter und Schwester bereits von Weitem ausmachen, als er und sein bester Freund Siegfried Aoyagi den langen Korridor hinabliefen. Die beiden verstummten, als sie die Neuankömmlinge bemerkten, und wandten sich zu ihnen um. „Hi“, sagte Limono wenig herzlich. Seine Mutter, Midori Otoya, kam dennoch zu ihm herüber und schloss ihn in die Arme. Limono war in etwa so groß wie seine zierliche Mutter, seine Schwester Limetta hingegen war nach ihrem Vater gekommen und war eine sportliche, hochgewachsene Frau. Limetta trat nun ebenfalls näher und nickte ihm zu. „Hey kleiner Bruder.“ Dann schenkte sie Sigi einen kurzen, leicht hochmütigen Blick. „Siegfried“, nahm sie seine Anwesenheit zur Kenntnis, „Immer noch unzertrennlich, ihr beiden, was?“ „Immer noch so charmant wie eh und je“, brummte Sigi zurück. Er und Limetta waren für kurze Zeit verheiratet gewesen, aber genau wie Limonos Ehe hatte auch diese nicht lange Bestand gehabt. Limono und Sigi, die sich kannten, seit Limono 14 war, hatte die Scheidung der beiden nur noch mehr zusammengeschweißt. „Kinder, das ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten“, mahnte Frau Otoya streng. „Wie ist die Lage?“, fragte Limono mit einem Kopfnicken in Richtung des Krankenzimmers, vor dem die beiden Frauen standen. „Er ist von der Intensiv runter und noch ziemlich erschöpft“, informierte ihn Limetta. „Aber er wird wieder gesund“, sagte seine Mutter sichtlich erleichtert. Limono nickte lediglich. Er hatte seit Jahren kein Wort mehr mit seinem Erzeuger gewechselt. Er hatte den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, als er 19 und in der Lage war, auszuziehen. „Zu viel Arbeit, was?“, fragte er nach dem Grund für den unfreiwilligen Krankenhausaufenthalt. Seine Mutter nickte bedrückt. „Dein Vater arbeitet sehr hart. Mit der neuen Professur und allem.“ Vor einigen Wochen war Dr. Otoya auf eine Professur an der Uniklinik berufen worden. „Willst du nicht reingehen?“, hakte seine Mutter nun hoffnungsvoll nach. Limonos Gesicht wurde ernst. Schließlich trat er unentschlossen auf die Tür zu und legte seine Hand auf die Klinke. Er zögerte. All seine Erlebnisse in Krankenhäusern prasselten in diesem Augenblick auf ihn herab wie Hagelkörner, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er rang nach Atem. Im Nacken spürte er die nagenden Blicke seiner Familie auf sich ruhen. Dann hörte er wie Sigi sagte: „Ist es okay, wenn ich auch reingehe?“ Im nächsten Moment war er bei Limono und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Endlich fand Limono den Mut, die Tür zu öffnen. Ohne Gemütsregung trat er ein und ging zum Bett, in dem sein Vater lag – schutzlos und erschöpft. So kannte Limono den sonst so energischen und stattlichen Mann nicht. „Hallo Vater“, sagte er leise. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, stellte Professor Otoya fest. Limono hob beide Hände. „Tja, hier bin ich – Ich denke, du erinnerst dich an Siegfried.“ „Wie könnte ich nicht?“, seufzte der Arzt, dessen ehemaliger Schwiegersohn nie die erste Wahl für seine Tochter gewesen war – geschweige denn für seinen Sohn. Professor Otoyas heteronormative und prestigeorientierte Welt, in der er aus Limono jemanden hatte machen wollen, der er nicht war (sowohl was seine sexuelle Orientierung als auch was seinen Berufswunsch betraf), hatte dafür gesorgt, dass sie einander irgendwann nichts mehr zu sagen gehabt hatten. Also war Limono gegangen. Dorthin, wo er akzeptiert, mehr noch, respektiert und sogar bewundert wurde. Und doch war ein Vermächtnis von seinem Vater ihm geblieben: Das Gefühl, nie gut genug zu sein. „Tut mir leid, dass … dir das passiert ist. Ich hoffe … dir geht es bald besser“, flüsterte er heiser. „Anständig von dir, dass du hergekommen bist“, sagte Professor Otoya, „du warst als Kind nicht gern hier.“ Limono nickte angespannt. Es stand zu viel im Raum, um Worte dafür zu finden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)