Die Gefühle, über die wir nicht reden von Evilsmile ================================================================================ Kapitel 16: Nackt ----------------- Am Montagabend stand der schwarze Smart vor dem Haus, als ich von der Spätschicht heimkam. Außerdem brannte schwaches Lichtoben in meinem Zimmer. Ich wusste jetzt schon, dass mir ein schwieriges Gespräch bevorstand. „Hey, na?“, begrüßte ich Jo, der mich in meinem Zimmer, auf dem kleinen Sofa unter dem Hochbett erwartete, hinter das ich die Lichterkette befestigt hatte. „Hey. Deine Sis hat mich reingelassen.“ Meine Spielkonsole klappte er zu und legte sie auf den kleinen Tisch. Er nickte zu der Tasche am Boden. „Habe dir dein Zeug zurück gebracht, sogar gespült.“ „Das ist lieb von dir. Hunger?“ „Nee. Ich war grade bei David...“ Auch ich verspürte keinen Hunger. Was selten vorkam. Ich nahm auf meinem Schreibtischstuhl Platz, drehte ihn so, dass ich ihn anschauen konnte und überschlug die Beine. „Ich war gestern bei ihm. Wie geht es ihm heute?“ „Sein Zustand ist unverändert, aber in seinem Blut haben sie wirklich eine Substanz gefunden... Alter, diese Familie! Hast du seinen Bruder kennengelernt? Ich würde echt nicht mit David tauschen wollen! Kein Wunder, dass er Drogen nimmt!“ Ich seufzte. „Also doch. Wie ist das eigentlich passiert? Du warst ja live dabei gewesen.“ Er zuckte die Achseln. „Ging alles so schnell, ich hatte keine Ahnung, was überhaupt los war. Plötzlich lag er am Boden. Ich dachte, ich bin im falschen Film! Ich mein, es gab ja nicht mal Alk oder so! Simon war der Einzige, der ruhig Blut bewahrt hat, zum Glück war er gleich da! Ich wusste einfach gar nicht, was ich tun sollte, obwohl ich doch beim Führerschein Erste Hilfe Kurs hatte, das ist gar nicht so lange her...“ „Ich war auch überfordert, obwohl ich im Altenheim arbeite und auf so einen Ernstfall gefasst sein müsste. Linus hatte übrigens eine Panikattacke…“ „Echt?“ „Ja, aber er hatte Tabletten dabei, ich habe mich um ihn gekümmert. Und Pablo? Hast du was von ihm gehört?“ „Boah, keine Ahnung, der ist bestimmt zurück nach Spanien, wo will er sonst hin? Ich habe mich aber vor Noah verplappert und gesagt, dass er auf der Party war. Was für ein arroganter Ekel! Er zeigt Pablo bestimmt nicht an, dafür müsste er der Polizei ja dieses kompromittierende Foto zeigen, und wer weiß, was das für einen Staub aufwirbelt. Ist das nicht viel zu gefährlich, als katholischer Pfarrer solch ein Foto mit sich rumzuschleppen?“ „Kaplan! Noah ist Kaplan, noch nicht Pfarrer.“ „Hä? Wie auch immer. Ich wusste gar nicht, dass David Fotos auf seiner Wanderung gemacht hat, und dann auch noch solche! Jedenfalls, dieser Pablo ist so eine feige Sau. Wenn er Eier hätte, würde er sich selbst stellen. Der kann doch nicht einfach seinen Kumpel unter Drogen setzen und dann einfach abhauen. Toller Kumpel!“ „Kumpel...?“, wiederholte ich irritiert. Das hatten doch wohl alle Partygäste mitbekommen, dass Pablo viel mehr für ihn war, wollte Jo das nicht wahrhaben?! „Ach, du weißt, was ich meine! Ich will das gar nicht so genau wissen, wer jetzt mit wem und überhaupt, und wie rum und so...“ Etwas verlegen nestelte er an seinem Kettenanhänger. Ich ließ mich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. „Okay, wenn das jetzt eine Anspielung auf mich und David sein soll: Ja, da lief was. Aber nichts Ernstes.“ Er schaute mich baff erstaunt an. „Kein Scheiß? Du mit David?! Mann, das ist doch eine Sünde!“, fügte er scherzhaft hinzu. „Nö. Ich bin es nicht, der streng katholisch ist.“ „War das der Grund, wieso Marie Schluss gemacht hat?“ Nein. In diese Richtung würde dieses Gespräch jetzt nicht gehen! „Jo, hör mal zu. Bevor ich nach der Party heimgefahren bin, wollte ich nochmal in deine Küche.“ Scharf sog er die Luft ein, und es war nicht zu übersehen, wie er plötzlich unter Spannung stand, seinee Mimik ließ er sich aber nichts anmerken. „Und...?“ „Ich habe dich und Xia streiten gehört.“ Damit hatte er nicht gerechnet, er kratzte sich am Kopf. „Wofür hast du ihr das Geld gegeben?“ „Dome. Das ist nichts, was dich angeht, oder was du überhaupt wissen solltest.“ „Natürlich geht es mich an, ich höre mir schließlich schon jahrelang dein Gejammer an. Erpresst sie dich?“ „Nein...“ „Du gibst ihr also freiwillig Geld?“ „Dome, das verstehst du nicht!“ „Dann erkläre es mir.“ Schulterzucken. „Was gibt es denn daran zu erklären? Schau mich doch an. Als ob eine wie sie, jemandem wie mich daten würde! Ich habe doch nichts zu bieten.“ „So ein Blödsinn, Jo!“ „Doch! Mit Dreißig habe ich bestimmt eine Glatze und bin halb blind!“ „Und hast dein eigenes IT-Business, und eine Million verdient, so what?“ Das schien ihm zu schmeicheln, und so sprach er weiter: „Also, es fing auf der Halloweenparty an, da habe ich ihr einen Drink ausgegeben. Ihr Kostüm sah mega aus, ein Tokyo Ghoul Cosplay! Wir haben gequatscht, sie schlug dann vor, mal was zu unternehmen, wenn ich sie einlade. Das erste Mal, dass ein Mädchen mit mir ausgehen will! Ja. Dann hatten wir also ein paar Tage später ein Date in diesem japanischen Café in der Innenstadt, und sind danach shoppen gegangen.“ „Shoppen?“ „Schuhe.“ Uff. Ich konnte mir fast schon bildlich vorstellen, wie Jo vor seiner Angebeteten kniete, und ihr die Overknees zuschnürte. „Und die hast du ihr gekauft?“ „Äh. Ja. Ich meinte eher so halb im Scherz, dass ich sie bezahlen könnte als Entschädigung für das Date mit mir… Ach, ich bin so blöd.“ „Auf dem Weihnachtsmarkt neulich….“ „Mann, das fing alles so harmlos an, wir waren ein paar Tage davor im Chinesischen Garten spazieren, wo sie die neuen Stiefel getragen hat, aber sie meinte, sie erscheint dort nur gegen eine Entschädigung, unser Running Gag sozusagen, und ich habe es mitgemacht...“ Er blickte zu Boden, und ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte. Das war so verdammt traurig. „Wie lange willst du das mitmachen? Bis dein Sparbuch leer ist?“ Dazu sagte er nichts. „Naja“, versuchte ich ihn aufzuheitern. „Kannst ja eine Bank hacken.“ „Hör auf dich lustig zu machen, Dome! Du hast ja gut reden. Dir fliegen nicht nur die Mädels zu, sondern jetzt auch noch die Kerle.“ „Eines muss ich dir lassen, das war ein sehr mutiges Coming-Out, Jo! Gehört einiges dazu, zuzugeben, dass man auf Asiatinnen steht, die einen finanziell ausbeuten!“ „Das ist alles so krank!“ Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich bin so pervers! Einfach nur krank!“ „Nein. Du hat einfach nur einen speziellen Kink. Heutztage nichts, wofür man sich schämen muss.“ „Das darf Simon niemals erfahren, hörst du, Dome! Schwör mir das!“ „Von mir erfährt er nichts. Aber die Frage ist doch, ob du damit leben kannst. Wenn ich dir einen Rat geben darfst: Schieß sie in den Wind! Mach das keinen Tag länger mit.“ Sein Gesicht verzog sich. „Ich darf also nie glücklich sein, ja?“, schlussfolgerte er völlig falsch. „Glücklich? Jo, wenn du dein Selbstbewusstsein dadurch aufpolierst, irgendein asiatisches Mädchen an deiner Seite zu haben, um jeden Preis, ist das sicher nicht Glück! Erst recht, wenn du noch zuhause in deinem Kinderzimmer lebst und dich von Mami bekochen lässt.“ „Du wohnst bei deiner Sis, auch nicht besser!“, entgegnete er trotzig. „Aber ich zahle Miete! Außerdem kümmere ich mich um mein ganzes Zeug alleine, Kochen, Putzen, Wäsche, nenn es unmännlich, von mir aus. Musste ich auch schon mit fünfzehn, sechzehn, als ich bei meiner Mutter gewohnt habe, die meistens Nachtschicht im Krankenhaus gearbeitet hat, wo sie vor jedem ihr Burn-out verstecken musste, und ihre Sauferei und Tablettenabhängigkeit! Manchmal lag sie tagelang nur im Bett und ich hab ihre Kotze aufgewischt! Und du, du wohnst im noblen Nordend, so weit ab vom Schuss, wo nur Busse hinfahren, in dem Riesenhaus mit Mutter, Vater und Bruder, die alle kerngesund sind, studierst zielstrebig und wirst es auch zu was bringen, keine Sorge! Also hör auf mich und lass die Finger von diesem Mist, Jo! Wenn du keine Probleme im Leben hast, brauchst du keine gezielt zu suchen, nicht solche!“ Mir war die Hitze richtig zu Kopf gestiegen, ich raufte mir durch die Haare, war richtig in Rage. Ja, vielleicht sprach da wirklich der Sozialneid aus mir... ein klein bisschen ungerecht war die Welt schon. Er starrte mich nur entsetzt an, schien durch diese Standpauke sogar vergessen zu haben, wie man atmete. Stumm erhob er sich, die Lippen schmal und farblos wie bei den Zeichentrickfiguren, die er so verehrte. An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Gut zu wissen, wie du von mir denkst, Dome. Übrigens ist das Riesenhaus noch nicht mal abbezahlt.“ Dann war er weg, mit seinem Smart zurück ins Nordend, aber mir tat es überhaupt nicht leid, ich würde mich nicht entschuldigen! Einer musste ihm diese Standpauke halten, dann war ich es eben, sollte er doch beleidigt sein! Noch nie hatte ich mit Jo über meine Probleme reden können. Er ja auch nicht über seine. Verdammt, ich konnte sogar mit seinem Bruder viel besser reden als mit ihm! Ich wollte eine Dusche nehmen, doch da bekam ich eine Nachricht von Linus, die mich sehr rührte: Kannst du vorbeikommen? Mir gehts scheiße und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen könnte.  ~   Thaddäus Wendelinus Müller. So stand das tatsächlich auf dem Türschild. Schwarz auf Weiß. Ich ließ mir diesen Namen auf der Zunge zergehen und klopfte. „Wow“, begrüßte ich ihn mit einem Grinsen, als er mir die Tür öffnete. „Wie sind deine Eltern denn auf diesen Namen gekommen?“ „Hallo. Ich bin nach meinen beiden Großvätern benannt… aber ich gebe dir Recht, es ist der Jackpot der Scheißnamen.“ Hinter mir schloss er die Tür. Neugierig ließ ich meinen Blick schweifen, in dem Zimmer, das genau wie Davids geschnitten und mit den gleichen billigen Holzmöbeln ausgestattet war. Seine Besitztümer verliehen ihm jedoch eine ganz persönliche Note, vor allem die Bettwäsche mit dem Schachbrettmuster. Das Regal über dem Schreibtisch bog sich leicht, durch das Gewicht von dicken roten Ordnern der Deutschen Gesetze, juristischer Fachliteratur und Schinken von Tolkien, Dan Brown und George R. Martin. Zwei Bände davon passten nicht mehr hinein und lagen obendrauf. Schachspielen, Lesen, Joggen; das waren alles keine Beschäftigungen, bei denen man viel mit Menschen zu tun hatte; Dinge die ja noch nicht mal Spaß machten. Zumindest mir nicht. Umso mehr staunte ich über die edle Flasche mit dem Etikett Laphroaig Irish Whiskey zwischen den Büchern im Regal. Linus folgte meinem Blick, nahm mit einer ausschweifenden Geste die Flasche an sich. „Ein Geschenk zum bestandenen Abi. Möchtest du…?“ „Den willst du opfern heute?“ Eigentlich sollte ich jetzt fragen, wieso es ihm nicht gut ging, denn das war schließlich der Grund meines Besuches. Er zuckte die Achseln. „Bloß einen Schluck. Ich habe aber keine Gläser da, und Eis schon gar nicht…“ „Ach, macht nichts.“ Er setzte sich mit der Flasche auf das Bett und bedeutete mir, neben ihm Platz zu nehmen. „Ich habe David heute wieder besucht. Das ist so scheiße, was passiert ist. Das ist verdammt ernst!“ „Ja. Wirklich große Scheiße. Und auch das mit den Drogen.“ „Das hätte ich von David niemals gedacht.“ „Man kennt einen Menschen nie wirklich.“ Die Flasche geöffnet, reichte er sie mir und ich genehmigte mit den ersten Schluck. Der schwere, torfige Geschmack sorgte schlagartig dafür, dass ich mir mindestens eine Dekade älter vorkam, und ich betrachtete das Etikett, kam mir wie ein Intellektueller vor. „Der war sicher teuer?“ „Kann sein. Damit kenne ich mich nicht aus.“ Er nahm die Flasche an sich, und nahm ebenfalls einen Schluck, mit dem er sehr zu kämpfen hatte. „Linus? Darf ich dich was fragen? Warst du mal mit jemandem zusammen?“ „Wie zusammen?“ „Na feste Partnerschaft halt.“ Er schüttelte den Kopf, stellte die Flasche ab. „Nein, bisher nicht. Dazu wird es wohl auch nie kommen.“ „Wieso?“ „Ja weißt du… Ich bin zwar auf einer Dating-App… Aber immer, wenn ich mit jemandem matche und schreibe, und er ein Treffen vorschlägt… Dann traue ich mich nie, hinzugehen! Ich blockiere ihn, matche den Nächsten, und alles geht von vorne los.“ „Wo verabredet ihr euch denn zum Treffen?“ „Na wo wohl? Hier sicher nicht.“ „Du willst einen wildfremden Typ, dem du nie zuvor begegnet bist, gleich zuhause besuchen?“ „Naja, es wäre ja bloß für Sex.“ „Aber du ghostest die Männer lieber, statt sie zu besuchen? So einer bist du? Eine ziemlich dürftige Strategie für jemanden, der so gut Schach spielt.“ Linus seufzte. „Ich weiß. Ist nicht rational, es nervt mich ja selbst an.“ „Hast du denn schon mit einem Mann…?“ „Was du für Fragen stellst!“ Er verdrehte die Augen und nahm noch einen Schluck Whiskey. Als ich ihn immer noch erwartungsvoll anschaute, meinte er: „Nicht so, wie du denkst… Ich hab mir das ja auch einfacher vorgestellt! Ich dachte, sobald ich endlich in eine Großstadt umziehe, wird alles anders, dann kann ich endlich zu dem werden, der ich immer sein wollte. Aber wie du siehst, nehme ich immer noch Tavor, und ghoste Kerle, anstatt mich von ihnen rannehmen zu lassen! Das Höchste war bisher vor der Cam mit jemanden im Internet! Ich hab auf ganzer Linie versagt!“ Ich schüttelte vehement den Kopf, dennoch beeindruckte mich seine schonungslose Ehrlichkei. „Hast du nicht. Du hast ja noch ein paar Semester vor dir, oder nicht?“ Er gab nur einen wehmütigen Seufzer von sich. „Und deine Familie, weiß die über dich Bescheid?“ „Pf! Der ganze Schulhof hat mich Schwuchtel gerufen, bestimmt ahnen sie was, und dass ich Ballettunterricht haben wollte damals, aber natürlich nicht bekommen habe… Aber meine Familie und ich, wir haben uns ohnehin nicht viel zu sagen. Sie sind ganz anders als ich, die kotzen mich alle so an! Sie geben sich nur so lange mit Leuten ab, so lange sie einen Mehrwert an ihnen haben. Und mit mir als Sohn kann man nicht gerade prahlen.“ „Sag so etwas nicht.“ Er stürzte noch einen Schluck hinunter, seine Wangen waren bereits gerötet. „So ist es aber. Leider bin ich Einzelkind, und mein Vater will, dass ich später in seiner Kanzlei einsteige. Er macht mir Druck, schon seit ich denken kann.“ „Da bin ich ja fast froh, dass ich meinen schon fast zehn Jahre nicht mehr gesehen habe.“ „Echt? Das muss hart sein.“ „Haha, zumindest kann ich ihn nicht enttäuschen. Er hat ja jetzt meinen Halbbruder, der sein ganzer Stolz ist.“ „Auf dysfunktionale Familien!“, sagte Linus und hob abermals die Flasche. Ich nahm sie ihm reichte sie dann weiter an mich. Soviel dazu, nur einen Schluck. „Darf ich dich mal was Indiskretes fragen?“ „Was kann denn noch indiskreter sein, als deine Frage vorhin?“ Ich wischte auf dem Display herum und hielt es dann vor ihn hin. „Ist der da dein Typ?“ Linus betrachtete das Profilfoto von Sandro und runzelte die Stirn. „Nein, deiner etwa?“ „Hm. Also…vor ein paar Wochen hätte ich definitiv Nein gesagt. Aber jetzt will ich ihn noch besser kennenlernen…“ „Schreib ihm, worauf wartest du noch?“ „Was soll ich denn schreiben?“ „Dir wird schon etwas einfallen.“ Wirklich, ich wollte Sandro so schnell wie möglich wiedersehen. Ich nahm mein Handy, öffnete das Chatfenster. Seit meiner Nachricht gestern hatte keiner von uns mehr geschrieben. Meine Finger tippten schneller, als es in meinem leicht beschwipsten Zustand gut für mich war: [block Will dich bald weitersehen! „Shit!“, entfuhr es mir in derselben Sekunde, und ich fasste mir an den Kopf. Weitersehen?! Blöde Autokorrektur! Linus kicherte vor Schadenfreude. „Morgen bereust du das, wetten?“ Ich wollte den Text löschen - doch da erschienen bereits blaue Häkchen!  „Neiiin…!“, wimmerte ich. „Hat er es schon gelesen?“, fragte Linus. „Was hast du denn geschrieben?“ „Nur Mist. Oh Mann!“ Ich packte das Handy weg. „Was mach ich, wenn er…“ „Wenn er was?“ „Du weißt schon!“ „Hm…?“ „Na wenn er mir bald seine Weißwurst reinstecken will!“ Es war der Alkohol, der mich diesen Gedanken laut aussprechen ließ, und ich musste selbst lachen, wie sich das anhörte. Linus kicherte los und kriegte sich nicht mehr ein. „Dann solltest du dich glücklich schätzen.“ „Oh Mann, ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin.“ „Dafür gibt’s es Hilfsmittel.“ „Ich meine, generell. Ich glaub ich packs nicht, gay zu sein. Bis vor kurzem fand ich Kerle überhaupt nicht geil, weißt du, ich hatte eine Freundin!“, sprudelte es aus mir heraus. „Und plötzlich ist alles anders! Da ist dieses Feeling, wenn ich so angesehen werde. Von einem anderen Kerl! Das ist ganz neu. Meine Antennen haben sich um hundertachtzig Grad gedreht. Vorher dachte ich, ey ich will genau so aussehen wie er! Jetzt denke ich: Verdammt, ich will ihn berühren! Ihm ganz nah sein. Das ist doch… ich kapier die Biologie dahinter nicht! Wie sich das so krass verändern kann.“ Es musste der Alkohol sein, der bereits Wirkung zeigte. Stumm hörte Linus mir zu, dann fragte er. „Du hast eine Freundin gehabt?“ „Ja.“ Linus nahm schweigend noch einen Schluck. Mein Blick fiel auf den bodenlangen Wandspiegel neben seiner Zimmertür. Beim Aufstehen wurde mir kurz schwindelig, doch ich ging mutig auf den Spiegel zu. Betrachtete mich kurz, dann zog ich mein Shirt aus und warf es über den Kopf. „Was gibt das?“, fragte Linus, als ich meine Jeans aufknöpfte. „Wonach sieht es denn aus?“ Ich stellte den Timer meines Handys auf zehn Minuten, genau wie es Simon mir geraten hatte, dann trat ich mich aus der eng sitzenden Jeans heraus. „Du lässt aber die Unterhose…“, begann Linus, doch zu spät, meine Boxershorts streifte ich just in diesem Moment ebenfalls ab. Nackt war die Devise! Hüllenlos von Kopf bis Fuß. Also auch konsequent die Socken aus. Als ich mich bückte, um diese auszuziehen, musste ich mich an der Wand festhalten, sonst hätte ich das Gleichgewicht verloren. Meine nackte Pracht begutachtete ich im Spiegel. Drehte mich erst zur einen Seite, dann zur anderen, warf mir selbst Blicke über die Schulter zu. Vom fiesen Sonnenbrand im Freibad diesen Sommer war fast nichts mehr zu sehen. Ich wünschte, die Haut, der Teint wäre das einzige, das mich an meinem Körper störte... Ich konnte mich nicht an eine Zeit zurückerinnern, wann ich jemals mit ihm zufrieden gewesen war, außer vielleicht in frühester Kindheit. Mein Körper, den nur eine Handvoll Leute nackt gesehen hatten. Wie es wirken würde, wenn Sandro neben mir stünde? Er, ausgewachsen, viel Bartwuchs, mit seinen Muskelpaketen, breiten Schultern und kräftigen Oberarmen, kurz gesagt, der fertige Mann… und daneben der klägliche Versuch davon, bei dem zehn weitere Jahre und Kraftsport auch nichts nützen würden, denn ich trug die Gene meines Vaters in mir. Ich musste grunzen vor Lachen, es war einfach zu grotesk. Bauch einziehen hatte ich aufgegeben. Hoffentlich erlöste mich bald der Timer. Ich hörte nackte Füße über den Boden tapsen, schaute über die Schulter und da sah ich Linus näherkommen, ebenfalls nackt. Er stellte sich neben mich, betrachtete seinen schlanken, drahtigen Körper ebenfalls im Spiegel und ich konnte nicht wegsehen. Um die Zeit schneller herum zu bekommen, machte ich die Dance-Moves von John Travolta aus Pulp Fiction nach – wenn schon schräg, dann richtig! Linus lachte los und ich stimmte mit ein. Wir überboten uns mit immer schrägeren Darbietungen und Tanzeinlagen aus Filmen und Videoclips. „I haaaad the time of my life!“, trällerte er, drehte eine Pirouette, dann sprang er in die Luft und breitete die Arme zur Seite. Es war sicher das Bizarrste, was zwei Menschen jemals nackt im Zimmer dieses Wohnheims angestellt hatten. „Ohne Körper kein Tanzen…“, sinnierte ich. Der Timer piepste vor sich hin. Schade. So schnell. Ich stoppte den Alarm, seufzte. „Du, ich muss heim, bevor der Alk zu wirken beginnt.“ Linus‘ Antwort darauf war ein höhnisches Lachen. „Ne, echt jetzt. Ich muss morgen arbeiten.“ „Das kannst du volle Kanne knicken. Das Ding hat fast vierzig Prozent und wir haben verdammt viel getrunken! Tun wir lieber so, als ob es kein Morgen gäbe!“ Linus warf sich nackt wie er war aufs Bett, und das sah elegant aus, fast verführerisch, mir tat es in diesem Moment so leid für ihn, dass er heute alleine zu Bett gehen musste. „Ich denk nicht, dass ich es morgen in die Vorlesung schaffe, und das wäre meine Prämiere. Daran bist nur du schuld, Dom! Du bist doch totaaaal verrückt… Nackt tanzen… So crazy! Los, komm her und vögel mich!“, sagte er plötzlich im Befehlston. Er streckte mir sogar seinen nackten Hintern entgegen. „What the fuck?!“ „Du hast doch nicht mit deinem Dicken vor mir herumgewedelt, und I'm sexy and I know it gesungen, um jetzt einfach nach Hause zu gehen?“ Mit offenem Mund stand ich da. Klang aber logisch, wie er das sagte. Ich ging so wie ich war, auf sein Bett zu. Das solltest du besser lassen, warnte die allerletzte noch nüchterne Zelle in meinem Gehirn. Alle anderen, vor allem diejenigen unterhalb der Gürtellinie, wollten das genaue Gegenteil davon, und warum auch nicht? Besser mit mir, als mit irgendeinem Wildfremden aus dem Internet, der es nicht gut mit ihm meinte. Es kam mir wie der einzig richtige Schachzug vor. „Hast du Gummis da?“ Linus streckte seinen Arm zu seinem Nachttisch aus und öffnete die Schublade, so ruckartig, dass ein Dildo nach vorn rollte, und warf mir ein pinkes Lacktäschchen zu. Ich öffnete den Reißverschluss, entnahm eines der Kondome und ein Tütchen Gleitgel. „Du bist so warm“, sagte Linus mit einem wohligen Seufzen, als ich mich an seinem Körper rieb wie ein Bär an einer Baumrinde. Seine Pobacken besaßen die Konsistenz von Brotteig, man musste sie einfach kneten dabei. Beächtig tastete ich mich an die Öffnung heran, die ihr Eigenleben entwickelt hatte, erst mal mit dem Finger… Das war ich live: Dominique Kamhart, neunzehn Jahre alt, sturzbesoffen in einer heruntergekommenen Studentenbude, steckte einem anderen Kerl den Finger in den Arsch. Und das fühlte sich nicht schlecht an. Ich versank regelrecht in seiner Wärme, seiner Enge, immer tiefer, vernahm sein Stöhnen. Ich war so bereit, aber war er es auch? Er hätte sonst etwas gesagt, nicht wahr? Es kam nur ein gedämpftes Stöhnen aus dem Kissen, als ich in ihn eindrang. Hätte er es sich anders überlegt, ich wüsste nicht ob ich aufhören könnte. Wollte. Nicht meine Lenden gaben den Ton an, sondern Linus dirigierte mich in sein Inneres, empfing mich begierig. Seine Hüften bewegten sich so geschmeidig dabei, er sagte Dinge, die er im nüchternen Zustand wohl niemals von sich gegeben hätte. Ich gab mich ganz unserem wilden Treiben hin, die Geräusche, die der marode Lattenrost dabei von sich gab, schienen ihn dabei nicht zu stören, machten ihn vielleicht sogar noch an. Linus´ Höhepunkt, sein Pulsieren, sein Keuchen riss mich mit, der verflucht geile Laut, den er von sich gab, mein ganzer Unterleib erbebte und ich ließ alles frei, was aus mir raus wollte. Wie paralysiert schaute ich einen Moment später an mir herunter, streifte das gefüllte Kondom ab und knotete es zusammen. Irgendwie fand ich in sein Bad, wo ich es im Müll entsorgte und mir die Hände wusch. Als ich zurückkam, hatte sich Linus mit seiner Schachbrett-Decke notdürftig zugedeckt und schlief schon. Gut so. Ich wollte nur noch nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)