Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Prolog: -------- Flandern, April 1915   Ezra rannte. Seinen Helm hatte er irgendwo auf dem Weg verloren, genau wie den Tornister, die Waffe und seine Hoffnung. Kahle Bäume säumten seinen Weg, doch er beachtete sie nicht. Fort, nur fort von dem Grauen, das er gesehen hatte und nicht wieder vergessen konnte.   Wie ein Geist war es über sie gekommen. Eine riesige, gelbgrüne Rauchwolke begleitet vom Krachen des Artilleriefeuers. An eine Ablenkung hatten sie gedacht. Ein Täuschungsmanöver, das das Annähern der fremden Soldaten verschleiern sollte. Mit dem Gewehr im Anschlag hatten sie gelauert, dass der Feind aus den dicken Schwaden auftauchte und sich dem Kampf stellte. Was wirklich geschehen war, hatte niemand von ihnen erwartet. Ein Stein ließ Ezra stolpern und stürzen. Haltlos rutschten seine Hände über den schlammigen Boden. Ein scharfer Schmerz durchbohrte sein linkes Knie. Fluchend rappelte er sich auf. Der Stoff seiner Uniformhose nass und dunkel. Weiter, nur weiter. Weg von dem Horror, den verzerrten Gesichtern. Blau, rot und schwarz angelaufen. Mit Schaum vor dem Mund, die Augen weit aufgerissen und aus den Höhlen quellend. Stotternd, sabbernd, keuchend und röchelnd. Mit blutig gekratzten Kehlen, als hätten sie versucht sie zu öffnen, bevor sie zu Boden stürzten. Ihre Kameraden über sie hinweg trampelnd auf der Flucht vor dem lautlosen Tod. Die meisten hatten es nicht geschafft.   Ein Waldstück tauchte am Horizont auf. Dort würde er in Sicherheit sein, wenigstens eine Weile lang. Bis er wieder zu Kräften gekommen war. Bis der Sturm sich gelegt hatte. Bis sie nicht mehr nach ihm suchten. Irgendwann. Humpelnd setzte Ezra seinen Weg fort. Im Schlamm blieb ein blutiger Abdruck zurück.     Ein Geräusch ließ Ezra aufhorchen. Finster war es geworden, sodass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Der Wind ließ die Wipfel der Bäume um ihn herum rauschen und knarren. Er überdeckte jedoch nicht das Hufklappern und das Scharren der Kutschenräder, das sich ihm eilig von hinten näherte. Wer immer dort unterwegs war, meinte es nicht gut mit Pferd und Wagen.   Schnell schlug Ezra sich in die Büsche. Es knackte unter seinen Füßen, altes Laub raschelte und Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Endlich fand er einen Baum, der breit genug war, um ihm Deckung zu bieten. Ohne zu zögern bezog er dahinter Stellung, presste sich gegen den Stamm und lauschte.   Die Geräusche kamen näher. Schon konnte er das Stampfen und Schnauben der Pferde hören. Nicht lange, und sie würden in Sichtweite kommen. Vorsichtig lugte er um den Baum herum. Viel erkennen konnte er nicht. Nur eine einzige, trübe Lampe neben dem Kutschbock beleuchtete das Gespann, das von zwei riesigen, schwarzen Kaltblütern gezogen wurde. Als es näher kam, zügelte der Fahrer die Tiere.   „Ho!“   Nur wenige Meter entfernt blieb die Kutsche stehen. Der Kutscher saß nach wie vor auf dem Bock und rührte sich nicht. Da plötzlich ging die Tür auf und Ezra konnte eine Stimme aus dem Inneren hören. „Geh nachsehen“, sagte sie.   Eindeutig eine Frau.   Ezra entspannte sich. Das Gefährt war offenbar nicht auf der Suche nach ihm. Harmlose Reisende, die …   „Bist du sicher?“, fragte ein Mann zurück. Seine Stimme klang jung und ein wenig heiser.   „Ja. Er ist hier. Ich habe es gespürt. Geh!“   Die Stimme duldete keinen Widerspruch. Ezra spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Da war etwas faul. Warum hatten sie ausgerechnet hier angehalten? Wen suchten sie?   Noch einmal wagte er einen Blick zu dem seltsamen Gefährt. Die Tür der Kutsche stand jetzt offen und erlaubte einen Blick in das beleuchtete Innere. Dick mit rotem Samt ausgepolsterte Sitze boten ausreichend Komfort auch für längere Reisen. Goldfunkelnde Ornamente ließen sie kostbar aussehen. Dem tadellosen Zustand nach zu urteilen hatten ihre Besitzer Geld. Viel Geld. Doch was wollten sie hier mitten in der Nacht im Wald?   „Hab ich dich.“   Ezra wirbelte herum, doch er war nicht schnell genug. Eine Hand packte ihn an der Kehle und schleuderte ihn mit dem Rücken gegen den Baum. Zwei leuchtende, blaue Augen funkelten ihn aus der Dunkelheit heraus an.   „Mutter wünscht dich zu sehen.“   Ezra wusste, dass er sich wehren sollte. Ausholen, um sich schlagen, zutreten. Alles, nur nicht zulassen, dass ihn der Fremde wie ein junges Kaninchen am Genick packte und in Richtung des Weges schleifte, wo er mühelos herumgeschleudert und auf die Knie gezwungen wurde. Mit pochendem Herzen und zitternd wie Espenlaub kniete er im Matsch. Eine sanfte Frauenstimme erklang irgendwo über ihm. „Darnelle, lass ihn los. Du siehst doch, dass er Angst hat.“   Die Hand in seinem Nacken wich. Ezra wagte nicht, den Kopf zu heben. „Sieh mich an, Junge.“   Süßer Zwang schob sich unter sein Kinn und hob es an, sodass er jetzt sehen konnte, wer mit ihm sprach. Ezra stockte der Atem. Die Frau war unbeschreiblich schön. Weiße, makellose Haut, tiefschwarze Haare, die sich in glänzenden Strähnen um ihre Schultern legten, und ein roter, voller Mund, der von Süße und Sünde sprach. Ezra konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Erst, als sie zu lächeln begann, löste er seinen Blick und sah ihr in die Augen.   „Woher kommst du, Junge?“   Ezra wagte nicht zu antworten. Er wollte sich eine Geschichte ausdenken, dass er aus einem Dorf in der Nähe sei und sich des Nachts im Wald verlaufen habe oder etwas ähnliches, aber kein Wort kam über seine Lippen. Schließlich schnaubte der Mann in seinem Rücken belustigt. „Vielleicht versteht der arme Teufel unsere Sprache nicht.“   „Ich verstehe sie“, beeilte Ezra sich zu versichern. „Es ist nur …“ Die Worte erstarben in seinem Mund. Der dritte Fahrgast, ein gediegener Herr mit Anzug, grauem Schnurrbart und Zwicker, lehnte sich vor und betrachtete ihn.   „Nicht viel dran“, brummte er. „Kanadier, wie es aussieht. Das erklärt, warum er uns versteht.“ Die Dame – Ezra konnte sie nicht anders nennen – lächelte wieder. Der seidige Stoff ihres Kleides raschelte, als sie den Kopf ein wenig zur Seite lehnte. „Ist das so?“   Ezra nickte. Das Land, so viele Seemeilen weit weg, aus dem er gekommen war, schien plötzlich unwichtig. Der Krieg? Unwichtig. Seine schmerzenden Knie und sein knurrender Magen? Unwichtig. Nur dieses Lächeln, diese warmen, vollen Lippen, nach denen er sich sehnte, sich verzehrte, sie allein waren es wert, dass er weiter atmete. „Darnelle, hilf ihm hoch.“   Sein Begleiter packte ihn erneut und zerrte ihn auf die Füße. Erst jetzt sah Ezra sein Gesicht. Er war ein oder vielleicht zwei Jahre älter als er selbst. Rote, halblange Locken umrahmten ein schmales Gesicht und diese unheimlich blauen Augen, die Ezra schon vorhin in ihren Bann gezogen hatten. Auch sein Häscher lächelte.   „Du freust dich wohl“, wisperte er und trat dabei ganz nahe an Ezra heran. „Kannst es gar nicht erwarten, was? Ich kann hören, wie dein Herz schneller schlägt. Wie es das Blut durch deinen Körper pumpt. Schlag. Für Schlag. Für Schlag.“ Sein Atem strich warm über Ezras Hals. Er spürte die Nähe des anderen Mannes wie eine erdrückende Präsenz. Ein Stöhnen sammelte sich in seiner Kehle. Nur mit Mühe konnte er es zurückhalten.   „Wir nehmen ihn mit“, bestimmte die Dame. Der Mann, den sie Darnelle genannt hatte, knurrte. „Warum die Mühe? Lass es uns gleich hier tun.“   Ezra war geneigt, ihm zuzustimmen. „Nein. Er gefällt mir. Ich möchte ihn mitnehmen. Wer weiß. Vielleicht überrascht er uns ja.“   Darnelle war anzusehen, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war, aber er fügte sich. Betont freundlich trat er von Ezra zurück und deutete mit einer leichten Verbeugung auf die offene Wagentür. „Bitte nach dir.“   Ezra war klar, dass dies keine Einladung war. Es war ein Befehl, dem er Folge zu leisten hatte. Noch ein letztes Mal bäumte sein freier Wille sich auf. „Und wenn ich nicht einsteige?“, fragte er. Darnelles Lippen zogen sich in die Breite. „Ist es wirklich das, was du möchtest?“   Die drei Passagiere der Kutsche wandten sich Ezra zu. Sie betrachteten ihn, als hätte er wirklich eine Wahl. Als würden sie respektieren, was er antwortete. Ezra schluckte.   „Wohin werdet ihr mich bringen?“ Er wusste, dass keine Förmlichkeit mehr vonnöten war. Sein Schicksal war ohnehin besiegelt. Die Dame in der Kutsche lächelte.   „Wir werden noch eine Weile weiter gen Süden reisen und dann in einem Gasthaus einkehren. Dort kannst du baden, bekommst etwas zu essen und frische Kleidung.“ „Und dann?“   Irgendetwas tief in Ezra wusste, was danach passieren würde, und doch wollte er es hören.   Noch einmal lächelte die Dame. „Dann werden wir speisen“, erwiderte sie und hob ihre Lippen das erste Mal so weit, dass Ezra ihre Zähne sehen konnte. Sie waren weiß, ebenmäßig und absolut perfekt.   Kapitel 1: Ein schrecklicher Abend ---------------------------------- New York, heute   Das Licht einer Taschenlampe huschte unruhig über die endlosen Reihen der Grabsteine. Officer Ralph Mello, dem sie gehörte, brummte dazu. Das war jetzt schon die vierte Nacht, in der er hier unterwegs war. Angeblich wollten Anwohner etwas bemerkt haben. Bewegungen, Stimmen und sogar einen Schrei. Bisher hatte er jedoch nichts entdecken können, das auch nur den Hauch eines Verdachts erregte. „War vermutlich eine verdammte Katze“, knurrte er und blieb stehen, um in den Tiefen seiner Uniformjacke nach einem Taschentuch zu suchen. Als er es gefunden hatte, schnäuzte er sich geräuschvoll und steckte es dann umständlich wieder ein. Dieser verdammte Heuschnupfen. Als wenn es nicht genug wäre, dass er nachts hier herumschleichen und Verbrechern nachjagen musste, die es gar nicht gab.   Die Ulmen über ihm rauschten im kalten Nachtwind. Die Luft war eisig und auch, wenn er natürlich keine Angst vor Gespenstern hatte, war so ein Friedhof ein verdammt ungemütlicher Ort, um sich nachts dort herumzutreiben. Sein Partner, der auf der andere Seite des Anwesens unterwegs war, saß vermutlich schon längst wieder im warmen Streifenwagen. „Dreckskatze!“, fluchte er noch einmal und machte sich daran, den Heimweg anzutreten, als er etwas entdeckte. Unregelmäßig und dunkel hob es sich gegen die ansonsten ebene Rasenfläche ab. Es sah fast so aus wie …   „Erdhaufen?“   Officer Mello runzelte die Stirn und hielt die Lampe höher. Tatsächlich. Dort zwischen den Grabsteinen hatte jemand ein Loch gebuddelt. Und nicht nur das. Wer immer es gewesen war, hatte auch noch den Sarg, der sich darin befunden hatte, geöffnet und die darin befindliche Leiche … war weg.   Officer Mello riss die buschigen Augenbrauen nach oben.   „Ach du Scheiße!“ Noch einmal leuchtete er in das Loch. Es war wirklich verdammt tief. Und verdammt leer.   „Die ham doch den Arsch offen. Na warte!“   Seine Hand griff zum Funkgerät, um Verstärkung zu rufen, als er plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Sofort ließ er das Funkgerät Funkgerät sein und riss stattdessen seine Waffe aus dem Holster. „Halt, stehenbleiben! Polizei!“   Er zielte in die Richtung, in der er die Bewegung ausgemacht hatte. Im geisterhaften Schein der Taschenlampe konnte er jedoch niemanden erkennen. Um ihn herum war nur Schwärze und Dunkelheit. Der Wind brachte die Bäume zum Rauschen. „Hier ist die Polizei“, rief er noch einmal. „Kommen Sie mit erhobenen Händen raus. Oder wir eröffnen das Feuer.“   Wieder antwortete niemand. Der Friedhof war totenstill bis auf das Rauschen der Bäume. Die Sache gefiel Officer Mello nicht. Sie gefiel ihm ganz und gar nicht. Das Gefühl, dass dort jemand war – jemand, der ihn anstarrte, ihm auflauerte – wurde stärker. Eine eisige Gänsehaut kroch seinen Rücken hinauf. „Stehenbleiben!“   Die Dunkelheit antwortete nicht. Sie zog sich im Gegenteil nur noch enger zusammen. Unsicher machte er einen Schritt rückwärts. Und dann noch einen. „Du hättest nicht herkommen sollen.“   Officer Mello wirbelte herum und schoss. Im Mündungsfeuer konnte er ganz kurz das Gesicht eines Mannes aufleuchten sehen. Er war etwa Anfang 20, mit dunklen, halb langen Haaren und in seinem Mund …   „Oh Scheiße!“   Das Licht erlosch und im nächsten Augenblick fühlte Officer Mello sich gepackt. Seine Waffe wurde ihm aus der Hand geschlagen und noch während sie zu Boden fiel, wurde sein Kopf brutal zur Seite gerissen. Er schrie, als spitze Zähne sich in seinen Hals bohrten und die Schlagader aufrissen. Sein Schrei ging in ein Gurgeln über, als das Blut seine Kehle füllte.   „Du hättest nicht herkommen sollen“, wiederholte die Stimme des Fremden.   Das Letzte, was Officer Mello sah, war der Mond, der langsam über der Stadt aufging. Danach fühlte er gar nichts mehr.         „Wow, guck dir den an!“   Marvins Augen klebten an den halbnackten, sich im Rhythmus der harten Beats bewegenden Körper. Die Tanzfläche des Clubs war gerammelt voll. Nathan mochte sich gar nicht ausmalen, was hier jeden Abend an Umsatz gemacht wurde. Allein der Eintrittspreis hatte ihn einen halben Wochenlohn gekostet. Und jetzt stand er hier und sah einem Haufen schwitzender Kerle beim Tanzen oder was immer das darstellen sollte zu, während er immer wieder an einem Drink nippte, für den er ebenfalls das Doppelte des sonst üblichen Satzes auf den Tisch gelegt hatte. Aber was tat man nicht alles für einen Freund.   „Wen meinst du?“, fragte er daher pflichtschuldig, denn natürlich würde er auch dieses Spiel mitspielen.   „Na, das Sahneschnittchen da. Der mit dem Spitzbart und den Muskeln.“ Marvin schob sich den Strohhalm seines Cocktails zwischen die Lippen. „Also von dem würd ich mich gerne mal flachlegen lassen. Der kann bestimmt die ganze Nacht.“   Nathan prustete in sein Glas. „Und dann heulst du mir wieder die Ohren voll, weil du nicht richtig sitzen kannst.“   Marvin plusterte sich auf wie ein empörter Pfau. „Ich rede ja auch nicht davon, dass der einfach blind drauflos rammeln soll. Mein Körper ist schließlich ein Tempel. Da darf nicht jeder rein.“   „Das solltest du dir vielleicht auf ein T-Shirt drucken lassen“, stichelte Nathan. Marvin streckte ihm die Zunge raus.   „Du bist doof. Als wenn du es nicht wieder mal nötig hättest. Wie lange ist Christian jetzt schon weg? Zwei Monate? Drei? Auf die Dauer brauchst du auch mal wieder was zwischen die Beine.“   Nathans Miene verfinsterte sich, während Marvin sich schmollend wider seinen Betrachtungen widmete. Flackernde Lichter setzten die Tänzer in Szene und die Luft war geschwängert von künstlichem Rauch und dem Geruch nach Moschus, Schweiß und Eau de Cologne. Nathan schüttelte es bei dem Gedanken, aber er wusste, dass er vermutlich früher oder später dort unten landen würde. So wie es immer lief, wenn sie zusammen ausgingen. Schon jetzt wippte Marvin ungeduldig mit dem Fuß und bewegte die Hüften im Takt der Musik.   Mit einem lautlosen Seufzen stieß Nathan seinen Freund an. „Ich hab’s nicht so gemeint.“   Sofort wirbelte Marvin zu ihm herum. Sein Gesicht ein Abbild der Reue. „Ich auch nicht. Das war gemein von mir. Du hattest ganz recht damit, dich von diesem gefühllosen Troll zu trennen. Also was sagst du? Ich hole uns noch was zu trinken und dann stürzen wir uns ins Getümmel, ja?“   Nathan nickte, obwohl er eigentlich dran gewesen wäre, die nächste Runde zu bezahlen. Eine wortlose Entschuldigung, die er dankend annahm.   An der Bar herrschte ein ziemliches Gedränge und Marvin musste lange warten, bis er sich endlich zwischen den fast ausnahmslos größeren Gestalten hindurchgequetscht hatte. Kaum war er jedoch am Tresen angelangt, wurde ein Platz neben ihm frei. Mit einem dramatischen Augenrollen drehte er sich um und grimassierte in Nathans Richtung. Der lachte und gab seinem Freund einen Daumen nach oben.   Das Lächeln gefror jedoch auf seinem Gesicht, als sich drei Typen neben Marvin an die Bar drängten und ihn dabei grob zur Seite stießen. Mit wachsender Unruhe beobachtete Nathan, wie sein Freund einem der drei höchst angesäuert auf die Schulter tippte. Der Typ – ein Hunk mit aufgepumpter Figur, kurzgeschorenem Nacken und ultramaskuliner Ausstrahlung – drehte sich grinsend zu ihm herum. Er musterte Marvin mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten, beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nathan konnte selbst auf die Entfernung sehen, wie sein Freund die Kiefer aufeinanderpresste. Marvin funkelte den Typen an, fauchte ihm etwas ins Gesicht, drehte sich auf dem Absatz herum und rauschte in Richtung der Toiletten davon. „Scheiße!“   Eilig stellte Nathan sein Glas ab und stürzte durch die feiernde Menge hinter Marvin her. Den Protest ignorierend, den ihm der Einsatz von Knien und Ellenbogen dabei einbrachte, gelangte er endlich zu dem Raum mit dem pinken Männlichkeitszeichen an der Tür. Entschlossen stieß er sie auf und stürmte nach drinnen.   Vor den Pissoirs standen einige Typen. Keiner von ihnen war Marvin. „Na, was gefunden, das dir gefällt?“, wollte einer der Pinkelnden wissen und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Nathan antwortete ihm nicht, sondern schlängelte sich weiter in Richtung der Kabinen. Aus einer von ihnen kamen höchst eindeutige Geräusche. Anscheinend waren die Protagonisten kurz davor. „Marvin?“, fragte Nathan mit wenig Hoffnung. Aus der Kabine kam ein Lachen. „Nein, aber wenn er will, kann er gerne der Nächste sein.“   „Äh, danke. Ich glaube, er verzichtet“, gab Nathan zurück und ging weiter den Gang entlang. Wo steckte der Idiot denn bloß?   „Nathan?“, kam es kläglich von irgendwo weiter hinten, „Ich bin hier.“   Nathan hörte, wie die Tür der letzten Kabine entriegelt und dann geöffnet wurde. Drinnen saß Marvin auf der randlosen Schüssel und bemühte sich offenbar, nicht allzu sehr an seinen Augen herumzuwischen. Einen Teil des blauglitzernden Lidschattens hatte er trotzdem bereits verschmiert. Seine Hände zitterten. „So ein Arschloch“, schimpfte er. „So ein verdammtes, weißes, rassistisches Arschloch. Ich hätte ihm in die Eier treten sollen oder sie ihm am besten gleich abreißen. Damit hätte ich der Welt einen Gefallen getan.“   Nathan verzog das Gesicht. „So schlimm?“   Marvin schnaubte.   „Schlimmer. Er hat mich gefragt, ob ich kleine Schokopraline nicht Lust auf ne Füllung hätte. In einem Tonfall, als müsste ich mich noch glücklich schätzen, wenn er sich dazu herablässt, mich zu ficken.“   Nathan stöhnte.   „Was für ein Arsch! Und was hast du ihm geantwortet?“   Marvin schniefte und begann zu grinsen. „Ich hab ihm gesagt, dass ich auf sein Magermilchjoghurt verzichten kann. Und dann bin ich abgehauen. Ich hatte echt Angst, dass er mir eine reinhaut.“   Nathan lachte nur halb erleichtert. Tadelnd sah er seinen Freund an.   „Das hätte wirklich ins Auge gehen können. Du weißt, wie solche Kerle sind.“   Marvin seufzte. „Natürlich weiß ich das. Aber kann ich ihn doch nicht einfach damit durchkommen lassen. Der denkt doch sonst, dass er die Krone der Schöpfung ist und alle Bottoms sich ihm mit dem Arsch zuerst präsentieren müssen, damit er sich den schönsten auswählen kann. Man, ich hasse solche Kerle. Ich hasse sie wirklich.“   In diesem Moment rauschte in einer der Kabinen die Spülung. Die Tür öffnete sich und ein dunkelhaariger, sonnengebräunter Typ kam heraus. Er trug eine enge Jeans und ein schwarzes Tanktop, das mehr von seinem Oberkörper entblößte als verdeckte. Als er sie im Gang stehen sah, lächelte er. „Sorry, ich wollte nicht lauschen, aber ihr wart kaum zu überhören, also …“ Er zögerte kurz und Nathan war sich bewusst, dass er sie abcheckte. Und dass Marvin wie so oft durchfiel. Trotzdem wankte das Lächeln nicht. „Also, wenn ihr wollt … ich bin mit ein paar Freunden da. Alles ganz gechillt. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr euch ja zu uns gesellen.“   Marvin sah Nathan an. Es war offensichtlich, dass ihm der Typ gefiel. Nathan hätte seinen Freund gerne vorgewarnt, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte, ohne unhöflich zu werden. Marvins Gesichtsausdruck wurde dringender. „Klar, warum nicht“, meinte Nathan schließlich und folgte dem Lächler, der sich ihnen als Jomar vorstellte, zu einem Tisch, wo bereits einige andere Männer auf ihn warteten. Der Empfang war herzlich und Nathan merkte, wie seine Bedenken langsam in sich zusammen sanken, als einer von ihnen fast augenblicklich anfing, mit Marvin zu flirten. Der bärtige Riese mit Namen Felipe machte Marvin Komplimente, nannte ihn „Gordito“ und es war offensichtlich, dass er mehr als interessiert war. Marvin wurde glatt zwei Zentimeter größer. Und als Felipe ihn dann noch mit auf die Tanzfläche nahm, war es klar, wo die beiden heute Nacht landen würden. Nathan sah ihnen nach und seufzte halb in seinen Drink. „Was ist mit dir? Möchtest du auch tanzen?“   Jomar war neben Nathan an die Reling getreten. Sein Bein streifte Nathans Hüfte und ein Arm legte sich wie von selbst um Nathans Taille. Nathan spürte die fremde Haut an seiner, den warmen Atem an seinem Hals. „Ich, äh, nein … ich … ich tanze nicht“, versuchte er sich herauszureden. Er begann zu schwitzen. Es war warm in dem Club. Die vielen Menschen, die Scheinwerfer. Mit jeder Minute stieg die Luftfeuchtigkeit. Als hätte jemand die Klimaanlage abgestellt. Nathan fühlte einen Tropfen seine Armbeuge hinabrinnen.   „Ach nein?“, murmelte Jomar. Das dunkle Timbre seiner Stimme brachte Nathans Trommelfell zum Vibrieren. „Ich könnte mir vorstellen, dass du ein ganz passabler Tänzer bist. Lässt du dich gerne führen?“ Er war jetzt so nahe, dass Nathan die vollen Lippen fast schon auf seinen spüren konnte. Den Geschmack von Limonen und Pfirsichen oder was auch immer in Jomars Drink gewesen war, auf seiner Zunge schmecken. Das Salz, den Schweiß, den Geruch von Safran, Ambra und Kardamom. Stark, sinnlich. Ein dunkles Versprechen. Dunkel wir Jomars Augen, die ihn fragend ansahen.   „Möchtest du noch etwas trinken?“   Nathan zögerte. Sein Blick glitt zur Tanzfläche. Im Getümmel entdeckte er Marvin und Felipe, die ungeachtet der Szenerie auf Tuchfühlung gegangen waren. Immer wieder beugte sich Felipe zu Marvin herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Marvins Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es etwas Versautes. Auch die anderen beiden, die mit ihnen am Tisch gestanden hatten und deren Namen Nathan schon wieder entfallen waren, rieben sich im Takt der Musik aneinander. Allein sie zu beobachten fiel vermutlich schon unter Vorspiel. Dabei sah das Ganze trotzdem elegant und nicht in geringster Weise plump aus, wie Nathan neidlos anerkennen musste. „Und? Noch einen Drink?“, wisperte es ganz nah an seinem Ohr. Für einen Moment war Nathan versucht nachzugeben. Wenn er noch ein wenig mehr trank, würde er vielleicht heute Nacht doch noch in Jomars Armen enden. Happy End garantiert. Er war sich sicher, dass Jomar ein aufmerksamer Liebhaber war. Es wäre so leicht, sich wenigstens für eine Nacht zu verlieren. Niemand würde ihn dafür verurteilen. Er konnte Spaß haben. Unverbindlichen Spaß, ernstgemeinten Spaß. Er war ein freier Mann und konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Trotzdem wollte das „Ja“ einfach nicht über seine Lippen kommen.   „Ich … ich kann nicht. Tut mir leid.“   Er machte sich von Jomar los, ließ ihn stehen und flüchtete in Richtung Tanzfläche. Wieder kam er nur mit Schwierigkeiten ans Ziel. Als er es endlich geschafft hatte, strahlte Marvin ihn an. Bevor Nathan es verhindern konnte, war ihm sein Freund um den Hals gefallen. „Hey, Nate! Komm, tanz mit uns“, rief er und wippte von rechts nach links wie ein aufgeregter Gummiball. Nathan lächelte etwas gequält und löste Marvins Arme wieder von seinen Schultern. „Tut mir leid, Kumpel, ich muss los. Hab morgen noch einen Haufen Arbeit vor mir. Du kommst zurecht?“ Er warf einen fragenden Blick in Felipes Richtung. Der legte besitzergreifend die Hand auf Marvins Hüfte und zog ihn wieder näher an sich. Marvin grinste und rieb seinen Hintern auf höchst eindeutige Weise an Felipes Schritt. „Klar. Ich verstehe zwar nur die Hälfte von dem, was er sagt, aber es klingt wahnsinnig sexy. Also ja, ich komme zurecht.“   Ein kleines Lächeln schubste Nathans Mundwinkel nach oben.   „Gut. Ich ruf dich an, ja? Essen wir Montag zusammen im Sam’s?“ „Klar, machen wir doch immer.“   Über ihren Köpfen begann die nächste Nummer. Ein langsames Lied. Das Licht wurde gedämpft und Nathan wurde sich einmal mehr bewusst, dass er hier mehr als fehl am Platz war. Schon spürte er, wie sich eine Hand auf seinen Hintern legte. Entschlossen schob er sie weg. Er musste dringend hier raus. „Also gut, ich geh dann mal. Viel Spaß, Jungs! Und immer schön safe bleiben.“   Noch einmal flüchtete Nathan, während Felipe seinen besten Freund bereits wieder in Beschlag nahm. Die beiden würden sicher eine Menge Spaß haben, da war Nathan sich sicher. Er hingegen …   Nur nicht drüber nachdenken, schalt er sich selbst, holte seine Jacke von der Garderobe und bahnte sich den Weg durch die feiernde Meute nach draußen.       „Bitte von den Türen zurücktreten.“   Nathan schreckte hoch. Er schnellte aus seinem Sitz und hechtete in Richtung Ausgang, doch zu spät. Nur Zentimeter vor seiner Nase trafen sich die zwei U-Bahntüren mit einem fast schon höhnischen Zischen. Es gab einen Ruck, der ihn fast das Gleichgewicht kostete, und im nächsten Moment bewegte sich der Bahnsteig vor seinen Augen entgegen der Fahrtrichtung davon.   „Nächster Halt Junction Boulevard“, verkündete eine freundliche Frauenstimme über seinem Kopf.   „Fuck!“ Nathan ballte die Hand zur Faust. Damit hatte er nicht nur eine, sondern gleich zwei Haltestellen verpasst. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Bis zur nächsten Station schienen Stunden zu vergehen.   Endlich hielt der Zug wieder. Nathan war einer der ersten, die den leeren Bahnsteig betraten. Während die wenigen Fahrgäste, die ebenfalls hier ausgestiegen waren, zielstrebig in verschiedene Richtungen davon eilten, trat Nathan zum Fahrplan. Er suchte nach einer passenden Verbindung für die Rückfahrt und fluchte gleich noch einmal. Er hatte die Bahn knapp verpasst und um diese Zeit würde es eine halbe Stunde dauern, bis die nächste kam. Schon merkte er, wie die Kälte unter seine viel zu dünne Jacke zu kriechen begann. Fröstelnd zog er die Schultern hoch und zwängte die Hände in die viel zu kleinen Taschen seiner engen Jeans.   Na gut, dann laufe ich eben. Dabei wird mir schon warm werden.     Bereits auf den letzten Stufen der Treppe wurde Nathan klar, dass das hier eine dumme Idee gewesen war. Die Straßen um ihn herum waren menschenleer und bis zu seiner Wohnung waren es fast 20 Blocks.   Ein Taxi kann ich mir nicht leisten.   Zumindest nicht, wenn er den Rest der Woche nicht nur von Haferflocken und Sojamilch leben wollte.   Vielleicht bin ich schneller, wenn ich durch die Wohngebiete gehe.   Ein Blick auf die App in seinem Handy bestätigte ihm, dass er so mindesten zehn Minuten sparen konnte. Er musste sich nur an die Richtungsanweisungen auf dem Bildschirm halten.   Dann los, versuchte er sich selbst Mut zu machen, bevor er in der Gewirr der Straßen eintauchte. Es würde schon nicht so schlimm werden.     Binnen kürzester Zeit hatte Nathan vollkommen die Orientierung verloren. Wäre da nicht das kleine, leuchtende Display gewesen, er wäre vermutlich tagelang hier herumgeirrt. Namenlose, immer gleich aussehende Fassaden säumten seinen Weg nur ab und an unterbrochen von einem Ein-Dollar-Laden, einem asiatischen Imbiss oder einem Waschsalon. Geparkte Autos rechts und links der Straßen machten klar, dass jemand zu Hause sein musste, doch die meisten Lichter waren bereits erloschen. Es war dunkel und kalt.   Der Wind frischte auf und brachte die Blätter der Bäume am Straßenrand zum Rauschen. Nathan hob den Kopf. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, etwas gehört zu haben. Es schien aus den Schatten der Tiefgarage zu kommen, die rechts des Wegs lag. Das Haus, zu dem sie gehörte, war verlassen. Leere Fensterrahmen starrten auf Nathan herab und ein gelbes Absperrband warnte jeden davor, das unter Sanierung stehende Gebäude zu betreten. Ein Absperrband, das an einer Stelle lose und zerrissen herunterhing. Die zerfetzten Enden bewegten sich leise raschelnd im Wind.   „Was zum …“   Ein erneutes Geräusch ließ Nathan herumfahren. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, dass hinter ihm jemand stand, doch da war niemand. Dafür hörte er wieder etwas. Es klang wie ein Knurren. Oder war es eher ein Fauchen? Nathan war sich nicht sicher, aber was immer das Geräusch verursacht hatte, versteckte sich offenbar in dieser Garage. Und ihm war ziemlich offensichtlich nicht gelegen daran, dass Nathan oder irgendwer anders es störte. Ein Wunsch, den Nathan nur zu gerne erfüllte.   Mit leicht zitternden Fingern hob er sein Handy. Darauf war zu lesen, dass er nur noch zehn Minuten von zu Hause entfernt war. Wenn er schnell ging, waren es vielleicht sogar nur noch acht. Dann konnte er endlich …   Ein Knacken unterbrach Nathans Gedanken. Seine Beine hatten sich schon wieder in Bewegung gesetzt, er war drauf und dran, die Straßenseite zu wechseln, um möglichst viel Abstand zwischen sich und dieses dunkle Loch zu bringen, als dieses trockene Knacken erklang. Ein Geräusch, das Nathan durch Mark und Bein ging. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört. Damals, als er vom Kletterseil gestürzt und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Diesen Moment würde er niemals vergessen. Erst recht nicht, weil ihm das mehrere Wochen mit Gips auf der Bank eingebracht hatte. Eine Bank, die er sich mit Marvin geteilt hatte, der aufgrund eines verstauchten Knöchels ebenfalls vom Sportunterricht befreit worden war. Zusammen hatten sie dort gesessen und Ryan Henderson dabei zugesehen, wie er in viel zu weiten und viel zu kurzen Shorts für den Hochsprung trainiert hatte. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, doch dem voraus war dieser fürchterliche Bruch gegangen, der Nathan einen höchst unerfreulichen Besuch im Krankenhaus und eine Lektion in „Warum es nicht ratsam ist, eine Krankenschwester zu verärgern, die einem gerade einen Gips anlegt“ eingebracht hatte. Dabei hatte Nathan nur wissen wollen, ob der Bart wirklich echt war und ob sie sich morgens genau wie sein Vater rasieren musste.   Angesichts dessen, dass diesem speziellen Knacken jetzt etwas folgte, das Nathan nur als Fressgeräusche deuten konnte, rückte Schwester Agatha auf seiner Liste von möglichen Alptraumquellen einige Plätze nach hinten. Nathans Nackenhaare sträubten sich. Das widerliche Schlürfen und Schmatzen hallte tausendfach von den Parkhauswänden wider.Noch einmal hörte er ein Knacken, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als würde jemand ein Huhn mit bloßen Händen in zwei Teile reißen. Organisch, feucht und bedrohlich. Nathans Magen begann zu rebellieren, aber seine Füße weigerten sich immer noch, sich in Bewegung zu setzen. Es war, als hätte ihn das Grauen am Boden festgenagelt. Selbst seine Gedanken bewegten sich wie durch Teer.   Ich muss hier weg.   Mit größter Anstrengung brachte er sich dazu, den Blick von der geballten Dunkelheit weg auf die andere Straßenseite zu richten. Nur langsam. Ganz langsam weg von hier, dann würde ihm auch nichts passieren. Niemand würde ihn verfolgen, niemand würde ihm wehtun. Alles würde gut werden, so lange er keine hektischen Bewegungen und vor allem keinen Lärm machte.   In diesem Moment ertönte ein heller Glockenschlag.   Nathan schrak zusammen und hätte beinahe sein Handy fallen gelassen. Ein schneller Blick auf das Display verriet ihm, dass er eine Sprachnachricht von Marvin bekommen hatte. Sein Kopf ruckte herum, während er gleichzeitig versuchte, die Nachricht beiseitezuwischen. Er brauchte die Straßenkarte. Er brauchte die Karte ganz dringend.   „Oh mein Gott, NATHAN … !“, schallte Marvins Stimme durch die dunkle Nacht. „Dieser Typ ist der absolute HAMMER. Stell dir vor, er hat doch glatt gefragt, ob ich …“   Nathans Puls überschlug sich. Hektisch hämmerte er mit dem Zeigefinger auf dem Display herum und brachte Marvin abrupt zum Schweigen. Mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen starrte er das verräterische Ding in seiner Hand an. Die Nachricht war nicht einmal halb vorbei. 2 Minuten 14 war sie insgesamt lang. Nathans Blick klammerte sich an die kleine, blaue Zahl neben Marvins lachendem Gesicht. Es half ihm zu ignorieren, dass das Schmatzen und Schlürfen in seinem Rücken verstummt war. Was immer dort in der Dunkelheit lauerte, hatte aufgehört zu fressen.   Irgendetwas krachte. Nathan wusste nicht, was es war oder woher der Laut stammte. Alles was er wusste, war, dass er im nächsten Moment rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren, obwohl er wusste, dass sie es taten. Er spürte jeden verdammten Schritt. Jeden Atemzug. Und jeder von ihnen konnte sein letzter sein.   Ein Auto hupte. Scheinwerfer blendeten auf. Die Motorhaube des aus einer Seitenstraße hervorschießenden Wagens raste auf ihn zu. Nathan wich im letzten Moment aus. Kam aus dem Gleichgewicht. Strauchelte. Stolperte über seine eigenen Füße. Hinter dem Lenkrad sah er das Gesicht des Fahrers, der ihn durch die Scheibe hindurch anschrie. Lautlos wie ein Goldfisch im Glas.   Gehetzt sah Nathan sich um. Straße, Bäume, Fenster, Dächer. Aber da war niemand. Die Straße hinter ihm war leer.   Der Motor des Wagens heulte auf. Ein ausgestreckter Mittelfinger und ein mehr als deutliches „Fuck you!“ wurden in Nathans Richtung geschleudert, bevor der Fahrer Gas gab und mit quietschenden Reifen um die Ecke bog. Nur einem Block später sah Nathan die roten Rücklichter aufflammen. Der Wagen bremste, blinkte und bog erneut ab. Dann war er verschwunden. Stille kehrte zurück, nur unterbrochen von Nathans hektischen Atemzügen und dem Rauschen der in der Ferne vorbeifahrenden Autos. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas hinter ihm her war. Hatte er sich das alles nur eingebildet?   Natürlich hast du das. Wahrscheinlich war es nur ein streunender Hund, der sich über ein paar Abfälle hergemacht hat. Du bist so ein Schisser!   Nathan wusste, dass das die Wahrheit war. Es musste so sein. Was sonst hätte in diesem Parkhaus lauern sollen? Für Monster unter dem Bett war er nun wirklich zu alt. Er wusste, dass die wahren Gefahren dort lauerten, wo man sie nicht erwartete. Im Büro, im Coffeeshop, in der Bibliothek. Da wurden aus harmlosen Mitmenschen plötzlich wild um sich schießende Amokläufer. Die Welt war völlig verrückt geworden.   Geh jetzt!   Mit Gewalt drehte Nathan sich um. Das Gefühl der verlassenen Straße in seinem Rücken, die ihn aus unsichtbaren Augen anstarrte, war ihm nicht geheuer. Trotzdem setzte er wieder und wieder einen Fuß vor den anderen, bis er zur Hauptstraße kam. Hier war mehr los. Autos, Busse. Über seinem Kopf ratterte die U-Bahn.   Ich hätte auf dem Weg bleiben sollen.   Die Erkenntnis kam zu spät. Wie so oft in seinem Leben. Das letzte Mal, als er falsch abgebogen war, war ihm Christian begegnet. Und obwohl er gewusst hatte, dass es zu gut wahr, um wahr zu sein, hatte er sich auf ihn eingelassen. Er, der unscheinbare Typ vom Catering, war dem internationalen Modell Christian Dubois aufgefallen. Er hatte sich so … besonders gefühlt. Auserwählt. Wie Cinderella in einem Märchen.   Dämliches Arschloch.   Nathan rammte den Haustürschlüssel ins Schloss und ließ sich gleich darauf selbst hinein. Der Aufzug mit dem schmiedeeisernen Gitter brauchte ewig, bis er ankam. Immerhin hatte nicht wieder jemand die Tür offen gelassen. Wenn das der Fall war, musste Nathan jedes Mal die sechs Stockwerke zu Fuß nach oben steigen. Etwas, das ihm laut Christian gut getan und sicherlich dafür gesorgt hätte, dass seine Beine sich jetzt nicht wie weichgekochte Spaghetti anfühlten.   Ich sollte wirklich mehr Sport treiben. Der Aufzug fuhr nach oben. Nathan stieg aus und war für einen Moment versucht, das Gitter offenzulassen, aber dann siegte doch die Vernunft und er verschloss es ordnungsgemäß, bevor er den Flur entlang bis zu seiner Wohnung ging.   Drinnen war alles wie immer. Seine Bücher, die Pflanzen, der Schreibtisch mit den tausenden von Notizzetteln und schließlich das gemütliche, senfgelbe Sofa, das dem Raum zusammen mit den dunkelroten Vorhängen etwas Anheimelndes gab. Christian hatte es ihm geschenkt. Ebenso wie das große Doppelbett und die neue Espressomaschine, die fast ein Drittel der Küchenarbeitsfläche einnahm.   Ich werde sie ins Wohnzimmer stellen, beschloss Nathan, während er an dem chromglänzenden Ding vorbei weiter ins Schlafzimmer und von dort ins Bad ging. Auf dem Weg schaltete er überall das Licht an, als könnte die Helligkeit die trüben Gedanken verscheuchen, die ihn heute Abend verfolgten.   Christian hatte recht. Du bist eben doch ein Spinner, dachte er, während er die Kontaktlinsen rausnahm und sie in die Aufbewahrungsschälchen bugsierte. Als er jedoch nach der Zahnschiene greifen wollte, hielt er inne. Eine volle Minute musterte er das Stück durchsichtiges Plastik, dann ließ er es zurück auf den Waschbeckenrand fallen.   Heute Abend nicht, sagte er sich und merkte selbst, wie lächerlich das klang. Trotzdem ließ er die Schiene, wo sie war. Vielleicht würde er sie sogar wegschmeißen. Ja, verdammt, das würde er. Zusammen mit all den anderen Dingen, die Christian bezahlt hatte.   Dann wirst du Montag wohl nackt bei der Arbeit erscheinen müssen. Er kicherte bei dem Gedanken. Seine Chefin würde vermutlich in Ohnmacht fallen und ihn anschließend feuern, aber vielleicht hatte er so ja eine Chance bei Dan aus der Postabteilung.   Immer noch grinsend ging er zurück ins Wohnzimmer. Bei allem Willen zur Rebellion würde er trotzdem nicht anfangen bei Licht zu schlafen. Das ging nun wirklich zu weit.   Nathans Hand tastete nach dem Lichtschalter. Er legte ihn um und sah im selben Moment in Richtung Fenster. Draußen vor der Scheibe stand ein Mann. Nathan begann zu schreien. Kapitel 2: Der Mann am Fenster ------------------------------ Um sie herum trubelte das Leben. Menschen unterhielten sich, lachten, tauschten Neuigkeiten aus oder führten hochphilosophische Gespräche. Zumindest wenn man die Gruppe von Hipstern mit in die Rechnung einbezog, die sich in einer Ecke niedergelassen hatten und dort gewichtige Mienen zum in ihren Augen zweifelhaften Mainstream-Spiel machten. Teller klirrten, Besteck klapperte und die gleich hinter der Theke gelegene Küche kündigte die fertigen Bestellungen an. Die menschliche Geräuschkulisse mischte sich mit dem ätherischen Loungesound, der über allem schwebte und die verschiedenen Klänge zu einem großen Ganzen verband. Kurzum, alle Welt war guter Dinge, wie immer, wenn Nathan und Marvin um diese Zeit im Sam’s saßen. In ihrer Nische jedoch herrschte eisiges Schweigen.   „Hast du mir eigentlich zugehört?“   Nathan hatte seinen Teller kaum angerührt, was ihm die mit Artischocken und Spinat gefüllte Quesadilla persönlich übelzunehmen schien. Sie rächte sich, indem sie langsam kalt und matschig wurde. Er beachtete sie jedoch nicht, sondern starrte stattdessen seinen besten Freund an, der auf der anderen Seite vollkommen ungerührt sein BLAT-Sandwich und eine Portion Süßkartoffel Pommes frites verdrückte.   „Marvin!“   Nathan tippte ungeduldig mit dem Finger gegen sein Wasserglas. Sein Freund grunzte.   „Natürlich hab ich dich gehört“, erklärte er und nahm einen großen Schluck von seinem Eistee. „Ich überlege nur gerade, wie ich dir möglichst schonend beibringen kann, dass du dir dringend einen Psychiater suchen solltest. Diese Halluzinationen klingen besorgniserregend.“   „Hallu… WAS?“ Nathan riss die Augen auf. „Du meinst, ich habe mir das alles nur eingebildet?“   Marvin schnaufte.   „Was soll ich denn sonst glauben? Etwa dass mitten in der Nacht Männer vor deinem Wohnzimmerfenster herumlungern? Ich bitte dich. Du weißt selbst, dass das nicht wirklich passiert ist.“   „Es waren keine Männer. Es war nur ein Mann,“ korrigierte Nathan halbherzig.   Im Grunde konnte er es ja selbst kaum glauben. Vor allem, weil er, nachdem er sich geschlagene zwei Stunden in seinem Badezimmer eingeschlossen und darauf gewartet hatte, dass der Einbrecher seine Wohnung ausräumte oder sich gewaltsam Zugang zu der kleinen Nasszelle verschaffte, vor dem Fenster keinerlei Spuren einen Einbruchs hatte entdecken können. Noch dazu hatte er keine Idee, wie derjenige überhaupt dorthin gekommen sein könnte. Die Feuerleitern befanden sich allesamt auf der anderen Seite des Gebäudes.   „Und wie ist dann ein Mann vor dein Fenster gekommen?“, nörgelte Marvin, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Du weißt, dass das ausgemachter Blödsinn ist. Wahrscheinlich hattest du einfach nur einen Alptraum. Also hör auf, dich deswegen verrückt zu machen.“   Ein Traum. Natürlich. Nathan wusste, dass sein Freund recht hatte. Aber warum hatte es sich dann so echt angefühlt? So bedrohlich?   Vielleicht sollte ich mir wirklich etwas verschreiben lassen. Ein Beruhigungsmittel und etwas, damit ich schlafen kann. Sonst fange ich vielleicht wirklich bald an, kleine grüne Männchen zu sehen.   Marvin, der ihn eine Zeit lang beobachtet hatte, griff nach einer neuen, besonders knusprigen Kartoffelstange.   „Weißt du, was ich denke?“, fragte er und deutete mit der braunen Köstlichkeit auf Nathan, „Ich denke, du brauchst mal wieder ein bisschen Spaß. Du isst zu wenig, du schläfst zu wenig und du arbeitest zu viel. Das ist es, was zu diesen komischen Träumen führt. Und natürlich dein abgedrehter Exfreund. Man, der hatte echt einen Schaden. Aber ich hab eine Idee, was wir da machen können.“   Nathan ahnte, was jetzt kam. Er fragte trotzdem.   „Und was machen wir?   Marvin strahlte.   „Na ist doch ganz klar. Wir gehen aus.“   Nathan rollte mit den Augen.   „Das hatten wir doch letztes Wochenende gerade erst“, wandte er ein, aber Marvin ließ sich nicht beirren.   „Ich weiß, ich weiß“, plapperte er munter weiter. „Aber ich rede nicht von einem Clubbesuch, ich rede von einem Date. Einem Doppeldate, um genau zu sein. Ich mit Felipe und du mit Jomar.“   Marvins Gesichtsausdruck erinnerte Nathan an einen kleinen Jungen am Weihnachtsmorgen, kurz bevor die Tür geöffnet wurde, damit er ins Wohnzimmer stürmen und nachsehen konnte, wie viele Pakete Santa Claus gebracht hatte. Erwartungsvoll. Hoffnungsvoll. Mit leuchtenden Augen und rosigen Wangen. Nun ja, so ungefähr wenigstens. Und Nathan war in dieser Geschichte der Grinch. Er mochte die Rolle nicht, aber er spielte sie trotzdem.   „Ich bin nicht interessiert“, meinte er lapidar und beschloss, sich nun doch endlich seinem Mittagessen zu widmen. Die Salsa, die sie hier servierten, war wirklich ausgesprochen köstlich. Nathan versuchte immer noch herauszufinden, was außer gerösteten Paprika sie noch dafür verwendeten. Tomaten und Knoblauch waren mit dabei, so weit war er sich sicher. Aber der Rest …   „Nathan Augustus Bell!“, kam es prompt von der anderen Tischseite. „Hör gefälligst auf, dich wie ein Arsch zu benehmen. Du weißt, ich brauche dieses Date.“   „Dann geh allein hin“, gab Nathan zurück. Marvin schnaubte.   „Was soll ich denn bitteschön alleine bei einem Doppeldate?“   Nathan verkniff sich den augenscheinlichsten Kommentar.   „Dann mach halt nur ein Date mit Felipe ab. Immerhin hat er dir seine Nummer gegeben, wie du nicht müde wirst, mir zu erzählen. Er hat also Interesse. Es sollte daher doch kein Problem sein, wenn ihr beiden allein ausgeht.“ „Du meinst, so wie du und Christian?“   Autsch, das hatte gesessen. Nathan ließ die Quesadilla Quesadilla sein und hob den Blick zu seinem Freund, der ihn über den Tisch hinweg süßsauer anblickte. Sofort meldete sich Nathans schlechtes Gewissen. Er benahm sich wirklich wie ein Arsch. Oder hatte sich wie einer benommen in der Zeit, in der er sich zu Christians Schoßhündchen mutiert war. Und er hatte es nicht einmal gemerkt.   „Hör zu, Marvin …“   Sofort hob sein Freund die Hand.   „Du brauchst nichts zu sagen, ich versteh das schon. Ich fand ihn ja auch schnuckelig. Aber seien wir mal ehrlich, es gab schon Anzeichen dafür, dass da was nicht ganz koscher ist. Zum Beispiel dass er sich so gut wie jedem gegenüber wie der absolute Oberarsch aufgeführt hat.“   Nathan seufzte leise.   „Ja, nur mir gegenüber nicht. Zumindest nicht am Anfang.“   „Tja, ich sag’s dir“, referierte Marvin und machte kurzen Prozess mit dem Rest seiner Mahlzeit. „Die Typen ändern sich nicht, egal, was sie dir erzählen. Deswegen tust du gut daran, dir einen zu suchen, der von Anfang an ehrlich zu dir ist. Und Jomar ist so einer. Er sieht gut aus, hat einen Job, er ist nett und witzig. Sein einziges Problem ist, dass er nicht auf mich steht. Aber er mag dich und er würde dich gerne wiedersehen.“   Nathan horchte auf.   „Ihr habt über mich geredet?“   Marvin grinste.   „Klar haben wir das. Jomar war ziemlich gekränkt, als du einfach so verschwunden bist. Also hab ich ihm von Christian erzählt und …“   „Du hast was?“ Nathan starrte seinen Freund fassungslos an. „Du kannst doch nicht einfach irgendwelchen Fremden meine Lebensgeschichte vor die Füße kotzen.“   Eigentlich wäre es jetzt an Marvin gewesen, betreten dreinzuschauen, sich zu entschuldigen und damit die ganze Sache abzuhaken. Aber er tat es nicht. Stattdessen ballte er das Gesicht zur Faust.   „Ach ja? Hätte ich also lieber zusehen sollen, wie mir die erste reelle Chance seit Monaten durch die Lappen geht, nur weil mein bester Freund beschlossen hat, sich wie eine Primadonna aufzuführen, die eine schlechte Kritik bekommen hat?“   Nathan starrte Marvin an.   „Aber ich hab doch nur …“   Marvin ließ ihn nicht ausreden.   „Du hast Jomar stehen lassen. Das kam quasi einem Tiefschlag gleich. Er war echt geknickt. So sehr, dass Felipe drauf und dran war, sich mehr um ihn zu kümmern als um mich. Also hab ich ihnen gesagt, dass du gerade eine schwere Trennung verarbeitest. Nichts weiter. Ich hab nicht mal Namen genannt. Also komm wieder runter von deinem Trip und geh gefälligst mit mir zu diesem Date. Das bist du mir schuldig.“   Nathan schluckte. Er wusste, dass es stimmte, was Marvin sagte. Aber gleichzeitig war da noch etwas anderes. Marvin hätte nie so reagiert, wenn da nicht noch etwas im Busch gewesen wäre. Etwas, das über ein verpatztes Date hinausging.   „Was ist los?“, fragte er daher und wusste, dass er nicht erklären brauchte, warum er das fragte. Er und Marvin kannten sich lange genug. Trotzdem versuchte sein Freund sich rauszureden.   „Ich weiß nicht, was du meinst“, behauptete er und sah sich gespielt desinteressiert um. An einem Tisch versuchte gerade eine Mutter zwei Kinder daran zu hindern, sich gegenseitig mit Sirup vollzuschmieren. Und plötzlich wusste Nathan, was los war.   „Ist zu Hause etwas passiert?“   Marvins Gesicht nahm einen ertappten Zug an. Er senkte den Blick.   „Tara heiratet.“   Die Nachricht ließ Nathan erst einmal verstummen. Dann blinzelte er zweimal.   „Tara?“, echote er schließlich. „Aber sie ist erst …“   „22. Ja genau. Vier Jahre jünger als ich und trotzdem hat meine kleine Schwester es bereits geschafft, sich einen Mann zu angeln. Vermutlich bekommt sie demnächst auch einen Haufen Babys. Zum Knutschen süße, kleine Wonneproppen, die meine Mum in den höchsten Himmel loben wird. Endlich Enkelkinder. Halleluja! Gelobt sei der Herr!“   Nathan räusperte sich.   „Na ja … äh … Sie könnte auch promovieren wie Ruby. Oder Abteilungsleiterin werden wie Annabeth“, versuchte er anzubieten, aber er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Beinahe hätte er nach Marvins Hand gegriffen.   „Hey“, machte er leise. „Du weißt, dass deine Mum stolz auf dich ist. Egal was du machst. Und dein Dad …“   „Mein Dad“, unterbrach Marvin ihn, „wird froh sein, wenn endlich ein richtiger Mann in die Familie einheiratet. Nicht dass Paul und Jacob keine guten Ehemänner wären, aber sie sind eben nicht so wie mein Vater sich das vorstellt. Paul beispielsweise hat keinerlei Ahnung von Football. Kannst du dir das vorstellen?“   „Du hast auch keine Ahnung von Football“, gab Nathan zu bedenken.   „Aber ich gucke es mir trotzdem an. Die Spieler sind ziemlich heiß.“   Marvin grinste kurz, bevor er erneut seufzte.   „Es ist nur … irgendwie wünsche ich mir das auch. Dass da jemand ist, mit dem ich mein Leben teilen kann. Der mir nach einem harten Tag sagt, dass es morgen wieder besser wird. Der mich nachts in den Arm nimmt und morgens nur in Boxershorts in meiner Küche steht und mir Kaffee kocht. So was will ich. Verstehst du das?“   Nathan nickte. Natürlich verstand er das. Er hatte schon immer gewusst, dass Marvin ein Familienmensch war. Und er hatte eine tolle Familie. Eine, die selbst Nathan aufgenommen hatte, als wäre er einfach ein weiteres Kind in der großen, bunten, lauten Runde, die sich regelmäßig um den großen Esstisch versammelte. Nathans Großeltern hatten nicht immer gerne gesehen, dass er mit „solchen Leuten“ verkehrte, aber Nathan hatte sich dort gut gefühlt. Sicher. Ein Gefühl, dass er jetzt vermisste.   „Und du denkst, dass du das mit Felipe haben kannst? Er ist doch auch nur irgendein Typ, den du in einem Club kennengelernt hast. Was macht dich so sicher, dass es mit ihm anders ist?“   Marvin fuhr mit dem Finger durch die Reste seines Ketchups.   „Ich weiß nicht. Es sind einfach so Kleinigkeiten.“   Nathan grinste.   „Soll das heißen, dass ihr bis zum dritten Date wartet, bis ihr Sex habt?“   Marvin blies empört die Backen auf.   „Natürlich nicht. Ich kauf doch nicht die Katze im Sack! Wo denkst du hin? Ein Mann hat Bedürfnisse, oder nicht?“   Er lächelte jetzt wieder. Es war ein warmes, besonderes Lächeln.   „Nein. Aber weißt du, was er am nächsten Morgen zu mir gesagt hat?“   Nathan schüttelte den Kopf. Marvin grinste.   „Er hat gemeint, ich solle leise auf der Treppe sein. Seine Mama wohnt nämlich im gleichen Haus und er wollte nicht, dass sie mich sieht.“   Nathans runzelte die Stirn.   „Weil sie nicht weiß, dass er …“   „Oh, nein, nein“, winkte Marvin ab. „Sie weiß Bescheid. Aber er hat gesagt, er wollte mich ihr lieber richtig vorstellen und nicht, wenn ich gerade nach einer durchvögelten Nacht mit den Schuhen in der Hand die Treppe runterschleiche.“   Nathans Augenbrauen hüpften in die Höhe.   „Er will dich seiner Mutter vorstellen?“ „Mhm-mhm.“ „Das ist krass.“   Marvins Grinsen nahm jetzt sein ganzes Gesicht ein.   „Ja, oder? Ich meine, wir hatten eine Nacht zusammen. Eine echt gute Nacht, so viel ist klar. Und wir beide wissen, dass man guten Sex mit der Lupe suchen muss, aber … es war halt nicht nur das. Wir haben uns auch unterhalten. Er hat gemeint, dass ihn meine Aktion am Tresen sehr beeindruckt hat. Und er mag, dass ich mich so extravagant kleide und dass ich so … na dass an mir was dran ist.“   Marvin zupfte an dem Ärmel seines Hemdes mit dem veilchenblauen Paisleymuster herum.   „Das findet man halt nicht so oft. Wenn jemand seinen Traumtypen beschreiben soll, wird er kaum mich dafür hernehmen. Oder dich, auch wenn du dich inzwischen in so eine Art heißen Harry Potter verwandelt hast. Aber die Wahrheit ist doch, dass jemand wie ich kaum eine Chance hat.“   Nathan dachte an den Blick, mit dem Jomar Marvin taxiert hatte. Es war einer in einer langen, langen Reihe von solchen Blicken. Und weiter als bis zu einem Blick kam man tatsächlich meist nicht. Swipe left und der Nächste bitte. Es war nur zu wahr.   Marvin sah ihn an.   „Ich sage ja nicht, dass du was mit Jomar anfangen sollst, wenn du das nicht willst. Ich möchte nur, dass wir uns zu viert einen netten Abend machen. Essen gehen, was trinken, vielleicht ins Kino. Alles ganz locker und ohne irgendwelche Verpflichtungen. Und wenn du dann immer noch sagst, dass es nicht passt, na dann eben nicht. Aber lass dir das nicht wegen Christian durch die Lappen gehen. Das ist er definitiv nicht wert.“   Nathan blickte hinab auf seinen Teller. Er hatte nicht einmal die Hälfte seiner Portion geschafft. Eine absolute Verschwendung. Er würde sich den Rest einpacken lassen. Mit einem Seufzen legte er die Gabel weg.   „Na schön“, sagte er endlich. „Aber nur Essen und Kino. Und ich zahle meine Karte selbst.“   „In Ordnung.“ Marvin grinste von einem Ohr zum anderen, bevor er plötzlich an Nathan vorbei zur gegenüberliegenden Wand sah. Er fluchte.   „Ah fuck, ich muss los. Mein Zwei-Uhr-Termin kommt gleich.“   Nathan runzelte die Stirn.   „Es ist doch noch nicht mal 20 vor.“   Marvin lachte.   „Das stimmt, aber Lady Pilkington wartet auf niemanden. Die ist wie Chuck Norris, nur älter. Und wenn ich nicht parat stehe, wenn sie der Meinung ist, dass ihre Hühneraugen jetzt sofort ein Bananencreme-Zuckerrohr-Peeling brauchen, dann ist der Teufel los.“   Nathan musste gegen seinen Willen schmunzeln. Er wusste, dass Marvin seinen Beruf liebte, aber die Vorstellung, älteren Damen die Füße zu massieren, war nichts, das Nathan unbedingt Schauer der Glücksseligkeit verpasste. Bei einem jungen, heißen Kerl hätte das eventuell anders ausgesehen, aber so? Er seufzte.   „Na schön, ich muss auch los. Hab noch eine Verabredung mit Shannon.“ „Auweia, was hast du angestellt?“ „Das hat sie mir nicht gesagt.“     Das Gebäude, in dem Nathan arbeitete, lag an einer der Hauptstraßen. Es war groß, es war modern und es war voller Menschen, die alle wussten, was sie taten. Alle außer Nathan. Das zumindest war die Meinung seiner Chefin, die ihn bereits in ihrem Büro erwartete, wie ihn gleich zwei farbige Zettelchen an seinem Schreibtisch informierten. Schnell entledigte er sich seiner Jacke und machte sich auf den Weg.   „Was, denkst du, ist das?“, schnappte Shannon auch schon, kaum das Nathan ihr schickes Eckbüro betreten hatte. Ihre spitzen, roten Fingernägel bohrten sich in einen Papierstapel, auf dem Nathan unweigerlich seine Handschrift erkennen konnte. Er schluckte.   „Ein Entwurf?“   Nathan hasste, dass es wie eine Frage klang. Noch viel mehr hasste er, dass Shannon ihn immer dazu brachte, so zu klingen. Egal, was sie wissen wollte, er hatte immer den Eindruck, dass seine Antwort die falsche war. Immer. Ohne Ausnahme.   „Das weiß ich selbst“, fauchte sie und begann, auf dem Stapel herumzutrommeln. „Meine Frage ist, warum ich ihn hier in Papierform vorliegen habe und nicht per Email, so wie angefordert. Wer soll denn das jetzt abtippen?“   „Das kann ich selbst machen“, erklärte Nathan hastig. „Es ist nur … ich kann besser schreiben, wenn ich nicht am Rechner sitze. Und mein Laptop ist kaputtgegangen, also hatte ich noch keine Zeit um …“   „Tatatata“, unterbrach Shannon ihn und wedelte mit ihrer Hand in der Luft herum. „Rede nicht herum. Deine privaten Probleme interessieren mich nicht. Ich will, dass du die Sachen druckreif ablieferst, verstanden?   „Ja, Shannon. Natürlich.“   Nathan wandte sich schon zum Gehen, aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Shannon war noch nicht fertig.   „Ganz davon abgesehen, habe ich ihn gelesen. Der Artikel ist gut. Sehr gut sogar. Du hast da eine absolut hieb- und stichfeste Argumentationskette abgeliefert. Und ich liebe diesen Titel.“   Nathan blinzelte überrascht.   „Ach tatsächlich?“   Shannons Mundwinkel bewegten sich, als fehle ihnen etwas. Nathan hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was das war. Zum Jahresbeginn hatte Shannon – mal wieder – aufgehört zu rauchen und das machte ihre Laune noch viel unterirdischer als ohnehin schon.   „Natürlich. ’Warum ein Steak Superman umgebracht hat’ … das ist provokativ, hat aber gleichzeitig Witz und einen Identifikationswert. So was mögen die Leser. Es gibt da nur ein winzigkleines Problem.“   Jetzt kam es also. Das Detail, das immer störte. Aber wenn es nur eine Kleinigkeit war …   „Du.“   Shannon betrachtete ihn mit gekräuselten Lippen und wartete auf seine Reaktion. Nathan verstand nicht.   „Ich?“, fragte er und versuchte, dabei nicht ganz so verwirrt auszusehen wie er sich fühlte. „Was meinst du damit?“   Shannons Lächeln erinnerte ihn an einen freundlichen Hai.   „Nun, weißt du, als ich dich einstellte, dachte ich: Toll! Endlich mal ein Mann, der sich für Kochbücher interessiert. Denn seien wir mal ehrlich: Kochbücher werden von Frauen gelesen, von Frauen gekauft, von Frauen geschrieben. Wenn ich eines zum Lektorat zu vergeben habe, stehen die Frauen Schlange. Nicht eine von denen will sich mal ans Webdesign wagen. Nein, sie lektorieren Kochbücher. Ha!“   Shannon stieß mit den ausgestreckten Fingern in die Luft, als wolle sie mit jedem von ihnen eine der armen Lektorinnen aufspießen. Nathan wagte nicht, sie in ihrem Monolog zu unterbrechen. Den Fehler hatte er einmal gemacht und es eine Woche lang bereut.   „Und dann kamst du“, fuhr Shannon ungerührt fort, „und ich war zwar nicht so beeindruckt, aber ich dachte, es ist immerhin ein männlicher Name. Das macht sich gut. Und siehe da, du interessierst dich für wichtige Dinge. Dinge wie Umweltschutz, Klimawandel und die patriarchalischen Machtstrukturen, die immer noch unsere Ernährung beeinflussen, obwohl wir im Zeitalter der Gleichberechtigung leben. Aber – und das ist ein großes Aber – du bist nun mal kein durchtrainierter, 1,90 m großer Naturbursche, den man auf einem Cover von 'Men's Health' finden würde. Und auch wenn mir das vollkommen egal ist, werden die Leser das anders sehen. Und ich verwende jetzt mit Absicht das Wort Leser, denn es geht hier um Männer. Männer, die denken, das alles, was man nicht mit einer Schrotflinte erschießen muss, bevor man es essen kann, nur für Weicheier und Schlappschwänze ist. Und wenn jemand wie du ihnen jetzt sagt, dass das nicht stimmt, dann ziehen sie dir die Unterhose bis zu den Ohren und stopfen dich in die nächste Mülltonne. Also sag mir bitte, wie ich diesen Artikel jetzt bringen soll, wenn dein Name darunter steht. Wie?!“   Das letzte Wort bohrte sich in Nathans Brust wie ein abgeschossener Pfeil. Wenn Shannon daran zog, würde sie sein Herz mit herausreißen. Ganz sicher.   „Du … du könntest einen anderen Namen darunter schreiben“, schlug er vor. „Einen erfundenen vielleicht?“   Shannon sah nicht überzeugt aus. Sie schob eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen nach oben.   „Und wenn mich dann jemand fragt, wer dieser neue, vielversprechende Autor ist? Was machen wir dann?“   Nathan verstummte. Darauf hatte er keine Antwort. Shannon presste die Lippen aufeinander.   „Na schön, ich überlege mir was. Und du kümmerst dich darum, dass der Artikel spätestens in einer Stunde in meinem Postfach liegt. Und zwar ohne Rechtschreibfehler, haben wir uns verstanden? Ich werde ihn an Robert weiterleiten. Mal sehen, was er dazu sagt.“   Nathans Mund wurde trocken. Robert war Shannons Vorgesetzter. Fast schon oberste Chefetage. Das war ein ganz heißes Eisen. Wenn das klappte, dann …   Shannon musterte ihn missbilligend.   „Du stehst ja immer noch da“, schnappte sie. „Na los! Zurück an die Arbeit mit dir!“   Nathan nickte hastig und sah zu, dass er rauskam. Zurück an seinem Schreibtisch äugte Amanda, die auf der anderen Seite der halbhohen Trennwand saß, neugierig zu ihm rüber.   „Nanu“, meinte sie gespielt verwundert, „dein Kopf ist ja noch dran.“   Nathan grinste schief. Es lag ihm auf der Zunge zu sagen, dass Shannon erwog, etwas von ihm drucken zu lassen, aber dann schluckte er die Worte doch wieder herunter. Noch war es zu früh, um mit seinen Lorbeeren anzugeben. Noch hatte Robert nicht zugestimmt.   Amanda, die seinen Gesichtsausdruck offenbar falsch gedeutet hatte, lächelte mitleidig.   „Nimm’s nicht so schwer. Wir haben alle mal klein angefangen.“   Nathan nickte, als hätten Amandas Worte ihre Wirkung getan, bevor er sich auf seinen Drehstuhl fallen ließ. Sein Blick wanderte zu seinen Notizen. Ein heißkalter Schauer überlief seinen Rücken.   Shannon wollte einen Artikel, also sollte Shannon auch einen Artikel bekommen. Und er würde ihn ihr liefern. Jetzt sofort.   Kapitel 3: Heiß und scharf -------------------------- Nathan starrte den Inhalt seines Kühlschranks an und seufzte. Da er, noch beschwingt von seinem erfolgreichen Arbeitstag, die Quesadillas im Büro hatte liegenlassen, war er auf dem Heimweg noch schnell im Obst- und Gemüseladen um die Ecke vorbeigegangen. Nathan liebte es, in den vollgepackten Gängen nach immer neuen Zutaten und Kombinationsmöglichkeiten zu suchen. Nicht selten kam er dabei mit etwas nach Hause, das er noch nie zuvor in seinem Leben probiert hatte.   Dieses Mal hatte er sich zusammengerissen und nur „ein wenig“ von den zu einladenden Stapeln aufgetürmten Waren mitgenommen. „Ein wenig“, das jetzt zwei Einkaufstüten füllte; obenauf einige Austernpilze, die er vorgehabt hatte zum Abendessen zu braten. Zumindest bis er das Bund Karotten gefunden hatte, dass ihm anklagend seine Wurzelfinger entgegenreckte, als wollte es sagen: „Und was ist mit uns?“ Nathan seufzte erneut und schenkte den Pilzen einen entschuldigenden Blick. „Tut mir leid, Jungs, ihr werdet wohl bis morgen warten müssen. Die Ladys waren zuerst da.“ Er verstaute seine frischen Vorräte, bevor er das schon etwas schlapp gewordene Bündel Wurzelgemüse aus dem Kälteschlaf holte. Das einstmals so saftige Grün war dummerweise schon ziemlich heruntergekommen. Er würde es ausdünnen müssen, wenn er es noch verwenden wollte. Aber vielleicht … Sein Blick wanderte zu den Kräutern, die er neben der Spüle in ein Glas gestellt hatte. Darunter Dill, Petersilie, thailändisches Basilikum und Bohnenkraut, aber auch Estragon, Koriander und Kerbel. Nathans Gehirn begann zu arbeiten. Süß und scharf in einer Texturmischung aus weich und knackig. Die perfekte Mischung. Ich muss das ausprobieren. Ohne wirklich wahrzunehmen, was er tat, griff Nathan nach dem großen Messer und begann zu arbeiten. Zuerst befreite er die Karotten von ihrer Schale, dann schnitt er sie in schmale Streifen und schließlich in winzige Würfel. Ebenso verfuhr er mit einer Schalotte, zwei Knoblauchzehen und einer Stange Sellerie. Danach waren die Nudeln dran. Mit einem geübten Blick ging er die Pasta-Schublade durch und entschied sich für Linguini. Sie würden die Soße besser halten als Spaghetti, aber weniger davon aufnehmen als die gedrehten Fussili. Perfekt für sein Gericht. „Und jetzt brauche ich …“ Er sah sich in der Küche um. „Platz. Verdammt, ich brauche mehr Platz!“ Neben dem Herd, der gerade einmal zwei Kochplatten aufwies, hatte er nur ein Stück von der Breite seines Küchenbrettes zur Verfügung. Der Rest wurde von diesem chromglänzenden Monstrum eingenommen, das ihn höhnisch anblickte, als wollte es sagen: „Du kannst mir gar nichts.“ Aber Nathan konnte und er würde. Und zwar jetzt gleich. Mit neu gewonnenem Enthusiasmus rupfte er den Stecker aus der Wand, schlug das Kabel um die Maschine und packte mit beiden Händen zu. Ein Ruck und die wuchtige Maschine schwebte über der Arbeitsfläche. Ächzend und schnaufend balancierte Nathan das schwere Teil um die Ecke. Doch wohin jetzt? Auf den Schreibtisch konnte er sie unmöglich stellen. Das Sideboard beherbergte bereits seinen Fernseher und auf dem Couchtisch würde es nur im Weg herumstehen. Suchend sah Nathan sich um. Es musste doch hier irgendwo … „Argh!“ Als hätte die Maschine gemerkt, dass sie kurz davor war, aus dem Fenster zu fliegen, wurde sie schwerer und schwerer in seinen Händen. Ihr Gewicht zog ihn immer weiter nach unten, bis er schließlich nachgab und sie auf dem Fußboden abstellte. Dort stand sie nun ebenso unnütz herum wie anderswo, aber wenigstens nicht mehr in der Küche. „Dann bleib halt da“, murmelte er, kehrte dem widerspenstigen Gerät den Rücken zu und ging wieder zurück in die Küche, wo ihn jetzt ein sage und schreibe 45 cm breiter Streifen ungenutzte Arbeitsfläche anlachte. Nathan grinste. So hatte er sich das vorgestellt. Eilig befreite er das neu gewonnene Areal vom Staub, der sich unter und hinter der Maschine gesammelt hatte, bevor er Olivenöl, Tomatenmark, Salz, Essig, Zucker sowie die frischen Kräuter im lockeren Halbkreis darauf verteilte. Zum Schluss holte er noch den Mörser aus der hintersten Ecke des Küchenschrankes. Marvin hatte ihm das edle Utensil zum letzten Geburtstag geschenkt. Allein das Gewicht war beeindruckend. Mehr als drei Pfund feinsten, italienischen Marmors musste Nathan auf die Arbeitsfläche hieven, bevor er endlich anfangen konnte zu kochen. Und kochen würde er jetzt! Langsam erhitzte er die gesprenkelte Keramikpfanne und gab Olivenöl sowie die gewürfelten Zwiebeln dazu. Schon bald stiegen erste Bläschen auf; die Zwiebeln begannen zu zischeln. Sorgfältig rührte Nathan mit dem großen Holzlöffel um, damit sie nicht braun wurden. Als die Stücke glasig geworden waren, fügte er Karotten und Sellerie hinzu und rührte weiter, bis auch das restliche Gemüse leicht angedünstet war. Es roch bereits herrlich nach Essen.   Als Nächstes kam das Tomatenmark. Es zischte, als die rote Paste auf die Pfanne traf. Schnell vermischte Nathan die Zutaten, ließ das Mark leicht anrösten und gab schließlich Salz, Pfeffer, etwas Essig und Zucker dazu. Nachdem er noch eine halbe Tasse Wasser beigefügt hatte, reduzierte er die Hitze und deckte die Pfanne mit einem Glasdeckel ab. Jetzt würde er die Soße köcheln lassen, bis sie gut durchgezogen und das Gemüse gar geworden war. Danach musste er nur noch ein wenig abschmecken und der erste Teil war erledigt.   Fehlen nur noch zwei. Mit einem geübten Griff stellte er noch schnell einen Topf mit Wasser auf die freie Herdplatte, bevor er sich dem Mörser zuwendete. Natürlich hätte er die Kräuter und Gewürze auch einfach mit in die Soße geben können, aber das Ergebnis wäre nicht das gleiche gewesen. Was Nathan im Sinn hatte, waren verschiedene Geschmacksrichtungen, die im Mund erst einzeln zur Geltung kamen, bevor sie sich zu einem großen Ganzen zusammenfügten. Und genau deswegen würde er jetzt Handarbeit walten lassen. Das ausgesuchte Grün des Karottenbundes verschwand zusammen mit dem Knoblauch und einer guten Handvoll frischem Koriander in der großen Schale, in die Nathan zuvor bereits einige Cashewkerne gegeben hatte. Er griff nach dem Stößel und zerrieb die feinen Zutaten sorgfältig. Zwischendurch gab er immer wieder ein wenig Olivenöl und ganz zum Schluss noch etwas Sesamöl dazu. Salz, Pfeffer und etwas Zitronensaft rundeten das Ganze ab. Nathan schnupperte. Der intensive, frische Geruch, der von dem Pesto ausging, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Zusammen mit der eher bodenständigen Soße und der leichten Pasta, würde sich ein Gericht ergeben, dass perfekt zur Jahreszeit passte. Nicht mehr ganz Winter, aber noch nicht ganz Frühling. Nur eine Verheißung, ein Vorgeschmack, der dazu einlud zu träumen.   Über seine Schwärmerei hätte Nathan beinahe vergessen, die Nudeln ins Wasser zu geben. Schnell holte er das nach und stellte auf seinem Handy einen Timer für die Garzeit. „Jetzt brauche ich nur noch die richtige Aufmachung.“ Flach? Nein. Schüssel? Nein! Ah, da. Der. Der ist gut. Nathan zog einen der riesigen, weißen Pastateller hervor, die er sich einmal in einem Anfall von Wahnsinn gekauft hatte. Die Dinger waren so gigantisch, dass sie keinen Platz in der winzigen Küche fanden und deshalb – ebenso wie das restliche Geschirr – im Wohnzimmer aufbewahrt werden mussten. Doch trotz ihres fast schon obszönen Ausmaßes würden sie genau die richtige Bühne für seine Linguini à la Nathan ergeben. Kaum hatte er das gedacht, klingelte auch schon sein Handy. Die Nudeln mussten abgegossen werden. Keine Zehn Minuten später saß Nathan vor seiner Kreation. Auf einem Berg genau auf den Punkt gegarter, unschuldig weißer Linguini thronte ein kräftiger Hieb der kräftigen, orangeroten Soße. Gekrönt hatte Nathan das Ganze mit einem guten Esslöffel des saftiggrünen Pestos. Es sah fast aus wie aus einem Kochbuch. „Halt, erst ein Foto“, gemahnte sich Nathan und schoss eine Reihe von Bildern, bevor er das Gerät beiseite legte und nach dem Besteck griff. „Na dann, guten Appetit.“ Er nickte der Kaffeemaschine zu, die ihm gegenüber immer noch vorwurfsvoll auf dem Boden hockte, und hob die Gabel. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Der Moment, der die Frage beantworten würde, ob es auch wirklich so schmeckte, wie Nathan es sich ausgemalt hatte. Er wickelte einige Nudeln auf, ergänzte noch ein wenig Soße und führte sie anschließend zum Mund. Kurz pusten und dann … Geschmack! Zur Sicherheit schloss Nathan die Augen, um sich auch wirklich auf das Erlebnis einzulassen. Es war heiß und vollmundig, aber gleichzeitig frisch und kühlend. Süß und salzig mit einem angenehmen Biss, der nicht mehr ganz knackig war, sondern eher ein vollmundiges Wohlgefühl auslöste. Schnell nahm Nathan noch einen zweiten Bissen und die Berg- und Talfahrt wiederholte sich, wenngleich auch mit anderen Anteilen. Je nachdem, von welcher Soße man mehr nahm, schmeckte es mal so, und mal so. Hier war es süß und dort eher scharf, an anderer Stelle wiederum einfach nur lecker. Ein Gericht, dass niemals langweilig wurde, weil es immer wieder anders schmeckte. Immer wieder neu, mit jedem Bissen. „Es ist perfekt“, murmelte er den Mund noch voller Nudeln. „Ich muss das aufschreiben.“ Er ließ die Gabel fallen, rappelte sich auf und eilte zum Schreibtisch. Mit fahrigen Bewegungen suchte er nach einem freien Stück Papier, fand es und begann zu schreiben. Vergessen war sein Essen, vergessen die Kaffeemaschine oder Marvin oder sonst irgendetwas. Jetzt galt es nur, das Rezept möglichst detailgetreu niederzuschreiben. Wie viel Koriander, wie viel Knoblauch, wie viel Gramm Karotten hatte er in etwa genommen? Wie lange die Soße köcheln lassen? Zwei- oder dreifach konzentriertes Tomatenmark? Welches Olivenöl? Nathan war so versunken in seinen Aufzeichnungen, dass er gar nicht merkte, wie die Zeit voranschritt. Als er den Stift endlich beiseite legte, war sein Essen kalt geworden und die Uhr auf halb elf vorgerückt. Nathan rieb sich die Augen. Wird Zeit ins Bett zu gehen. Den Teller mit den übrig gebliebenen Linguini trug er zurück in die Küche. Hier sah es immer noch aus wie auf einem Schlachtfeld. Nathan gab jedoch lediglich die Reste zurück in den Topf und schloss den Deckel darüber. Aufräumen und Abwaschen würde er morgen zusammen mit dem Frühstücksgeschirr und vielleicht … Es klopfte. Nathan fuhr herum. Der Teller, den er noch in der Hand gehalten hatte, entglitt seinen Fingern und polterte in die Spüle. Nathan fluchte. Es klopfte erneut. Das war nicht die Tür. Ganz davon abgesehen, dass Nathan nicht gewusst hätte, wer zu dieser späten Stunde noch vor seiner Wohnung stehen sollte, hatte das Geräusch merkwürdig geklungen. So als hätte jemand von außen gegen die Scheibe geklopft. Die Haare in Nathans Nacken richteten sich auf. Er konnte nicht anders als auf den dunkelroten Vorhang Ende des Wohnzimmers starren. Es war genau das Fenster, an dem am Samstag … er konnte es nicht aussprechen. Nicht einmal denken. Er ist wieder da. Er ist wieder da, hämmerte es in seinem Kopf. Und gleichzeitig meinte er Marvins Stimme zu hören. Es ist nur eine Einbildung. Reine Nervensache. Da kann niemand sein. Na los, geh nachsehen. Du kannst das. Nathan ignorierte seinen wummernden Herzschlag und das Zittern seiner Hände. Mutiger, als er sich fühlte, griff er nach dem großen Tranchiermesser und gleichzeitig nach seinem Handy. Sollte er flüchten müssen, würde er nicht wieder vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt in seinem Badezimmer ausharren. Er würde die Cops rufen und diesem Spuk ein Ende setzen. Aber erst einmal würde er überprüfen, ob dort draußen tatsächlich jemand war. Nur zur Sicherheit. Das Messer wie eine Lanze vor sich haltend näherte Nathan sich dem Vorhang. Er griff mit der freien Hand danach und zählte langsam bis drei. Und dann noch einmal. Beim dritten Mal traute er sich immer noch nicht, den Stoff beiseitezuschieben. Was, wenn dort wirklich jemand stand? Was dann? Jetzt sei nicht so ein Feigling. Los, mach! Noch einmal atmete Nathan tief durch, nahm all seinen Mut zusammen und riss den Vorhang zur Seite.   Ihm gegenüber stand eine dunkle, mit einem Messer bewaffnete Gestalt.   Panisch wich Nathan zurück, bereit zuzustechen, aber dann … wurde ihm plötzlich klar, was er da sah. Ein ersticktes Lachen entkam seiner Kehle. Das, was er im ersten Moment für einen fremden Mann gehalten hatte, war nur sein eigenes Spiegelbild. Hinter sich konnte er sein Wohnzimmer ausmachen; die gemütliche Stehlampe, die Regale, ja sogar den Umriss des Sofas. Auf der anderen Seite des Glases jedoch war nichts. Nur die beleuchteten Vierecke auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und jede Menge leerer Raum. Mit einem tiefen Aufatmen legte Nathan das Messer beiseite und trat ans Fenster. Er öffnete die Verriegelungen und schob die schwere Scheibe nach oben. Kalte Nachtluft strömte an ihm vorbei in das warme Wohnzimmer und das ferne Rauschen der Hauptstraße legte sich auf seine Ohren. Ein klappernder Truck fuhr unter ihm vorbei. Nathan sah die Scheinwerfer auftauchen und wieder verschwinden. Irgendwo lachten Leute. Eine Gruppe von Barbesuchern vielleicht, die jetzt den Heimweg angetreten hatten. Schritte kamen näher und verklangen dann wieder in der dunklen Nacht. Nathan begann sich zu entspannen. Es war wirklich nur eine Sinnestäuschung gewesen. Der Sims, der sich unterhalb seines Fensters befand, war leer. „Guten Abend, Nathan.“ Nathans Kopf ruckte nach oben und kollidierte schmerzhaft mit dem Fensterrahmen. Er schrie auf, schlug ihn sich gleich noch einmal an und schaffte es endlich, das schmerzende Körperteil nach drinnen zu ziehen. Rückwärts stolpernd flüchtete er vor der lebendig gewordenen Dunkelheit, die sich jetzt neben seinem Fenster auftürmte. Dabei wischte er nicht nur haufenweise Notizen sondern auch das kostbare Messer vom Schreibtisch. Es ging polternd zu Boden und schlitterte über die blank polierten Dielen. Nathan hechtete hinterher, aber zu spät. Die Waffe verschwand zielsicher unter dem Sofa und mit ihr Nathans einzige Hoffnung auf Rettung. „Oh, habe ich dich erschreckt?“ Nathan wirbelte herum. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete er die Gestalt, die sich jetzt aus den Schatten schälte. Es war der Mann. Der gleiche Mann, den er schon einmal gesehen hatte. Er war wieder da. Und er lächelte. „Darf ich reinkommen?“ Die Frage des Fremden hatte beinahe ein Nicken zur Folge. Erst im letzten Moment zogen Nathans verbliebene Gehirnzellen die Bremse und machten aus der begonnenen Bewegung ein Kopfschütteln. Der Fremde verzog keine Miene. „Darf ich hereinkommen?“, wiederholte er nur seine Frage. Nathan schien es, als wäre sein Tonfall dieses Mal ein wenig drängender, fordernder. Fast so als … bräuchte er die Erlaubnis. Als könnte er nicht einfach einen Fuß über die niedrige Brüstung setzen, zu Nathan ins Zimmer kommen und ihn kaltblütig umbringen. Stattdessen stand er da, als wartete er auf etwas. „Äh …“ Zu mehr Eloquenz fühlte Nathan sich gerade nicht imstande. Der Fremde wendete kurz den Kopf, als wolle er sich umsehen, bevor er sich wieder Nathan zuwandte. „Mir wäre es wirklich angenehm, wenn wir diese Unterhaltung nach drinnen verlegen könnten. Also, darf ich hereinkommen?“ Noch einmal deutete der Mann auf die Fensteröffnung. Und kam tatsächlich nicht rein. Es war absolut surreal. „Ähm … nein?“, äußerte Nathan vorsichtig. Vermutlich war es ohnehin egal, was er antwortete. Er war ohnehin so gut wie tot. Die Augen des Fremden glommen auf. „Nein?“, fragte er nach. Sein Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Trotzdem meinte Nathan zu spüren, dass etwas von ihm ausging. Eine dunkle Macht, die sich nach Nathan ausstreckte und ihn doch nicht erreichen konnte. Nicht ganz. Nicht hier. Nicht in seinem Zuhause. „Nein“, wiederholte Nathan, dieses Mal fester. Noch immer starrte der Fremde zu ihm herein. Dann lachte er plötzlich. Es war ein junges, unschuldiges Lachen. „Oh, entschuldige. Ich vergesse meine Manieren. Vielleicht sollte ich mich zunächst vorstellen. Mein Name ist Ezra.“ Ezra. Nathan rollte den Namen in Gedanken auf seiner Zunge hin und her. Er klang fremd und gleichzeitig vertraut. Wie ein … Freund. Und wenn Nathan jetzt seinen Namen kannte, war er auch kein Fremder mehr. Das hieß doch, dass er ihn hereinlassen konnte, oder nicht? Nein! Nathan ballte die Hand zur Faust. Das hier war ganz und gar nicht nett oder harmlos oder irgendwas. Da stand ein Irrer mitten in der Nacht vor seinem Fenster. Im sechsten Stock! Und wollte hereingelassen werden! Auf gar keinen Fall!! „Ich werde jetzt die Polizei rufen“, verkündete Nathan und tastete nach seinem Handy. Schnell., bevor er es sich anders überlegen konnte, wählte er die Nummer. „Nathan, lass mich …“ „Notrufzentrale, was möchten Sie melden?“ „Ja, ich …“ „Nathan.“ „Also da ist …“ „Nathan.“ „Ich möchte gerne …“ „Nathan!“ „Argh! Könntest du mal die Klappe halten? Ich versuche zu telefonieren.“ Nathan funkelte seinen ungebetenen Gast an, während er den Hörer zuhielt. Ezra legte den Kopf ein wenig schief, blieb aber, wo er war. Nathan knurrte und wandte sich wieder dem Telefon zu. „Ja, also, ich habe da … ach wissen Sie was, vergessen Sie es. Ich rufe später nochmal an.“ Er legte auf, bevor die Frau am anderen Ende noch einmal nachfragen konnte. Dann starrte er das Display an, als könne er nicht glauben, was er gerade getan hatte. Er hatte aufgelegt. Warum? Weil es vollkommen verrückt ist. Sie hätte dir eh nicht geglaubt. „Können wir uns jetzt unterhalten?“ Nathan blickte auf. Ezra stand immer noch vor dem Fenster, während er hier auf dem Boden herumhockte wie ein Vollidiot. Das war wirklich vollkommen bescheuert. Wahrscheinlich habe ich mir tatsächlich den Kopf angestoßen und liege gerade bewusstlos in meinem Wohnzimmer herum, während das offene Fenster meine Heizungsrechnung in die Höhe treibt. Ich sollte schleunigst aufwachen. Nathan schloss die Augen, zählte leise bis zehn und öffnete sie wieder. An seiner Aussicht hatte sich nichts verändert. Da stand immer noch ein Mann vor seinem Fenster. Also noch einmal. Augen fest zupressen, bis zehn zählen, öffnen. Ezra war immer noch da. „Scheiße!“ „Wie meinen?“ Jetzt sprach die Halluzination auch noch mit ihm. So ein verdammter Mist! Ächzend rappelte Nathan sich auf und trat sicherheitshalber noch einen Schritt zurück, bevor er den Mann auf dem Sims einer ersten, ernsthaften Musterung unterzog. Der Fremd trug einen langen, schwarzen Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Sein Gesicht war blass, die Haare dunkel. Hohe Wangenknochen und eine schmale, ausdrucksvoll geschwungene Nase gaben ihm etwas Verwegenes, Kühnes. Am auffälligsten waren jedoch seine Augen. Ein tiefes, unergründliches Blau, das mitten in Nathans Seele hinab zu blicken schien. Wie ein Abgrund, der in einen hineinschaut, dachte er und schüttelte gleich darauf den Kopf. Was für ein Unsinn! „Was willst du?“, fragte er und versuchte dabei fest und sicher zu klingen. Da der Mann – Ezra – offenbar nicht vorhatte, ihn umzubringen, wurde er ihn vielleicht am schnellsten los, wenn er ihm gab, was er wollte. „Geld? Den Fernseher? Mein Handy?“ Ezras Lippen zuckten. „Nichts von alldem. Ich möchte dich lediglich etwas fragen. Wegen Samstagnacht.“ Samstagnacht. Die Nacht, in der Nathan diese schrecklichen Geräusche gehört hatte. Noch jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er nur daran dachte. Eine Reaktion, die sich offenbar auf seinem Gesicht widerspiegelte. Ezra musterte ihn eindringlich. „Du hast etwas gesehen, nicht wahr? Was war es? Sag es mir!“ Der Befehl traf Nathan wie eine Ohrfeige. Ihm war, als drückte etwas seine Kiefer auseinander, um die Antwort mit glühenden Zangen aus ihm herauszuholen. Unwillkürlich wich er weiter zurück. Ezra fauchte. „Was ist los? Willst du mir nicht antworten?“ Doch. Doch, das wollte Nathan unbedingt. Aber gleichzeitig sträubte sich alles in ihm gegen diesen … Zwang. Genau das war das Wort, das er gesucht hatte. Irgendwas war hier faul. „Warum willst du das wissen?“, stieß er hervor. Im Grunde war er selbst überrascht, dass er das hinbekommen hatte. Auch Ezra schien in höchstem Maße irritiert. „Wie kannst du …?“, begann er, bevor er sich selbst stoppte. Seine Gesichtszüge wurden ausdruckslos. „Egal! Sag mir jetzt, was du gesehen hast.“ „Sag du mir erst, warum du das wissen willst.“ Einige Augenblicke lang starrten sie sich einfach nur an. Nathan war sich bewusst, dass, wenn sie jetzt woanders gewesen wären, er vermutlich flach auf dem Rücken gelegen hätte, ein Knie auf der Brust und eine Waffe zwischen den Zähnen. Aber aus irgendeinem Grund war er noch am Leben und es sah so aus, als würde er es auch bleiben. Wenigstens bis er Ezra verraten hatte, was der wissen wollte. Und genau deswegen würde er garantiert nicht … Ezra seufzte leise. „Na schön, du hast gewonnen. Ich gebe auf. Also würdest du mir jetzt bitte sagen, was du in dieser Nacht gesehen hast?“ Dieses Mal war es wirklich eine Frage. Eine Bitte. Nathan konnte den Unterschied spüren. Und er konnte Nein sagen, wenn er wollte. Und genau deswegen wollte er es nicht mehr. Verdammte umgekehrte Psychologie. „Ich … ich habe nicht wirklich etwas gesehen“, gab er stockend zu. „Nur gehört. Es klang wie ein … ein Tier, das sich an irgendwelchen Abfällen gütlich tat. Und dann war da noch ein Krachen. Das war, nachdem mein Telefon geklingelt hatte. Ich habe eine Nachricht von …“ Nathan biss sich auf die Zunge. Er durfte Marvin nicht hier mit reinziehen. „… einem Freund bekommen. Danach bin ich weggelaufen. Mehr weiß ich nicht.“ Ezra reagierte zunächst nicht auf diese Eröffnung. Er sah zwar immer noch in Nathans Richtung, aber sein Blick schien durch ihn hindurch ins Leere zu gehen. Irgendwann erwachte er aus seiner Starre. „Ist das wirklich alles?“, wollte er wissen. Nathan nickte. Ezra atmete hörbar aus. Nathan hatte das Gefühl, dass er enttäuscht war. Doch noch bevor er danach fragen konnte, hatte Ezra sich bereits wieder in der Gewalt. Ein nichtssagendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Nun gut, dann werde ich wohl weitersuchen müssen. Trotzdem würde ich dir gerne meine Telefonnummer dalassen. Nur für den Fall, dass dir noch etwas einfällt.“ Er zog eine edel aussehende Visitenkarte aus der Manteltasche und hielt sie Nathan hin. Fast schon automatisch machte der zwei Schritte nach vorn und wollte gerade danach greifen, als ihm bewusst wurde, wie nahe er gerade an das Fenster getreten war. Sofort blieb er stehen. Sein Kopf schnappte nach oben und er konnte gerade noch den Anflug eines Grinsens aus Ezras Gesicht verschwinden sehen, bevor der ihn fragend ansah. „Was ist?“, wollte er wissen. „Nimm sie nur. Ich beiße nicht.“ Nathan schluckte. Irgendetwas an diesem Satz war nicht in Ordnung. So überhaupt nicht in Ordnung. Er konnte nur nicht den Finger darauf legen, was es war. Mühsam schob er seine Mundwinkel nach oben. „D-danke. A-aber vielleicht … vielleicht legst du sie einfach aufs Fensterbrett? Und ich hole sie mir dann, wenn du weg bist. Das macht weniger Umstände.“ Nathan wusste, dass er absoluten Schwachsinn plapperte. Und er wusste, dass Ezra das ebenfalls wusste. Trotzdem teilte ein Lächeln seine eigenartig rosigen Lippen. „Du bist schlauer, als du aussiehst“, konstatierte er und legte die Karte tatsächlich auf die Fensterbank. „Hier, bitte sehr. Kein Netz und kein doppelter Boden.“ Wie um seine Worte zu beweisen, hielt er die Hände hoch und trat einen Schritt zurück. Nathan hielt unwillkürlich den Atem an. Ezra musste jetzt am Rand des Simses stehen, nur einen Schritt entfernt vom sicheren Tod. „Du solltest aufpassen, dass du da nicht runterfällst. Es ist ziemlich tief.“ „So?“ Ezra tat überrascht und lehnte sich noch ein Stück nach hinten. „Ach du meine Güte, ja. Das sind bestimmt wie viel? 20, 25 Meter?“ „Bitte, sei vorsichtig!“ Nathans Stimme hatte wie von selbst einen flehenden Klang angenommen. Ezra sah ihn an und wirkte amüsiert. „Du sorgst dich tatsächlich um mich, oder?“ Nathan blinzelte. Jetzt, wo Ezra fragte, klang das tatsächlich reichlich dämlich. Der andere schien aber gar keine Antwort zu erwarten. Er sah Nathan nur noch einen Augenblick lang an, bevor er sich umdrehte und über die Schulter hinweg rief: „Pass auf dich auf, kleiner Nathan. Und halte dich lieber von dunklen Gassen fern. Manchmal lauern dort sehr unschöne Überraschungen auf unvorsichtige Spaziergänger.“ Dann war er fort. Nathan stürzte zum Fenster. Er lehnte sich über die Brüstung und spähte panisch nach unten, aber da war niemand. Keine zerschmetterte Leiche auf dem Gehweg und auch sonst war niemand zu sehen. Sein nächtlicher Besucher hatte sich in Luft ausgelöst. „Der Wahnsinn. Einfach absoluter Wahnsinn“, murmelte Nathan und sah hinab auf das elfenbeinfarbene Rechteck, das neben ihm auf dem Fensterrahmen lag. Neugierig hob er es auf und besah es von allen Seiten. Das Papier war dick, geprägt und schimmerte im Licht des aufgehenden Mondes wie Seide. Ein absolutes Kleinod, das bestimmt ein Heidengeld gekostet hatte. Wenn man es ansah, rechnete man mit Goldbuchstaben und der Adresse eines Top-Anwalts oder eines erfolgreichen Börsenmaklers der oberen Zehntausend. Es gab da nur ein Problem: Die Visitenkarte war leer.   Kapitel 4: Kinder der Nacht --------------------------- Die Jalousien des Apartments waren bereits heruntergelassen, die Lichter gelöscht und nur der Kamin am anderen Ende des Raums brannte noch. Sein orangeroter Schein brach sich in den schimmernden Marmorböden, beleuchtete die mit ausgesuchten Kunstobjekten dekorierten Wände und fiel schließlich auf die Gestalt, die in dem Sessel ganz nah am Feuer saß. Es war ein Mann jenseits der 50 mit einem grauen Schnurrbart und für sein Alter hellen, wachen Augen. „Du kommst spät“, sagte Aemilius, während er weiter in die Flammen starrte. „Warst du erfolgreich?“ Ezra trat näher. „Wie man es nimmt. Ich habe den Zeugen befragt. Er sagt, er habe nichts gesehen.“ Aemilius verzog den Mund. „Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Ich gehe davon aus, dass du ihn beseitigt hast?“ Ezra hatte gewusst, dass die Frage kommen würde. Seine Finger strichen über den Rücken der weißen Ledergarnitur. „Nein“, gab er zu. „Ich habe ihn verschont. Vorerst.“ „Vorerst?“ Aemilius’ Ton wurde eine Nuance aufmerksamer. „Wie darf ich das verstehen?“ Ezra konnte den Blick des anderen wie Nadelstiche auf sich spüren. „Ich gedenke, die Gegend noch weiter zu beobachten. Vielleicht haben wir ja Glück und er wurde gesehen.“ Für einen Augenblick schwieg Aemilius, dann lachte er. „Ich verstehe. Du willst ihn als Köder benutzen. Das ist clever. Aber wenn er zu einer Gefahr wird …“ „Töte ich ihn.“ Die Worte kamen leicht über Ezras Lippen. „Gut, dann leg dich jetzt schlafen. Darnelle ist bereits in seinen Gemächern.“ „Wie du wünschst, Vater.“ Ezra deutete eine Verbeugung an, bevor er sich umdrehte und sich rasch entfernte. Er wusste, dass Aemilius nur auf ihn gewartet hatte. Er wünschte nur, er wäre mit besseren Neuigkeiten gekommen. Als er am Fuß der Treppe ankam, die ihn in das mittlere Stockwerk des Penthouses brachte, blieb er stehen. Ihm gegenüber an der Wand war über einer Sitzgruppe ein Gemälde angebracht. Lebensgroß und atemberaubend schön. An manchen Tagen, wenn die Lichtverhältnisse günstig waren, erschien es ihm, als könnte Elisabeth sich jeden Moment von der Leinwand lösen und zu ihm in den Raum hinabsteigen. Sie würde ihm die Hand reichen und sie würden wieder miteinander tanzen, lachen und Konversation betreiben. Alles würde wie damals sein. Vor dem Angriff, dem Krieg, dem Feuer. „Schon zurück?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Darnelle hatte sich unbemerkt herangeschlichen. Manchmal fragte Ezra sich, wie er das machte. „Wie du siehst“, gab er zur Antwort und wollte sich zu seinem Bruder herumdrehen, doch der presste sich fest gegen seinen Rücken. Sein Atem streifte Ezras Hals. Er schnupperte. „Du riechst nach Mensch“, konstatierte er. „Hast du gut gegessen?“ Ezra schüttelte leicht den Kopf.   „Ich hatte keine Zeit.“ „Oh, armes Baby“, säuselte Darnelle. „Nicht einmal Zeit für einen kleinen Snack? Du weißt, dass meine Clubs dir jederzeit offenstehen.“ Er löste sich von Ezras Rückseite und trat um ihn herum. Seine bloße Brust wurde nur nachlässig von einem seidenen Morgenmantel bedeckt. Das dunkle, florale Muster changierte im diffusen Licht des abgedunkelten Apartments. Darunter trug er lediglich eine Pyjamahose. Als er Ezras Blick bemerkte, lächelte er. „Gefällt es dir? Kam heute Morgen aus Paris an.“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse, um Ezra einen besseren Blick zu gönnen. Der nickte beifällig. „Es steht dir. Ja, wirklich.“ „Fand ich auch.“ Immer noch lächelnd kam Darnelle wieder näher. Ezra konnte das Glitzern in seinen Augen erkennen. „Aber nun noch einmal zu dir. Ich kann dich unmöglich hungrig ins Bett gehen lassen. Also, was hältst du von Zimmerservice?“ „Zimmerservice?“ Ezra runzelte die Stirn. „Nein, danke. Ich komm schon zurecht.“ Er wollte sich abwenden, aber Darnelle fing sein Handgelenk ein und zog ihn zu sich heran. „Ich würde mich auch um alles kümmern. Die Auswahl, die Vorbereitung, die Entsorgung. Du brauchst es nur zu sagen. Ich mache es möglich.“ Sein Gesicht hatte einen gierigen, fast schon wölfischen Ausdruck angenommen. Ezra begann zu grinsen. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“ „Immer, Bruderherz. Immer.“ Darnelles spitze Zähne glänzten im Dunkeln. Ezra erinnerte sich daran, wie er sie das erste Mal zu spüren bekommen hatte. Darnelle war wilder, ungestümer und brutaler gewesen als Elisabeth. Eher wie ein Raubtier, denn wie ein Verführer. Auch jetzt blitzte diese Wildheit wieder unter der geschniegelten Fassade hervor. „Es gäbe da natürlich noch eine andere Möglichkeit“, sagte Darnelle fast schon beiläufig und fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers über Ezras Brust. „Du weißt, was ich meine.“ Mit diesen Worten streifte er den Kimono von den Schultern und enthüllte seinen sehnigen Oberkörper, die weißen, makellosen Schultern und den Hals. Der Anblick nahm Ezra gefangen und ließ seinen Mund trocken werden. Er hatte Hunger. „Du weißt, dass wir das nicht dürfen“, versuchte er einzuwenden, aber Darnelle achtete nicht auf seine Worte. Mühelos überwand er auch noch die letzte Distanz zwischen ihnen und war mit einem mal so nah, dass Ezra ihn riechen konnte. Zeder, Moschus und etwas, das er nur als Aquamarin beschreiben konnte, fluteten seine Sinne. Dazwischen Darnelles ganz eigener Geruch. Eine süßliche Note, die an Ezras Verstand kratzte. Er begann zu zittern. „Natürlich weiß ich das“ flüsterte Darnelles Stimme ganz nah an seinem Ohr. „Aber was kümmern uns dumme Gesetzte, die von dummen, alten Vampiren aufgestellt wurden. Wir beide brauchen das doch nicht, Bruder. Wir würden einander nie ernsthaft verletzen oder gar töten. Du weißt das und ich weiß das auch. Also los, bedien dich. Ich bin ganz dein.“ Er neigte den Kopf zur Seite und präsentierte seinen Hals. Ezra konnte hören, wie die Schlagader unter der Haut pulsierte. Unablässig pumpte das Herz den roten Lebenssaft durch die Adern. Bu-bumm, bu-bumm, bu-bumm. Wie eine Ritualtrommel. Ein ferner Sirenengesang, der ihn gefangen nahm und ihn willenlos machte. Er brauchte etwas zu essen. Er brauchte Blut. Jetzt. Jetzt. JETZT! Ohne sich noch länger zurückhalten zu können, biss er zu. Er versenkte seine Zähne in Darnelles Fleisch und konnte ihn stöhnen hören. Sein Unterkörper zuckte Ezra entgegen und unbewusst erwiderte er die Bewegung. Blut sprudelte in seinen Mund. Er schluckte, schmeckte, kostete. War wie im Rausch. Es war das gleiche Gefühl, dass er auch bei einem Menschen hatte, aber noch viel, viel stärker. Vampirblut war wie eine Droge. Pure Kraft, die mit jedem Schluck in seinen Mund schoss und ihn stärker und stärker saugen ließ. Kaum bekam er mit, dass er Darnelle packte und gegen die Wand schleuderte. Ihn festhielt und ihm mehr und mehr seiner Lebensenergie abzapfte. Erst, als Darnelle ihn grob an den Haaren packte und seinen Kopf zurückriss, kam er wieder zur Besinnung. Keuchend ließ er von seinem Bruder ab und stolperte rückwärts. Blut floss Darnelles Hals hinab. Ein rotes Rinnsal, das mit jedem Pulsschlag schwächer wurde. Die Wunden an seinem Hals schlossen sich rasch. Er lachte und fuhr mit dem Finger durch die rote Flüssigkeit. „War es gut?“, fragte er. Ezra konnte sehen, dass seine Beine zitterten. Darnelle war kurz davor zusammenzubrechen. Sofort war er bei ihm. Griff ihm unter die Arme. Stützte ihn. Seine Augen suchten Darnelles Blick. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Ich habe mich hinreißen lassen.“ „Keine Sorge, kleiner Bruder. Ich lebe ja noch.“ Er fuhr noch einmal mit der gesamten Hand durch das Blut auf seiner nackten Haut. Die Geste war eindeutig obszön aber auch seltsam erregend. Unwillkürlich rückte Ezra näher heran. Lächelnd hielt Darnelle ihm einen Finger hin. Ezra öffnete den Mund und ließ das blutbesudelte Glied hineingleiten. Sacht begann er zu saugen. Darnelle grinste. Er entzog Ezra den Finger und benetzte ihn erneut. Doch statt ihn Ezra hinzuhalten, bestrich er seine Lippen damit. Auffordernd sah er Ezra an. „Komm und hol es dir, Bruder.“ In Ezras Ohren rauschte es. Er fühlte Darnelles Körper unter seinen Händen. Feste Haut und angespannte Muskeln. Das Pulsieren in seinem eigenen Schritt. Das Blut. Die unmissverständliche Härte, die sich gegen seine drückte. Sie wollten es. Sie wollten es beide. Mit einem tiefen Atemzug lehnte er sich vor und brachte ihre Münder zusammen. Sofort teilten sich Darnelles Lippen und luden ihn ein, tiefer vorzudringen. Blutiger Speichel mischte sich mit reinem. Fahrige Hände begannen, sein Hemd zu öffnen. Einer der Knöpfe verschwand klappernd im Dunkel. Darnelles Zunge glitt über seine Brust, seine Hände öffneten Gürtel und Hose. Glitschige Feuchtigkeit legte sich um Ezras Länge und ließ ihn aufstöhnen. Er brauchte mehr. Mehr! Grollend wirbelte er Darnelle herum und stieß ihn gegen die Wand. Mit der einen Hand hielt er seinen Bruder fest, mit der anderen riss er das letzte Stück Stoff entzwei, das sie beide trennte. Glühende Hitze schob sich zwischen Darnelles entblößte Backen. Sein abgehackter Atem hallte von den Wänden wieder. Willig drängte er sich Ezra entgegen. „Nimm mich“, keuchte er. „Nimm mich jetzt.“ „Aber Aemilius …“ „Wird uns nicht hören. Ich kann sehr leise sein.“ Dunkle Striemen zeichneten die Stellen, an denen er das Blut verschmiert hatte. Der Anblick und der Geruch entfachten Ezras Hunger von Neuem. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, seine Fänge noch einmal in den bebenden Körper vor sich zu graben. Er wollte ihn nicht noch mehr verletzen. „Gib mir Zeit, etwas zu holen“, stieß er hervor und wollte sich entfernen, aber Darnelle hielt ihn zurück. „In der Tasche.“   Ezra verstand sofort. Er fand das kleine Päckchen in der Seitentasche des Morgenmantels, riss es auf und verteilte den Inhalt großzügig. Danach trat er wieder hinter Darnelle. Noch einmal drängte er sich an ihn und fuhr mit den Händen seine Seiten entlang. Sanfter und vorsichtiger dieses Mal. Er hatte nicht vergessen, wie geschwächt der andere war. „Wir könnten auch ins Schlafzimmer gehen. Dort kannst du dich ausruhen und ich dich entsprechend … entlohnen.“ Darnelle schüttelte den Kopf. „Ich will, dass sie uns zusieht. Wie damals.“ Er drehte sich leicht zu dem Gemälde, das immer noch milde lächelnd auf sie herabsah. Wie oft hatten Darnelle und er sich unter Elisabeths glühenden Blicken geliebt. Zu zweit, zu dritt, in seltenen Fällen sogar zu viert. Manchmal hatten sie Menschen dazu geholt. Frauen, Männer, Wesen die weder noch waren oder beides in einem. Meist hatten die armen Dinger die Nacht nicht überlebt. Damals war es noch einfach gewesen, die toten Körper danach verschwinden zu lassen. Wann war ihm das egal geworden? „Bitte. Ich brauche es.“ Darnelles Stimme war zu einem heiseren Flüstern herabgesunken. In seinen Augen schimmerte Sehnsucht. Verzweiflung. Schmerz. Ezra zögerte nicht mehr. Behutsam zog er den anderen in seine Arme. Er würde ihm geben, wonach er verlangte. Das und mehr. Viel mehr. Bis in alle Ewigkeit. Marvins Stirn schlug gewaltige Wellen, während er Nathan zuhörte, der ihm noch einmal haarklein die Erlebnisse der letzten Nacht wiedergab. Als er geendet hatte, starrten sie beide auf das kleine, helle Viereck, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Nathan hatte dieses Mal ein Café in einer kleinen Seitenstraße für ihr Treffen ausgesucht. In dem Laden mit den dunklen Holzmöbeln und den cremefarbenen Wänden war es ruhiger und etwas diskreter, auch wenn seine Auswahl sich hier auf Blaubeermuffins und Soja-Latte beschränkte. Allerdings hatte er auch den Eindruck, dass sein Gehirn die Extraportion Zucker gerade gut gebrauchen konnte. Es lief nämlich auf Hochtouren. „Und, was sagst du?“, fragte er aufgeregt. Marvin atmete tief ein und wieder aus. „Normalerweise würde ich ja immer noch sagen, dass du dir das alles nur eingebildet hast, aber …“ Er hob die Hand, bevor Nathan ihn unterbrechen konnte. „Träume hinterlassen normalerweise keine Visitenkarten. Und Halluzinationen auch nicht. Wenn du mir also nicht einen gewaltigen Bären aufgebunden hast …“ „Das würde ich nie tun!“ „… würde ich sagen, du hast ein Problem. Ein ziemlich großes Problem sogar.“ Marvin griff nach der Visitenkarte und nahm sie ganz genau in Augenschein. Er besah sich Vorder- und Rückseite, fuhr mit den Fingern über die Ränder, kratzte vorsichtig an einer Ecke herum und roch schlussendlich am Papier. Erneut legte sich seine Stirn in Falten. „Ich kenne diesen Geruch“, brummte er. „Aber woher?“ Nathan fühlte Wärme aus seinem Kragen nach oben steigen. „Tja also, das ist … mein Waschmittel.“ Marvin guckte verständnislos. „Wieso Waschmittel? Hast du die Karte gewaschen? „Ich hab sie gebügelt.“ Marvin blinzelte. „Wie meinen?“ Nathan seufzte. „Ich sagte, ich habe sie gebügelt. In Ermangelung eines Backofens, in den ich sie stecken konnte, habe ich einfach das Bügeleisen benutzt. Ich wollte sehen, ob vielleicht irgendeine Art Geheimbotschaft darauf geschrieben steht. Und damit sie nicht verbrennt, habe ich ein Geschirrtuch darüber gelegt. Deswegen der Geruch. Ich wollte ja nicht, dass sie in Flammen aufgeht. Und dann habe ich sie gebügelt. Erst mit Wolle/Seide, dann Baumwolle und am Schluss Leinen. Aber es hat alles nichts genützt. Die Karte ist leer geblieben.“ Marvin blinzelte noch einmal. „Du hast was?“ Er wedelte mit der Hand, als Nathan seine Erklärung wiederholen wollte. „Nein, bitte nicht nochmal. Ich hab schon verstanden, dass du nachgesehen hast, ob der geisteskranke Stalker dir eine geheime Botschaft mit unsichtbarer Tinte auf ein Stück sauteures Pergament gekritzelt hat. Aber weißt du eigentlich, wie bescheuert das klingt?“ Nathan zog den Kopf ein. „Sehr?“, fragte er kläglich. „Absolut sehr“, bestätigte Marvin. „Und genau deswegen hätte ich haargenau das Gleiche gemacht. Allerdings hätte ich eine Kerze genommen, dann würde das Ding jetzt wenigstens nach Vanille riechen. Oder ich hätte meine Wohnung abgefackelt. Je nachdem.“ Nathan erlaubte sich ein Grinsen, das von Marvin sofort aufgegriffen wurde. „Na gut, dann keine geheime Botschaft. Aber warum zum Kuckuck hat er sie dir dann gegeben?“ „Ich hab keine Ahnung. Vielleicht sollte ich ihn das nächste Mal fragen.“ „Das nächste Mal?“ Marvin riss die Augen auf. „Sag mir bitte, dass das ein Scherz war. Du wirst doch sicher zur Polizei gehen und das melden. Immerhin hast du jetzt etwas gegen ihn in der Hand. Vielleicht sind auf dem Ding ja sogar Fingerabdrücke drauf.“ „Nachdem ich sie gebügelt habe?“ „Ach Mist, stimmt ja. Das hatte ich vergessen.“ Unzufrieden nuckelte Marvin an seinem Strohhalm. Er hatte wirklich eine ausgeprägte Leidenschaft für die Dinger. Marvin selbst nannte es „oral veranlagt“, was immer das auch hieß. „Das heißt also, du hast keinerlei Beweise für die Existenz von Mr. Unbekannt.“ „Wenn man meine eigene Aussage nicht mitrechnet, nein.“ „Keine Fußabdrücke, Spuren auf dem Fensterglas, eine Zigarettenkippe vielleicht?“ „Alles Fehlanzeige.“ „Mhm.“ Immer noch starrte Marvin die Visitenkarte an, als könnte er das Stück Papier dadurch dazu bringen, ihm ihr Geheimnis zu verraten. Die Karte blieb jedoch störrisch und hielt weiter die Klappe. „Also gut, ich fasse mal zusammen“, sagte Marvin irgendwann in gewichtigem Tonfall. „Erstens: Dieser merkwürdige Typ, der dich neuerdings belagert, kommt immer nur nachts vorbei. Zweitens: Er hat keinerlei Schwierigkeiten damit, völlig ohne Sicherung auf einem gerade mal handtuchbreiten Sims im sechsten Stock herumzuturnen. Drittens: Er verschwindet auch von dort, ohne eine Leiter oder ähnliches zu benutzen. Viertens: Er hat merkwürdige, telepathische Kräfte, die jedoch bei dir nutzlos sind.“ „Moment mal! Ich habe nie gesagt, dass er telepathische Kräfte hat“, unterbrach Nathan seinen Freund empört. „Ich hab nur gesagt, dass es sich merkwürdig angefühlt hat, als er mir befohlen hat zu antworten.“ „Na gut, streichen wir Telepathie und ersetzen es durch Hypnose. Ist das besser?“ Marvins Augenbrauen wanderten fragend nach oben. Nathan starrte ihn böse an. „Jetzt machst du dich über mich lustig.“ „Mache ich gar nicht. Ich versuche, dir zu helfen.“ Nathan stöhnte. Er hatte gerade nicht das Gefühl, dass ihm irgendetwas helfen würde außer einem sehr wirksamen Betäubungsmittel. Eines für Elefanten vielleicht. So würde er eventuell irgendwann wieder ein wenig Schlaf finden. Ein Unterfangen, das ihm letzte Nacht nicht mehr geglückt war. Stattdessen hatte er sich bis in die frühen Morgenstunden den Kopf über Ezra zerbrochen. „Zum Schluss wäre da aber noch der merkwürdigste Punkt auf dieser Liste und zwar der, dass er deine Wohnung nicht betreten hat. Ich meine, wenn er dich ausrauben oder umbringen wollte, sollte ihn ja ein geöffnetes Fenster nicht aufhalten, hab ich recht? Und genau dieser Punkt ist es, der mich zu einem abschließenden Urteil bringt, über das es gar keinen Zweifel geben kann. Dein nächtlicher Besucher ist ein Vampir.“ Dieses Mal war es an Nathan, überrascht zu blinzeln und am Geisteszustand seines Freundes zu zweifeln. Ein Vampir? War das sein Ernst? „Ist das dein Ernst?“, wiederholte er laut. „Mein voller Ernst“, bestätigte Marvin. „Und bevor du mich jetzt für verrückt erklärst, muss ich dir sagen, dass er damit nicht alleine ist. Das Ganze ist ein regelrechter Kult.“ Marvin griff nach seinem Handy, tippte darauf herum und hielt Nathan dann eine Newsseite unter die Nase. Darauf waren Bilder von kostümierten Menschen zu sehen, die sich ganz offensichtlich als Vampire verkleidet hatten. Es gab jede Menge schwarze Kleidung, Lack und Leder, blass geschminkte Gesichter und hier und da etwas Kunstblut für den Effekt. Jedenfalls hoffte Nathan, dass es Kunstblut war. Es sah erstaunlich echt aus. „Siehst du? Vampirismus liegt voll im Trend. Obwohl einige von denen wirklich zu weit gehen. Guck dir das hier mal an.“   Marvin rief einen anderen Artikel auf. 'Vandalen auf dem Friedhof' titelte die Schlagzeile. Es folgte ein reißerischer Bericht über einige Unbekannte, die in der letzten Zeit überall in der Stadt Friedhöfe geschändet hatten. Zum Anfang der Serie hatten sie nur ein oder zwei Gräber geplündert, inzwischen waren es aber oft mehr als ein halbes Dutzend in einer Nacht. Und die Anschläge häuften sich.   „Das ist jedoch nicht alles“, erklärte Marvin weiter. „Inzwischen sind sogar schon Polizisten verschwunden, die nachts auf den Friedhöfen Streife liefen. Guck mal der hier.“   Er reichte Nathan das Handy. Darauf war ein dicker, weißer Mann in Uniform zu sehen. Nathan begann zu lesen.   „Officer Mello, 47, wurde zuletzt am Samstag gegen 23.30 Uhr am nordwestlichen Eingang des Friedhofs gesehen. Sein Kollege Officer Miles Brown sagte aus …“   „Man hat nicht die kleinste Spur von ihm entdeckt“, unterbrach Marvin ihn. „Als hätte irgendetwas ihn durch die Luft weggetragen.“ Nathans Gesichtsausdruck wurde finster. „Wenn du jetzt behauptest, dass es eine riesengroße Fledermaus war, die den Typ gekidnappt hat, verlasse ich sofort das Café und rede nie wieder ein Wort mit dir.“   „Gut“, erwiderte Marvin beleidigt, „dann sage ich es eben nicht. Aber eine gute Theorie ist es trotzdem.“ „Ja genau, und ich bin Batman.“ Mitten in das anschließende Starrduell platzte Kate, ihre Bedienung, und erkundigte sich, ob sie noch irgendwelche Wünsche hätten. Marvin orderte noch einen Cappuccino mit extra Crema, aber Nathan winkte dankend ab. Ihm schwirrte ohnehin schon der Kopf. Während Kate das Gewünschte servierte, nahm Nathan noch einmal Marvins Handy zur Hand. Der Bericht über die geschändeten Gräber überschlugen sich vor haarsträubenden Übertreibungen, Andeutungen auf okkulte Praktiken und derlei Unsinn. Es gab sogar ein Bekennerschreiben unterzeichnet mit 'Kinder der Nacht', die sich angeblich höchstselbst aus den Gräbern erhoben haben wollten, um die Stadt auf der Suche nach Menschenblut zu durchstreifen. Von all dem glaubte Nathan natürlich kein Wort, aber die Tatsache blieb bestehen, dass irgendjemand Leichen auf Friedhöfen ausgegraben hatte. Die Hinterbliebenen hatten Anzeige gegen Unbekannt gestellt, aber Nathan beschlich das ungute Gefühl, dass „Unbekannt“ vielleicht gar nicht so unbekannt war.   Eilig rief er auf einer zweiten Registerkarte eine Liste der Friedhöfe auf, die überfallen worden waren. Der letzte war am vergangenen Wochenende entweiht worden und lag nur wenige Querstraßen entfernt von dem unheimlichen Parkhaus. Nathan wurde kalt.   Das muss noch nichts heißen. Er ist vielleicht wirklich nur einer dieser durchgeknallten Verkleidungskünstler, die nachts den Mond anbeten und das Ketchup direkt aus der Flasche nuckeln. Vollkommen harmlos.   Nathan wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Ezra war einiges, aber mit Sicherheit nicht harmlos. Trotzdem konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass er zu so einer Gräueltat fähig war. Dazu hatte er zu nett gewirkt.   Dabei müsste ich doch am besten wissen, dass man sich auf den äußeren Schein nicht verlassen kann. Ich muss verdammt vorsichtig sein, wenn ich ihm nochmal begegne. Aber ich muss wissen, ob er etwas damit zu tun hat.   Als er aufblickte, sah er in Marvins misstrauisches Gesicht. „Was hast du vor?“, wollte er wissen und nicht einmal der Milchschaum, der an seiner Oberlippe klebte, änderte etwas daran, dass Nathan sich mit dem Rücken gegen die Wand gestellt fühlte. „Was meinst du?“, fragte er trotzdem und versuchte harmlos auszusehen. Marvin schnaubte entrüstet. „Hör auf, mich zu verarschen. Du weißt genau, was ich meine. Du hast schon wieder diesen Gesichtsausdruck. Den, den du immer hast, wenn du irgendwelche Pläne schmiedest.“ „Ich würde nie …“ „Nathan!“ Marvin schien jetzt ernsthaft sauer zu sein. „Zwing mich nicht, dich schon wieder bei deinem vollen Namen zu nennen. Du weißt, was dann los ist.“   Nathan verzog das Gesicht. Natürlich wusste er das. Und er wusste auch, dass er Marvin unmöglich weiter anlügen konnte. Er musste ihm endlich auch den Rest der Geschichte erzählen, so unglaublich der auch klang.   „Also die Sache ist die …“, begann er zögernd. „Ich bin am Samstag in der U-Bahn eingeschlafen und habe meine Haltestelle verpasst. Und weil ich nicht auf die nächste Bahn warten wollte, bin ich zu Fuß gegangen. Durch die Wohngebiete.“   Nathan sah genau, dass Marvin ihn am liebsten deswegen zurechtgewiesen hätte, aber er sagte nichts, daher fuhr Nathan fort.   „Auf dem Weg bin ich an diesem alten Parkhaus vorbeigekommen und habe dort etwas gehört. Zuerst dachte ich, es wäre ein Tier, aber vielleicht …“ „Du meinst, das war dieser Ezra?“ „Das weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass er zumindest irgendwo in der Nähe war. Es würde erklären, warum er meinen Namen wusste. Als ich da rumstand und mir vor Angst fast in die Hosen machte, hab ich versehentlich deine Sprachnachricht abgespielt und …“ „Oh, lieber Gott im Himmel.“ Marvin bekreuzigte sich. „Sag jetzt nicht, dass es meine Schuld ist, dass dieser Irre hinter dir her ist.“ „Nein, natürlich nicht. Aber es könnte sein, dass er dadurch auf mich aufmerksam wurde und mir bis zu mir nach Hause gefolgt ist.“ Den Gedanken, dass Ezra in der Dunkelheit vielleicht doch irgendetwas Ekliges mit einer Leiche angestellt haben könnte, schob er dabei lieber sehr weit von sich weg. Immerhin war das bisher nur eine unbewiesene Theorie. In dubio pro reo. „Mhm.“ Marvins Stirn lag schon wieder in Falten. „Also wenn die Sache so liegt, solltest du wirklich unbedingt zur Polizei gehen. Der Typ ist vielleicht gefährlicher, als wir angenommen hatten.“ „Aber was soll ich denn sagen?“ „Na das, was du mir auch gesagt hast. Die Wahrheit.“ Nathan presste die Lippen zusammen und griff nach der Visitenkarte. Einerseits wusste er, dass Marvin recht hatte. Andererseits würde er sich selbst auch nicht glauben, wenn ihm jemand anders diese völlig abgedrehte Geschichte erzählt hätte. „Oder du stellst ihm eine Falle.“   Marvin grinste verschmitzt, während Nathan ihn nur ungläubig anglotzte.   „Eine Falle?“ „Ja! Du wartest, bis er auftaucht, dann rufst du schnell die Cops an und hältst ihn hin, bis sie kommen und ihn festnehmen können. Der Plan ist einfach genial.“   Nathan musste zugeben, dass sich die Idee nicht ganz so verrückt anhörte, wie er zuerst gedacht hatte. Bis darauf, dass sie natürlich vollkommen verrückt war.   „Wenn sie diesen Stalker auf frischer Tat ertappen, kannst du dir sicher sein, dass er dich in Zukunft in Ruhe lässt. Und wenn nicht, wandert er für mehrere Jahre hinter Gitter und muss zudem ordentlich blechen. Glaub mir, ich hab das letztens im Fernsehen gesehen. So was ist kein Spaß.“   Nathan schwieg. Er wusste, dass bei dieser Sache ungefähr eine Million Dinge schief gehen konnten. Eines davon war, dass er abgestochen auf dem Boden eines dreckigen Parkhauses vor sich hin verbluten konnte. Trotzdem regte sich bei dem Gedanken, Ezra wiederzusehen, ein merkwürdiges Gefühl in seinem Magen. Es war nicht wirklich Vorfreude. Vielmehr glich es dem Augenblick, wenn die Achterbahn am Scheitelpunkt ihrer Anlaufstrecke angekommen war. Man wusste, dass gleich etwas Furchtbares passieren würde, und trotzdem konnte man kaum abwarten, dass es endlich so weit war.   Ich muss mir wirklich ganz dringend einen Therapeuten suchen. Aber wenigstens wusste er jetzt, dass er damit nicht allein war. Kapitel 5: Vertrauen ist gut ---------------------------- Zwei Tage. Zwei Tage wartete Nathan bereits darauf, dass sein merkwürdiger Besucher wieder auftauchte, und es war genau nichts passiert.   Am ersten Abend hatte er noch ungefähr alle halbe Stunde mit Marvin getextet, der sich nach dem neuesten Stand erkundigt hatte. Am zweiten Abend hatte er Marvin irgendwann Funkstille verpasst, weil ihn das ständige Gepiepse seines Handys auf die Nerven gefallen war. Am dritten Abend hatte er sein Abendessen anbrennen lassen. Dieser Abend war heute. „So ein Mist.“   Nathan fluchte vor sich hin, während er versuchte, die Rosenkohlreste aus dem Topf zu kratzen. Ursprünglich hätte es eine leckere Kombination aus erdigem Kohl, frischem Ingwer und pikanter, koreanischer Chilipaste werden sollen, aber irgendwie war heute der Wurm drin gewesen. Erst war Nathan das Glas mit der Paste heruntergefallen und natürlich prompt zersplittert, dann hatte er sich beim Wegräumen der Bescherung geschnitten – Chilipaste auf einer frischen Wunde war nichts, was sich einfach so ignorieren ließ – und zu guter Letzt hatte er das Ergebnis seiner Bemühungen auch noch ruiniert, weil er vergessen hatte, die Hitze runterzudrehen. Nun roch die Wohnung nach angebranntem Kohl, seinen linken Zeigefinger zierte ein dicker Verband, unter dem es schmerzhaft puckerte, und er hatte obendrein die Zutaten verschwendet und nichts zu essen. Ganz wundervoll.   Mit einem Schnauben schob Nathan das Fenster nach oben, um wenigstens etwas frische Luft ins Zimmer zu lassen. Daran, dass er die letzten zwei Abende damit zugebracht hatte, die Vorhänge abwechselnd auf und wieder zu zu ziehen, mochte er in diesem Augenblick nicht denken. Manchmal hatte er sogar heimlich durch die Lücke im Stoff gespäht, um zu sehen, ob sein Stalker aufgetaucht war, aber der Sims war immer leer geblieben. „Wahrscheinlich kommt er gar nicht mehr“, murmelte Nathan und stützte sich auf das Fensterbrett. Die Nacht heute war milder und eher feucht. Sicher würde es später noch regnen. „Wer kommt nicht mehr?“, fragte eine Stimme. Nathan erschrak.   Das kam von oben. Oh Gott, er ist da. Er ist auf dem Dach!   Nathan wollte nach seinem Handy suchen. Er wollte die Polizei rufen, wie sie es geplant hatten. Aber er konnte nicht. Stattdessen sah er zu, wie Ezra mit einem eleganten Sprung auf dem Sims landete. Er trug wieder den langen Mantel, doch dieses Mal war er offen. Darunter ein weißes Hemd, schmale, schwarze Hosen. Elegante Schuhe. Vollkommen ungeeignet, um damit auf Dächern herumzuklettern. Warum tat er das?   Weil er denkt, dass er ein Vampir ist. Vergiss das nicht. Und sprich ihn bloß nicht darauf an.   Ein schmales Lächeln erschien auf Ezras Lippen. Er machte keine Anstalten näherzukommen. Er stand nur da und sah Nathan an. Irgendwann legte er den Kopf schief.   „Hast du jemand anderen erwartet?“   Nathan schüttelte den Kopf. Antworten konnte er nicht. Sein Mund war wie zugeklebt, seine Stimmbänder ausgewandert. Nach Ecuador vielleicht. Das war ziemlich weit weg.   Ezras Blick glitt an ihm herab. Nathan fühlte förmlich, wie er gemustert wurde. Er bemerkte das kurze Aufleuchten im Blick des anderen, als er in der Gegend des Schritts ankam. Das anschließende Schlucken. Sollte er etwa noch etwas anderes zu befürchten haben? Unwillkürlich machte Nathan einen Schritt rückwärts. Ezra setzte wieder ein Lächeln auf.   Aber immer nur ein bisschen, sodass ich seine Zähne nicht sehen kann. Ist das nicht unsinnig?   „Was hast du angestellt?“   Er deutete auf Nathan und der sah an sich herab. Was meinte er? „Hast du dich verletzt?“   Nathans Augen wurden groß.   „Oh, das. Ich … ich hab mich geschnitten. Ist nur ein Kratzer.“ „Verstehe.“   Ezras Ton war nicht wirklich mitfühlend, aber seltsam verständnisvoll. Nathan wusste nicht recht, wie er es beschreiben sollte. So als würde er … gesehen. Auch wenn das überhaupt keinen Sinn ergab. Außerdem wollte er nicht, dass Ezra hier war. Nicht ohne seine Erlaubnis. „Was hast du auf dem Dach gemacht?“   Die Frage erschien ihm logisch und doch hätte Nathan sie am liebsten wieder zurückgenommen. Er sollte nicht hier rumstehen und Smalltalk machen. Nicht, bevor er die Cops gerufen hatte. Unauffällig tastete er nach seinem Handy. „Ich habe gewartet.“   Die Antwort war so nichtssagend, dass Nathan beinahe gelacht hätte. „Gewartet? Worauf?“   Nathans Finger hatten jetzt das Handy in seiner hinteren Hosentasche erreicht. Nun musste er es nur noch ein Stück herausziehen und …   „Was machst du da?“   Nathan hielt erschrocken inne. Ezras Augen ruhten genau auf der Hand, mit der er gerade unauffällig den Notruf hatte wählen wollen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. „I-ich? Gar nichts. Ich wollte nur …. meine Schwester anrufen. Sie lebt in Illinois. Anstrengender Job, idiotischer Mann, drei Kinder. Die kann ich immer erst erreichen, wenn sie im Bett sind und …“   Er brach ab, weil er genau sah, dass Ezra ihm kein Wort glaubte. Und tatsächlich runzelte sein Gegenüber die Stirn. „Du lügst.“ „Tue ich gar nicht.   Die Erwiderung war ganz automatisch aus seinem Mund geschlüpft. Viel zu schnell, um ihn nicht zu verraten. Wieder lächelte Ezra. „Gib dir keine Mühe. Ich weiß, dass du lügst.“ „Ach ja? Und woher?“   Die Antwort bestand aus einem Lächeln. Keine Erklärung, keine Ausreden. Er tat einfach nichts. Es machte Nathan rasend.   Du musst ihm deutlich machen, dass er eine Grenze überschreitet.   „Ich will nicht, dass du mich weiter beobachtest.“ Der Satz kam einigermaßen klar aus seinem Mund. Bevor er sich dafür selbst auf die Schulter klopfen konnte, reagierte Ezra bereits. „Ich beobachte dich nicht. Zumindest nicht mehr als alle anderen.“ „Oh. Ach so. Na dann …“   Nathan wünschte sich mit einem Mal einen Tisch, um seinen Kopf dagegenzuschlagen. Warum zum Geier klang das denn jetzt bitte so enttäuscht? Er sollte froh sein, dass dieser Hampelmann nicht wegen ihm hier war. Gleichzeitig beruhigte ihn das Geständnis so überhaupt nicht.   „Und warum beobachtest du uns?“ „Ich beobachte euch nicht.“ Ezra klang beinahe gelangweilt. Auf Nathans Stirn bildete sich eine steile Falte. „Aber du hast doch gerade gesagt …“ „Ich sagte, dass ich dich nicht mehr beobachte als alle anderen. Das bedeutet aber nicht, dass ich euch überhaupt beobachte. Ihr seid nicht mehr als ein Hintergrundrauschen. Wahrscheinlich wäre meine Aufgabe sogar einfacher, wenn ihr nicht da wärt.“   Dieses Mal hatte der Schlag gesessen. Nathan wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Außer vielleicht … „Dann verschwinde doch. Hau ab von hier!“ „Das geht nicht.“ „Und warum nicht?“   Ezra antwortete nicht. Er drehte sich lediglich um und warf einen Blick über die Dächer, die im Dunst des Abendhimmel zu nebligen Schatten geworden waren.   „Hat es etwas mit diesem Parkhaus zu tun? Und den verschwundenen Leichen?“   Nathan war unwillkürlich wieder näher ans Fenster getreten. Er wollte sehen, wie Ezra reagierte. Der jedoch wandte ihm weiter den Rücken zu.   „Es wäre besser für dich, wenn du dich da raushieltest.“ „Ach ja? Erzähl du mir nicht, was das Beste für mich ist. Du kennst mich nicht. Du weißt nichts über mich.“   Dieses Mal brachte ihm sein Wüten eine Reaktion ein. Einen amüsierten Blick über Ezras Schulter.   „Stimmt. Und ich gedenke auch nicht, das zu ändern.“   Arrogantes Arschloch!   Die Worte schossen so unvermittelt durch Nathans Kopf, dass er sie beinahe ausgesprochen hätte. Zu seinem Glück konnte er sich gerade noch zurückhalten. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Ach ja?“, spuckte er dem ungehobelten Klotz entgegen. „Und was sollte dann diese Show beim letzten Mal? Was sollte diese geheimnisvolle Tour? Und warum hast du mir die Visitenkarte gegeben. Sie ist vollkommen leer.“   Dieses Mal lachte Ezra. Es klang ernsthaft amüsiert. Nathan bleckte die Zähne. „Hey!“, bellte er. „Ich rede mit dir. Was sollte die Scheiße mit der Visitenkarte?“   Er erhielt keine Antwort. Ezra stand weiterhin auf dem Sims herum und blickte ins Leere. Nathan beschloss, dass er genug davon hatte. Mit einem gewaltigen Rums schloss er das Fenster und zog, weil er schon einmal dabei war, auch noch den Vorhang zu. Schwer atmend stand er anschließend vor der Wand aus rotem Stoff und versuchte, seine Wut irgendwie in den Griff zu bekommen.   Wie hatte ihn dieser Kerl nur so reizen können? Wie hatte er den Plan so völlig außer Acht lassen können? Wie hatte er nur so … so dämlich sein können?   „Ich rufe jetzt die Cops“, beschloss er und griff nach seinem Handy. In diesem Moment klopfte es.   Nathans Finger schwebten über der Tastatur. Er hatte die Nummer schon eingegeben und musste nur noch auf den grünen Hörer drücken. Wenn er Glück hatte, würden die Beamten Ezra auf frischer Tat ertappen und ihn … ja was eigentlich. Einsperren? Marvin hatte diesbezüglich so zuversichtlich geklungen, aber Nathan hatte inzwischen herausgefunden, dass die Sache gar nicht so einfach war. Er brauchte Beweise. Protokolle, Zeugen, Aufzeichnungen von Telefongesprächen oder ähnliches. Er musste nachweisen, dass Ezra eine Gefahr für ihn darstellte. Dass er ihm gedroht hatte oder ähnliches. Aber Ezra hatte nichts in der Art getan. Er stand einfach nur da draußen rum. Und klopfte.   „Argh!“   Mit einem Fluch schloss Nathan die Telefon-App und riss den Vorhang zur Seite. Ezra sah ihn fragend an. Er schob etwas Unsichtbares mit den Handflächen nach oben um anzudeuten, dass Nathan das Fenster öffnen sollte. Der schüttelte jedoch entschlossen den Kopf. Kam gar nicht in Frage. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Erst einen auf unnahbar machen und dann angekrochen kommen, sobald Nathan ihm den Rücken zuwendete. Ha, das konnte er haben. Wütend zog Nathan den Vorhang wieder zu. Er wusste, dass das kindisch war, aber er würde diesem Blödmann schon zeigen, wer hier am längeren Hebel saß. Und das war eindeutig er. Doppel-Ha!   Nachdem Nathan das für sich geklärt hatte, fühlte er sich besser. Voller Elan machte er sich daran, zunächst einmal die Reste seines verbrannten Abendessens zu beseitigen. Dann räumte er die Küche auf und gönnte sich anschließend eine sehr ausführliche und alle Stufen eines halbwegs vernünftigen Beautyplans beinhaltende Dusche. Als er frisch rasiert und mit einem Handtuch um den Kopf in das Wohnzimmer kam, schwand seine Euphorie jedoch merklich. Die Kaffeemaschine, die immer noch auf dem Boden vor dem Wohnzimmertisch hockte, blickte ihn grinsend an.   „Ach, leck mich doch“, knurrte Nathan und ging in die Küche zurück, um sich ein Sandwich zu machen. Immerhin hatte er noch nichts gegessen.   Mit dem Teller und einem Glas Orangensaft ließ er sich schließlich auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher an. Unentschlossen zappte er durch die Kanäle und blieb schließlich bei einer Wiederholung von 'Kitchen Nightmares' hängen. Während der britische Küchenchef sich daran machte, mal wieder ein völlig veranztes Restaurant auf Vordermann zu bringen, biss Nathan in sein Sandwich.   Ezra ist genau wie dieser Restaurantbesitzer, dachte er dabei. Blasiert bis zum Gehtnichtmehr und durch und durch davon überzeugt, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hat. Und dann diese Vampirnummer. Wobei … davon hat er gar nichts erwähnt. Würde er das nicht tun, wenn er wirklich so ein Spinner wäre?   Je länger Nathan auf den Bildschirm starrte, desto mehr wanderten seine Gedanken von der Fernsehsendung zurück zu seinem merkwürdigen Fenstergast. Ob er wohl immer noch da draußen hockte?   Ich werde nicht nachsehen. Ich werde nicht nachsehen. Ich werde nicht … ach scheiß drauf.   Wild entschlossen warf Nathan die Reste seines Abendessens von sich, knallte den Teller auf den Tisch und eilte zum Fenster. Dort angekommen zögerte er.   Wenn Ezra mitbekam, dass er nach ihm sah, bildete er sich womöglich etwas darauf ein. Und hatte Nathan nicht gelesen, dass man Stalker auf gar keinen Fall ermutigen sollte? Andererseits schien Ezra ja nicht wirklich Interesse an ihm zu haben. Oder war das genau seine Masche?   Gott, das ist so bescheuert!   Nathan hatte wirklich das Gefühl, nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können. Wenn er Ezra ignorierte, würde er mit der Ungewissheit leben müssen, ob dort draußen nicht irgendwer um das Haus herumschlich. Aber wenn er sich auf ihn einließ – was immer das auch heißen mochte – konnte das ziemlich brenzlig werden. Die Frage war also, was eher auszuhalten war. Eine konkrete Gefahr oder die Angst vor dem Unbekannten. Als er das festgestellt hatte, wusste Nathan, was er zu tun hatte. Vorsichtig schob er den Vorhang ein Stück weit zur Seite.     Vor dem Fenster war es dunkel. Einige Regentropfen hingen an der Scheibe oder liefen daran herunter. Der erwartete Schauer war offenbar gekommen, während er im Bad gewesen war. Jetzt war die Luft draußen klarer und Nathan hatte keine Schwierigkeiten damit, die dunkle Gestalt zu erkennen, die auf dem Rand des Simses saß und auf die Stadt hinausblickte.   Wonach er wohl Ausschau hält?   Das war eine der vielen Fragen, auf die Ezra ihm keine Antwort gegeben hatte. Einzig bei der Sache mit dem Parkhaus hatte er nicht nicht geantwortet. Er hatte gesagt, dass Nathan sich da raushalten sollte. Aber war es dafür nicht schon längst zu spät?   Als hätte Ezra gemerkt, dass er beobachtet wurde, hob er plötzlich den Kopf und sah Nathan an. Es lag keine Ablehnung in seinem Blick, aber auch kein Interesse. Nathan hätte eine Taube oder eine Parkbank sein können. Er war sich sicher, dass Ezra ihm dann nicht viel mehr Beachtung geschenkt hätte. Doch allein die Tatsache, dass er noch hier war und sich nicht wieder aufs Dach zurückgezogen hatte, hatte doch bestimmt etwas zu bedeuten. Oder nicht?   Ich weiß es nicht. Aber ich werde wahnsinnig werden, wenn ich nicht versuche, es herauszufinden.   Mit einem Seufzen öffnete Nathan das Fenster. „Du bist noch da“, stellte er das Offensichtliche fest. Ezra nickte leicht. „Die Nacht ist noch nicht vorbei.“   Aha. Jetzt bewegte es sich also endlich in die Richtung, die Nathan gehofft hatte. Oder gefürchtet. Er war sich nicht sicher.   „Du arbeitest also nur nachts?“   Immerhin hatte Ezra gesagt, dass er hier eine Aufgabe hatte. Was immer das auch bedeuten mochte. Aber ein Schritt nach dem anderen.   „Ja.“   Nicht mehr. Keine Erklärung, keine Geheimniskrämerei. Nur eine simple, eindeutige Antwort. Nathan hatte ehrlicherweise nicht damit gerechnet. „Und warum?“   Vielleicht konnte er ihn so aus der Reserve locken. Ezra lächelte leicht. Mehr sagte er nicht.   „Ich kriege also keine Antwort?“ „Möchtest du denn wirklich eine haben?“   Nathan überlegte. Wollte er? Im Grunde genommen wusste er ja schon, was mit Ezra los war. Oder vermutete es wenigstens. Er wollte eigentlich nur wissen, ob er recht hatte. Unentschlossen krauste er die Nase. „Na ja … mein Freund hat gemeint, dass du vielleicht … ein Vampir bist.“   Jetzt hatte er ihn doch darauf angesprochen. Verdammt. An Ezras Miene war nicht abzulesen, wie er es aufnahm. Oder war es dafür nur zu dunkel? Wo war der Mond, wenn man ihn mal brauchte? „Wie kommt er darauf?“ Also wieder keine Antwort, nur eine Gegenfrage. Na schön, das Spiel konnte man auch zu zweit spielen. „Ach, weißt du, es gab … Anzeichen dafür. Da haben wir es uns zusammengereimt.“   Mist, das war näher an der Wahrheit, als ich wollte.   „So so. Anzeichen also.“   Wieder schien sich Ezra ziemlich gut zu amüsieren. So kam Nathan nicht weiter. Er musste konkreter werden. „Warum wolltest du vorhin, dass ich das Fenster aufmache?“ Dieses Mal schien er einen Treffer gelandet zu haben. Ezra zögerte mit der Antwort. Vielleicht, um sich nicht zu verraten?   „Ich hatte das Gefühl, dass du … aufgebracht bist. Menschen, die aufgebracht sind, neigen zu unüberlegten Handlungen.“ „Die da wären?“   Jetzt lachte Ezra. So langsam fing Nathan an, sich an das Geräusch zu gewöhnen. Oder es zu hassen. Er war sich nicht sicher. „Da gibt es viele Möglichkeiten. Sie essen oder trinken zu viel, kaufen Dinge, die sie nicht brauchen, konsumieren Drogen, haben Sex, fahren zu schnell Auto oder führen Telefongespräche, die sie später bereuen. Oder sie posten das Ganze im Internet. Eine wirklich eigentümliche Angewohnheit, die ich nie so ganz verstanden habe.“   Diesmal waren es Nathans Mundwinkel, die zuckten. „Dann bist du nicht bei Facebook?“ „Nein, aber ich habe einen Instagram-Account.“   Nathan lachte. Die Vorstellung, dass dieser merkwürdige Vogel, der sich hier nachts auf seinem Fenstersims herumtrieb und einen auf Vampir machte, tatsächlich an seinem Handy hing, sich durch irgendwelche Bildreihen scrollte und Likes verteilte, war zu komisch. Und trotzdem konnte er sich es irgendwie vorstellen. Es war eigenartig. „Was?“, machte Ezra und tat entrüstet. „Glaubst du mir etwa nicht?“ „Nicht im geringsten.“ Wieder dieses Lächeln. Der Blickkontakt, der einen winzigen Augenblick zu lange andauerte und ein eigenartiges Kribbeln durch Nathans Lendengegend sandte. Oh nein. Er fand den Kerl doch nicht etwa attraktiv?   Nein. Vollkommen unmöglich. Er ist gefährlich. Und durchgeknallt. Und außerdem hält er sich für einen Vampir. Du musst sofort aufhören, mit ihm zu reden.   „Machst du das öfter?“ „Was?“ „Nachts auf Dächern herumspazieren.“   Schon wieder ein Lächeln. Dieses Mal ein überhebliches. „Ich bin ein Vampir. Was hast du erwartet?“   Na toll, jetzt waren sie wieder ganz am Anfang. Ezra hatte, ohne dass Nathan es merkte, mal wieder die Kommunikation abgewürgt. Es war, als würde er absichtlich zweideutige Signale senden, um Nathan zu verunsichern. Aber warum?   Er spielt mit dir wie eine Katze mit der Maus. Wenn du nicht aufpasst, wird das böse enden.   Nathan grinste, als ihm etwas einfiel.   „Aber wenn es stimmt, dass du nicht unaufgefordert eine Wohnung betreten kannst, ist es doch ziemlich sinnlos, nachts hier herumzuschleichen. Selbst wenn eine unschuldige Jungfrau ihr Fenster offen ließe, könntest du sie ja doch nicht beißen. Oder sehe ich das falsch?“ Dieses Mal dauerte es noch länger, bis Ezra reagierte. Nathan hatte das Gefühl, dass er nachdenken musste, was er sagte. Das war gut. „Du hast recht“, gab er jedoch zu Nathans Erstaunen offen zu. „Ich kann tatsächlich kein Heim betreten, ohne dazu aufgefordert zu werden. Allerdings gilt das nicht für vorübergehende Wohnsitze wie Hotels, Motels oder Gasthäuser. Zudem zählt eine neu bezogene Wohnung erst nach einer Weile als Heim. Du siehst also, es gibt da noch jede Menge Möglichkeiten. Dazu noch die dunklen Gassen, Parks, U-Bahn-Schächte, Kinosäle. Dort ist es sogar tagsüber dunkel. Ein Markt der Möglichkeiten.“   „Du gehst gerne ins Kino?“ Die Frage war einfach über Nathans Lippen geschlüpft. Ezra lächelte wieder.   „Ausgesprochen gern sogar. Ich mag es im Dunkeln zu sitzen mit einer Reihe ausgewählter Köstlichkeiten um mich herum.“   Er versucht, dir Angst zu machen. Hör nicht auf ihn.   „Na gut, dann wirst du also nicht verdursten. Oder verhungern? Wie sagt man da bei Vampiren?“ „Wir essen, wenn wir Blut trinken.“ „Ah gut. Dann wäre das geklärt. Ich meine, es hört sich ja auch blöd an, wenn man sagen würde 'Ich habe heute eine Jungfrau getrunken'.“   Ezra gab ein amüsiertes Geräusch von sich. „Würde es sich besser anhören, wenn ich sagte, ich hätte sie gegessen.“ „Äh, nein. Nicht wirklich.“   Nathan ließ die Schultern hängen. Erneut hatte Ezra es geschafft, ihn ins sprachliche Aus zu manövrieren. Dabei hatte er immer geglaubt, dass er hinreichend … eloquent war. Gebildet. Dass seine inneren Werte wettmachten, was das Äußere nicht hergab. Aber irgendwie …   „Du machst dir ziemlich viele Gedanken um das Thema. Warum?“   Perplex hob Nathan den Kopf. Ezra hatte sich jetzt ein wenig zu ihm herumgedreht und beobachtete ihn aufmerksam. Nathan wurde bewusst, dass er immer noch das Handtuch auf dem Kopf hatte. Schnell nahm er es ab und strich sich die Haare zurück. Augenblicklich wurde es kühl. „Also, ich … mir ist so etwas einfach noch nie passiert. Ich meine, dass auf einmal jemand bei mir vor der Tür steht – oder dem Fenster vielmehr – und sich für mich interessiert.“ „Wer sagt, dass ich das tue?“   Nathan zuckte leicht mit den Schultern und wandte den Blick ab. „Tja, niemand eigentlich. Aber …“ Er erschrak, als Ezra plötzlich unmittelbar vor der Scheibe stand. Noch Sekundenbruchteile zuvor hatte er auf dem Sims gesessen, jetzt stand er nur wenige Zentimeter entfernt. Seine dunklen Augen musterten Nathan eindringlich. „Es macht keinen guten Eindruck, wenn du dich kleiner machst, als du bist. An dir gibt es einiges, das interessant sein könnte.“ „A-ach ja?“   Nathan hatte das Gefühl, dass Ezra eine unglaubliche Hitze ausstrahlte. So sehr, dass sie die Kälte der Nacht verdrängte und den Regen auf seinen Kleidern zum Verdunsten brachte. „W-was denn zum Beispiel?“   Ezra kräuselte die Lippen. „Erwartest du jetzt, dass ich dir ein Kompliment mache?“ „Ich weiß nicht. Würdest du?“ „Nein.“   Nathan schluckte. Dass er so nahe am Fenster stand, war vielleicht ein Problem. Konnte Ezra hier hineingreifen und ihn nach draußen zerren? Er hätte es gerne gewusst, traute sich aber nicht zu fragen. Wer wusste, auf was für Ideen er den „Vampir“ damit brachte. Andererseits …   „Das mit der Visitenkarte. War das nur ein Trick, um mich zu fassen zu bekommen?“   Ezras Augenbraue bewegte sich einen Millimeter nach oben. „Siehst du, ich brauche mir gar keine Schmeicheleien einfallen zu lassen. Du sorgst ganz allein dafür, dass man deine Qualitäten erkennen kann.“ „Meine Qualitäten?“   Ezra seufzte.   „Nun ja. Normalerweise hätte ich jetzt noch einmal wiederholt, dass ich dich für schlau halte. Wenn du jetzt allerdings nachfragen musst …“   „Nein, nein, schon gut“, unterbrach Nathan ihn eilig. „Ich glaube ja auch, dass ich nicht ganz … dumm bin.“   „Schön, dann sind wir uns ja einig.“   Und wieder hat er nicht geantwortet.   „Also war es ein Trick?“ Ezra atmete tief ein. „Du verstehst es wirklich, zweimal hintereinander in denselben Fettnapf zu treten, nicht wahr?“ Als Nathan nicht reagierte, schmunzelte er. „Nun gut. Ich gebe zu, es war ein Trick. Eine Visitenkarte erschafft eine Verbindung. Ein Vertrauensverhältnis. Man erweckt den Eindruck, als würde man etwas von sich preisgeben. Außerdem lenkt es die Aufmerksamkeit des Opfers für einen Moment auf etwas anderes und bringt es gleichzeitig dazu, dir nahezukommen. Genug Zeit, um es aus der Überraschung heraus zu überwältigen.“   Während Ezra das sagte, waren Nathans Augen unwillkürlich zu der Visitenkarte gewandert, die auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte sie dorthin geworfen, nachdem er sie Marvin gezeigt hatte, und seitdem nicht wieder angerührt. Fast nie wenigstens.   „Siehst du. Es funktioniert sogar jetzt noch.“   Das Amüsement in Ezras Stimme war kaum zu überhören. Nathan lächelte schwach.   „Tja, das erklärt … einiges.“   Zum Beispiel, dass ich ein Riesentrottel war mir einzubilden, dass hinter dieser Visitenkarte irgendetwas stecken könnte. Es war nur eine Ablenkung, ein Spaß, eine völlige Belanglosigkeit. Ich bin so dumm.   „Kann es sein, dass du enttäuscht bist?“ Die Frage ließ Nathan aufschrecken. Immer noch beobachtete Ezra ihn genau. „Nein! Nein, bestimmt nicht. Wieso auch? Es ist ja nur … eine Visitenkarte. Jeder Idiot hat heutzutage so etwas.“ Er lachte und machte einen Schritt rückwärts. Es fühlte sich an, als hätte er eine Abfuhr bekommen. Wenn das hier ein Date gewesen wäre, hätte er jetzt wohl den Rückzug angetreten. Aber das ging nicht, denn er befand sich immer noch zu Hause in seiner eigenen Wohnung.   Ein Date? Was denke ich denn da? Bin ich denn vollkommen wahnsinnig?   „Du musst dich nicht grämen. So ein Missverständnis kann vorkommen. Und immerhin … habe ich dir die Karte vielleicht nicht ganz ohne Hintergedanken hier gelassen.“   Langsam hob Nathan den Kopf.   „Ach wirklich?“   Er mochte nicht, wie hoffnungsvoll seine Stimme dabei klang, aber der Schaden war bereits angerichtet. Ezra lächelte.   „Diese Begegnung, die du in der Nacht zum Sonntag hattest. Es könnte sein, dass du dabei etwas aufgestöbert hast, das lieber in Ruhe gelassen werden wollte.“   Nathan glaubte zu spüren, wie sich ein unsichtbares Gewicht auf seine Brust legte. Das Atmen wurde schwer. „Dann war also tatsächlich etwas in diesem Parkhaus?“, fragte er leise. „Ja.“ „Hat es etwas mit den verschwundenen Leichen zu tun?“ „Ja.“ „Und was?“   Nathan starrte Ezra an und wartete darauf, dass er wieder anfangen würde zu lachen. Dass er damit herausplatzte, dass es alles nur ein Scherz war und dass er ihn hereingelegt hatte. Aber er tat es nicht. Er sah Nathan einfach nur an. „Glaub mir, wenn ich dir sage, dass du das lieber nicht weißt. Aber wenn es stimmt, was ich denke, dann bist du in Gefahr.“ „In größerer Gefahr, als wenn ich mich mit einem Vampir unterhalte?“ Dieses Mal lächelte Ezra. Der Anblick erleichterte Nathan ungemein. „Vielleicht“, gab er vage zur Antwort. „Im Augenblick solltest du jedoch sicherer sein, wenn ich nachts in deiner Nähe bleibe. Wenigstens für eine Weile.“   „Dann beschützt du mich also?“ „Wenn du so willst.“   Nathan überlegte. Er hörte schon, wie Marvin ihm die Ohren dafür langzog, aber hatte er denn überhaupt eine Wahl? „Na schön“, sagte er langsam. „Ich … ich erlaube dir, hierzubleiben. Aber nur, bis dieses … Monster den Stadtteil gewechselt hat. Dann verschwindest du wieder.“ „Natürlich.“ Ezra hob beschwichtigend die Hände und deutete eine Verbeugung an. „Es läge mir fern, dich über die Maßen zu belästigen. Wenn du möchtest, kann ich auch wieder auf dem Dach warten.“   „Nein“, rief Nathan schnell, „Das … das ist nicht notwendig. Ich weiß lieber, wenn du da bist. Lieber den Spatz in der Hand und so … äh, das passt wohl nicht ganz.“   Er lachte gekünstelt und war froh, dass Ezra nicht darauf einging. Stattdessen lächelte er nur sanft. „Na schön, dann bleibe ich hier. Und du solltest vielleicht langsam schlafen gehen. Immerhin musst du morgen zur Arbeit.“   „Das … äh, ja … stimmt. Ich sollte wohl wirklich …“, stammelte Nathan und gestikulierte in die ungefähre Richtung seines Schlafzimmers. Dort gab es auch ein Sims. Ob Ezra ihn wohl nachts heimlich dabei beobachtete, wie er …   „Du bleibst aber auf dieser Seite, oder?“, fragte er, bevor er darüber nachgedacht hatte.   Ezras Augen blitzten spöttisch auf. „Hast du Angst, dass ich dir beim Schlafen zusehe?“ „Würdest du das tun?“ „Würdest du das wollen?“   Ihr Blickkontakt hielt und hielt. Nathan musste plötzlich an den Traum denken, den er in der Nacht davor gehabt hatte. Die Beteiligten dieses Traums waren am Ende ziemlich leicht bekleidet gewesen. Eilig schüttelte er mit dem Kopf. „Nein, nein, ich glaube, ich möchte, dass du im Wohnzimmer bleibst. Also am Fenster. Also hier, auf dieser Seite des Gebäudes und …“   Ezra lachte. „Keine Bange. Ich werde deine Privatsphäre berücksichtigen.“ „Gut. Sehr gut. Dann … dann gehe ich mal.“   Nathan wusste nicht recht, wie er sich jetzt verhalten sollte, aber Ezra nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich einfach umdrehte und wieder zu seinem Platz auf dem Sims zurückkehrte. Einen Augenblick lang überlegte Nathan noch, ob es unhöflich war, wenn er das Fenster schloss, aber dann schalt er sich selbst einen Dummkopf und schob den beweglichen Teil mit einer entschiedenen Bewegung nach unten. Nachdem er noch den Riegel vorgelegt und den Vorhang zugezogen hatte, ließ er sich mit geschlossenen Augen dagegen sinken. Das Ganze war einfach vollkommen verrückt. Und Nathan wusste, dass ihm das hätte Angst machen müssen. Immerhin saß ein Kerl, der sich für einen Vampir hielt, draußen auf dem Fenstersims und gab vor, ihn vor einem Monster zu beschützen. Aber gleichzeitig fühlte es sich auch irgendwie gut an und das war es, was Nathan wirklich Sorgen bereitete.   Mit einem Seufzen ging er zum Schreibtisch hinüber, ließ sich auf dem Stuhl nieder und schaltete den Laptop an. Da er eh nicht würde schlafen können, konnte er die Zeit ebenso gut nutzen, um noch etwas zu recherchieren. Informationen konnte man schließlich nie genug haben.   Kapitel 6: Kontrolle ist besser ------------------------------- Das Telefon klingelte, als Nathan gerade das letzte Wort des Absatzes tippte. Er speicherte noch schnell ab und griff nach dem Hörer. Auf dem Display stand Shannons Name. Mit einer unguten Vorahnung hob er ab. „Ja?“ „Nathan? Sofort in mein Büro.“ Dann legte sie auf. Shannon war kein Fan von unnützen Worten. Oder Begrüßungen. Oder Abschiedsformeln. Nathan seufzte. „Ich bin dann mal eben beim Drachen.“ „Viel Glück.“ Amanda streckte ihm zwei Daumen in die Höhe und er antwortete darauf mit einem halbherzigen Grinsen. Shannon hatte nicht begeistert geklungen und wenn Shannon nicht begeistert war, war Nathan es kurze Zeit später meist ebenfalls nicht mehr. Umso erstaunter war er, Shannons Büro nicht so leer wie gedacht vorzufinden. Neben der eigentlichen Besitzerin stand auch noch ein großer, hagerer Mann mit einem grau melierten Bart und einer intellektuell wirkenden Brille. Als Nathan eintrat, erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Ah, da kommt ja der Mann der Stunde. Du musst Nathan sein. Ich bin Robert.“ Bevor Nathan wusste, wie ihm geschah, war seine Hand schon in einen kräftigen Händedruck verschwunden. Er besaß gerade noch die Geistesgegenwart, ihn zu erwidern. Robert schien das zu gefallen. Er legte die Hand auf Nathans Schulter. „Komm“, meinte er immer noch lächelnd, „setzen wir uns und reden über deinen Artikel.“ Sie nahmen am dem kleinen, runden Tisch Platz, den Shannon in ihrem Büro stehen hatte. Nathan saß auf der einen, Shannon und Robert auf der anderen Seite. Oder bildeten sie einen Kreis? Und war das ein gutes Zeichen? Robert eröffnete die Besprechung. „Ich will nicht lange drumherum reden, mir hat dein Artikel gefallen. Ich finde ihn toll und will ihn drucken. Aber …“ Nathans Herz rutschte eine Etage tiefer. Natürlich kam jetzt ein Aber. Es gab immer ein Aber. „Ich will dieses Ding größer aufziehen. Jetzt liest sich das Ganze eher wie eine Kolumne. Durchaus unterhaltsam und eindrucksvoll, aber ich will mehr. Ich will Zahlen, Daten, Fakten und Tabellen. Mit Quellenangaben und allem Pipapo. Kannst du das liefern?“ Nathan schluckte. Die Zunge klebte an seinem Gaumen und er war sich sicher, kein Wort herausbringen zu können. Also nickte er nur. Natürlich konnte er das. Er war ja schließlich nicht blöd. „Der Artikel soll mindestens eine Doppelseite füllen, eher noch zwei“, referierte Robert weiter. „Am besten sprichst du dich mal mit Mei vom Layout ab, wie ihr das gestaltet. Ich will handliche, kleine Infobrocken. Ansprechend verpackt, interessant und übersichtlich. Außerdem braucht ihr jemanden aus der Graphikabteilung für die optische Gestaltung. Mei weiß sicher, wer da am besten geeignet ist. Ich will die Thematik plakativ umgesetzt haben, sodass man nicht daran vorbeigehen kann. Und ich will, dass wir das Sortiment aufstocken. Shannon, du siehst nach, ob wir entsprechende Portfolios von angehenden Autoren vorliegen haben und sprichst mit den Urgesteinen, ob sie etwas in petto haben. Wenn das einschlägt, wollen wir vorbereitet sein. Es nützt nichts, wenn wir die Leute wachrütteln und sie dann losgehen, um sich entsprechende Kochbücher bei der Konkurenz zu kaufen. Wir müssen diejenigen sein, die das größte Stück vom Kuchen bekommen. Außerdem brauchen wir einen entsprechenden Webauftritt. Vielleicht einen Blogeintrag im Blog des Monats. Ein Bücherliste. Für Anfänger und Fortgeschrittene. Wir brauchen Sachbücher zu dem Thema und und und. Das wird eine richtige Sparte.“ „Eine Sparte?“ Nathan fühlte sich leicht überrollt. So weit hatte er eigentlich gar nicht gehen wollen. Robert hingegen schien vollkommen in seinem Element. „Ja natürlich“, rief er. „Eine pflanzenbasierte Ernährung ist anderswo auf der Welt schon längst auf dem Vormarsch, nur wir hängen total hinterher. Da ist ein unheimliches Potenzial vorhanden. Wir müssen dem Ganzen nur einen neuen Anstrich verpassen. Man darf dabei nicht an Salate ohne Dressing, Birkenstocksandalen und dünne weibliche Modells denken. Wir brauchen Identifikationsfiguren, die auch für Tim und Larry von der Straße erstrebenswert sind. Sportler, Bodybuilder, Schwergewichtler, Rapper, Finanzmogule. Ich will nicht, dass man dabei an Diät denkt, sondern an Genuss, Muskeln und Spaß.“ „Und Macht“, warf Shannon ein. „Nur wenn die Männer das Gefühl haben, dass ihnen der Schwanz schwillt, wenn sie unsere Bücher kaufen, werden sie es auch tun.“ Robert grinste. „Wenn man Nathans Artikel glauben darf, wird er das tun. Oder Nathan? Ich gehe davon aus, dass du es ausprobiert hast.“ Zwei Augenpaare richteten sich auf Nathan. Er schluckte erneut. Wieso gab es hier eigentlich nichts zu trinken? „Ähm ja, hab ich“, bekam er irgendwie heraus. Roberts Grinsen wurde ein bisschen breiter. „Schön, das freut sicher die Ladys. Also: Ich erwarte, dass du das klarkriegst. Montagmorgen will ich Ideen auf dem Tisch haben. „M-Montag? Aber das ist ja …“ „Ist das ein Problem?“ Nathan wurde erneut gemustert. Er wusste, dass er, sein Artikel, ja vielleicht sogar das ganze Projekt von seiner Antwort abhing. Wenn er bewies, dass er abliefern konnte … „Nein, kein Problem“, erwiderte er und ließ seine Stimme dabei so kräftig wie möglich klingen. „Eigentlich hätte ich sogar … also ich hätte da bereits einen Entwurf für ein Kochbuch zu Hause. Es ist noch nicht fertig, aber …“ „Wundervoll!“, unterbrach Robert ihn. „Dann will ich das Montag ebenfalls auf meinem Schreibtisch. Shannon, du kümmerst dich um alles, ja? Das wird dein Baby.“ „Aber sicher doch, Robert.“ Shannon lächelte wieder ihr Hailächeln. Robert wertete das offenbar als ein gutes Zeichen. Er sprang auf und reichte ihnen die Hand. „Gut, ihr beiden. Ich zähl auf euch. Wenn das einschlägt, sind die Verkaufszahlen für dieses Jahr sicher.“ Er schenkte ihnen noch ein letztes Lächeln, dann war er auf und davon. Kaum, dass er den Raum verlassen hatte, ließ Shannon ihre Maske fallen. Sie kam auf Nathan zu und bohrte ihren Blick in seinen. „Ich erwarte, dass das hier ein Erfolg wird, klar? Also versau es bloß nicht.“ Nathan glaubte, Shannons heißen Atem in seinem Nacken spüren zu können. Ihre Zähne, die seine Haut ritzten. Es macht keinen guten Eindruck, wenn du dich kleiner machst, als du bist, hörte er plötzlich eine Stimme in seinem Kopf. Unwillkürlich atmete Nathan tief durch und straffte sich. „Ich krieg das hin. Wir kriegen das hin. Verlass dich drauf, Shannon.“ Der Hai wich ein Stück zurück, sein Lächeln wurde eine Spur umgänglicher. „Fein. Dann mal ab mit dir ins Layout. Mei wartet sicher schon auf dich.“ Mit diesen Worten schob sie Nathan nach draußen und schloss die Tür hinter ihm mit einem Rumms. Es fühlte sich wie ein Rauswurf an, aber gleichzeitig … Ich hab es geschafft. Ich hab es wirklich geschafft. Jetzt musste er nach dem Treffen mit Mei nur noch eine Kleinigkeit erledigen. „Du willst WAS?“ Marvins Gesicht schwankte zwischen Unglauben und Entsetzen. „Aber wir haben schon Karten reserviert, einen Tisch gebucht. Felipe hat extra seine Schicht verschoben. Wie stehe ich denn jetzt da, wenn du absagst?“ Nathan sah sich unaufällig um. Kam es ihm nur so vor oder beobachteten sie die Leute von den umliegenden Tischen schon? „Ich will ja auch wirklich mit euch ausgehen, aber ich muss das fertigbekommen. Wenn ich Montag nicht abliefere …“ „Ist deine Karriere im Eimer. Ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden.“ Marvin schnaufte. In Nathans Magen bildete sich ein unangenehmer Klumpen; seine Schultern sackten nach unten. Er wusste, dass er sich gerade schon wieder wie ein Arsch verhielt. Marvin schnaufte noch einmal. „Jetzt guck mich nicht an wie ein Hund, den man getreten hat. Ich weiß doch, dass das dein großer Traum ist. Was für ein Freund wäre ich, wenn ich dir das vermiesen würde? Aber dein Timing ist wirklich unterirdisch, das ist dir klar, oder?“ Marvins dunkle Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an. Nathan wurde noch ein Stück kleiner. „Ich weiß“, seufzte er. „Aber es ist noch so fürchterlich viel zu tun. Ich habe ja nicht mal einen richtigen Entwurf. Kein Vorwort, keinen Titel, nichts. Keine Ahnung, was mich geritten hat, das zu behaupten. Jetzt erwartet Robert ein fertiges Buch und hab lediglich eine Zettelsammlung. Allein die zu digitalisieren wird ewig dauern.“ Marvins Gesichtsausdruck wanderte von missmutig zu besorgt. „So schlimm?“ „Noch schlimmer.“ Nathan vergrub das Gesicht in den Händen. „Es ist wirklich das reinste Chaos. Ich müsste die Rezepte ordnen, in Kategorien einteilen, dann abschreiben, formatieren, mit Bildern versehen. Aber das reicht nicht. Ich bräuchte … ich brauche ein Konzept, verstehst du? Etwas, das die Leute überhaupt dazu bringt, das Buch zu kaufen. Nur Rezepte findet man heutzutage auch überall im Internet. Ich will aber, dass mein Buch die Leute dazu bringt, selbst kochen zu wollen. Und zwar ohne Tier drin.“ Er hörte Marvin auf der andere Seite des Tisches schnauben. „Na, mich brauchst du da nicht fragen. Du weißt, dass ich ne Niete am Herd bin. Für mich müsste ein Kochbuch vor allem Bilder haben. Ich kann ja einen Schneebesen kaum von einer Schaumkelle unterscheiden.“ Nathan hob ein wenig den Kopf und spähte durch die Finger zu seinem Freund hinüber. „Was hast du gerade gesagt?“ Marvin rollte mit den Augen. „Dass ich mir nie ein Kochbuch ohne Bilder kaufen würde. Ich muss ja schließlich wissen, um was es geht. Als du mir das erste Mal was von Seitan erzählt hast, hab ich gedacht, das sei was zum anziehen. Und als du mir Rührtofu ankündigtest, dachte ich, du willst mich vergiften. Dabei hat das wirklich gar nicht so schlecht geschmeckt. Und es sah sogar ein bisschen aus wie Ei.“ Nathans Hirn begann zu rattern. Eine Idee formte sich. Eine vollkommen verrückte Idee und vielleicht würde die Zielgruppe das Ganze auch überhaupt nicht annehmen, aber mit Chance … „Ich brauche Fotos.“ Marvin sah ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. „Was?“ „Fotos. Von den Zutaten, den Utensilien und natürlich den fertigen Gerichten. Damit man gleich sieht, was gemeint ist.“ „Also quasi ein Vorher-Nachher-Foto?“ „Eher so etwas wie eine Fotostrecke, aber ja.“ Nathan war jetzt Feuer und Flamme. Er holte sein Handy heraus und hielt es Marvin unter die Nase. „Siehst du das hier? Das hab ich mit ein paar frischen Kräutern und Resten aus meinem Kühlschrank gebastelt. Hat vielleicht 20 Minuten gedauert. Und wenn man dann noch auf einen Blick sieht, dass da gerade mal eine Handvoll Zutaten drin ist …“ Marvins Augenbrauen wanderten nach oben. „Das könnte tatsächlich funktionieren.“ Nathan begann zu grinsen. Endlich hatte er einen Plan. Einen Plan, wie er die Leute zum Kochen bringen konnte. „Ich muss sofort los“, verkündete er und begann nach seinem Geld zu kramen. „Wenn ich noch gute Bilder machen will, brauche ich Tageslicht.“ Marvin betrachtete ihn, während er die benötigten Scheine abzählte. Nathan fühlte den Blick und ahnte, was kommen würde. „Sag mal, wo wir gerade bei Tageslicht sind … was macht eigentlich dein Stalker?“ Nathans Hand mit dem Geld schwebte unschlüssig über dem Tisch. Sollte er Marvin von seinem Treffen erzählen, oder …? „Er war also wieder da“, schlussfolgerte Marvin sofort. „Mein, Gott, Nathan. Wir hatten das doch besprochen. Du wolltest ihn anzeigen. Und mich anrufen!“ Nathan zog den Kopf ein. „Aber weswegen denn? Er macht doch gar nichts. Also nicht wirklich. Er sitzt einfach nur da und wir haben uns ein bisschen unterhalten.“ „Unterhalten?“, echote Marvin. „Sag mal, tickst du noch ganz rund? Der Typ ist gefährlich!“ „Nein, ist er nicht.“ Nathan richtete sich jetzt zu seiner vollen Größe auf. „Ezra ist nicht gefährlich. Und er hat auch nichts mit diesen krummen Dingern auf dem Friedhof zu tun. Ich glaube eher, dass er hinter den Typen her ist, die dafür verantwortlich sind.“ Marvin sah ihn zweifelnd an. „Bist du dir da sicher?“ „Ziemlich sicher sogar.“ Nathan wusste ja selbst nicht, woher er die Gewissheit nahm. Im Grunde wusste er kaum etwas über Ezra und da war immer noch diese Vampirsache, aber … Er blickte Marvin mit dem treuherzigsten Gesichtsausdruck an, den er zustande brachte. „Ich weiß, was ich tue. Und wenn etwas komisch ist, bist du der Erste, der es erfährt. Aber bis dahin … vertrau mir doch einfach.“ Marvin sah immer noch nicht überzeugt aus. Mit Falten auf der Stirn, die an den Marianengraben erinnerten, nuckelte er an seinem Strohhalm. „Und du bist dir ganz sicher, dass es nicht nur an seinen schönen, blauen Augen und seinem knackigen Hintern liegt, dass du das jetzt sagst“, fragte er argwöhnisch. Nathan wurde warm. „Den Hintern habe ich ja gar nicht gesehen“, protestierte er halbherzig. „Aber du hast ihn dir vorgestellt.“ Ertappt ließ Nathan den Kopf sinken. Ganz, ganz, ganz eventuell hatte er das. So ein bisschen. Und er hatte auch ganz eventuell in seinem Bett gelegen und gelauscht, ob er irgendetwas von Ezras Anwesenheit mitbekam. Natürlich war das nichts zu hören gewesen, aber allein die Vorstellung, dass er dort draußen saß, war gleichzeitig gruselig und aufregend gewesen. Und ganz vielleicht hatte Nathan das ein kleines bisschen gefallen. Marvin seufzte abgrundtief. „Man, Nathan. Du hast wirklich ein Händchen dafür, dich in die falschen Typen zu vergucken.“ Bevor Nathan etwas dazu sagen konnte, fuhr er fort: „Aber ich bin nicht deine Nanny. Du bist erwachsen und musst wissen, was du tust. Ich bitte dich nur: Sei vorsichtig, Mann. Mir gefällt diese ganze Nummer nicht.“ Nathan schob einen Mundwinkel nach oben. „Ich bin vorsichtig. Versprochen.“ „Und mach ein Pic von ihm. Du weißt, ich bin lausig darin, weiße Typen zu beschreiben. Also wenn die ein Fahndungsfoto brauchen, weil der Typ dich vom Kopf bis zu den Zehen aufgeschlitzt hat, will ich was in der Hand haben.“ Nathan lachte. „Okay, ich werde sehen, was ich tun kann. Aber jetzt drück mir erst mal die Daumen, dass Shannon mir den Rest des Tages freigibt. Dann schaffe ich es vielleicht morgen Abend doch noch.“ „Wenn ich du wäre, würde ich lieber einen Eiswürfelstand in der Wüste aufmachen. Das erscheint mir vielversprechender.“ Nathan grinste und befand, dass Marvin recht hatte. Auf dem Weg nach draußen schickte er Shannon lediglich eine Nachricht und schaltete sein Handy dann aus. Das Donnerwetter am Montag würde sich so hoffentlich in Grenzen halten. Erschöpft ließ sich Nathan auf die Couch fallen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er hatte die letzten fünf, sechs, sieben (?) Stunden abwechselnd am Herd und an seinem Handy verbracht. Er hatte gekocht, arrangiert und vor allem Fotos gemacht. Hunderte von Fotos, die Lust aufs Kochen machen sollten. Jetzt tat ihm der Rücken weh, die Augen brannten und die gesamte Wohnung roch wie ein Imbiss-Restaurant. Dafür stapelten sich in seinem Kühlschrank Gerichte für die nächsten drei bis fünf Tage. Danach hatte er beschlossen, dass das erst mal reichen musste. Vermutlich musstten sie ohnehin noch mal professionelle Fotos machen und er wollte ja nichts unnötig verderben lassen. Jetzt musste er nur noch aufräumen, duschen und dann würde er sich an den Rechner setzen und mit der Bearbeitung anfangen. Ganz bestimmt. Ein leises Klopfen ließ Nathan auffahren. Um ihn herum war es stockfinster. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte er ihn zu lange mit einem Nudelholz bearbeitet, und seine Augen schienen mit Sandpapier abgeschmirgelt worden zu sein. Mit Kontaktlinsen einzuschlafen, war keine gute Idee gewesen, und es im Sitzen zu tun, erst recht nicht. Stöhnend kam er in die Senkrechte. Wie spät es wohl war? Noch vor oder bereits nach Mitternacht? Und was hatte ihn geweckt? Es klopfte noch einmal. Nathan sah sich um und erkannte sofort die Silhouette, die sich gegen den Nachthimmel abzeichnete. Ezra war gekommen, um sich anzukündigen. Schnell erhob Nathan sich und ging zum Fenster. „Hey“, machte er, nachdem er es entriegelt und nach oben geschoben hatte. Die kühle Luft, die an ihm vorbeiströmte, zauberte eine Gänsehaut auf seine bloßen Arme. „Hey“, kam von der anderen Seite zurück. Die Nacht heute war dunkel, der Mond mal wieder hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden. So konnte er kaum etwas von Ezras Gesicht erkennen. Nur seine Augen, die geheimnisvoll leuchteten wie die einer Katze. „Du hast geschlafen.“ Nathan wich Ezras Blick aus. „Ja, ich … ich hab den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden. Für mein Buch. Meine Chefin – also eigentlich der Chef meiner Chefin – will sich am Montag den Entwurf ansehen. Es soll ein Kochbuch werden.“ Schweigen antwortete ihm und Nathan hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten. Warum erzählte er Ezra das? Das interessierte ihn doch bestimmt überhaupt nicht. „Du kochst also gerne.“ Nathan war sich nicht sicher. War das jetzt eine Frage? Oder eher eine Feststellung? Fand Ezra das gut, schlecht, albern oder interessant? Und warum war das eigentlich wichtig? „Ja, ich koche gerne“, sagte er mit möglichst fester Stimme. Er hob den Kopf wieder und sah Ezra genau in die Augen. „Hast du ein Problem damit?“ Ein unergründliches Lächeln antwortete ihm. Er fühlte es mehr, als das er es sah. Plötzlich kam er sich albern vor. „Tut mir leid, ich … ich bin gerade erst aufgewacht und ich hab noch nichts gegessen und …“ „Dann solltest du das vielleicht tun.“ „Was?“ „Na, etwas essen. Dein Magen knurrt.“ Genau in diesem Moment beschloss das launische Organ tatsächlich, ein Geräusch von sich zu geben. Ein ziemlich lautes Geräusch. Erschrocken hielt Nathan sich die Hand vor den Bauch. „Oh, entschuldige. Tut mir leid. Ich …“ Ezra lächelte leicht. „Kein Problem. Iss nur. Ich werde hier warten.“ Er drehte sich um und lehnte sich mit einer fast schon beiläufig wirkenden Bewegung gegen die Wand. Nathan zögerte kurz, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte. Keine fünf Minuten später kam er zurück, in den Händen einen Teller mit einigen goldbraunen, verführerisch duftenden Bällchen und einer Schüssel mit einer sämigen, roten Paste. Etwas unschlüssig blieb er am Couchtisch stehen, bevor er daran vorbei und weiter zum Fenster ging. Ezra drehte sich halb zu ihm herum. „Du bist schon zurück?“ Nathan stockte in der Bewegung, als hätte Ezra ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt. Sein Ton hatte mehr als deutlich gemacht, dass er Nathan noch nicht zurück erwartet hatte. Und doch stand der jetzt hier und hatte offenbar vor, Ezra was vorzuessen. Das war schräg. Und seltsam. Ezra sollte ihn nicht seltsam finden. Nathan räusperte sich. „M-möchtest du vielleicht auch etwas haben? Ich habe selbst gemachte Dumplings mit Gemüsefüllung, eine Quinoa-Spinat-Bowl oder Blumenkohl-Falafel. Die sind wirklich gut. Und ich hätte Pancakes, falls du lieber was Süßes möchtest. Mit Ahornsirup. Und Erdbeeren.“ Ezra antwortete nicht und Nathans Gedanken machten Überstunden. Hatte er es jetzt übertrieben? Waren die Gerichte zu ausgefallen? Mochte Ezra überhaupt etwas davon? Oder hatte er schon gegessen? Immerhin war es spät. Jeder normale Mensch hatte um die Zeit schon zu Abend gegessen. Es war eine dämliche Idee gewesen, ihm was anzubieten. „Ich esse nicht.“ Der Satz durchbrach das Schweigen, das schon viel zu lange dauerte. Nathan lachte auf. Es passierte ganz automatisch. „Ach so, stimmt ja. Du bist ein Vampir. Hatte ich vergessen. Entschuldigung.“ Ezra reagierte nicht und Nathan stand da mit dem Teller in der Hand. Was nun? Sollte er jetzt zum Tisch zurückgehen? Den Fernseher anmachen? Das Fenster schließen? Hätte er Marvin gefragt, hätte der vermutlich begeistert genickt und ihm obendrein noch geraten, endlich die Finger von diesem merkwürdigen Freak zu lassen. „Gut, ich … ich geh dann mal essen. Das Fenster lasse ich auf. Nur für den Fall.“ Für welchen Fall? Nathan ignorierte die spöttische Stimme in seinem Hinterkopf, ging zurück zur Couch und griff nach der Fernbedienung. Noch im Hinsetzen schaltete er das Gerät an und wählte irgendeinen Sender. Eine Dokumentation über den zweiten Weltkrieg erschien auf dem Bildschirm. Die Geschütze flogen, Soldaten mit erhobenen Händen marschierten in Reih und Glied und ein kleiner, wütender Mann mit einem Schnauzbart brüllte unverständliches Kauderwelsch in die Kamera. Nathan betrachtete ihn nachdenklich. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass auch er kein Fleisch gegessen hatte und ein großr Tierfreund gewesen war. Das machte einen wohl nicht automatisch zu einem besseren Menschen. „Könntest du das abstellen?“ Ezras Stimme war nicht sehr laut, trotzdem übertönte sie den Fernseher klar und deutlich. „Äh, ja natürlich.“ Er kam Ezras Bitte nach. Der Fernseher erlosch und im Zimmer wurde es dunkel. Nathan hatte kein weiteres Licht eingeschaltet. „So besser?“, fragte er in die entstandene Stille hinein. „Ja. Danke.“ Ezras Stimme klang leicht gepresst, fast so, als würde er sich nur mit Mühe beherrschen. Was an der Sendung hatte ihn so aufgeregt? „Warum sollte ich es abschalten?“ Die Frage war einigermaßen legitim. Immerhin war das hier Nathans Wohnung und er konnte darin tun und lassen, was er wollte. „Weil … sagen wir einfach, es weckt ungute Erinnerungen.“ Ezra klang ernst. Viel zu ernst. Nathan ließ die Falafel Falafel sein, wischte sich notdürftig die Finger ab und stand auf. Ezra lehnte immer noch an derselben Stelle der Wand. Sein Blick war auf die Stadt gerichtet. Langsam ging Nathan zum Fenster. „Warst du mal im Krieg?“, fragte er. Ezras Mundwinkel zuckte nervös. „Könnte man so sagen. Aber das ist lange her. Ich werde es irgendwann vergessen, denke ich.“ Er wandte den Kopf in Nathans Richtung. „Erzählst du mir von deinem Buch?“ Nathan glaubte zuerst, sich verhört zu haben. Hatte Ezra ihn gerade wirklich nach seinem Buch gefragt? „Ähm.“ Er war sich nicht sicher. Sollte er wirklich? „Also es ist … ein Kochbuch. Mit Rezepten drin.“ „Das ist alles?“ Die Frage klang nicht herablassend. Eher so, als würde Ezra das Konzept nicht verstehen. Trotzdem hatte Nathan das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. „Tja, also, ich will … ich möchte den Leuten zeigen, dass man auch ohne tierische Produkte sehr gut und lecker essen kann. Einfach weil ich hoffe, dass sich dadurch noch mehr Leute für die vegane Küche begeistern lassen. Deswegen schreibe ich ein Kochbuch. Um … na ja.“ Ezra musterte ihn mit gerunzelten Brauen. „Du isst kein Fleisch?“ Nathan schüttelte den Kopf. „Nichts, was vom Tier kommt. Also auch keine Eier, keine Milch oder so.“ „Warum nicht?“ Nathan hätte beinahe gelacht. Wenn er einen Dollar für jedes Mal bekommen hätte, die er das schon gefragt worden war, hätte er sich um die Miete für den Rest des Jahres keine Sorgen mehr zu machen brauchen. „Die ehrliche Antwort?“, fragte er halb amüsiert. Ezra antwortete nicht. Nathan seufzte und ließ sich ebenfalls mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Sie standen nun an verschiedenen Seiten des Fensters, auf unterschiedlichen Seiten der Wand. Und doch hatte er das Gefühl, dass da eine Verbindung zwischen ihnen war. Etwas, das er nur fühlen, aber nicht in Worte fassen konnte. Noch einmal seufzte Nathan. „Weil mir die Tiere leidtun“, erklärte er der Rückseite seiner Couch. „Auf der Welt wird inzwischen so viel Fleisch gegessen, dass es nur noch durch riesige Farmen und Zuchtanlagen zu beschaffen ist. Tiere, die nie an der frischen Luft waren, nie Tageslicht gesehen haben. Ich möchte dieses System nicht mehr unterstützen.“ Er fuhr fort, bevor Ezra etwas dazu sagen konnte. „Ich weiß. Die Leute hören nicht gern, dass ihre Spare Ribs früher mal grunzen konnten oder dass die Hühnerbeine, die sie sich in den Mund schieben, ursprünglich dazu gedacht waren, dass sich ein Huhn damit fortbewegt. Und ich weiß auch, dass ich mir meine Einstellung nur leisten kann, weil ich privilegiert genug bin, mir aussuchen zu können, was ich esse. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass es gut für uns und gut für die Tiere wäre, wenn wir bei der Wahl unserer Lebensmittel ein wenig achtsamer wären. Immerhin sind auch sie lebende, atmende Geschöpfe. Geschöpfe die Angst und Schmerz empfinden können. Ich möchte nicht, dass irgendein Tier meinetwegen leiden muss.“ Auf seinen Vortrag folgte eine lange Zeit gar nichts. Aus den Augenwinkeln heraus sah Nathan, dass Ezra noch da war, doch er sagte kein Wort und auch Nathan war sich nicht sicher, wie er sich jetzt verhalten sollte. Damals mit Christian hatte er auch über das Thema gesprochen. Im Grunde genommen hatten sie sich sogar deswegen kennengelernt. Christian hatte sich interessiert gezeigt, hatte sich von Nathan bekochen lassen, ihm zugehört. Aber mit der Zeit war es weniger geworden. Er hatte ihn abgewürgt, hatte das Gespräch auf andere Dinge gelenkt und irgendwann hatte er Nathan knallhart ins Gesicht gesagt, dass er ihm auf den Sack ging und er gefälligst die Klappe halten sollte. Und dass er jetzt ein Steak essen gehen würde. In dem Moment hätte Nathan bereits wissen müssen, dass etwas nicht stimmte. Aber er hatte es nicht geschnallt. Noch lange nicht. „Dann war es Mitgefühl, dass dich zu dieser Entscheidung getrieben hat?“ Nathan erwachte aus seiner Erinnerung. Wurde er diesen Schatten denn nie wieder los? „Ja“, antwortete er ein wenig verspätet. „So in etwa. Aber getrieben würde ich es nicht nennen. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden und ich habe es bisher nicht bereut. Sicher, manchmal ist es umständlich. Man kann nicht überall essen gehen und oft muss man ganz genau hinsehen, um nicht aus Versehen doch irgendetwas zu erwischen, das Tierbestandteile enthält. Aber ich finde, es lohnt sich.“ Wieder erhielt er keine Antwort, aber das machte nichts. Er stand zu seiner Entscheidung. Und wenn Ezra das jetzt komisch fand, dann war es eben so. Er konnte und wollte daran nichts ändern. „Ich habe morgen ein Date“, sagte er plötzlich. „Also eigentlich hat mich mein Freund dazu überredet, aber … ich werde wohl ausgehen. Mich mit jemandem treffen.“ Er ließ den Rest ungesagt. Die Frage, die darin mitschwang, ganz leise nur. Er sprach sie nicht aus. „Das freut mich für dich.“ Ezras Ton war reserviert. Gleichgültig. Was auch sonst? Nathan atmete tief durch. „Muss ich mir Gedanken machen? Ich meine, weil ich sicherlich erst mitten in der Nacht zurückkehren werde. Wenn es dunkel ist.“ Dieses Mal erfolgte eine Reaktion. Ezra leckte sich über die Lippen. „Du kannst unbesorgt sein. Ich werde dir nichts tun.“ Nathan schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, dass das hier die richtige Entscheidung war und doch fühlte es sich vollkommen falsch an. Und außerdem gab es da noch etwas, was er wissen musste. „Dann hätte ich nur noch eine Frage. Wenn ich jetzt zu dir sagen würde 'Komm doch herein'. Was würde dann passieren?“ Ezra regte sich nicht. Sein Blick war weiter auf die Stadt gerichtet, nur das ein wenig schnellere Heben und Senken seines Brustkorbs verriet, dass er Nathans Worte gehört hatte „Ich an deiner Stelle, würde das nicht tun. Es könnte lebensgefährlich sein.“ Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals. „Aber du hast doch gesagt, mir würde nichts geschehen.“ Ezra atmete tief ein. „Nur, weil ich mich aus der Entfernung beherrschen kann, heißt das nicht, dass ich immer dazu in der Lage bin. Von daher rate ich dir dringend, diese Grenze nicht zu überschreiten. Zu deiner eigenen Sicherheit.“ Nathan wollte noch etwas erwidern, aber Ezra stieß sich von der Wand ab und trat an den Abgrund. „Es ist spät. Ich werde mich noch ein wenig im Viertel umsehen. Vielleicht entdecke ich irgendwo anders eine Spur. Bis dann.“ Im nächsten Augenblick war er verschwunden, ohne dass Nathan gesehen hatte, wohin er gegangen war. Oder wie. Er war einfach weg. Nathan seufzte lautlos. Er wusste, dass es keinen Sinn mehr hatte, noch länger hier stehenzubleiben. Ezra würde heute nicht noch einmal herkommen. Oder vielleicht auch nie wieder. Wer wusste das schon? Langsam schob Nathan das Fenster nach unten. Als es nur noch einen kleinen Spalt breit offenstand, hielt er inne. War es wirklich das, was er wollte? Und zählte das überhaupt? Seine Finger glitten vom Rahmen herab. Ich werde es schließen, wenn ich nachher ins Bett gehe. Damit drehte er sich um und ging zum Schreibtisch zurück. Er würde noch ein paar Stunden an seinem Buch arbeiten und dann morgen zu diesem Date gehen. Denn das war es, was gut für ihn war.   Kapitel 7: Feuer ---------------- Rotterdam, Mai 1940 Ein Krachen ließ Ezra auffahren. Er sprang aus dem Bett und stolperte fast über den Körper, der davor am Boden lag. Ein schmaler, weißer Arm ragte aus dem nachlässig drapierten Betttuch hervor. Ezra stieß ihn zur Seite und eilte zum Fenster. Draußen krachte es erneut. Motorengeräusche am Himmel. Dutzende. Hunderte. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Menschen schrien, Sirenen heulten. Durch die geschlossenen Läden des Hotelzimmers spitzte grelles Licht. Es musste mitten am Tag sein. Im nächsten Moment flog die Tür auf. Gilbert stürzte herein. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein gelbstichiges Haar stand in alle Richtungen ab. Er keuchte. „Herr, wir müssen weg! Sie kommen.“ Mehr musste Ezra nicht wissen. Er eilte zum Stuhl und griff nach seiner Hose. Während er hineinstieg, riss Gilbert den Schrank auf, zerrte einige Dinge heraus und stopfte sie in eine Reisetasche. Keiner von ihnen beachtete die Leiche, die auf dem Fußboden lag. Für Ezra hatte sie ihren Reiz verloren und für den Ghul war sie noch zu frisch. „Der Wagen wartet bereits.“ „Dann los.“ Draußen auf dem Gang rieselte Staub von der Decke. Um diese Zeit waren nicht viele Besucher im Haus. Sie genossen die Schönheit der Stadt. Einer Stadt, die seit drei Tagen belagert wurde, doch davon merkte man hier, so weit im Inneren normalerweise nichts. Bis jetzt. Ein Zimmermädchen mit nur einem Schuh rannte weinend an ihnen vorbei. Ezra kümmerte sich nicht um sie. Er und Gilbert hetzten weiter den Gang entlang. Nach unten, nach unten. In der Halle begegnete ihnen Darnelle. Auch er musste aus dem Schlaf gerissen worden sein. Sein Hemd war nur nachlässig zugeknöpft, sein Jackett fehlte ebenso wie Weste und Krawatte. „Wo ist Elisabeth?“, rief er sofort. „Ist sie nicht bei dir?“ Momente lang starrten sie sich an, dann donnerte es erneut. Die Erschütterung war dieses Mal so stark, dass Ezra Mühe hatte, auf den Füßen zu bleiben. Die Fenster klirrten. Gleich darauf zerbarsten sie unter der Wucht einer erneuten Explosion direkt vor dem Hotel. Scharfkantige Splitter zerschnitten die Luft. Instinktiv warf Ezra sich zu Boden. Über sich hörte er Gilbert röcheln. Als er aufsah, steckte eine unterarmlange Scherbe in der Kehle des Ghuls. „Gilbert! Wo ist Elisabeth?“ Darnelle, der bereits wieder aufgesprungen war, schüttelte den Ghul. Als Antwort bekam er nur ein undeutliches Krächzen. Der Splitter mussten Gilberts Stimmbänder zerschnitten haben. Schwarzes Blut quoll träge wie Teer aus dem Schnitt an seinem Hals. Mit ungelenken Bewegungen griff er danach. Versuchte, das Glas herauszuziehen. Darnelle schlug seine Hand weg. „Elisabeth! Wo ist sie?“, schrie er vollkommen außer sich. Gilbert deutete nach oben. Sofort ließ Darnelle ihn los „Gut, ich hole sie. Ihr wartet hier.“ „Darnelle!“ Ezra rappelte sich auf, aber Darnelle war bereits in Richtung der Treppen verschwunden. Er fluchte. „Gilbert, wir brauchen den Wagen!“ In diesem Moment krachte es wieder. Der Boden bebte. Teile der Halle, in der sie sich befanden, stürzten in sich zusammen. Flammen schossen aus dem entstandenen Loch in der Wand. Ezra sprang zurück, bevor ein großer Betonbrocken ihn unter sich begrub. Er stolperte, fiel. Alles um ihn herum war in Bewegung. Noch mehr Steine stürzten herab. Staub lag überall in der Luft. Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Gierig leckte das Feuer nach Möbeln, Teppichen und Tapeten. „Gilbert? Gilbert!“ Dort, wo der Ghul gerade noch gestanden hatte, lag ein riesiger Trümmerhaufen. Sofort begann Ezra, die Steine beiseite zu räumen. Die rauen Kanten schürften seine Hände auf, aber er achtete nicht darauf. Wie ein Wahnsinniger arbeitete er sich durch das das tonnenschwere Gestein. Irgendwann stieß er auf eine Hand. Sie war schwarz, staubbedeckt und leblos. „Verdammt!“ Ezra sah auf. Draußen rannten Menschen um ihr Leben. Am Himmel die deutschen Bomber. Und die Sonne. Er konnte nicht hinaus. Und hier drinnen fraßen sich die Flammen immer schneller ihren Weg. Schon hatten sie die hölzernen Vertäfelungen der Halle erreicht und kletterten in Windeseile daran empor. Alles um ihn herum würde brennen wie Zunder. Ich muss die anderen warnen. Ezra wirbelte herum und stürmte die wie durch ein Wunder noch erhaltene Treppe nach oben. Die Stufen waren übersät mit Steinen, Mauerstücken und Geröll. Staub auf dem roten Samt. Ein aufgesprungener Koffer hatte seinen Inhalt über ein ganzes Stockwerk vergossen. Seide Nachthemden und Spitzenhöschen bildeten eine surreale Kaskade der Eleganz inmitten des Chaos. Ezra stürmte daran vorbei nach oben. Er musste Elisabeth finden. Und Darnelle. Auch der Flur war ein Minenfeld aus Trümmerteilen und herabgefallenem Stuck. Einige Türen standen offen, andere waren geschlossen. Der ganze Trakt wirkte verlassen. Nichts regte sich. „Elisabeth? Darnelle!“ Niemand antwortete ihm. Ezra lauschte, da hörte er es. Eine helle Stimme, leise aber deutlich. „Help! Je moet uns helpen!“ Der Ruf kam aus einem der verschlossenen Zimmer. Ezra sprang hinzu, rüttelte an der Klinke. „Hallo?“ Von drinnen kam prompt eine Antwort. „We kunnen er niet uit. De deur is op slot.“ Ezra überlegte nicht lange. Mit einem kräftigen Ruck hatte er die Tür aufgebrochen. Auf der anderen Seite erwartete ihn ein Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren in einem feinen, weißen Kleid. An ihrer Hand ein Junge, einige Jahre jünger, mit einem Hemd und einer dunklen Latzhose. Seine Wangen waren gerötet und seine Nase lief. Geräuschvoll zog er sie hoch, während er Ezra anstarrte. „Was tut ihr hier?“, fragte Ezra das Mädchen auf Holländisch. Ihre Augen waren groß und dunkel. „Wir haben uns versteckt. Im Schlafzimmer.“ „Und wo sind eure Eltern?“ „Sie sind einkaufen gegangen. Wir sollten hier warten.“ Durch die Kühnheit seiner großen Schwester offenbar mutig geworden, setzte der Junge hinzu: „Und wenn wir brav sind, bekommen wir ein Eis.“ Da war Furcht im Blick des Mädchens. Ihre Unterlippe zitterte. Trotzdem blieb sie tapfer stehen, die Hand ihres Bruders fest umklammert. So fest, dass es wehtun musste. Und Ezra wusste, dass, was immer auch passierte, sie ihn nicht loslassen würde. Mittlerweile war der Flur voller Rauch. Dicke, schwarze Schwaden, die über Boden und Wände krochen und seine Sicht behinderten. In seinem Hals kratzte es und auch die Kinder begannen zu husten. Die Luft wurde immer dünner. Heißer. Stickiger Mit jedem Atemzug atmeten sie mehr des schleichenden Giftes ein. Nicht lange und die Kinder würden ersticken. Sie mussten hier raus. „Ezra!“ Er wirbelte herum. Am anderen Ende des Ganges waren zwei Gestalten erschienen. Eine von ihnen trug ein elegantes Kostüm. Elisabeth. Sie würde wissen, was zu tun war. „Ich bin hier!“, rief er zurück. Sein Blick glitt zu den Kindern. „Es wird alles gut“, versicherte er ihnen. „Meine Freunde sind da. Sie helfen uns.“ „Ich komme zu dir.“ Elisabeth machte Anstalten, über einen umgestürzten Schrank zu klettern. Darnelle wollte sie aufhalten. „Lass ihn. Es ist zu gefährlich. Wir müssen …“ Seine Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Beben unter. Ezra fühlte den Boden unter sich schwanken. Die gepeinigte Struktur des Gebäudes bäumte sich auf. Schüttelte sich. Die Wände bekamen Risse. Ezra hörte die Flammen brüllen, als sie neue Nahrung bekamen. Dann explodierte die Welt. Ezra erwachte. Um ihn herum war es still. Keine Bomben, kein Rauch, kein Feuer. Nur die Dunkelheit seines eigenen Schlafzimmers und die Gestalt, die sich undeutlich dagegen abzeichnete. Wie betäubt fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Finger wurden feucht, die Laken klebten an seiner Haut. Er fühlte sich schmutzig. Besudelt. Und leer. „Ein Alptraum?“ Darnelles Stimme war ruhig und gefasst. Ezra schluckte. Seine Kehle war wund. Als hätte er geschrien. „Wie lange stehst du schon dort?“ „Lange genug.“ Darnelle machte einen Schritt nach vorn. Seine Gesichtszüge wurden deutlicher. Er beobachtete Ezra. Es war, als warte er auf etwas. Als Ezra nicht reagierte, schnaubte er amüsiert. „Schon komisch, nicht wahr? Dass ausgerechnet wir beide überlebt haben.“ Ezras Blick wanderte ins Leere. Wie oft hatte er sich bereits gefragt, was wohl passiert wäre, wenn er sich nicht um diese Kinder geschert hätte. Wenn er sie einfach ignoriert hätte. Ob Elisabeth dann noch leben würde? Ob es seine Schuld war, dass sie tot war? Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Teil von mir mit ihr gestorben ist. Hinab gerissen in den Abgrund und verzehrt von den Flammen. Aber ich hatte Glück. Ich wurde ins Wasser geschleudert und Darnelle rette mich vor dem Ertrinken. Wie lange wir dort wohl saßen? Nass, frierend und nur dieses schmale Sims unter der Kanalbrücke, auf dem wir uns aneinander drückten wie Ratten. Ich habe in seinen Armen geweint, in den Ohren immer noch Elisabeths Schreie.Vielleicht kehre ich deswegen immer wieder zu ihm zurück.   Mit einem Kopfschütteln holte Ezra sich zurück in die Gegenwart. Das alles war schon so lange her. Er sollte es langsam vergessen. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“, fragte er und schwang sich aus dem Bett. Dass er dabei vollkommen nackt war, störte ihn nicht im geringsten. Darnelle offenbar auch nicht, aber es brachte ihn auch nicht aus der Ruhe. Mit einem süffisanten Lächeln ließ er seinen Blick über Ezras Körper gleiten. „Du solltest dich vielleicht anziehen, kleiner Bruder. Vater erwartet dich zum Rapport. Es sei denn, du wünschst eine Fortsetzung unsere nächtlichen …“ „Ich komme“, würgte Ezra ihn ab. Alles andere war undenkbar. Nicht nach dieser Nacht und nicht, wenn Aemilius auf sie wartete. Darnelles Grinsen wurde breiter. „Wie du meinst. Ich bin dann unten.“ Als er gegangen war, atmete Ezra erleichtert auf. Manchmal war es nicht einfach, Darnelle gernzuhaben. Sie erwarteten ihn im obersten Wohnzimmer des Penthouses. Aemilius hatte die Fenster geöffnet. Schwere, kalte Regenluft strömte herein. Sie passte zu der Stimmung, in der sich Ezra befand. Die Erinnerungen und der Alptraum wanden sich immer noch um seine Gedanken wie Spinnweben. Wann immer er versuchte, sie zu vertreiben, verhedderte er sich nur noch mehr. Dabei brauchte er jetzt einen klaren Kopf. Unbedingt. „Und?“, blaffte Aemilius, kaum dass er den Raum betreten hatte. „Was gibt es Neues?“ Ezra nahm sich die Zeit, sich zunächst zu der Sitzgruppe zu begeben, auf der Darnelle bereits Platz genommen hatte. Sein Bruder trug vollständige Garderobe, was wohl hieß, dass er vorhatte, später noch auszugehen. Auf das ästhetische Befinden anderer nahm er dabei selten Rücksicht. Ezra straffte sich. „Leider haben meine Nachforschungen bisher nichts ergeben. Der oder die Täter sind untergetaucht wie bereits die letzten Male. Mehr als ein geplündertes Grab können wir wieder nicht vorweisen.“ Aemilius knurrte unzufrieden. „Dieser Unsinn muss aufhören. Wir können nicht erlauben, dass irgendwer eine Horde von Ghulen frei in der Stadt herumlaufen lässt.“ „Wenn es denn überhaupt Ghule sind“, warf Darnelle ein. „Noch hat Ezra ja keinen von ihnen erwischt.“ „Du könntest mir ja helfen“, schoss Ezra zurück. Darnelle schenkte ihm ein träges Grinsen. „Du weißt, dass ich meine Augen und Ohren anderweitig offenhalte. Wenn es tatsächlich Ghule sind, muss es einen Meister geben. Jemand, der sie erschaffen hat. Und alle Vampire dieser Stadt nutzen meine Clubs. Wenn also einer von ihnen es war, werde ich es früher oder später erfahren.“ Ezra presste die Kiefer aufeinander. Er wusste, dass Darnelle recht hatte, aber … „Und wenn es jemand von außerhalb ist?“ Aemilius horchte auf. „Du meinst, jemand von außerhalb der Stadt?“ „Oder von außerhalb des Landes. Die modernen Reiserouten sind schnell.“ Aemilius schnaubte und drehte sich dem Regen zu. „Ich verstehe nur nicht, was der Sinn dahinter sein soll. Diese Aktionen auf den Friedhöfen erregen viel zu viel Aufmerksamkeit. Die Menschen mögen schwächer sein als wir, aber sie sind viele. Würde bekannt, dass wir tatsächlich existieren …“ „... würden sie uns auslöschen.“ Auch Ezra kannte die Gesetze, die zu ihrem Schutz aufgestellt worden waren. „Vielleicht versucht ja auch jemand, neue Vampire zu machen.“ Darnelle sah gelangweilt aus, aber Ezra ahnte, dass das täuschte. Darnelle zu unterschätzen war ein Fehler, den viele nicht zweimal machten. Aemilius sandte ihm einen bösen Blick. „Du weißt, dass das verboten ist. Eine neue Wandlung muss immer von den Mitgliedern des Rates abgesegnet werden. Sollte jemand dagegen verstoßen, würden er und das Ergebnis der Prozedur sofort eliminiert werden. Egal ob es sich dabei um einen Ghul oder einen Vampir handelt.“ Darnelle seufzte. „Ja, ich weiß. Aber offenbar schert sich ja jemand einfach nicht darum, was irgendwo auf einer vergilbten Pergamentrolle in irgendeinem Gewölbe tief unter der Stadt geschrieben steht.“ Darnelles Augen blitzten auf und Ezra wusste, dass er jetzt zu dem Punkt gekommen war, auf den er eigentlich hinauswollte. „Vielleicht wäre es an der Zeit, wenn wir auch anfangen würden, es mit den Regeln nicht mehr ganz so genau zu nehmen. Du kannst das Spiel nicht gewinnen, wenn die Gegenseite ständig mogelt. Es sei denn …“ „Nein!“ Aemilius Gesicht hatte mehr Farbe angenommen als üblich. Sein Schnurrbart sträubte sich. „Ich werde nicht zulassen, dass du die Gesetze brichst.“ Darnelle bleckte die Zähne. „Dann werden wir früher oder später untergehen. Sieh uns doch an. Es ist ein Witz, was aus uns geworden ist. Überall haben sich die Menschen breitgemacht. Sie sind wie eine Krankheit, eine Plage. Unsere Macht schwindet mehr und mehr. Wir sind nichts weiter als weichbäuchige Witzfiguren, die nur noch Menschen beißen, die sich freiwillig dafür anbieten. Wir haben unseren Kampfgeist verloren, unseren Einfluss, unsere Macht. Kein Wunder, dass fremde Vampire hier eindringen, um unseren Platz einzunehmen. Wahrscheinlich müssen sie sich dafür nicht einmal besonders anstrengen. Dein Sitz im Rat wackelt schon lange.“ Aemilius horchte auf. „Wie meinst du das?“ Darnelle schnaubte spöttisch. „Wie ich das meine? Nun, ich meine damit, dass nicht nur ich unzufrieden damit bin, mich mit einem Platz neben der Nahrungskette zu begnügen. Wir Vampire sollten an der Spitze stehen, so wie es immer schon war. Wer nicht kooperiert, wird aus dem Weg geschafft. Hat sogar bei einigen Präsidenten geklappt, wenn ich mich recht erinnere.“ „Und es hat zu einem Krieg geführt. Einem Krieg, den viele von uns mit dem Leben bezahlt haben.“ Darnelle grinste. „Aber einem Krieg, den wir gewonnen haben. Von unseren Gegnern hat keiner überlebt. Es gibt keine Vampirjäger mehr, nur noch alte Geschichten, an die niemand mehr glaubt. Ein bisschen Hokuspokus, ein bisschen Augenwischerei, und schon haben sie uns wieder vergessen. Es ist so einfach, sie zu täuschen. Aber statt den Platz zurückzuerobern, der uns eigentlich zusteht, verstecken wir uns in den Schatten und hoffen, dass uns niemand auf die Schliche kommt. Es ist armselig.“ „Genug!“, donnerte Aemilius. „Du warst nicht dabei. Du weißt nicht, wie es damals war. Also gib dich zufrieden und mach, dass du an die Arbeit kommst. Du hast Gäste, die Hunger haben.“ Darnelle verzog die Lippen zu etwas, das nicht einmal im Ansatz ein Lächeln war. „Aber natürlich, Vater. Wie du wünschst.“ Mit einem spöttischen Blick auf Ezra erhob er sich. „Ich sehe dich nachher, Bruder. Aber warte nicht zu lange. Nicht, dass du dich noch an einem unwilligen Opfer vergreifst. Der Rat könnte dahinter kommen.“ Darnelle verließ den Raum und ließ Ezra und Aemilius allein zurück. Aemilius atmete hörbar aus. „Er ist wie immer um diese Zeit unerträglich. Manchmal wünschte ich, Elisabeth hätte nie …“ Er beendete den Satz nicht, aber Ezra ahnte, was er meinte. „Wir vermissen sie alle“, sagte er deswegen nur. Er wusste, dass Aemilius ihn verstehen würde.   Der ältere Vampir schenkte ihm einen abschätzigen Blick. „Was vorbei ist, ist vorbei“, antwortete er grollend. „Außerdem hat er recht. Ich erwarte, dass du Ergebnisse ablieferst. Die anderen Ratsmitglieder sitzen mir im Nacken. Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, werden sie herkommen und sich der Sache selbst annehmen. Willst du etwa, dass ich schwach aussehe? Meines Amtes enthoben werde? Willst du das?“   Ezra senkte den Kopf.   „Natürlich nicht.“   „Dann mach deinen Job“, fauchte Aemilius. „Wir müssen diesen abtrünnigen Vampir dingfest machen und das wird uns nur gelingen, wenn wir einen der Ghule in die Finger bekommen. Lebend. Nur dann können wir …“ „Die Spur zu seinem Erschaffer zurückverfolgen“, beendete Ezra den Satz. „Ich weiß.“ Der ältere Vampir warf ihm einen scharfen Blick zu. „Dann geh jetzt. Finde einen dieser Ghule und bring ihn mir.“ „Sehr wohl, Vater.“ Die Nacht war immer noch dunkel und regnerisch, als Ezra auf dem Dach gegenüber seiner angestammten Position Stellung bezog. Er war früher dran als sonst und das aus einem Grund. Mit brennenden Augen sah er zu dem Lichtschein hinüber, von dem er wusste, dass es das Schlafzimmerfenster sein musste. Eine ihm wohlbekannte Gestalt bewegte sich in dem hellen Viereck auf und ab. Dann wurde das Licht gelöscht; erst in diesem Raum, danach in den beiden anderen. Einige Minuten später öffnete sich die Haustür. Ezra musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, dass derjenige, der dort unten mit hochgezogenen Schultern durch den Nieselregen eilte, Nathan war. Wenn er gewollt hätte, hätte Ezra jetzt das tun können, von dem er Aemilius versichert hatte, dass er es tun würde, wenn es notwendig wurde. Er hätte ihn töten können. Vielleicht sogar müssen. Nathan wusste inzwischen mehr, als erlaubt war. Allerdings hatte Ezra ihm auch das Versprechen gegeben, dass ihm – zumindest am heutigen Abend – nichts geschehen würde. Es war dumm gewesen, dass er das getan hatte. Gleichzeitig hatte es sich in dem Moment absolut richtig angefühlt. Du bist ihm nicht verpflichtet. Ezra mochte nicht, wie sehr sich seine innere Stimme nach Darnelle anhörte. Aber natürlich hatte sie recht. Wenn es darum ging, Gefahr von sich oder einem anderen Vampir abzuwenden, hatte er das Recht, ja sogar die Pflicht, alles zu tun, was dafür notwendig war. Ein menschliches Opfer stellte dabei kein Hindernis dar, solange er sicherstellte, dass er nicht erwischt wurde. Und das ließ sich eigentlich fast immer bewerkstelligen. Er hatte nicht gelogen, als er Nathan davon erzählt hatte, wie vielfältig die Gelegenheiten waren, einen Menschen verschwinden zu lassen. Aber ich will ihn nicht töten. Sicher, am Anfang war das sein Ziel gewesen. Er hatte diesen Menschen, der unvorsichtigerweise seinen Weg gekreuzt hatte, verhören und dann beseitigen wollen. Doch Nathan hatte sich als zäher erwiesen, als Ezra auf den ersten Blick vermutet hatte. Er hatte ihn sogar angeblafft. Und Ezra war … er war fasziniert gewesen. Natürlich wäre es ohne den häuslichen Schutz ein Leichtes gewesen, Nathan zu befehlen. Ihn tun zu lassen, was immer er wollte. Ezra musste zugeben, dass es ihn ein wenig kalt erwischt hatte, dass seine Fähigkeiten an dieser Stelle so begrenzt gewesen waren. Aber dann … dann hatte er es als Herausforderung gesehen. Ein interessantes Spiel, an dem er wohl mehr Gefallen gefunden hatte, als er hatte zugeben wollen. Dabei ist er nur ein Mensch. Ein Kind im Vergleich zu ihm selbst. Unerfahren, unbekannt, ohne markante Merkmale oder besondere Fähigkeiten. Was also war es, dass Ezra so faszinierte? Was ihn dazu brachte, Nathans Nähe zu suchen, wann immer es möglich war? Immerhin war es für seine Aufgabe nicht notwendig, dass er mit ihm sprach. Es war obsolet, dass er seinen Besuch ankündigte. Es war schlichtweg leichtsinnig, dass er sich in Sichtweite des Fensters aufhielt. Und doch tat er es. Warum? Vielleicht aus demselben Grund, aus dem Nathan das Fenster offen lässt. Ezra hatte wohl gemerkt, dass er nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann geblieben war. Und er konnte nicht leugnen, dass der ihm ebenfalls gefiel. Dabei war es nicht nur sein Äußeres, das ihn ansprach. Es war sein Wesen. Die Art, wie er ungeachtet seiner offenkundigen Unterlegenheit immer wieder versuchte, Ezra die Stirn zu bieten. Wie ein trotziger, kleiner Ziegenbock. Und er war nicht dumm. Eine Tatsache, die Ezra außerordentlich imponierte. Die dazu geführt hatte, dass aus dem anfänglichen Spiel mehr geworden war. Mehr, als da eigentlich sein durfte. Du fühlst dich wohl in seiner Nähe. Er konnte inzwischen nicht mehr leugnen, dass es so war. Es fiel ihm schwer, den Finger darauf zu legen, was dieses Gefühl in ihm hervorrief. Wenn er es hätte beschreiben sollen, fiel ihm ein warmer Mantel ein, der sich um seine Schultern legte, ihn einhüllte und ihn beschützte. Was lächerlich war, da Nathan nur den Bruchteil seiner Kraft besaß. Seiner Ausdauer. Seiner Geschicklichkeit. Ein Fingerschnippen von Ezra würde reichen, um ihm das Genick zu brechen. Und genau deswegen musste er sich von ihm fernhalten. Er würde über kurz oder lang zerstören, was er nicht haben konnte. Weil er ein Mensch ist. Nahrung. Futter. Nicht mehr wert als Vieh auf der Weide. Ezra wusste es. Er wusste, dass ihn irgendwann der Drang überkommen würde, Nathan zu beißen. Einfach weil das in seiner Natur lag. Er war ein Raubtier, ein Killer, und daran würde aller guter Wille und alle besten Absichten dieser Welt nichts ändern. Nicht einmal die Sehnsucht, die ihn überkam, wann immer er an ihre merkwürdigen Treffen dachte. Eine brummendes Geräusch riss ihn aus seinen Überlegungen. Ein schwaches Vibrieren, das aus seiner Manteltasche drang. Ezra schnaubte belustigt. Da sieht man es mal. Ich werde nachlässig. Alles nur wegen dieses Menschen. Er zog sein Handy heraus und entsperrte das Display. Darauf war eine Nachricht von einem anonymen Absender. Eine Zahlenkolonne, nicht mehr. Die Koordinaten des nächsten Überfalls. Ohne weitere Verzögerung verließ Ezra das Dach.   Kapitel 8: Die bessere Wahl --------------------------- Nathan war zu spät. Davon zeugten nicht nur die ungefähr 27 Nachrichten, die er von Marvin bekommen hatte, sondern auch der Zeiger der Bahnhofsuhr, der sich mit jeder Sekunde weiter nach vorne schob. Er hätte längst da sein sollen. Bestimmt eine Stunde schon. Aber er hatte gezögert. Zu lange gezögert. Als die Bahn endlich kam, atmete Nathan auf. Er stieg ein, ließ sich auf einen der Sitze fallen und beobachtete die Türen, die sich mit einem Zischen wieder schlossen. Vor dem Fenster setzte sich die Landschaft in Bewegung. Nathan schloss die Augen. Es ist besser so, sagte er sich bereits zum hundertsten Mal an diesem Tag. Einem Tag, den er mit Arbeiten verbracht hatte. Vollgestopft mit dem Gestalten von Buchseiten, dem Überarbeiten eines gesamten Rezepts. Mit dem Schießen neuer Fotos und dem Versuch, das Konzept noch einmal völlig zu ändern, bis ihm aufgefallen war, dass ihm dazu schlicht die Zeit fehlte. Anschließend hatte er sich dem Schreiben eines Vorworts gewidmet, das sich nicht anhörte, als wäre es von einem Fünftklässler verfasst worden. All das hatte er getan, um dadurch in seinem Kopf keinen Platz mehr für Zweifel zu lassen. Für Was-wäre-Wenns. Und trotzdem hatte er sich mit Beginn der Dämmerung immer wieder dabei erwischt, wie er zum Fenster blickte. Wie er innehielt um zu lauschen, ob sich auf dem Dach etwas tat. Wie er gewartet hatte, dass Ezra auftauchte, um ihn davon abzuhalten, zu diesem Date zu gehen. Aber es war nichts passiert. Er war nicht gekommen. Das mit ihm ist ohnehin nicht mehr als eine fixe Idee. Eine Ausrede. Damit du dich nicht mit anderen Männern beschäftigen muss. Mit der Möglichkeit, wieder jemand in dein Leben zu lassen. Ihn zu wählen ist feige. Nathan wusste, dass es stimmte. Trotzdem war da dieses Gefühl, zurückblicken zu müssen. Nachzusehen, ob nicht doch … Nein. Du hörst jetzt damit auf und konzentrierst dich auf das, was vor dir liegt. Das Restaurant, in dem sie verabredet waren, lag direkt in der Innenstadt. Eine gute Ecke. Edel. Teuer. Nathan ahnte es bereits, als er die Eingangstür durchschritt. Das ganze Ambiente wollte bezahlt werden. Als er jedoch den Gastraum betrat, vergaß er, was er hatte sagen wollen. Oder denken. Er staunte. Über den Köpfen der Gäste schwebte ein Meer von Lichtern. Unzählige, warm schimmernde Glühbirnen hingen an langen, goldbraun umwirkten Leitungen direkt von der Decke. Es war, als habe man eine Horde Glühwürmchen auf den Raum losgelassen. Gut strukturierte Glühwürmchen, wie Nathan auf den zweiten Blick bemerkte, denn die Lampen waren in festen Dreierreihen angeordnet. Ihr Schein traf auf grob gemauerte Säulen, hölzerne Böden, genietete Decken und große, mit Leder bespannte Rahmen, die überlappend wie Fischschuppen die prominenteste Wand gegenüber der Bar bedeckten. Nathan wusste, dass er sich bei diesem Anblick hätte unwohl fühlen müssen, doch es war unmöglich. Alles in diesem Raum war warm und anheimelnd mit einem Hauch Eleganz, ein bisschen Rustikalität und einer guten Portion urbanen Chics, der ihn sogleich gefangen nahm. Es gefiel ihm hier. Es gefiel ihm außerordentlich. „Darf ich Sie zum Tisch begleiten?“ Die junge Bedienung mit der weißen Bluse und der enganliegenden, schwarzen Weste lächelte ihn an. Ihren Namen hatte Nathan bereits wieder vergessen. Irgendwas mit S. Sandra? Simone? Susan? Nathan wusste es nicht. Immer noch vollkommen gebannt folgte er einfach ihrem wippenden Pferdeschwanz, der ihn zu einem Tisch am anderen Ende des Raumes führte. Kaum, dass sie in Sichtweite waren, sprang einer der dort Sitzenden auf. „Nathan!“ Bevor Nathan wusste, wie ihm geschah, wurde er bereits in eine Umarmung gezogen. Eine Wolke von Eau de Toilette hüllte ihn ein. Es war viel, aber nicht unangenehm. Nur etwas benebelnd. Gleich darauf ließ Jomar ihn wieder los. „Wie schön, dass du kommen konntest.“ Seine Augen leuchteten. „Ich hab doch gesagt, dass er kommt.“ Marvin thronte zufrieden grinsend vor einem Teller mit Shrimps und anderem Meeresgetier. Neben ihm in der Ecke saß Felipe, der sich mit der Serviette den Mund abwischte, bevor er sich erhob und Nathan die Hand hinstreckte. „Schön, dass du da bist“, sagte auch er und Nathan wurde bewusst, wie groß Felipe tatsächlich war. Beeindruckend und auch ein wenig einschüchternd. Seine Hand war riesig und drohte Nathans fast zu zerquetschen. Ob er wohl überall so ausgestattet ist, schoss es Nathan durch den Kopf und er musste sich sehr beherrschen, den Blick nicht tiefer gleiten zu lassen. „Soll ich dir deinen Mantel abnehmen?“ Jomar machte Anstalten, Nathan beim Ausziehen zu helfen. Eilig wollte er sich zurückziehen, aber Jomar ließ nicht locker. „Keine Sorge, ich mache das. Setz dich doch.“ Jomar strahlte ihn an. Er wirkte aufmerksam. Hilfsbereit. Freundlich. Lass dich darauf ein. „Na gut. Hier, bitte.“ Nathan schlüpfte aus dem Mantel und hielt ihn Jomar hin. Der nahm das Kleidungsstück entgegen und eilte damit in Richtung Garderobe, die Nathan noch gar nicht bemerkt hatte. Es gab hier so viel zu entdecken. „Komm, steh nicht rum. Setz dich“, erinnerte Marvin ihn. Mit einem leicht verlegenen Lächeln nahm Nathan Platz. „Das Restaurant ist toll“, sagte er mit einem bewundernden Blick auf die vielen Details. Marvins Grinsen wurde breiter. „Jomar hat es ausgesucht. Er hat wohl gehofft, dass es dir gefallen würde.“ Das Funkeln in Marvins Augen und der wissende Ausdruck in Felipes Gesicht, den sein Bart nicht im Mindesten kaschierte, ließen Nathan wissen, was gespielt wurde. Er sollte ganz offensichtlich verkuppelt werden. Sie meinen es gut und Jomar ist … nett, versuchte er sich zu sagen und so seine aufkommende Panik niederzukämpfen. Es ist nur ein Essen. Und Kino. Kein Grund, kalte Füße zu kriegen. Jomar kam zurück an den Tisch. Er lächelte spitzbübisch. „Und? Wie heißt der Glückliche, der dich so lange aufgehalten hat?“ Für einen Augenblick glaubte Nathan sich ertappt. Hatte Marvin den anderen etwas von Ezra erzählt? Und wenn ja, wie viel? Das schlechte Gewissen wollte ihn überfallen wie ein wütender Tiger. Doch dann verstand er, dass es ein Scherz gewesen war. Ein unschuldiger Witz. Marvin hatte dichtgehalten. Nathans Geheimnis war sicher. „Sein Name ist Robert“, erwiderte er bemüht fröhlich und versuchte sämtliche Gedanken an seinen nächtlichen Besucher beiseite zu drängen. „Er erwartet doch tatsächlich, dass ich auch am Wochenende arbeite. Ein echter Sklaventreiber, aber was soll ich machen? Er ist nun mal mein Boss-Boss.“ Erlöstes Lachen erfüllte die Luft. Nathan atmete innerlich auf. Er wusste nicht, ob Jomar die Frage absichtlich zweideutig gestellt hatte, um herauszufinden, ob es da noch jemanden in seinem Leben gab. Diesbezüglich hatte Marvin ihn doch sicher bereits aufgeklärt. Oder hatte er sich da ebenfalls in Schweigen gehüllt? Es sah Marvin nicht ähnlich, aber andererseits wusste er vermutlich, dass es Nathan unangenehm war, wenn er hinter seinem Rücken zu viel über ihn tratschte. Nicht, dass ihn das nach einigen Margaritas noch aufgehalten hätte, aber jetzt, zu diesem Zeitpunkt, war Marvin dazu viel zu nüchtern. Genau wie ich. Plötzlich wünschte Nathan sich, dass er pünktlich gewesen wäre. Schon allein, um den einleitenden Drink intus zu haben. Ein wenig Alkohol würde die Sache definitiv leichter machen. Susan – Nathan war sich inzwischen sicher, dass das ihr Name war – kam zurück an den Tisch. In der Hand hielt sie eine ledergebundene Speisekarte. Lächelnd reichte sie sie Nathan. „Haben Sie schon einen Getränkewunsch?“ Bevor Nathan antworten konnte, mischte sich Marvin ein. „Du solltest den Bee Sting probieren. Ingwer und Honig. Genau das Richtige bei diesem Wetter.“ Nathan stockte. Er war sich sicher, dass Marvin es nicht wissen konnte, aber er aß keinen Honig. Nur wollte er das nicht so direkt sagen. „Für mich nur ein Ginger Ale, danke sehr“, meinte er daher lächelnd. „Vielleicht komme ich später noch auf das Angebot zurück.“ „Sehr gern“, antwortete Susan und verschwand, um das Gewünschte zu holen. Nathan rettete sich, indem er die Karte aufschlug und vorgab, sie zu studieren. Die anderen am Tisch griffen wieder nach ihrem Besteck. Zu Marvins Shrimps gesellten sich ein ziemlich großes Steak auf Felipes Teller sowie etwas, das Nathan als Entenbrust in Thymian-Soße identifizierte. Das Restaurant musste definitiv gut sein. Und teuer, so wie er gedacht hatte. Die Preise hinter den Gerichten ließen ihn ein wenig mit den Ohren schlackern. Zudem war die Auswahl an Dingen, die neben Gemüse nicht noch Butter oder Käse oder beides enthielten, sehr begrenzt. Zum Glück erspähte er eine Pilzpfanne, die frei von solchen Dingen zu sein schien. Es sei denn natürlich, sie wurde ebenfalls in Butter gebraten. Er seufzte innerlich. Du wirst komisch wirken. Und lächerlich. Und es wird wieder eine vollkommen unnötige Diskussion über Essgewohnheiten geben. So wie jedes Mal. Susan kam mit seinem Getränk zurück. Die anderen hatten ihr Gespräch wieder aufgenommen. Nathan hörte nur mit halben Ohr zu. Er suchte nach einer Möglichkeit, Susan unauffällig zu fragen, ob die Pilzpfanne tierische Produkte enthielt. Als sie ihren Block zückte, um seine Bestellung aufzunehmen, beugte er sich ein wenig zu ihr herüber. „Ich wüsste gerne, ob … also ob die Pilze in Pflanzenfett gebraten werden.“ Er warf ihr einen beschwörenden Blick zu. Sie lächelte. „Wir bereiten das Gericht gerne vegan zu. Kein Problem. Wobei ich persönlich das Maitake-Risotto empfehlen würde. Die Tagliatelle mit Steinpilzen sind ebenfalls sehr lecker. All das gibt es selbstverständlich auch milchproduktfrei.“ Nathan hätte beinahe gelacht. Dass es so einfach sein würde, hatte er nicht gedacht. „Dann die Tagliatelle, bitte.“ „Sehr wohl.“ Nathans Erleichterung musste ihm anzusehen gewesen sein. Als Susan gegangen war, um seine Bestellung weiterzugeben, trafen ihn interessierte Blicke. Er straffte sich innerlich. „Ich esse kein Fleisch“, sagte er so selbstbewusst, wie es ihm möglich war. „Aber lasst euch davon nicht aufhalten. Es ist ganz allein meine persönliche Entscheidung.“ Innerlich betete Nathan, dass das Gespräch jetzt nicht ausartete. Dass keine Diskussion entstand, keine Nachfragen kamen. Kein „Aber warum das denn nicht?“ oder ein abfälliges „Bist du etwa Veganer?“ oder irgendwelche Anspielungen auf schwindende Manneskraft aufgrund von Proteinmangel und andere krude Theorien. Er war sich nicht sicher, ob er sich dann mit einer Gegendarstellung würde zurückhalten können. Zum Glück rettete ihn Susan, indem sie auftauchte und etwas vor ihm abstellte, das wie eine Mokkatasse ohne Henkel aussah. Darin befand sich eine dickliche, rote Flüssigkeit mit einem Spritzer Balsamico. „Gazpacho“, erklärte sie. „Ein kleiner Gruß aus der Küche. Ich bringe gleich frisches Brot, wenn es aus dem Ofen kommt. Dauert nur noch einen Augenblick.“ Damit schwebte sie weiter und ließ Nathan mit seiner Suppe zurück. Er verschob das Gesicht zu einem Lächeln. „Tja, dann hätten wir das wohl geklärt“, verkündete er in möglichst lockerem Ton, griff nach der Schale und probierte. Die Suppe war unglaublich gut abgeschmeckt und hatte einen Hauch Schärfe sowie eine ausgeglichene Säure. Der Koch wusste definitiv, was er tat. „Die ist lecker, oder?“ Jomars dunkler Blick taxierte Nathan fragend. Nathan konnte das nur notdürftig verborgene Feuer darin sehen. Die Leidenschaft. Das sonnige Gemüt, das ihm Wärme versprach. Geborgenheit. Ganz anders als diese dunklen, blauen Seen, deren Kälte ihn frösteln ließ und die bis auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen. Ich muss aufhören an ihn zu denken. „Sie ist fantastisch“, sagte er daher schnell und nahm gleich noch einen Schluck aus der kleinen Tasse. „Wenn ich gewusst hätte, dass sie so gut ist, wäre ich früher gekommen, um einen ganzen Teller zu essen. Die Falten auf Jomars Stirn verschwanden. Er lächelte leicht. „Ich hätte mich auch gefreut, wenn du früher gekommen wärst, aber Arbeit geht nun einmal vor.“ Nathan sagte nichts, doch ihm war klar, dass er Jomar schon wieder vor den Kopf gestoßen hatte. Genau wie beim letzten Mal. Das hat er nicht verdient. „Es tut mir wirklich leid, dass ich so spät war. Ein Kochbuch zu schreiben ist schwieriger, als man annehmen sollte.“ Für einen Augenblick wurde die Stille am Tisch fast greifbar. Nicht einmal das Besteckklappern und die Gespräche, die von den anderen Tischen zu ihnen herüberdrangen, konnten daran etwas ändern. „Ein Kochbuch?“, fragte Felipe. „Marvin sagte, du wärst Autor.“ Nathan lachte ein wenig nervös. „Nun ja, das bin ich ja auch. Oder ich versuche, es zu werden. Nur halt nicht für Romane, sondern für Kochbücher.“ Felipe blinzelte. Offenbar war ihm noch nie die Idee gekommen, dass es auch Leute geben musste, die solche Bücher schrieben. Er wälzte den Gedanken sichtbar ein paar Mal in seinem Kopf hin und her, bis er entschied, dass es in Ordnung war. „Tja, irgendwer muss den Job ja machen, sag ich immer.“ Er lachte dröhnend und die anderen fielen mit ein. Susan brachte einen kleinen Holzkasten, in dem zwei duftende, fluffige Brötchen und eine Scheibe dunkleres Krustenbrot lagen. Nathan nahm sich eines der Brötchen. Es war tatsächlich noch warm. „Wo wir gerade bei Arbeit sind“, sagte er und schob sich einen Bissen in den Mund. „Was macht ihr beide eigentlich beruflich. Marvin hat noch gar nichts erzählt.“ Felipe, der inzwischen seinen Steak den Garaus gemacht hatte, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. Die rötliche Flüssigkeit mit der Limettenscheibe deutete auf irgendein Mischgetränk hin. „Ich bin Rettungswagenfahrer“, erklärte er. „Soll heißen, ich darf in dieser Stadt überall parken, wo ich nur will.“ Wieder lachten alle über den Scherz. „Und du?“, fragte Nathan und drehte sich zu Jomar um. Der lächelte und schlug die Augen nieder. „Ich arbeite in der Wäscherei des Midtown Medical Centers.“ „Dann kennt ihr euch von der Arbeit?“ Susan tauchte mit Nathans Pastagericht auf. Während sie servierte, tauschten Jomar und Felipe eigenartige Blicke. So eigenartig, dass Marvin nachfragte, was los sei. „Na ja“, gab Jomar gedehnt zurück. „Die Geschichte ist vielleicht nicht unbedingt eine, die man beim Essen erzählen sollte?“ „Ach nein?“, hakte Marvin nach. „Warum nicht?“ „Weil …“ Jomar zögerte. Er warf einen Blick auf Nathan, der als Einziger noch vor einem vollen Teller saß. „Weil mich ein Patient von oben bis unten vollgekotzt hatte, als wir uns das erste Mal trafen“, schoss Felipe gnadenlos ab. „Ich hab gestunken wie ein Abflussrohr und die Suppe lief mir aus allen …“ „Danke!“, Nathan hob abwehrend die Hände. „Ich kann es mir vorstellen. Nicht notwendig, dass du es beschreibst.“ Jomar grinste entschuldigend. „Sorry. Ich sagte ja, die Geschichte ist nicht ganz ohne. Nach der Aktion brauchte Felipe zumindest eine neue Uniform. Tja und als er dann angefangen hat, sich einfach vor mir auszuziehen …“ Er sprach nicht weiter, sondern machte nur ein vielsagendes Gesicht. Marvins Augenbrauen schossen nach oben. „Hattet ihr etwa mal was miteinander?“ Felipe guckte erst entsetzt, dann lachte er laut und herzhaft. „Nein, wo denkst du hin! Hungerhaken wie Jomar sind so gar nicht mein Typ. Aber die Blicke, die er mir zugeworfen hat, waren äußerst eindeutig. So sind wir ins Gespräch bekommen und naja … Nun sind wir hier.“ Nathan wickelte einige Nudeln um seine Gabel. Felipe und Jomar schienen ein gutes Gespann zu sein. Ehrlich. Zuverlässig. Zwei hart arbeitende Typen, die abseits des Rampenlichts dafür sorgten, dass Dinge funktionierten. Helden des Alltags. Während er und Marvin sich selten die Finger schmutzig machten. Ob das eine gute Kombination war? „Wie sind deine Nudeln?“ Nathan schreckte hoch. Jomar hatte sich ihm zugewandt. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil Marvin und Felipe eine Runde verliebten Blicke austauschten. Nathan hätte keine Kontaktlinsen gebraucht um zu erkennen, dass Marvin bis über beide Ohren verschossen war. Und er? „Sie sind gut“, antwortete er und sah auf seinen Teller hinab. Wahrscheinlich würde er die Portion nicht mehr schaffen, bevor sie losmussten. In einer halben Stunde begann das Kino. „Möchtest du probieren?“ Nathan sah Jomar fragend an. Der schien überrascht, aber nicht abgeneigt. Er rückte ein wenig näher an Nathan heran. „Ja, gerne.“ Nathan überlegte nicht lange. Er bereitete ein neues Nudelpaket vor, spießte noch ein Stück Steinpilz darauf und hielt Jomar die Gabel hin. Der wandte seinen Blick nur kurz ab, um sie in seinen Mund zu balancieren, bevor er Nathan wieder direkt in die Augen sah. Er kaute und nickte beifällig. „Das ist wirklich gut. Hätte ich gar nicht gedacht.“ Nathan schluckte. Jomars Parfüm hüllte ihn ein. Er roch gut. Sauber, gepflegt. Seine Wangen zierte ein leichter Schatten, der ihn noch männlicher wirken ließ. Nathan konnte sich vorstellen, wie es war, von ihm geküsst zu werden. Auf die Lippen und anderswo. Der Gedanke löste ein Kribbeln aus, das von seinem Bauch langsam nach unten wanderte. Es war lange her, dass er mit jemandem das Bett geteilt hatte. „Ich könnte mal was für dich kochen“, sagte er, ohne darüber nachzudenken. Jomars Mundwinkel hoben sich leicht. „Das wäre toll? Bei dir zu Hause?“ „Klar, warum nicht?“ Als ihm bewusst wurde, was er gerade gesagt hatte, begann er zu stottern. „Also nicht, dass du was Glamouröses erwartest. Meine Wohnung ist nicht sehr groß und die Küche ist winzig und das Schlafzimmer …“ Jomar lächelte. „Immer noch besser als bei mir. Ich lebe mit zwei Typen zusammen, die ihre Haare überall rumliegen lassen, die Milch direkt aus dem Kanister trinken und davon ausgehen, dass der Müll irgendwann von selbst die Treppe hinunterlaufen wird. Also wenn eine kleine Küche dein einziges Problem ist …“ Nathan konnte nicht anders. Er musste lachen. „Ist es wirklich so schlimm?“ „Eigentlich noch schlimmer, aber ich wollte dich nicht verschrecken.“ Jomar grinste und auf einmal machte es Nathan nichts mehr aus, dass er so nahe gekommen war. Jomar war einer von den Guten. Er würde ihm nicht wehtun. Nathan ließ zu, dass Jomar den Arm um seine Stuhllehne legte, bevor er sich wieder zu Felipe und Marvin herumdrehte. Das hier würde ein wunderbarer Abend werden und er würde ihn genießen. Der Friedhof lag dunkel und verlassen da. Kahle Bäume streckten ihre Äste in den Himmel und gelbgrünes, noch vom Winter gezeichnetes Gras umgab die Grabsteine, die rechts und links des Weges verstreut lagen. Wie Statuen. Marmordenkmäler für die, die nicht mehr waren. Einige groß und imposant, andere klein und unscheinbar. Einzeln, in Paaren oder in ganzen Gruppen bedeckten sie nahezu jede freie Fläche des Parks, der sich über mehrere hundert Hektar erstreckte. Eine unendliche Menge von Gräbern und doch nur ein kleiner Teil derer, die in dieser Stadt gestorben waren. Ezra wusste es. Er hatte die anderen Stätten gesehen. Vollkommen lautlos bewegte er sich durch den steinernen Wald aus ewigen Ruhestätten. Im Schatten eines rötlich schimmernden Obelisken blieb er stehen und sah sich um. Dies war unübersehbar der ältere Teil des Friedhofs. Viele der Gräber trugen Jahreszahlen nahe der vorletzten Jahrhundertwende. Tief gedrückte, immergrüne Gewächse beschatteten die Wege und Efeu rankte an bereits unkenntlich gewordenen Inschriften empor. Noch einmal rief er sich die Informationen ins Gedächtnis, die ihm Darnelle oder Aemilius geschickt haben mussten. Sie führten ihn hierher, aber die Umgebung überraschte ihn. Hier gibt es doch nichts für die Ghule zu holen. Ein leises Geräusch ließ Ezra herumfahren. Was war das gewesen? Ein Tier? Ein Windstoß? Oder doch etwas anderes. Unablässig sah er sich um, doch er konnte nichts erkennen, dass das eigenartige Scharren, das er gehört hatte, hätte verursachen können. Bis er es noch einmal hörte. Es kam von dort. Entschlossen stieß sich Ezra von dem Obelisken ab und machte sich auf den Weg, um den Ursprung des verdächtigen Lauts zu finden. Verborgen unter tiefhängenden Ästen und halb verdeckt von den knorrigen Stämmen einiger Tannen lag ein Grabmal. Ein Mausoleum, wie es die wohlhabenderen Familien hatten. Üppig verzierte, gotische Türme ragten neben dem Eingang in die Höhe und eine zu ewigem Schmerz in Stein gebannte Jungfrau beschatteten den Eingang mit den Falten ihres Gewands. Die Tür jedoch, gefertigt aus rissig gewordenem Holz, stand einen Spalt breit offen. Der metallene Riegel, der die beiden Türflügel zusammenhalten sollte, war zerbrochen. Vorsichtig schob sich Ezra näher. Im Inneren der Gruft war es noch dunkler als ohnehin schon. Lauernde Schatten, die sich zu einer festen, bedrohlichen Masse zusammenballten. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was sich hinter der Tür befand. Er wusste nur, dass er es herausfinden würde. Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Eingang. Von drinnen drang kein Laut an sein Ohr. Nicht einmal Mäuse oder Käfer konnte er vernehmen. Es war vollkommen still. Mit einem tiefen Einatmen schlüpfte er hinein. Im Inneren des Grabes war es kühl und dunkel. Feuchte, eiskalte Luft drang in seine Lungen. Der Geruch von Moder und Stein lag in der Luft. Und von Toten. Uralten Toten. Ezra sah sofort, dass einige der Kammern, die rechts und links die Wände bildeten, geöffnet worden waren. Der zentimeterdicke Granit, der die Überreste der hier Liegenden seit hunderten von Jahren geschützt hatte, war zerbrochen. Es sah aus, als hätte jemand die Grabplatten mit einem Hammer oder einem anderen, schweren Gegenstand zertrümmert. Der Boden war bedeckt mit scharfkantigen Felssplittern. Dürre, vom Alter und der Zeit gezeichnete Knochen lagen dazwischen verstreut wie Abfall. Langsam stieg Ezra die abgetretenen Stufen hinunter, die zum Boden der Gruft führten. Er suchte nach Spuren. Hinweisen, dass es tatsächlich Ghule gewesen waren, die die Gräber geplündert hatten, aber er fand keine. Wie auch? Sie hätten Fleisch gesucht, keine vertrockneten Gebeine. Nachdenklich hob er den Schädel auf, der bis zum Fuß der kleinen Treppe gerollt war. Der Größe nach zu urteilen, musste er einem Mann gehört haben. Hohl und ausdruckslos starrten die leeren Augenhöhlen ihn an. An den grünlich schimmernden Knochen des Hinterkopfes klebte noch ein ledriger Überrest dessen, was wohl einmal sein rechtes Ohr und Teile seiner Kopfhaut gewesen sein mussten. Es war kaum vorstellbar, dass dies hier einmal ein lebender, atmender Mensch gewesen war. Und doch muss es so gewesen sein. Die Vorstellung brachte etwas in Ezra zum Klingen. Eine Erinnerung, die er nicht haben wollte. Eilig sperrte er sie weg und warf den Schädel gleich hinterher. Sein Kommen war sinnlos gewesen. „Was machen Sie hier?“ Ezra wirbelte herum. Mit einem Sprung war er bei dem Mann mit der Friedhofsuniform und schlug ihm die Taschenlampe aus der Hand. Sie polterte die Treppe hinunter und erlosch. Finsternis flutete das Grab. Ezra nutzte die Gelegenheit und brachte seinen Gegner schnell und effizient unter Kontrolle. „Halt still“, knurrte er und spürte, wie die Gegenwehr des Mannes, der gerade noch heftig gegen seine Umklammerung angekämpft hatte, augenblicklich erlahmte. Zitternd und schwer atmend stand er da, während Ezra den Arm um seinen Hals gelegt hatte. Erbarmungslos schnürte er ihm die Luft ab. „Was tust du hier?“, fragte er grollend. Der Mann keuchte. „Ich habe … Geräusche gehört“, stieß er hervor. „Ich dachte, es wären Kinder. Jugendliche, die hier eine Mutprobe veranstalten. Ich wollte sie verjagen.“ Ezra wusste, dass der Mann glaubte, die Wahrheit zu sagen. Und doch passte es nicht zusammen. Es war ein zu großer Zufall, dass er ausgerechnet jetzt hier vorbeikam. Das schmeckte ihm nicht. „Wer hat dich hergeschickt?“ „Niemand.“ Ezra drückte noch einmal fester zu. Ein schneller Ruck hätte das Leben des Mannes beenden können. Er wäre nicht der Erste gewesen, den Ezra auf diese Weise aus dem Leben brachte. „Wer hat dich hergeschickt?“, presste er zwischen den gebleckten Fangzähnen hervor. Er roch die Angst, die von dem Mann ausging. Das Adrenalin, das aus seinen Poren drang. Er musste irgendwas um die 50 sein, leicht übergewichtig, die Haare in beginnendem Grau. Er mochte ein Vater sein, ein Großvater vielleicht. Einer, der an den Wochenende mit seinen Enkeln spielte, sie auf seinen Knie reiten ließ und sich lachend von ihnen die größten Lügenmärchen auftischen ließ darüber, wer ihn am liebsten hatte. Oder er ist ein verbitterter, alter Mann, der außer einem stocktauben Hund keinerlei Familie hat. Ezra wusste, dass vermutlich nichts davon stimmte. Und doch lag es im Bereich des Möglichen. Dieser Mann hatte vielleicht Familie, Freunde. Verwandte, die ihn vermissen würden. Menschen, die um ihn trauerten. Unsinn! Er ist ein Zeuge. Du musst ihn loswerden. Ohne noch weiter zu zögern, biss Ezra zu. Als Susan die Rechnung gebracht hatte, zückte Felipe ganz selbstverständlich seine Brieftasche. „Ich bezahle“, verkündete er und warf einen Blick zu Marvin. „Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dich einladen zu lassen?“ Marvin gab einen gespielt entrüsteten Laut von sich. „Ah, du sollst doch nicht immer so den Macho raushängen lassen. Ich hab gesagt, wir teilen uns die Rechnung.“ „Ich will dich aber einladen. Wenigstens heute.“ „Na gut. Aber dafür zahle ich die Verpflegung im Kino.“ Felipe erklärte sich damit einverstanden und Marvin warf Nathan einen unauffälligen „Ist er nicht hinreißend“-Blick zu. Nathan antwortete mit einem schmalen Lächeln. Er konnte sehen, was Marvin an Felipe fand. Nur hatte er selbst gerade ein ganz anderes Problem. „Soll ich den Rest übernehmen?“, fragte er an Jomar gewandt. Der schüttelte sofort den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Ich habe das Restaurant ausgesucht, ich bezahle.“ „Aber …“ „Kein Aber. Ich bezahle!“ Nathan lag immer noch Protest auf der Zunge. Ihm war klar, dass er vermutlich fast das Doppelte von dem verdiente, was Jomar am Ende des Monats nach Hause brachte. Es fühlte sich falsch an, sich aushalten zu lassen. Das hatte er einmal getan und es würde ihm nicht wieder passieren. Trotzdem war ihm klar, dass er Jomar brüskieren würde, wenn er seine Einladung ablehnte. Insbesondere wenn er darauf hinwies, dass sein Gehalt besser war. „Na schön“, sagte er und schenkte Jomar ein Lächeln. „Aber dafür bestehe ich darauf, dass ich das nächste Mal dran bin.“ Jomars Augen blitzten auf. „Dann haben wir jetzt schon zwei Verabredungen. Eine in einem Restaurant und eine bei dir zu Hause.“ Nathans Lächeln wurde nicht kleiner. Im Gegenteil. „Ich freue mich darauf“, antwortete er und versuchte die Vorstellung zu verdrängen, was Jomar wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass auf Nathans Fensterbrett … Ich werde Ezra sagen, dass er gehen muss, beschloss er und ließ sich von Jomar in seinen eilig herbei geschafften Mantel helfen. Der uniformierte Körper lag auf dem Boden zwischen Steinen und Knochen. Ezra sah auf ihn herab. Er konnte den Herzschlag des Mannes hören, der mit jedem Mal, da er Blut durch den Körper pumpte, schwächer wurde. Leiser. Unwichtiger. Eins mit dem Rauschen des Regens, der wieder eingesetzt hatte. Du hast ihn verschont. Ezra wusste nicht, warum er es getan hatte. Aus Mitgefühl? Wohl kaum. Er hatte so etwas nicht. Nicht mehr. Diese Regung hatte er abgelegt an jenem Tag, an dem er Elisabeth verloren hatte. Immerhin waren es Menschen gewesen, die sie ihm genommen hatten. Der Wachmann regte sich. Es war nur ein Zucken. Eine Bewegung, die ankündigte, dass er demnächst erwachen würde. Oder sterben. Obwohl Ezra nicht so viel getrunken hatte, dass es lebensbedrohlich war. Und doch … Es war kalt, dunkel, windig. Und er war nicht mehr der Jüngste. Es war möglich, dass er es nicht schaffte. Wäre es nicht barmherzig, sein Leiden zu beenden? Die Frage hallte in Ezras Kopf wieder. Nur zu gut wusste er, wie sich der Mann dort im Staub jetzt fühlte. Er selbst war einmal an seiner Stelle gewesen und Elisabeth hatte über ihm gekniet, das wunderschöne Gesicht blass, die Wangen gerötet vor Zorn. „Was hast du getan?“, hatte sie geschrien. „Er war noch nicht so weit.“ Darnelle hatte nicht mit der Wimper gezuckt. „Ich hatte Hunger“, war seine lapidare Antwort gewesen. „Was regst du dich so auf? Wir finden einen neuen.“ „Ich will aber keinen neuen. Ich will diesen hier.“ Elisabeth hatte gefaucht wie eine wütende Katze. Ezra hatte Angst vor ihr gehabt. Vor ihr, vor Darnelle und vor der Schwärze, die langsam aber sicher nach ihm gegriffen hatte. Immer tiefer war er gesunken, immer weiter abgedriftet in das Nichts zwischen den Welten. „Es gäbe eine Möglichkeit.“ „Welche?“ „Ich könnte ihn trinken lassen.“ Stille war diesem Vorschlag gefolgt. Ezra hatte gespürt, wie Elisabeths Hände sich fester um seine geschlossen hatten. Als wolle sie ihn festhalten. Ganz fest. „Ich werde es tun.“ Ihr Ton hatte keinen Widerspruch geduldet. Sie war fest entschlossen gewesen. Darnelle hatte nicht opponiert. „Soll ich dir helfen?“ „Nein. Geh Aemilius holen. Du hast für heute genug getan.“ Ezra hatte das Klappen der Tür gehört. Darnelles Schritte auf der Treppe. Dann waren sie allein gewesen. Eine Hand, die die seine hielt. Finger, die über sein Gesicht strichen. Ganz sacht. „Du wirst nicht sterben“, hatte sie geflüstert. „Und wenn, werde ich dich in meine Dienste nehmen. Du wirst sehen, es wird alles gut.“ Und Ezra hatte die Augen geöffnet. Er hatte gesehen, wie sie auf ihn herabgeblickt hatte. Wie ein Engel war sie ihm vorgekommen. Ein Engel, herabgestiegen um ihn zu retten. Schon wieder. „Ich … liebe … dich.“ Elisabeth hatte gelächelt. „Ich dich auch.“ Ezra schloss gequält die Augen. Die Erinnerungen waren stark. Schmerzhaft. Drei Tage hatte er damals gekämpft. Drei Tage gefangen zwischen Leben und Tod; nicht bereit zu gehen und doch zu schwach, um sich zu erheben. Und dann war er erwacht. Neu geboren mit einem Körper, der niemals alterte, einem Geist, der die Jahrhunderte überdauerte, und einem Hunger, der nie gestillt werden konnte. Einem Hunger nach Blut. Es hätte auch anders ausgehen können. Sein Blick fokussierte sich wieder auf den Mann am Boden. Vor nicht einmal zwei Wochen hätte es keinen Zweifel daran gegeben, was er zu tun hatte. Der Parkwächter hatte ihn gesehen. Er konnte identifizieren. Ein Zeuge, der beseitigt werden musste. So wie beim letzten Mal. Und doch zögerte Ezra. Warum zögerte er? Sein Telefon klingelte. Er hob ab, ohne hinzusehen. „Ja?“ „Ezra, mein Lieber, wo bist du?“ Musik mischte sich mit Darnelles Stimme. Gespräche, Gelächter und das Klirren von Gläsern. Offenbar war er in einem der Clubs. Es schien viel los zu sein. „Auf einem Friedhof“, gab Ezra zurück. „Ich habe einen Tipp bekommen und bin ihm nachgegangen.“ Wieder bewegte sich der Wachmann. „Und wie lange brauchst du noch?“ Die Frage überraschte Ezra. „Möchtest du nicht wissen, ob ich etwas entdeckt habe?“ „Wenn du das hättest, hättest du angerufen.“ Ezra musste zugeben, dass da etwas dran war. „Und? Hast du?“ „Was?“ „Etwas gefunden?“ Der bewusstlose Wachmann hatte angefangen zu stöhnen. Wahrscheinlich hatte er Schmerzen. Durst. Vor allem großen Durst. So war es für Ezra immer gewesen, wenn die anderen von ihm getrunken hatten. Damals, als auch er noch ein Mensch gewesen war. „Nein. Es war eine Sackgasse.“ Darnelle machte ein Geräusch, das wohl seine Anteilnahme ausdrücken sollte. „Dann komm her“, meinte er. „Ich habe dir einen Leckerbissen aufbewahrt, der dir gefallen wird. Jung, männlich, genau dein Typ. Er bettelt geradezu danach, von dir gefickt zu werden.“ Ezra schluckte. Wie leicht wäre es gewesen, seinem Bruder zu sagen, was er getan hatte. Dass es eine neue Leiche gab, die er entsorgen musste. Einen weiteren Körper, für den es einen Platz zu finden galt. Darnelle hatte die besten Beziehungen. „Du bist zu gut zu mir.“ „Dann kann ich bald mit dir rechnen?“ Ezra sah zu dem Wachmann. Sein Gesicht war unbewegt, aber tief im Inneren hatte er eine Entscheidung getroffen. „Ich komme. Ich muss nur noch etwas erledigen.“ Kapitel 9: Drunter und drüber ----------------------------- Nathan trat aus dem Kino. Es hatte wieder angefangen zu regnen. In dünnen Bindfäden kam das unausweichliche Nass vom Himmel und hinterließ überall einen glänzenden Film aus eisiger Feuchtigkeit. Kaum, dass Nathan sich umgedreht hatte, hörte er auch schon das charakteristische Klappen eines Regenschirms, der über ihm aufgespannt wurde. „Alles in Ordnung?“   Jomar musterte ihn aufmerksam und ein kleines Lächeln schlich sich auf Nathans Lippen. „Ja, natürlich. Aber … wo in aller Welt hast du den Schirm her?“   Jomar lachte. „Die standen da drinnen in einem Ständer. Ein Service des Kinos.“ Stille breitete sich aus. So man denn an dieser belebten Ecke von Stille sprechen konnte. Um sie herum strebten immer noch Leute durch die doppelte Glastür nach draußen. Nathan und Jomar machten einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Gleichzeitig rückten sie unter dem Schirm näher zusammen. Es ergab sich so, aber es war nicht mehr komisch. Immerhin hatten sie den ganzen Film über nebeneinander gesessen. Sich das Popcorn geteilt. Gelacht. Sich sogar berührt. Jomar hatte warme Hände. Ein wenig schwielig. Vermutlich vom Arbeiten. Er konnte zupacken, wenn es notwendig war, aber er war nicht grob. Nathans Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, wenn er sich vorstellte, was diese Hände wohl noch alles mit ihm anstellen konnten. Wenn sie allein waren. Bei ihm zu Hause vielleicht. „Na Ladys, was geht? Wollen wir noch was trinken gehen?“   Felipe und Marvin waren aufgetaucht. Die beiden strahlten förmlich vor Energie. Felipe hatte den Arm um Marvin gelegt und ihn an sich heran gezogen. Marvins Hand lag auf Felipes Hüfte. Ein Pärchen. Wie schön.   „Also eigentlich …“, begann Nathan und stockte. Marvin machte verschwörerische Gesten mit seinen Augenbrauen. Nathan konnte sich vorstellen, wie der Plan seines Freundes für den Rest der Nacht aussah. Er wollte Felipe ins Bett bekommen und das so schnell wie möglich. Die beiden würden vermutlich zu Felipe nach Hause fahren. Oder zu Marvin. Je nachdem, was näher lag. Und er? Was würde er tun? „Ich könnte dich nach Hause bringen“, bot Jomar an. Die implizierte Botschaft dahinter war so offensichtlich, dass er auch gleich hätte fragen können, ob sie die Nacht zusammen verbringen würden. Aber da gab es noch ein Problem.   Was, wenn Ezra zu Hause ist? Ich könnte nicht mit Jomar … während er draußen sitzt und es weiß. Das geht nicht. Das geht auf gar keinen Fall.   Nathan räusperte sich.   „Ich muss morgen noch arbeiten und deswegen ziemlich früh raus. Aber wenn alles glatt läuft, machen wir was aus, ja? Ich lade dich ein. Versprochen!“   Jomars Gesichtszüge, die zuerst in Enttäuschung nach unten gesunken waren, hellten sich wieder auf. „Vielleicht am Mittwoch? Da habe ich nachmittags frei. Ich könnte dich von der Arbeit abholen.“   Nathan warf einen hilfesuchenden Blick zu Marvin, der ihm jedoch nur ein Thumbs up gab. Natürlich sollte er sich verabreden. Nathan wusste das. Er wusste es wirklich. „Mittwoch klingt toll“, sagte er und zwang sich erneut zu lächeln. „Ich sag dir Bescheid, wann ich mich freimachen kann. Dann können wir ja noch was zusammen unternehmen. Und ich könnte abends für uns kochen. Klingt das gut?“   „Wunderbar.“   Einen Moment lang standen sie sich noch gegenüber, bis Jomar die Initiative ergriff. Er beugte sich zu Nathan herüber und zog ihn in eine Umarmung. „Es war schön mit dir.“   Sein Gesicht war ganz nahe, sein Blick nagelte Nathan fest. Sollten sie sich jetzt küssen? Wollte Nathan das? Es fühlte sich richtig an und doch …   „Ich fand es auch sehr schön“, meinte er daher nur und lächelte. Dieses Mal ganz von selbst. „Und ich freue mich auf Mittwoch.“   Danach wich er zurück und ließ Jomar unter dem Schirm stehen. Eisiger Regen hüllte ihn ein. „Ich … ich sollte jetzt wirklich gehen. Es ist schon spät.“   Marvin, der die ganze Sache mit Argusaugen beobachtete, machte sich aus Felipes Arm los und kam auf Nathan zu. Geschickt nahm er Jomar den Schirm aus der Hand und scheuchte ihn zu seinem Freund zurück. Danach schob er Nathan noch ein Stück beiseite.   „Du kneifst?“, flüsterte er aufgebracht. Nathan verzog das Gesicht. „Ich kneife nicht. Ich brauch nur noch ein bisschen mehr Zeit, okay? Immerhin hab ich ihn eingeladen.“ Nathan gab sich alle Mühe, vorwurfsvoll zu klingen. Marvin schien trotzdem nicht überzeugt. „Ewig wird Jomar nicht warten, das ist dir klar, oder? Wenn du ihn zu lange hinhältst …“   „Jaa, ich weiß“, gab Nathan gedehnt zurück. „Aber ich muss … ich muss da erst noch was klären.“   Marvin wusste sofort, wovon er sprach. „Der Stalker? Ich hoffe, du hast ihn inzwischen zum Teufel gejagt. Oder wenigstens das Foto gemacht, damit man ihn identifizieren kann.“   Nathan schluckte. Das mit dem Bild hatte er vollkommen vergessen. „Ich hab kein Foto gemacht“, gab er ehrlich zu.   „Aber ich werde auch keins mehr brauchen“, fuhr er fort, bevor Marvin zu einem ausgiebigen Protest anheben konnte. „Ich werde ihm sagen, dass er verschwinden soll. Endgültig.“   Marvin wirkte einen Augenblick lang verblüfft, dann runzelte er misstrauisch die Stirn. „Im Ernst? Du willst ihn wirklich wegschicken?“ „Ja.“ „Und wenn er nicht geht?“   Vielleicht ist er das längst.   Nathan seufzte.   „Ich weiß es nicht. Eventuell werde ich dann doch die Polizei rufen müssen. Aber ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Wenn ich ihm sage, dass er unerwünscht ist, wird er nicht mehr wiederkommen.“   Marvins Gesichtsausdruck machte mehr als deutlich, dass er das nicht glaubte. Trotzdem nickte er. „Na gut, wie du willst. Ich hab dir gesagt, dass du das selber wissen musst. Aber wenn was ist, rufst du an, ja? Jederzeit.“   Nathan grinste. „Auch mitten in der Nacht?“ „Besonders dann!“ Sie lachten und umarmten sich zum Abschied, bevor Nathan sich alleine und ohne den Schirm auf den Weg zur Bahn machte.     Als er zu Hause ankam, war es bereits nach Mitternacht. Geisterstunde. Doch es war nicht gruselig. In vielen Fenstern schien noch Licht. Man sah die flackernden Reflexionen der Fernseher, beleuchtete Bushaltestellen, Straßenlaternen. Kaum ein dunkler Fleck rechts oder links des Weges. Ein Polizeiauto mit ausgeschalteter Sirene fuhr an ihm vorbei. Nathan sah den blauen und roten Warnleuchten nach und wäre dadurch beinahe in jemanden hineingerannt. Es war eine Frau mit langen, dunklen Haaren, die vor seinem Haus stand und in ihrer Handtasche herumkramte. „Oh, entschuldigen Sie“, sagte er sofort. Sie lachte. „Nein, entschuldigen Sie. Ich hab nicht darauf geachtet, wo ich hinlaufe.“ Es entstand ein kurzes Gerangel, weil jeder von ihnen dem anderen den Vortritt lassen wollte, bis die Frau schließlich einen Schritt zurück machte. „Gehen Sie nur. Ich suche noch meinen Schlüssel. Er muss hier irgendwo sein.“   Nathan überlegte nicht lange. „Ich könnte Sie reinlassen, dann können Sie im Fahrstuhl weitersuchen.“ „Ach, das wäre nett.“ Sie bedankte sich noch dreimal und folgte Nathan ins Haus. Als er den Knopf für den sechsten Stock drückte, machte sie ein erstauntes Gesicht. „Sie wohnen auch ganz oben? Dann sind Sie wohl einer meiner neuen Nachbarn. Ich bin übrigens Katherine.“ „Freut mich. Ich bin Nathan. Nathan Bell.“ „Schön, Ihre Bekanntschaft zu machen, Nathan.“   Während der antike Drahtkorb sie nach oben brachte, konnte Nathan die Haustür klappen hören. Offenbar war noch jemand gerade nach Hause gekommen. Er kannte, zugegebenermaßen, kaum jemand von seinen Nachbarn. Katherine war die erste, die sich ihm vorgestellt hatte. „Seit wann wohnen Sie hier?“, fragte er, als sie das angestrebte Stockwerk erreichten und er den Türen beiseite schob, um sie hinauszulassen. „Oh, ich bin gerade erst eingezogen. Es ist alles noch ganz neu für mich.“   Sie lächelte noch einmal und er bemerkte, dass sie sich zurecht gemacht hatte. Die Lippen waren mit üppigem roten Lippenstift geschminkt und die knappe Lederjacke, die sie über ihrem Top trug, war sicherlich nicht geeignet, um das draußen herrschende Wetter abzuhalten. Eine weit schwingende, elegante Hose verdeckte halb ihre spitz zulaufenden Pumps. Vermutlich war auch sie gerade von einer Verabredung heimgekommen. Allein, ebenso wie er. Nur dass es ihn bei ihr überraschte.   „Na dann, Katherine. Hat mich gefreut.“ „Ja, mich auch.“ Er nickte ihr zum Abschied zu und wollte zu seiner Wohnung am Ende des Flures gehen, als er ihre Stimme noch einmal hinter sich hörte. „Ach, Nathan? Hätten Sie wohl zufällig etwas Milch für mich? Ich brauche jetzt unbedingt einen guten Cappuccino und habe vergessen einkaufen zu gehen.“   Nathan zögerte. Seine Finger fanden ganz von allein den Schlüssel in seiner Manteltasche. Er zog ihn heraus und steckte ihn ins Schloss.   „Nein, tut mir leid“, sagte er mit Bedauern in der Stimme, aber ohne sich umzudrehen. „Ich habe keine Milch da.“   „Könnten Sie vielleicht noch einmal nachsehen. Es wäre wirklich wichtig.“   Katherine war näher gekommen. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie direkt auf ihn zukam. Gleichzeitig hörte er Schritte auf der Treppe. Zwei Männer betraten hinter ihr den Flur und kamen ihn ihre Richtung. Nathans Herzschlag beschleunigte sich. „Ich sagte doch, ich habe keine Milch.“   Katherine war jetzt so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Seine inneren Alarmglocken begannen zu schrillen. Etwas stimmte hier nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Nathans Kopf ruckte herum. Katherine lächelte ihn an.   „Könnte ich mit reinkommen und nachsehen, ob Sie nicht doch Milch haben?“   Nathan schluckte. Die beiden Typen, die hinter Katherine schon viel zu nahe gekommen waren, waren breitschultrig und mindestens einen Kopf größer als Nathan. Auch sie waren gut gekleidet. Lange Mäntel, schwarze Hosen …   Oh scheiße!   Nathan riss seine Wohnung auf und stürzte nach drinnen. So schnell es ging, versuchte er, die Tür wieder ins Schloss zu werfen, aber er war nicht schnell genug. Katherine fing sie mit einer Hand ab und hielt sie fest. Ohne jegliche Mühe.   „Wie unhöflich“, gurrte sie. „Dabei habe ich mich doch so um gute Nachbarschaft bemüht.“   Es gab einen Ruck und die Tür entglitt Nathans Händen. Er wurde zurückgeschleudert und landete rücklings auf dem Boden. In dem hellen Rechteck der Eingangstür stand Katherine und lächelte triumphierend. „Hast du wirklich gedacht, du könntest uns entkommen?“   Starr vor Schreck beobachtete Nathan, wie sich die zwei Schläger hinter sie schoben. Sie sahen nicht aus, als würden sie lange fackeln.   Ich muss hier weg.   Die Chance, rechtzeitig ins Bad zu kommen, um sich dort einzuschließen, war gleich Null. Nathan wusste das. Trotzdem musste er es versuchen.   Er kam keine zwei Meter weit, bevor ihn ein Tritt gegen die Rippen traf und wieder zurück ins Wohnzimmer beförderte. Grinsend stand Katherine vor ihm. „Wohin denn so eilig? Wir haben doch gerade erst angefangen.“   Sie sind in der Wohnung. Sie sind wirklich in meiner Wohnung! „Schließt die Tür. Wir wollen doch nicht, dass noch jemand in diese unschöne Geschichte verwickelt wird.“   Der Mann, der dem Eingang am nächsten stand, gehorchte. Mit dem letzten Aufleuchten des Flurlichts konnte Nathan sehen, dass Katherine immer noch lächelte. Und ihre Zähne waren nicht spitz.   Sie ist also kein Vampir, dachte er noch, bevor ihn ein erneuter Tritt traf. Wieder flog er rückwärts und landete mit dem Rücken an einer Schrankecke. Es tat weh, aber es war noch nicht das Ende. Jemand zerrte ihn hoch. So hoch, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Eine grobe Männerhand legte sich um seine Kehle.   „Mach es langsam. Ich will sehen, wie das Licht in seinen Augen erlischt.“   Nathan zappelte. Er wehrte sich. Schlug seine Fingernägel in die Haut des Unterarms, der ihn wie ein Schraubstock festhielt, und trat um sich. Aber es half nichts. Mit schier übermenschlicher Kraft drückte der Riese ihn gegen die Wand und schnürte ihm die Luft ab. Bunte Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sein Herz raste. Er wollte atmen. Atmen! Aber er konnte nicht. Immer panischer wurde seine Gegenwehr, immer schwächer. Er konnte nicht …   Etwas klirrte, krachte. Nathan hörte einen Schrei, dann ein Fauchen und Knurren. Seine Sicht wurde trüb. Dunkle Schemen tanzten umeinander. Das dumpfe Geräusch von Schlägen. Ein erneutes Krachen, Klirren.   Das war meine Vitrine, dachte er irgendwo am Rande seines schwindenden Bewusstseins. Es folgte das Poltern von Büchern und dann …   „Argh!“ Der Schläger ließ ihn los. Nathan fiel zu Boden wie ein nasser Sack. Er keuchte und sog die so dringend benötigte Atemluft tief in seine Lungen. Seine Kehle schmerzte, seine Rippen brannten. Und doch konnte er nichts weiter als atmen.   Ein metallenes Scheppern und ein ekelerregender Laut brachten ihn dazu, die Augen aufzureißen. Im gleichen Moment ging der Koloss, der ihn gerade noch gewürgt hatte, neben ihm zu Boden. Der Schatten, der hoch über ihnen beiden aufragte, hielt etwas in der Hand. Einen unförmigen Kasten, dessen chromblinkende Details in einem verirrten Lichtstrahl aufblitzten.   Ist das meine Kaffeemaschine?   Nathan hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn der zweite Schläger war heran und warf sich auf den Angreifer. Wieder schepperte es, doch dieses Mal hatte Nathans Retter nicht richtig getroffen. Die Maschine stürzte zu Boden und verfehlte Nathan nur knapp. Schnell brachte er sich aus der Gefahrenzone.   Weg! Ich muss weg!   Auf allen Vieren versuchte er, in Richtung Schlafzimmer zu kriechen, doch ein Schlag gegen die Seite ließ ihn stürzen.   „Nicht so schnell“, fauchte Katherine über ihm. Nathan schrie. Zumindest glaubte er das. Er krabbelte rückwärts, versuchte zu entkommen, aber keine Chance. Ein spitzer Absatz bohrte sich in seine Handfläche. Dieses Mal schrie er wirklich.   „Quiek nur, kleines Schweinchen. Jetzt wirst du geschlachtet.“   Metall schliff über Metall, als sie ein Messer aus dem Messerblock auf der Anrichte zog. Der Schmerz in seiner Hand raubte Nathan erneut den Atem. Eine Ohnmacht nahte heran. Schon kroch das Schwarz von allen Seiten auf ihn zu.   „Hilfe“, flüsterte er mit letzter Kraft. Er wusste, dass es zu spät war. Nichts und niemand würde ihn jetzt mehr retten können. Nicht einmal …   Ezra.   „Nimm die Finger von ihm.“   Nathan glaubte nicht, was er hörte. Das konnte nicht sein. Er musste halluzinieren.   „Und wenn nicht?“ „Stirbst du.“   Nathan spürte den Schlag, der Katherine traf und ins Schlafzimmer schleuderte. Sofort kam sie wieder auf die Füße. „Fick dich!“, fauchte sie. „Ich schlitze dich auf.“   Ezra knurrte. „Willst du das Geschenk, das dein Meister dir machte, wirklich so verschwenden?“   Noch einmal fauchte Katherine. Dann hörte Nathan Schritte, das Bersten eines Fensters und …   „Scheiße!“   Ezra verschwand. Nathan blieb allein zurück. Seine Hand raste vor Schmerz, sein Hals war wund. Tränen verschleierten seine Sicht und jeder seiner Knochen fühlte sich an, als wäre er um ein paar Zentimeter verschoben worden. Aber er lebte noch. Warum lebte er noch?   Ich will nicht sterben. Der Gedanke durchzuckte sein Gehirn so zusammenhangslos, dass er beinahe aufstöhnte. Aber es stimmte. Er wollte, dass all das hier nicht passiert wäre. Er wünschte, dass die Schmerzen verschwanden. Aber vor allem wollte er leben.     Ein Scharren riss ihn aus seiner Lethargie. Es folgten Schritte, dann ein Schatten, der sich durch die Schlafzimmertür zu ihm in die Küche schob. Seltsam leuchtende Augen musterten ihn.   Er ist zurückgekommen.   Minutenlang sahen sie sich einfach nur an. Nathan wagte nicht, sich zu bewegen. Was würde passieren, wenn er es tat? Alles in seinem Körper schrie danach, seine Position zu verändern. Die steif werdenden Muskeln aus ihrer unbequemem Lage zu befreien und sich – vielleicht – seinem Retter sogar an den Hals zu werfen. Andererseits war da diese Grenze. Die, die sie beide bisher nie durchbrochen hatten. Ezra hatte es jetzt getan. Was würde weiter geschehen?     Es war Ezra, der sich zuerst bewegte. Er wandte sich ab und ging ohne ein weiteres Wort an Nathan vorbei ins Wohnzimmer. Nathan atmete auf. Es war, als wäre ein großer Felsbrocken von seiner Brust gerollt. Gleichzeitig stürmte der Rest der Welt wieder auf ihn ein. Er war überfallen worden. In seiner Wohnung. Verdammt!   Ich muss aufstehen.   Nathan wusste nicht, ob es diese Erkenntnis war, die ihn schließlich wieder auf die Füße brachte und ihn in Richtung Wohnzimmer humpeln ließ. An der Tür hielt er an und sah sich um.     In dem Raum war es immer noch dunkel. Nathan konnte Ezra herumwirtschaften hören. Was tat er? Und was war hier passiert? Wie von selbst glitt Nathans Hand zum Lichtschalter. Die Deckenleuchte flammte auf und im gleichen Moment hätte Nathan beinahe geschrien. Der Raum … war ein Schlachtfeld.   Der Couchtisch war umgeworfen, eines der Regale von der Wand gerissen, die Vitrine zerstört und der Inhalt überall verteilt worden. Der Fernseher lag umgedreht auf dem Boden. Nathan bezweifelte, dass man ihn noch zum Laufen kriegen würde. Zudem war eines der Fenster eingeschlagen und die Vorhänge hingen halb heruntergerissen an ihren Halterungen. Was aber am auffälligsten war, waren die beiden Leichen, die inmitten all des Chaos am Boden lagen und sich nicht mehr rührten. Um sie herum hatten sich Lachen einer schwärzlichen Flüssigkeit gebildet und ein seltsamer, Übelkeit erregender Gestank lag in der Luft. Wie von verrottendem Fleisch. Eilig presste Nathan die Hand vor das Gesicht um zu verhindern, dass er sich übergab. Doch es war nicht allein der Geruch. Auch der Anblick des zerschmetterten Schädels, der nur einen halben Meter entfernt zu seinen Füßen lag, ließ Nathans Magen bedenklich schwanken. Was war das nur für eine ekelerregende Sauerei?   „Sie waren bereits tot.“   Ezra, der sich an einem der beiden Männer zu schaffen gemacht hatte, stand auf. An seinen Händen klebte die dunkle Flüssigkeit und auch sein Gesicht hatte einige Spritzer abbekommen. Nathan starrte ihn an. Wie meinte er das? „Du solltest von hier verschwinden.“ Ezras Miene war ausdruckslos. Er sah Nathan an, als warte er darauf, dass der seinem Befehl Folge leistete. Aber es war kein Befehl gewesen. Als Nathan sich dessen bewusst wurde, hätte er beinahe gelächelt. Er hatte keine Ahnung, warum ihn ausgerechnet das beruhigte, aber die Erleichterung, die er darüber empfand, war real. Und doch war da so viel, das er nicht verstand.   „Was wollten die von mir? Und wer sind die überhaupt? Warum sind sie hierhergekommen und warum … bist du hier?“ Die letzte Frage war die wichtigste. Nathan wusste, dass das albern war, denn immerhin war er dem Tod gerade mehr als knapp entronnen. Andererseits war da dieser Mann. Der Mann, der ihn seit Tagen, ja Wochen verfolgte. Der sich in seine Träume stahl und ihn auch jetzt, da er blut – oder was immer es war – besudelt in seinem Wohnzimmer stand, noch vollkommen gefangen nahm. Der ihm geschworen hatte, dass er seine Wohnung nicht betreten würde und es jetzt doch getan hatte.   „Ich …“   Ezra zögerte. Da war eine Unsicherheit in seinen Zügen, die Nathan aufmerken ließ. Es war nur kurz, nur für einen Moment, aber er hatte es gesehen und er wusste, er würde es nicht einfach so wieder vergessen können.   „Du solltest gehen“, wiederholte Ezra jedoch nur, statt die Frage zu beantworten. Danach wandte er sich ab und wieder dem Mann mit dem zerschmetterten Schädel zu. Er durchsuchte dessen Taschen, streifte seine Ärmel und Hosenbeine hoch, schien etwas zu suchen. Nathan schluckte. „Was tust du da?“   Ezra sah zu ihm hoch. Sein Gesicht war wieder distanziert und kühl, aber Nathan konnte sehen, wie es darunter brodelte. Die Maske hatte Risse bekommen und er hatte nicht vor, es einfach so dabei bewenden zu lassen. „Das hier ist meine Wohnung“, erklärte er mit fester Stimme. „Und ich werde nicht einfach gehen, nur weil du es sagst.“   Ezra starrte ihn an. Seine dunklen Augen durchbohrten Nathan förmlich, aber der wich nicht zurück. Er hatte ein Recht hier zu sein, während Ezra … „Sie wollten dich töten.“   Die Aussage ließ Nathan amüsiert schnauben. Als wenn das nicht offensichtlich gewesen wäre. „Ja, das ist mir auch klar. Aber warum?“ Wieder wandte Ezra sich ab. Nathan war kurz davor ihn anzuschreien, dass er das lassen sollte, als er zu sprechen begann. „Ich weiß es nicht genau. Möglicherweise, weil sie angenommen haben, dass du etwas von Belang gesehen hast.“ „Aber das habe ich nicht.“ Ezra schenkt ihm einen kurzen Blick. „Das wissen sie aber nicht. Und vielleicht … vielleicht hat sie meine Anwesenheit zu der Schlussfolgerung gebracht, dass du eine Gefahr darstellst.“ Nathan blinzelte. Hatte Ezra gerade gesagt, dass es an ihm lag, dass diese Typen versucht hatten, ihn umzubringen? Weil er bei ihm geblieben war? Das ergab keinen Sinn. Ezra hatte seine Suche offenbar beendet und nicht gefunden, was immer es war, das ihm die zwei toten Körper hätten verraten sollen. Der Ärger darüber war deutlich sichtbar. Seine Bewegungen waren abgehackt und nur mühsam beherrscht. Er schien … frustriert. Noch einmal fiel sein Blick auf Nathan. „Du solltest wirklich gehen. Ich kümmere mich um das hier.“   Er griff in seine Manteltasche und zog ein Mobiltelefon heraus. Bevor er wählen konnte, war Nathan bei ihm. Er hatte bereits die Hand ausgestreckt, um Ezra am Arm zu packen, als er die Bewegung gerade noch rechtzeitig abfing.   Was tue ich da? Er hat gerade zwei Menschen umgebracht. Damit ist er nun wirklich der Letzte, den ich verärgern sollte, wenn mir irgendetwas an meinem Leben liegt. Und doch stehe ich hier und bin kurz davor, ihm eine reinzuhauen.   Auch Ezra hatte sein Zögern bemerkt. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, zurückzuweichen und sich aus Nathans Reichweite zu bringen. Stattdessen blieb er stehen, anscheinend vollkommen perplex davon, dass Nathan es gewagt hatte, ihm so nahe zu kommen. Er starrte ihn an, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war. Schließlich zog er die Hand mit dem Telefon zurück, ein winziges Zucken in seinem Mundwinkel.   „Du bist wirklich unglaublich“, murmelte er. Es klang nicht wütend oder herablassend. Auch nicht bewundernd. Eher resigniert. „Dann erklär mir, was hier los ist. Was soll das alles? Warum wollten diese Leute von mir? Warum passiert das alles? Und warum bist du …“   Nathan verstummte. Er hatte Ezra fragen wollen, warum er sich nicht an ihre Abmachung gehalten hatte, aber im gleichen Moment war ihm die Antwort förmlich ins Gesicht gesprungen. Er selbst hatte ihn eingeladen. Gestern. Er hatte die Worte ausgesprochen, die den Bann gelöst hatten, und er hatte sie in diesem Moment auch so gemeint. Aber Ezra hatte seine Chance ungenutzt verstreichen lassen. Er war gegangen. Geradezu geflohen. Vielleicht um so etwas wie das hier zu verhindern. Er hatte Nathan gewarnt, dass es gefährlich war, sich auf ihn einzulassen. Genau wie Marvin. Aber Nathan hatte nicht hören wollen. Er hatte die Warnungen in den Wind geschlagen und jetzt ... stand er hier. In den Trümmern seines Wohnzimmers. Oh Gott!   Die wollten mich umbringen. Die wollten mich echt umbringen. Sie sind in mein Haus gekommen, haben mich angegriffen. Die wollten mich abmurksen. Einfach so. Und Ezra … Ach du Sch…   Sein Atem ging schnell und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er schwitzte, ihm war kalt und er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Der Raum drehte sich um ihn. „Nathan. Nathan, sieh mich an! Hörst du mich?“ Er fühlte, wie er gepackt wurde. Sie waren wieder da, sie wollten ihm wehtun. Er musste hier weg.   „Nathan!“ Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bewusstsein. Sein Blick klärte sich und er sah Ezra, der ihn finster anblickte. Seine Wange brannte. Hatte Ezra ihn geschlagen?   „Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich weiß, dass du viele Fragen hast, aber ich kann sie dir nicht beantworten.“   Nicht jetzt und vielleicht nie.   Ezra hatte das nicht gesagt, aber Nathan hatte es trotzdem gehört.   „Das Wichtigste ist jetzt, dass du von hier verschwindest. Pack ein paar Sachen und dann flieh. So weit weg, wie es nur geht. Hast du außerhalb des Landes Freunde oder Verwandte, zu denen du gehen könntest?“   Nathan starrte Ezra an. Ein Bild seiner Großeltern erschien vor seinem inneren Auge. Sie wohnten mehrere Bundesstaaten weit entfernt. Nur wären sie vermutlich nicht begeistert gewesen, wenn Nathan auf einmal bei ihnen vor der Tür gestanden hätte. Außerdem konnte er nicht einfach hier weg. Er hatte einen Job. Ein Leben. Das konnte er doch nicht einfach so aufgeben. Und was war mit Marvin? War sein Freund auch in Gefahr?   „Ich … ich kann nicht weg.“   Ezra presste die Kiefer aufeinander. „Du wirst sterben, wenn du bleibst.“   Nathan sah, dass es ihm ernst war. Seine Gedanken purzelten durcheinander. „Vielleicht, wenn ich in ein Hotel gehe“, überlegte er laut. „Ich könnte …“   „Dort finden sie dich“, würgte Ezra ihn ab. „Außerdem kann ich mich nicht darauf verlassen, dass du auch dort bleibst. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht.“   Aber ich kann mich auch nicht um dich kümmern. Jemand anderes muss das machen. Jemand, der nicht ich ist.   Wieder hatte Ezra nicht ausgesprochen, was ihm durch den Kopf ging, aber Nathan wusste einfach, dass es so war. Er schluckte.   „Ich … ich habe einen Freund. Vielleicht …“ Ezra ließ ihn nicht ausreden. „Gut, dann hol deine Sachen. Ich werde dich hinbringen.“ Ezra wandte sich ab und wählte nun endlich eine Nummer auf seinem Telefon. Das Gespräch wurde sofort entgegengenommen und er begann, leise mit der Person am anderen Ende zu sprechen. Nathan verstand nicht, worum es ging, aber er versuchte auch nicht zu lauschen.   Marvin wird mich umbringen, dachte er noch, bevor er sich aufmachte, um seine Tasche zu packen. Kapitel 10: Nachbeben --------------------- Der Wagen war teuer. Ein Luxusmodell mit Ledersitzen, einer Konsole aus edlen Hölzern, verchromten Armaturen und einem Teppich, der dicker war als der im Wohnzimmer seiner Großeltern. Es war einschüchternd; allerdings nicht so sehr wie die Tatsache, dass Ezra zunächst drei Blocks in die falsche Richtung gefahren war, um dort Nathans Handy zu zertrümmern und in einem Müllcontainer zu versenken. Sein eigenes hatte er in der verwüsteten Wohnung zurückgelassen. Auf die Frage, ob das nicht verdächtig wäre, hatte er nur geantwortet, dass sich jemand darum kümmern würde. Wer das war, wusste Nathan nicht, aber er vermutete stark, dass es mit dem Anruf zu tun hatte, den Ezra getätigt hatte, kurz bevor sie gegangen waren.   Ein flüchtiger Blick streifte ihn. Er konnte es fühlen. „Ist alles in Ordnung?“ Ezras Stimme war immer noch dieselbe. Rau, dunkel und ein wenig mysteriös. Wie Nebel über einem nächtlichen Tannenwald. Auch seine Augen waren immer noch dieselben. Tiefblaue Bergseen, unter deren Oberfläche ein Abgrund lauerte. Und doch war alles anders als noch vor ein paar Stunden, denn jetzt kannte Nathan die Wahrheit.   Mit einiger Anstrengung hob er den Kopf und schob einen seiner Mundwinkel nach oben. „Tja, ich weiß nicht. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich dir dankbar sein sollte. Immerhin hast du mir gerade das Leben gerettet. Andererseits scheinst du es gar nicht abwarten zu können, mich wieder loszuwerden.“   Ezra antwortete nicht sondern hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet. Als er an eine Ampel kam und anhalten musste, presste er die Kiefer aufeinander. „Wie kommst du darauf?“ Nathan, der bereits nicht mehr mit einer Fortsetzung der Unterhaltung gerechnet hatte, schluckte. „Na ja … Du wechselst ständig die Fahrspur, fährst immer knapp über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit und sprichst kein einziges Wort mit mir. Außerdem beantwortest du keine meiner Fragen. Nicht einmal die, ob der Wagen neu ist. Ich denke, das sind recht eindeutige Hinweise.“ Nathan versuchte, über seinen eigenen Scherz zu lachen. Er hatte diese dumme Smalltalk-Einleitung ganz am Anfang der Fahrt benutzt, um irgendwie mit Ezra ins Gespräch zu kommen. Ihm hatte lediglich eisiges Schweigen geantwortet. Genau wie jetzt.   Die Ampel sprang auf Grün. Ezra legte den Gang wieder ein, aber als er losfuhr, war es langsamer und weniger sportlich als die letzten Male. Nach einer Weile warf er einen Blick in Nathans Richtung. „Du bist ein guter Beobachter.“   Nathans Lächeln erstickte im Keim. „Dann stimmt es also?   Ezra sah weiter stur nach vorn. „Ich muss“, gab er einsilbig zurück. „Eigentlich hättest du von all dem gar nichts mitbekommen sollen.“   Nathan schnaubte. „Dann hättest du vielleicht nicht so viel Zeit auf meiner Fensterbank verbringen sollen.“   Ezra warf ihm erneut einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts. Nathan erkannte an der Gegend, dass sie sich ihrem Ziel näherten.   „Was wirst du jetzt tun?“, fragte er, nachdem das Schweigen schon wieder eine Weile angedauert hatte. „Wirst du diese Typen jagen? Sind sie es, die die Friedhöfe geplündert haben? Die, hinter denen du her bist.“   Erneut antwortete Ezra nicht, aber das musste er auch nicht. Nathan wusste ohnehin, dass es so war. Aber da war noch etwas, das ihn beschäftigte.   „Dieses Ding, das mich da angegriffen hat … es war unheimlich stark. Und schnell. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich tot gewesen. Ich frage mich, allerdings, wie es dazu kommen konnte. Hattest du nicht gesagt, dass du auf mich aufpasst? Was wäre gewesen, wenn ich nicht … wenn du nicht in die Wohnung gekonnt hättest? Oder war das auch gelogen?“   Ezra schwieg weiter beharrlich und Nathan hätte sich selbst ohrfeigen können. Er hätte wissen müssen, dass …   „Es war keine Lüge.“   Ezra sah ihn nicht an, aber sein Ton war deutlich gereizt.   „Oder glaubst du, ich wäre freiwillig draußen geblieben, wenn es mir ein Leichtes gewesen wäre, zu dir hineinzugelangen und dich mit Gewalt dazu zu bringen, mir zu verraten, was ich wissen wollte?“   Nathan sagte nichts. Wenn Ezra es so ausdrückte, ergab die Sache wieder einmal viel zu viel Sinn. „Aber ich musste warten, dass die … dass deine Verfolger zu dir kamen. Gewisse Umstände führen dazu, dass es mir nicht möglich ist, sie aufzuspüren.“ „Dann hast du gewusst, dass sie heute Nacht kommen würden?“ „Nein!“ Das Wort kam so schnell und heftig, dass Nathan misstrauisch wurde. Fragend blickte er Ezra an. Dessen Hände schlossen sich fester um das Lenkrad. „Ich hab nicht gewusst, dass sie kommen würden. Die Tage zuvor hatte ich gehofft, dass sie es tun würden, aber heute … Heute hatte ich angenommen, dass sie weitergezogen sind. Ein Irrtum, wie sich herausstellte.“   Nathan brauchte eine Weile, bis er begriff, was das hieß. „Du hast mich also benutzt“, stellte er ernüchtert fest. „Du hast mich benutzt. Als Köder für diese … diese …“   „Ghule“, erwiderte Ezra knapp. Er schien nicht gewillt, auf Nathans Vorwurf einzugehen.   „Ghule?“, wiederholte Nathan. „Was sind Ghule?“ Ezra presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich war ihm das Wort einfach nur so herausgerutscht, aber Nathan hatte nicht vor, es dabei bewenden zu lassen.   „Was sind Ghule?“, wiederholte er mit fester Stimme. Ezra sah ihn kurz an und dann wieder weg. „Ghule sind … Du hast selber gesehen, was sie sind.“   Nathan ließ ein Zischen hören.   „Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Ich wäre heute Abend beinahe draufgegangen. Ich verdiene eine Antwort. Wenigstens das.“ Er hörte Ezra förmlich mit den Zähnen knirschen. Es war eine eigenartige Vorstellung. Ob sie wohl wirklich spitz waren?   „Ghule sind Untote. Sie gleichen zwar noch den Menschen, die sie früher einmal waren, aber in ihnen befindet sich keinerlei natürliches Leben mehr. Es ist lediglich eine … höhere Macht, die sie am Leben hält.“ „So wie Vampire?“   Ezra zuckte kurz. Das Schweigen kehrte zurück und für einen Augenblick hatte Nathan das Gefühl, dass er Ezra wieder verloren hatte, bevor dieser erneut zu sprechen begann.   „Ghule und Vampire sind sich durchaus ähnlich, auch wenn einige Einschränkungen, die uns betreffen, für sie nicht gelten. Gleichzeitig besitzen wir viele Freiheiten, die ihnen versagt sind. Beispielsweise haben Ghule keine Heilfähigkeiten, sodass ihre Körper mit der Zeit Spuren davontragen, die sie als das kennzeichnen, was sie sind.“   Das schwarze Blut.   Nathan konnte sich vorstellen, dass das für einigermaßen Aufsehen sorgte. Die Wunde unter seinem Verband puckerte im Takt seines Herzschlags.   „Und warum buddeln sie Leichen aus? Machen sie daraus neue Ghule?“ Ezra verzog den Mund zu einem nachsichtigen Lächeln. „Jede Art von Leben benötigt Energie.“ „Und das bedeutet?“   Ein vielsagender Blick traf ihn. Nathan wurde bleich. „Du meinst sie fressen sie?“   Sofort waren da wieder die Geräusche aus dem Parkhaus. Das Schlürfen und Schmatzen, Reißen und Knacken. Doch jetzt fütterte sein Gehirn ihn auch mit den passenden Bildern. Katherine, die wie ein Tier über eine halb vermoderte Leiche gebeugt dasaß und das Fleisch des Toten in sich hineinschlang wie ein Hund die heruntergefallenen Abfälle in einem Schlachthaus. Ihre Augen glommen hungrig auf, während ihre Zähne wächserne Haut und vermodernde Knochen zermalmten, als wären sie Teegebäck. Die Vorstellung war so bizarr, dass Nathan sogar vergaß, sich zu schütteln oder zu übergeben. Das war einfach nur …   „Eklig.“   Ezras Mundwinkel zuckten. „Ich dachte mir, dass du so denkst. Es liegt daran, dass sich ihre Körper ebenfalls bereits in einem Zustand der Verwesung befinden. Deswegen können sie nur verrottetes Fleisch zu sich nehmen. Alles andere würde sofort abgestoßen werden.“ „Dann sind es also Zombies.“ „Nein. Zumindest nicht so, wie sie in den Filmen dargestellt werden.“   Ezra hatte den Blick gesnach vorn gerichtet, aber er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.   „Ghule sind tot, aber sie sind intelligent. Ihre Wandlung beschert ihnen ewiges Leben. Es macht sie schneller, stärker und lässt sie niemals altern. Allerdings fühlen sie auch nichts mehr. Sie können nicht riechen oder schmecken. Ihre Sinneserfahrungen beschränken sich auf das Sehen und Hören. Im Grunde sind sie wie … wie tote Vampire.“   Nathan runzelte die Stirn. „Aber Vampire sind doch auch tot. Oder untot, wenn dir das lieber ist.“   Ezra öffnete den Mund. Er schien etwas sagen zu wollen und sich gleichzeitig nicht sicher zu sein, ob es klug war, das zu tun. Nathan wusste, wie sich das anfühlte.   „Vampire sind nicht tot“, sagte Ezra langsam. „Wir leben. Wir spüren alles, unsere Körper sind warm. Auch unser Herz schlägt immer noch. Wie bei einem Menschen.“ Sie waren jetzt in Marvins Straße angekommen. Ezra fuhr langsamer, um nach einer Parklücke zu suchen. Als er keine fand, blieb er mitten auf der Straße stehen. Er zog die Handbremse an, legte den Schalthebel um und drehte den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor erstarb. Stille trat ein, nur ab und zu unterbrochen von einem leisen „Pling“ des abkühlenden Metalls. Nathan konnte Ezra atmen hören. „Wie meinst du das?“, wollte er wissen „So, wie ich es gesagt habe.“ Nathan schluckte. Er hatte die Worte gehört und doch hatte er das Gefühl, das mehr dahinter steckte. Viel mehr. Und er wehrte sich dagegen, es zu verstehen. „Aber ihr trinkt Blut“, sagte er, wie um sich daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte. Ezra nickte. Da war etwas in seinem Blick, dass vorher nicht da gewesen war. Etwas wie Bedauern oder Reue oder … Sehnsucht. Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals.   „Warst du je in Versuchung, mein Blut zu trinken.“   Warum sagte er das jetzt? Warum klammerte er sich so an diesen Gedanken? „Hättest du gewollt, dass ich das tue?“, fragte Ezra zurück. Nathan schüttelte den Kopf.   „Dann stell mir nicht solche Fragen.“ Ezra wollte sich abwenden, aber Nathan hielt ihn zurück. Seine Hand berührte Ezras Arm, den Stoff seines Mantels. Darunter ein Hemd und dann … Haut. Warme, lebendige Haut. Nathan hätte sie gerne berührt. „Warum bist du gestern gegangen?“   Ezra senkte den Blick und atmete tief durch. Es klang fast wie ein Seufzen. „Als du … mich gefragt hast, was passieren würde, hast du deine Frage so formuliert, dass ich davon ausging, dass die Worte den Bann aufgehoben hatten. Aber gleichzeitig war ich mir nicht sicher, ob du wirklich wolltest, dass ich hereinkomme. Deswegen bin ich gegangen.“   Er lächelte schmal. „Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich mir nicht weiß, ob ich mich immer unter Kontrolle hätte. Ob ich nicht doch etwas tun würde, dass du später bereust.“   Oder ich.   Wieder hatte Ezra die Worte nicht ausgesprochen, aber Nathan war sich sicher, sie fast schon gehört zu haben. Er versuchte zu atmen.   „Aber du hast … Meine Wunde! Du hast dich doch heute auch nicht auf mich gestürzt, nur weil da ein bisschen Blut war.“ Wieder lächelte Ezra, doch dieses Mal war ein bitterer Unterton darin. Sein Blick streifte Nathans verletzte Hand. „Das liegt wohl daran, dass ich heute bereits gegessen habe.“ „Du hast bereits …?“ „Bevor ich zu dir kam.“   Nathans Herz schlug schneller, während sein Verstand versuchte, all die Dinge zu verarbeiten, die gerade auf ihn einstürzten. Das hieß also, dass Ezra heute Nacht einen Menschen überfallen hatte? Ihn überwältigt und ausgesaugt? Womöglich in einer der dunklen Gassen, von dem er ihn erzählt hatte. Oder war das auch eine Lüge gewesen? Wie war das abgelaufen. Wie?   Nathan räusperte sich. Seine Kehle fühlte sich trocken an.   „Derjenige, von dem du getrunken hast … kanntest du ihn?“ „Nein.“ „War es ein Mann oder eine Frau?“ „Ein Mann.“ „Und ist er noch am Leben?“   Dieses Mal dauerte es, bevor Ezra antwortete. Er wandte den Kopf ab und sah durch die Scheibe nach draußen.   „Ja“, sagte er schließlich. „Und wo ist er jetzt?“   Ezra atmete ein und wieder aus.   „Ich habe ihn in ein Krankenhaus gebracht.“ „Dann wird er wieder?“ „Ja.“   Nathan versuchte, erleichtert zu sein. Ezra hatte niemanden umgebracht. Mit Ausnahme dieser zwei Ghule, aber die waren schon tot gewesen, also war das wohl in Ordnung. Oder nicht? Doch noch bevor er entschieden hatte, wie er darüber dachte, sprach Ezra weiter.   „Du solltest nicht zu viel auf diesen einen geben, den ich verschont habe. Ich habe bereits Menschen getötet. Dutzende. Hunderte vielleicht. Ich bin kein netter … Vampir.“   Da war ein Stocken und Nathan war sich sicher, dass er etwas anderes hatte sagen wollen. Doch dann bestand Nathans Verstand darauf, dass er sich dem ersten Teil der Aussage zuwandte. Der Sache mit den Toten, die auf Ezras Konto gingen. Hatte er das wirklich getan oder behauptete er das nur, um Nathan von sich fernzuhalten?   „Warum?“   Als Ezra ihm nicht antwortete, präzisierte er seine Frage.   „Warum hast du sie umgebracht? Denn offenbar musst du das ja nicht, um ihr Blut zu bekommen. Warum also hast du sie getötet?“ Ezras Blick war ins Leere gerichtet. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.   „Es waren andere Zeiten“, sagte er irgendwann, als Nathan schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte. Noch immer sah Ezra ihn nicht an. Nathan versuchte ein Lächeln.   „Dann … ist es lange her, dass du jemanden getötet hast?“   Ezra schloss die Augen.   „Nicht so lange, wie du gerne hättest.“ „Aber ich …“ „Nein, Nathan!“   Ezra drehte sich zu ihm herum. In seinen Augen, die Nathan sonst immer so kalt erschienen waren, loderte ein unheiliges Feuer. Eines, das drohte, ihn zu verbrennen.   „Ich sagte dir bereits, dass wir Abstand voneinander halten müssen. Um deinetwillen. Du hast heute Abend gesehen, was dabei herausgekommen ist, weil ich es nicht getan habe. Du hättest sterben können.“   Nathans Mundwinkel bewegten sich ein winziges Stück nach oben. „Dann habe ich also kein Mitspracherecht dabei?“   Ezra schwieg und senkte den Kopf. Nathan fand, dass er traurig aussah. „Ich wünschte, ich könnte es dir gewähren“, meinte er schließlich leise. Sein Blick ruhte auf Nathans Hand, die immer noch auf seinem Arm lag. „Aber ich kann es nicht. Nicht, wenn es deinen Tod bedeutet. Du weißt nicht, auf was du dich da einlässt. Du kennst mich nicht.“ Er griff nach Nathans Hand und pflückte sie von seinem Ärmel. Seine Finger streiften dabei Nathans Haut und er stellte fest, dass Ezra die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hände waren tatsächlich warm, allerdings viel weicher als die von Jomar. Eigentlich erstaunlich. „Du solltest jetzt gehen. Ich bringe dich noch zur Tür.“ Nathan wollte protestieren, aber Ezra war bereits ausgestiegen. Er kam um den Wagen herum und riss den Schlag auf, bevor Nathan nach dem Türöffner greifen konnte. Stattdessen streckte ihm sich jetzt eine Hand entgegen. Nach einem kurzen Zögern ergriff er sie. Wieder traf warme Haut auf warme Haut. Er wusste, dass es unsinnig war, aber sein Herz begann schneller zu schlagen, während er aus dem Auto stieg und sich von Ezra in die Höhe ziehen ließ. Für einen Moment waren sie einander erneut so nahe, wie sie es bereits in seiner Wohnung gewesen waren. Doch die Situation hatte ihren Schrecken verloren. Er wusste, dass es absolut dumm war, der pure Wahnsinn, aber für einen Moment war er versucht, sich einfach in Ezras Arm zu lehnen. Ihm zu zeigen, dass er ihm – trotz allem – vertraute. Aber das war töricht. Er wusste es. Auch Ezra zögerte sichtbar, bevor er Nathans Hand wieder losließ und einen Schritt zurücktrat. Er wich Nathans Blick aus, aber Nathan konnte sehen, dass er scheinbar mit etwas kämpfte. Nur womit?   „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und erinnerte sich dunkel, dass ihm vor nicht allzu langer Zeit die gleiche Frage gestellt worden war. „Ich kann sonst auch alleine …“   „Nein, alles in Ordnung. Ich bringe dich.“   Ezra schloss die Wagentür und ließ die Verriegelung klicken. Danach schob er Nathan förmlich über den Gehweg auf das Haus zu, in dem Marvin wohnte. Erst, als sie fast daran vorbeigegangen waren, wurde sich Nathan bewusst, dass Ezra ja gar nicht wusste, wo sie hin mussten. „Halt, hier ist es“, rief er gerade noch rechtzeitig. Ezra stoppte sofort und wirbelte zu dem Haus herum. Im Licht der Straßenlaternen konnte Nathan sein Gesicht nicht gut erkennen, aber er war sich sicher, dort so etwas wie Erleichterung zu sehen.   „Gut, dann klingle. Ich warte, bis dir aufgemacht wird.“   Nathan lachte leise.   „Also eigentlich kann ich auch gleich reingehen. Das Schloss ist schon seit langem kaputt. Marvin meckert immer darüber, dass die Hausverwaltung es nicht repariert, aber …“   Er verstummte. Das hier war Ezra. Er war ein Vampir und hatte ihn gerade vor einem Haufen tollwütiger Ghule gerettet. So triviale Dinge wie ein kaputtes Türschloss würden ihn sich nicht interessieren. „Gut dann … bringe ich dich noch bis zur Tür.“   Nathan lag auf der Zunge zu sagen, dass das nicht notwendig war, aber er protestierte nicht, als Ezra ihm die Tür aufhielt und ihm in den dunklen Flur folgte. Hintereinander stiegen sie die ausgetretenen Stufen hinauf, ohne Licht zu machen. Im dritten Stock hielt Nathan an.   Marvins Wohnung lag am Ende eines kleinen Ganges, an dessen Wand er eine riesige Regenbogenflagge gepinselt hatte. Die Hausverwaltung war davon nicht begeistert gewesen, aber Marvin hatte ihnen geantwortet, dass er die Wandbemalung erst dann entfernen würde, wenn sie die Tür reparierten. Somit hatte immer noch jeder freien Zutritt und Marvin immer noch seine Flagge. An der Tür hing ein unechter Blumenkranz. „Tja also … ich wäre dann da.“   Er drehte sich zu Ezra herum, der immer noch im dunklen Flur hinter ihm stand. Und wieder waren sie sich viel zu nahe. „Du solltest vielleicht sichergehen, dass er auch zu Hause ist“, sagte Ezra. Es klang, als suchte er nach einer Ausrede, noch ein wenig länger zu bleiben. Nathan grinste schwach.   „Marvin wird vermutlich nicht erfreut sein, dich zu sehen.“ „Du hast ihm von mir erzählt?“ „Mhm, vielleicht?“ Erst nachdem er das gesagt hatte, wurde ihm klar, dass er seinen Freund vermutlich gerade in Gefahr gebracht hatte. Was, wenn Ezra nur deswegen mitgekommen war, um sie beide …   „Keine Sorge. Ich habe nicht vor, ihm etwas anzutun.“ Ezras Stimme klang auffallend neutral. Nathans Gesicht wurde warm. „D-das hab ich auch gar nicht gedacht.“ „Aber dein Herz hat angefangen, schneller zu schlagen. Du hattest Angst.“ „Du kannst das tatsächlich hören?“ „Ja.“   Damit trat Ezra an Nathan vorbei und klopfte, noch bevor der etwas dagegen tun konnte, kräftig an die Tür. Nathan zuckte zusammen.   „Was hast du getan?“ „Das einzig Richtige.   Von drinnen war erst nichts zu hören, es folgten Schritte, die Tür wurde aufgerissen und dann stand Marvin in der Türöffnung. Im Bademantel. Kimono. Irgendetwas in grellem Türkis mit zu vielen Vögeln darauf. Als er Nathan erblickte, wurden seine Augen kugelrund und er sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. „Nathan?“, rief er vollkommen entgeistert. „Was zur Hölle tust du hier?“   Dann jedoch entdeckte er Ezra und verwandelte sich binnen Sekunden von einem verblüfften Chihuahua in einen knurrenden Dobermann.   „Was macht der hier?“ Es bestand kein Zweifel daran, dass er wusste, wer da hinter Nathan im Flur stand. Ezra reagierte gelassen. „Ich habe ihn lediglich hergebracht. Ich gehe jetzt.“ „Warte!“   Nathan war sich bewusst, dass Marvin innerhalb der nächsten 20 Sekunden die Polizei rufen würde, wenn er nicht sofort eine Erklärung erhielt. Und doch musste Nathan noch etwas wissen. „Werden wir uns wiedersehen?“   Ezra zögerte sichtbar zu antworten. Das hielt jedoch Marvin nicht davon ab, sich neben Nathan aufzubauen und ihn vorwurfsvoll anzufunkeln. „Wiedersehen?“ fauchte er. „Sag mal hast du sie noch alle? Sieh dich doch mal an. Der Typ ist ein gemeingefährlicher Stalker. Und statt dich von ihm fernzuhalten, triffst du dich auch noch mit ihm und fragst, auch noch, ob ihr euch wiederseht? Ich glaube, mein Schwein pfeift.“   Nathan hätte gerne etwas erwidert, aber er kam nicht dazu. Marvin stapfte nebst Vögeln und allem gerechten Zorn, den er aufbringen konnte, zurück in seine Wohnung. Als er wiederkam, hatte er sein Handy in der Hand. „So, der Unsinn hört jetzt auf“, verkündete er und hob das Gerät hoch. „Bitte recht freundlich.“ „Lass es.“   Ezra hatte nicht besonders laut gesprochen, aber selbst Nathan spürte noch den Zwang, der hinter seinen Worten lag. Marvin hingegen, der die volle Wirkung abbekommen hatte, blieb stocksteif stehen, das Handy mit der Kamera weiterhin erhoben und auf Ezra gerichtet. Allerdings war er anscheinend nicht in der Lage, den Daumen auf den Auslöseknopf zu senken. Er stand einfach nur da und blinzelte. Sein Mund zuckten nervös. „Was … was passiert hier gerade?“   Nathan sah hinüber zu Ezra. „Lass ihn los.“   Ezra knurrte. „Ich halte ihn nicht fest. Er muss lediglich die Kamera senken, dann passiert ihm nichts.“   Nathan wirbelte zu Marvin herum. „Marvin, tu was er sagt“, beschwor er seinen Freund. „Niemals“, zwängte Marvin zwischen den Lippen hervor. „Ich brauche ein Beweisfoto. Damit wir ihn anzeigen können.“   „Aber er hat doch gar nichts gemacht.“ Nathan raufte sich die Haare. Das hier war alles so irre. Hoffentlich kam nicht auch noch Felipe … „Was ist hier los?“   Oh Scheiße!   Felipes massige Silhouette schob sich durch die Tür. Er trug ein Paar weite Shorts, aber selbst die enthüllten mehr, als Nathan eigentlich hatte wissen wollen. Immerhin war jetzt die Sache mit der Größe geklärt. „Wer ist das?“, wollte Felipe wissen. Offenbar hatte er die Situation mit einem Blick erfasst. Seine Oberarmmuskeln spannten sich. „Er ist ein Freund! Ich wurde überfallen. In meiner Wohnung. Er hat mir geholfen und mich hergebracht. Um mir zu helfen. Ganz ehrlich, ich schwöre es.“   Felipe sah zwischen Nathan, Ezra und Marvin hin und her. Er schien zu ahnen, dass da irgendwas nicht so ganz stimmte, wusste sich aber offenbar keinen Reim auf die merkwürdige Konstellation zu machen. Schließlich entschloss er sich, sich dem naheliegendsten Problem zuzuwenden. Er deutete auf Nathans Hand.   „Wurdest du verletzt? Brauchst du einen Arzt?“   Nathan schüttelte sofort den Kopf. „Nein, alles bestens. Es ist nur ein Kratzer. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“ Die Spannung brachte die Luft um ihn herum zum Vibrieren. Wie ein Gewitter, das kurz davor war, sich zu entladen. Marvin versuchte immer noch, ein Foto von Ezra zu machen. Felipe versuchte zu entscheiden, ob er den Fremden umarmen oder ihm eine reinhauen sollte, und Ezra …   „Ich sollte gehen. Ich muss mich noch um einige Dinge kümmern. Ich gebe dir Bescheid, wenn alles erledigt ist.“   Damit war er verschwunden. Von einem Augenblick auf den anderen stand er nicht mehr im Flur. Nathan starrte, aber der Platz, an dem Ezra gerade noch gestanden hatte, war und blieb leer. Auch die anderen schienen mit dem plötzlichen Abgang nicht gerechnet zu haben. Marvin war der Erste, der reagierte.   „Wo ist er hin? Er war doch gerade noch da und jetzt ist er weg? Wie geht das?“   Auch Felipe schien seinen Augen nicht so ganz zu trauen. Im Gegensatz zu Marvin fokussierte sich seine Aufmerksamkeit jedoch schnell wieder auf Nathan. „Du solltest reinkommen. Es ist kalt hier draußen.“ Wie selbstverständlich griff er nach Nathans Reisetasche und marschierte damit in die Wohnung. Nathan und Marvin blieben allein vor der Tür zurück. Marvins Gesichtsausdruck schwankte immer noch zwischen Unglaube, Misstrauen und Wut.   „Was ist passiert?“, zischte er. „Du hast doch gesagt, du willst ihn loswerden. Ist er deswegen durchgedreht? War er das?“   Marvin zeigte auf Nathans Verband. Nathan schüttelte den Kopf. „Ich sagte doch schon, ich bin in meiner Wohnung überfallen worden. Ezra hat … er hat zwei der Angreifer getötet. Der dritte konnte entkommen.“ „WAS?“ Dieses Mal hatte Nathan wirklich Angst, dass Marvin die Augen aus dem Kopf fielen. „Er hat sie umgebracht?“   Nathan versuchte, seinen Freund zu beruhigen.   „Ja, aber es waren keine Menschen. Ich wurde von Untoten angegriffen.“ „Von Untoten?“   Marvins Stimme wurde immer lauter und schriller. Ängstlich bedeutete Nathan ihm still zu sein.   „Ja, Untote. Ghule um genau zu sein. Ihre Leichen … Körper liegen immer noch in meiner Wohnung.“   Marvin schlug sich die Hand vor den Mund „Ach du scheiße“, keuchte er. „Und jetzt?“   „Ezra kümmert sich darum.“   Nathan wusste, wie das klang. Und er wusste, was Marvin sagen würde, wenn er erst wieder zu Atem gekommen war. Mit ziemlicher Sicherheit würde es eine lange, lange Liste von Vorwürfen werden, von denen mindestens die Hälfte wenn nicht mehr gerechtfertigt sein würden. Also ging er in die Offensive und schnitt seinem Freund das Wort ab.   „Ich weiß, ich weiß. Es war von Anfang an eine Schnapsidee, mich auf Ezra einzulassen. Er ist gefährlich, er ist irre, ich sollte ihn am besten anzeigen und du hast es ja gleich gesagt. Und du hattest recht. Ezra ist gefährlich. Aber er ist nicht irre. Er ist ein Vampir. Ein echter Vampir.“   Er beobachtete, wie seine Worte auf Marvin wirkten. Sein Freund sah ihn an, als versuchte er wirklich zu begreifen, was Nathan gerade gesagt hatte. Aber wie konnte er das? Es widersprach allem, was sie bisher als Realität angesehen hatten. Und doch wusste Marvin genau, dass Nathan ihn diesbezüglich niemals anlügen würde. Sie mochten nicht immer einer Meinung sein – egal ob es um Pizzabelag oder um Männer ging – aber auf eines hatte Nathan sich in ihrer Freundschaft immer verlassen können. Dass sie ehrlich zueinander waren. Auch wenn es manchmal wehtat. Schließlich atmete Marvin langsam aus.   „Du glaubst das wirklich, oder?“, murmelte er. Nathan lächelte halb. „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Ich habe es gesehen. Marvin, einer dieser Ghule hat mich mit einer Hand hochgehoben“ „Das würde Felipe auch schaffen. „Aber nicht so. Das war übermenschlich. Und sie haben schwarzes Blut. Sie fressen Leichen.“   Nathan sah, wie Marvin mit sich kämpfte. Die Emotionen krochen unter seine Haut entlang und schlugen unsanfte Wellen.   „Hey, Marv.“ Er legte Marvin die Hand auf den Arm. „Du warst doch derjenige, der mir gesagt hat, dass Ezra ein Vampir ist. Du hast doch gesagt, dass …“   „Aber das war doch nur ein Witz“, unterbrach Marvin ihn halb panisch. „Ich hab doch nicht wirklich gedacht, dass …“   Marvin schnaufte. Er warf Nathan einen scheelen Blick zu, als wolle er prüfen, ob das nicht doch alles nur ein Riesen-Missverständnis war. Als die Bestätigung dafür ausfiel, schnaufte er noch einmal.   „Er ist echt ein Vampir, oder? Der hat dieses Gedankenkontrolldings mit mir abgezogen. Deswegen konnte ich ihn nicht fotografieren.“   Nathans zuckte leicht mit den Schultern. „Das könnte sein.“   Marvin runzelte die Stirn. Er musterte Nathan von oben bis unten. „Hat er dir sonst noch irgendwas getan? Hat er dich gebissen?“ „Nein, keine Sorge. Er war … nett. Also für einen Vampir.“ „Und er hat diese Ghule erledigt?“ „Er hat ihnen mit Christians Kaffeemaschine den Schädel eingeschlagen.“   Marvin sah Nathan an, als wäre der nicht ganz bei Trost. Dann begann er zu grinsen.   „Ich glaube, ich fange so langsam an, diesen Ezra zu mögen.“   Im nächsten Moment wurde er wieder ernst.   „Das ist auf jeden Fall ein riesiger Schlamassel.“ „Jepp.“ „Und was machen wir jetzt?“   Nathan seufzte.   „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“   Marvin runzelte die Stirn und schien einen Entschluss zu fällen. „Zuerst einmal kommst du rein, ich koche dir einen Tee und dann schicke ich Felipe nach Hause. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass du mir da gerade eine wirklich, wirklich heiße Nummer vermasselt hast. Ich meine, wir waren gerade fertig mit den Vorbereitungen und wollten so richtig loslegen, als es plötzlich klopfte. Weißt du, wie ich mich erschrocken habe?“   Nathan grinste schief. „Tut mir leid, Kumpel.“ Marvin wedelte abwehrend mit der Hand. „Ach, halb so wild. Ich bedaure zwar meinen Hintern, wenn Felipe sich nächstes Mal daran austoben darf, aber das hier ist jetzt wichtiger. Du bist wichtiger. Das weißt du doch, oder?“   Nathan sah Marvin an. Plötzlich war da ein Kloß in seinem Hals. All die Anspannung, die Angst, ballte sich dort zusammen und wartete darauf, dass er sie losließ. Er schluckte. „Danke, Marv.“ „Keine Ursache. Na los, komm rein. Ich mache dir ein Bett auf der Couch und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir weiter verfahren. Für heute Nacht hatten wir genug Aufregung.“   Nathan rang sich zu einem Lächeln durch. Er folgte Marvin in die Wohnung, die von oben bis unten vollgestopft war mit Dingen von bunt bis kitschig. Eines dieser Dinge war eine Stehlampe, die er selbst als Geschenk für seinen Freund auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Der Fuß bestand aus einer dicken Dame in einem roten Badeanzug mit weißen Punkten und der Lampenschirm war ein rot-weiß gestreifter Sonnenschirm. Ihr warmer Schein spiegelte sich in dem dunklen Fenster dahinter. Nathan trat an die Scheibe, schob den Vorhang zur Seite und blickte nach unten. Dort stand immer noch Ezras Wagen.   Er ist noch da.   In diesem Moment wurde der Motor gestartet. Die Scheinwerfer blendeten auf, die Bremslichter erloschen. Der Wagen fuhr an und rollte die Straße entlang. An ihrem Ende blinkte er, bog ab und war einen Wimpernschlag später endgültig verschwunden. Langsam ließ Nathan die Hand, die den Vorhang gehalten hatte, wieder sinken.   Kapitel 11: Die weiße Feder --------------------------- „Wo ist er hin? Er war doch gerade noch da und jetzt …“   Die Stimme von Nathans Freund fiel hinter ihm zurück, während Ezra Stufe um Stufe dem Ausgang entgegenstrebte. An einem anderen Tag hätte er sich vielleicht über die verblüffte Reaktion amüsiert. Es warwirklich erstaunlich, wie leicht sich die menschlichen Sinne täuschen ließen. Vermutlich lag in dieser Tatsache auch die Legende begründet, dass Vampire kein Spiegelbild hätten, und einige andere Dinge. Aber heute lag kein Triumph darin, seine Fähigkeiten auf diese Weise zu nutzen. Heute kam er sich vor wie ein Dieb, der sich heimlich davon schlich, weil er nicht erwünscht war.   Kühle Nachtluft empfing ihn. Er schmeckte den Regen, die Gerüche der Straße, der Menschen und ganz besonders dieses einen, den er gerade noch bei sich gehabt hatte. Die Eindrücke wurden dichter, je näher er dem Auto kam. Eine stetig steigende Präsenz, die ihren Höhepunkt erreichte, als er zurück auf den Fahrersitz glitt. Überwältigt schloss er für einen Moment die Augen. Alles hier drinnen, die Luft, die Bezüge der Polster, ja selbst das weiche Leder unter seinen Fingern waren durchtränkt von diesem unvergleichlichen Gefühl. Es war, als könne er Nathan erneut neben sich spüren. Sein Lachen hören. Die feinen Schwingungen wahrnehmen, die von ihm ausgingen, wie Tropfen auf klarem Kristall.   Eine eigenwillige Mischung aus Anziehung und Instinkt ließ ihn tiefer einatmen. Dabei wusste er, was er tun sollte. Er musste hier weg. Schnell. Bevor noch jemand auf die Idee kam, ihm zu folgen. Und doch blieb Ezra sitzen. Er konzentrierte sich und lauschte. Auf all die feinen Geräusche, das Wispern des Windes, das Rauschen der Reifen auf regennasser Fahrbahn und die vielen, vielen Leben, die um ihn herum pulsierten und flackerten. Und da war er; da war Nathan. Ezra wusste es, bevor er sich ganz auf diesen gleichmäßigen Puls, das leise Atmen und diese wunderbare, immer leicht erstaunt klingende Stimme eingestellt hatte. Was er sagte, konnte Ezra nicht verstehen, aber das war auch nicht wichtig. Der Kontakt würde ohnehin gleich wieder abreißen. Doch für diesen einen flüchtigen, kostbaren Augenblick war es so, als stände er noch einmal vor ihm. Als könnte er ihn berühren. Ohne Angst, ohne Reue. Einfach nur bei ihm sein. Ganz nah.   Mit einem tiefen Atemzug kam Ezra wieder zurück. Die Nachwirkung der abklingenden Verbindung hallte immer noch in ihm nach. Schwindende Töne eines triumphalen Konzertakkords. Doch da war mehr. Unsichtbare Augen, die sich auf ihn legten von irgendwo weiter oben. Er musste nicht hinsehen um zu wissen, dass Nathan ihn gerade beobachtete. Er spürte es. Prickeln auf seiner Haut.   Ich sollte gehen.   Mechanisch griff er nach dem Zündschlüssel. Alles an ihm weigerte sich. Strebte zurück in die Nähe dessen, dem er sich nie hätte nähern dürfen.   Es war ein Fehler. Was genau er damit meinte, wusste er nicht. Vermutlich schloss es alles mit ein, was Nathan betraf. Er hätte von Anfang an im Verborgenen bleiben sollen, statt sich ihm zu zeigen. Einfach abwarten, ob die Ghule auftauchten, und wenn nicht, wieder in den Schatten verschwinden. So wie er es immer getan hatte. Aber irgendetwas hatte ihn hervorgelockt. Hatte ihn angezogen wie die sprichwörtliche Motte das Licht.   Mit dem Unterschied, dass das Licht in der Regel für die Motte gefährlich ist und nicht umgekehrt.   Mit einer entschlossenen Bewegung startete er den Wagen. Er ließ das Fahrzeug rollen, als hätte er keine Eile, während er dem langsam schwindenden Echo von Nathans Herzschlag lauschte. Es wurde leiser und immer leiser, bis es schließlich im Rauschen der nächtlichen Großstadt verschwand. Erst dann und erst, als er um die Ecke gebogen war, gab Ezra mehr Gas und wandte seine Gedanken dem zu, was vor ihm lag.     Die Straße, in der Nathan wohnte, kam in Sichtweite. Der weiße Lieferwagen direkt vor der Haustür ließ Ezra wissen, dass der Aufräumtrupp bereits vor Ort war und sich darum kümmerte, die Wohnung wieder in ihren Ursprungszustand zu versetzen. Am Ende der Nacht würde niemand mehr wissen, dass hier etwas vorgefallen war. Selbst die Möbel würden bis dahin ersetzt, die Teppiche ausgetauscht und die Wände frisch gestrichen sein. Wenn sie fertig waren, würde wahrscheinlich nicht einmal mehr Nathan einen Unterschied erkennen.   Er wollte gerade wieder beschleunigen, als er etwas sah, das er nicht erwartet hatte. Ein auffälliger, cremefarbener Rolls Royce parkte mitten zwischen all den modernen Karosserien. Es hätte natürlich ein Zufall sein können, dass ausgerechnet hier so ein seltener Oldtimer zu finden war, aber nach der Entwicklung des heutigen Abends glaubte Ezra nicht recht daran. Zumal eine andere Erklärung sehr viel mehr Sinn ergab.   Aber was will er hier?   Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, gab es wohl nur eine Möglichkeit. Mit einem Seufzen suchte Ezra nach einer Parklücke.     Schon von Weitem konnte er die Arbeiten der Handwerker hören. Es wurde geputzt, geschrubbt, geschraubt, gehämmert, gebohrt. Es war erstaunlich, dass keiner der Nachbarn sich über den Lärm beschwerte. Andererseits wusste er, wer bei dieser Sache die Finger im Spiel hatte, und so war es vielleicht nicht weiter verwunderlich, dass der Flur bis auf eine einzige Person leer war.   Darnelle stand am Ende des Ganges gegen eine Fensterbank gelehnt und las in einem Buch. Als Ezra näherkam, blickte er auf. Ein Lächeln entblößte seine Eckzähne.   „Ah! Sieh an, wen der Wind hereingetragen hat. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Du warst nicht erreichbar.“ Er hielt Ezras Handy hoch und wackelte vielsagend damit, bevor er es ihm ohne Vorwarnung zuwarf. Ezra fing es auf und steckte es ein, ohne auf das Display zu sehen. „Was willst du hier?“, fragte er im vollen Bewusstsein, dass sein Ton unangemessen frostig war. Immerhin half Darnelle ihm hier gerade mächtig aus der Patsche. Sein Bruder lächelte. „Das sagte ich doch bereits. Ich wollte mal nach dem Rechten sehen. Aber stell dir meine Überraschung vor, als ich hier ankam und niemanden vorfand. Dich nicht und auch sonst niemanden. Nur ein paar kopflose Ghule. Wie eigenartig.“ Darnelles Lächeln dauerte an, aber Ezra konnte die Spitzen darin erkennen. Gifttriefende Widerhaken, die nur darauf warteten, sich in sein Fleisch zu bohren. Aber warum? Was bezweckte sein Bruder damit? „Ich kann dir nicht folgen?“, meinte er daher und wandte sich der Wohnung zu. Er war kaum zwei Schritte weit gekommen, als Darnelles Stimme ihn bereits wieder einfing.   „Nicht?“, fragte er in seinem Rücken und klang dabei, als wäre er ehrlich erstaunt. „Dabei hatte ich dich immer für den Intelligenteren von uns beidem gehalten. Ich rede natürlich von diesem Menschen. Wie hieß er doch gleich? Tom, Dick, Harry? Du hast es mir bestimmt gesagt, aber ich habe es wieder vergessen.“   Ezra schloss die Augen. Ihm war klar, dass er jeden Zentimeter, den er Darnelle nachgab, teuer bezahlen würde. Aber ihm nicht entgegenzukommen, würde noch mehr kosten. So war es schon immer gewesen zwischen ihnen und nicht nur deswegen hatte er sich so gut nie dazu durchringen können, Darnelle die Stirn zu bieten. Mit einem Seufzen drehte er sich wieder zu ihm herum. „Sein Name ist Nathan.“ Sein Bruder kräuselte amüsiert die Lippen. „Nathan, so so. Dann kennt ihr euch gut?“ „Wie kommst du darauf?“ Das Kräuseln wurde zu einem Grinsen.   „Nun, immerhin hat er dich, wie es scheint, hereingebeten. Und er lebt noch. Recht erstaunlich, wie ich finde, wenn man die Ereignisse des Abends bedenkt. Außerdem hast du einen nicht unerheblichen Umweg auf dich genommen, um ihm nach dieser Sache auf dem Friedhof noch einen Besuch abzustatten. Und das, obwohl ich auf dich gewartet habe. Mit einem Geschenk. Du erinnerst dich?“   Ezra schwieg. Darnelle zu sagen, warum er Nathan aufgesucht hatte, kam nicht in Frage. Aber irgendeine Erklärung musste er liefern. Die Maske blieb an ihrem Platz. „Ich wollte nur sichergehen, dass mit ihm alles in Ordnung ist.“ „Du meinst, ob sich der Köder noch in der Falle befindet.“ „Genau das.“   Ein leises Lachen drang aus Darnelles Mund. Ezra spürte seine Blicke wie Nadelstiche. „Wenn er nicht so stümperhaft wäre, würde mich dein Versuch, diesen Menschen in Schutz zu nehmen, ja fast amüsieren. Aber ich bin neugierig. Was hat dich dazu veranlasst, dir ausgerechnet ihn auszusuchen. Wo du doch jeden haben könntest. Jede dieser Maden müsste sich deinem Befehl beugen und dir zu Willen sein. Tun, was immer du verlangst. Warum also ausgerechnet dieser hier?“   Ezra presste die Kiefer aufeinander. Er wollte seinem Bruder entgegenschleudern, dass das hier etwas anderes war. Dass er Nathan nicht beeinflusst hatte. Dass es dessen freie Entscheidung gewesen war, zu Ezra zu kommen und sich ihm zu öffnen. Wenigstens ein Stück weit. Dass ihn diese Tatsache gleichzeitig faszinierte und beunruhigte. Dass er zum ersten Mal seit Jahren so etwas wie Unsicherheit spürte. Oder überhaupt etwas. Seit damals. Seit er sein Herz verschlossen hatte. Dass Nathan etwas in ihm ansprach, das er für tot gehalten hatte.   Dafür gab es keine Erklärung. Nichts, was er in Worte hätte fassen können. Es war einfach da und Ezra erzitterte in Ehrfurcht, wenn er daran dachte. Gleichzeitig lähmte ihn die Angst, das, was immer es war, mit dem nächsten unbedachten Atemzug wieder zum Erlöschen zu bringen. Er kam sich dumm vor. Plump. Ungenügend. Und trotzdem wollte er sich nie wieder anders fühlen.   Noch einmal stieg die Erinnerung in ihm hoch. Dieses Gefühl, das er hatte, wenn Nathan in seiner Nähe war. Es war wie … nach Hause kommen. Aber er durfte sich diesem Gefühl jetzt nicht hingeben. Er musste sich konzentrieren. Besonders angesichts der Unkontrollierbarkeit der Situation. Also wischte Ezra all das Weiche und Schöne beiseite und hob den Kopf hoch in die Luft. Ein schmales Lächeln zierte seine Lippen. „Deine Begeisterung für Klatsch und Tratsch in allen Ehren, aber sollte dich nicht viel mehr interessieren, was ich über die Ghule herausgefunden habe?“   Darnelles Mundwinkel zuckten. Ezra wich seinem Blick nicht aus. Er musste sich behaupten, wenn er nicht lahm und blutend aus dieser Begegnung hervorgehen wollte.   Das amüsierte Zucken wurde zu einem Lächeln. „Na schön, mein Lieber“, meinte sein Bruder jovial und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. „Dann erhelle mich. Was hast du entdeckt?“ Ezra trat einen Schritt näher. Seine Augen fixierten Darnelle genau.   „Der dritte Ghul – die Ghula, die entkommen ist – war ein Donor. Ich habe das Zeichen an ihrem Handgelenk gesehen. Eine Markierung vom 'Darkroom'. Das heißt, derjenige, der hinter all dem steckt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit einer deiner Kunden.“   Für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. Die Luft schien sich aufzuladen, doch dieses Mal war es Darnelle, der unter Strom stand. Der Schwanz der Raubkatze zuckte. „Bist du dir sicher?“, fragte er mit einem eigenartigen Unterton. „Immerhin ist sie geflohen. Es könnte auch …“   „Es besteht kein Zweifel.“   Ein Starren. Stummes Duell. Darnelles Miene war aus Stein, aber Ezra wich nicht zurück. Schließlich lachte sein Bruder, sein Körper entspannte sich. „Ha, jetzt hätte ich dir fast geglaubt. Ja wirklich. Mit der Nummer solltest du auftreten. Die ist gut.“ Er betrachtete Ezra mit einem wohlgefälligen Grinsen. Alles an ihm wirkte vollkommen gelassen. Erza konnte es nicht glauben. „Das ist kein Scherz“, bekräftigte er. „Sie muss dort gewesen sein.“   „Oh, sicher.“   Noch immer nahm Darnelle ihn nicht ernst. Ezra richtete sich auf. „Wenn sie dort war, muss es Aufnahmen von ihr geben. Und Zeugen. Mit wem sie sprach, wen sie traf, wer von ihr getrunken hat. Möglicherweise finden wir dort einen Hinweis auf die Identität ihres Meisters. Er könnte sie im Club kennengelernt haben.“   Darnelle sah immer noch amüsiert aus. Er lächelte.   „Das ist unwahrscheinlich.“ „Woher willst du das wissen?“   Darnelle seufzte, als hätte Ezra gerade etwas sehr Dummes gesagt. „Weil ich in dem Fall davon wüsste. Und ich wüsste auch, wenn einer meiner Donoren verschwunden wäre. Immerhin passe ich gut darauf auf, dass sie keine Dummheiten machen. Immerhin steht auch mein guter Ruf auf dem Spiel, wenn ich auf einmal verseuchte oder minderwertige Ware anbieten würde.“   Ezra musterte seinen Bruder.   „Ich will die Aufnahmen sehen“, sagte er. Darnelle legte den Kopf schief. „Nein.“   Das Wort zuckte wie ein Peitschenhieb durch den Raum. Ezra atmete tief ein. „Was soll das heißen?“, fragte er mühsam beherrscht. Darnelle schmunzelte. „Das heißt, dass du die Videos nicht sehen kannst.“ „Und warum nicht?“ „Weil sie gelöscht wurden.“ Ezra glaubte, sich verhört zu haben. Seine Augen wurden größer.   „Was? Warum? Wann?“   Darnelle entblößte einen seiner Eckzähne. Er griff in seine Hosentasche, zog ein Handy heraus, klappte es auf und wählte ohne hinzusehen. Den Blick immer noch auf Ezra gerichtet sprach er mit dem unsichtbaren Rezeptor am anderen Ende der Leitung. „Ich bin es. Sei doch so gut und lösch all unsere Überwachungsvideos. Ja? Ich danke dir. Bye.“   Er legte auf und verzog die Lippen zu einem süffisanten Grinsen. „Ups.“   Ezra erstarrte. In seinem Inneren tobte ein Sturm. Der Wunsch, sich auf Darnelle zu stürzen und ihn durch die nächste Wand zu prügeln. Ihn für diese unglaubliche Frechheit bezahlen zu lassen. Ihn leiden zu sehen. Doch er tat nichts von alldem. Er stand nur da und sah seinen Bruder mit unbewegtem Gesicht an. „Was sollte das?“ Darnelle hob eine seiner rotblonden Augenbrauen. „Was meinst du?“   Ein Grollen stieg Ezras Kehle empor. Immer noch versuchte er den Impuls, seinem Bruder die Kehle rauszureißen, unter Kontrolle zu bekommen. Seine Hand ballte sich zur Faust. Für einen Moment glitten Darnelles Augen in die Richtung der Gefahr, dann breitete sich wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Ach du meinst, warum ich dir nicht einfach so Zugang zu vertraulichen Informationen gebe? Weil sie eben genau das sind. Vertrauliche Informationen. Mein Geschäft lebt von der Anonymität. Wenn ich dich jetzt einfach dort herumschnüffeln lassen würde, würden mir womöglich scharenweise die Kunden weglaufen. Und du weißt, was das bedeutet.“ Ezra knurrte. „Natürlich weiß ich das. Es würde bedeuten, dass sich so einige deiner noblen Gäste vor dem Rat verantworten müssten. Aber deswegen können wir denjenigen, der die Ghule erschafft, doch nicht ungestraft davonkommen lassen. Er bedroht unsere Sicherheit.“   Darnelle schnaubte belustigt. „Ach, ist das so? Oder bedroht er lediglich unsere Gefangenschaft. Den Zwang, sich im Dunkeln verstecken zu müssen. Zu verheimlichen, was wir sind. Wer wir sind.“   Darnelles Stimme wurde leiser. Ein Flüstern, das Ezras Nervenenden zum Vibrieren brachte. Schlangenhaut auf trockenem Sand. Er wisperte. „Stell es dir vor, Bruder. Eine Welt, in der wir das Sagen haben. In der niemand uns beschränkt, vielleicht nicht einmal mehr die Sonne. In der wir alles haben können, was wir wollen. Tun können, was wir wollen. Lieben können, wen wir wollen. Würde dir so eine Welt nicht gefallen?“ Ezra fühlte ein Zittern durch seinen Körper laufen. Er wusste, worauf Darnelle anspielte. Aber er würde der Versuchung nicht nachgeben. Niemals. „Damit kommst du nicht durch.“   Seine Worte waren fest, als wäre er von dem, was er sagte, vollkommen überzeugt. Darnelle lachte leicht. „Ach nein?“, fragte er lächelnd. „Dann verrate mir, wer mich aufhalten sollte.“ „Ich“, stieß Ezra hervor. „Ich werde das nicht zulassen. Ich gehe zu Aemilius und …“   „Aemilius“, unterbrach Darnelle ihn sofort, „sollte besser nichts von dieser Unterredung erfahren. Andernfalls würde es ihn sicher interessieren, dass dein kleiner Freund immer noch am Leben ist. Entgegen seiner Anweisung, wenn ich mich recht erinnere. Du willst doch nicht riskieren, dass er sich der Sache selbst annimmt, oder?“   Ezra starrte seinen Bruder an. Unfähig sich zu bewegen oder irgendwie anders zu reagieren, sah er zu, wie Darnelle sich erhob und langsam auf ihn zukam. Kurz vor ihm blieb er stehen. In seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz. „Glaub mir, Bruder. Es liegt nicht in meiner Absicht, dir Schaden zuzufügen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das du glücklich wirst. Etwas, dass du dir im Moment aus mir unerfindlichen Gründen versagst. Du suchst etwas, aber du findest es nicht. Nicht in unserer Welt. Aber der Zugang zu ihrer Welt ist dir versperrt. Lass uns diese Grenzen gemeinsam einreißen. Damit wir endlich frei sein können.“ Die Frage, was für Darnelle dabei heraussprang, lag Ezra auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Stattdessen griff er nach dem Buch, das sein Bruder ihm entgegenhielt. „Hier“, sagte Darnelle und sah ihm dabei tief in die Augen. „Nimm es an dich. Ich habe es mir von diesem … Nathan, richtig? … ausgeliehen. Ich bin sicher, er möchte es gern zurückhaben.“   Mit einem letzten Lächeln und einer flüchtigen Berührung, die fast schon zärtlich wirkte, ließ Darnelle ihn stehen und ging, leise summend, den Gang hinunter. Ezra sah ihm nach, bis er im Lift verschwunden war. Danach blickte er auf das Buch in seinen Händen hinab. Es hatte einen abgegriffenen Einband aus rotem Leinen. Goldene, verschnörkelte Buchstaben auf der Vorderseite verrieten ihm, dass es sich um eine Sammlung von Gedichten handelte. Als er es aufschlug, fiel etwas zwischen den Seiten hervor. Eine weiße Feder. Ezra erstarrte.   Die weiße Feder, ein Symbol der Feigheit, überreicht all jenen, die sich weigern, sich in den Dienst von Krone und Vaterland zu stellen. Es soll sie kennzeichnen als das, was sie sind.   Er erinnerte sich an einen seiner Kameraden, der angegeben hatte, eine solche Feder von seiner Freundin erhalten zu haben. Um sich ihr zu beweisen, war er der Armee beigetreten. Sie hatten sich niemals wiedergesehen.   Langsam bückte Ezra sich nach der Feder, hob sie auf und drehte sie zwischen seinen Fingern. War es jetzt an ihm, eine Seite zu wählen? Sich in die Schlacht zu stürzen, um nicht als feige zu gelten?   Immer noch in Gedanken schlug er die Seite in dem Buch auf, in der die Feder gelegen hatte. Es war ein Gedicht von Sara Teasdale. Er kannte es. Elisabeth hatte es ihm ein vorgetragen und gesagt, dass es sie tief berührte. Danach hatte sie ihn angesehen. Lange angesehen und er hatte ihre Hand genommen und sie geküsst.   „I am not yours not lost in you, not lost, although I long to be Lost as a candle lit at noon, Lost as a snowflake in the sea. “   Er las die Worte und es war, als würde er noch einmal ihre Stimme hören. Es war verrückt und gleichzeitig schob sich ein anderes, ein neues Gesicht in seine Gedanken. Es war jünger, männlicher, mit wirren, dunklen Haaren und frechen, grünen Augen. Ein schmaler Mund, der niemals stillzustehen schien und ab und an dieses spitzbübische, jungenhafte Lächeln zeigte, das Ezra so sehr mochte. Es erinnerte ihn an unbeschwerte Sommer und Dinge, die noch weiter zurücklagen als der Schmerz.   Du bist verrückt.   Selbst wenn da etwas zwischen ihnen war, und selbst wenn Nathan dieses Etwas vielleicht erwiderte, war der Zeitpunkt doch denkbar ungünstig. Da waren diese Ghule, die es ganz offensichtlich darauf abgesehen hatten, Nathan zu töten. Andernfalls hätte wohl eine Falle auf dem Friedhof – Ezra war sich inzwischen sicher, dass die Nachricht an ihn fingiert worden war – sehr viel eher zum Erfolg geführt. Mit dem Moment der Überraschung auf seiner Seite, war es ihm zwar nicht schwergefallen, die Ghule auszuschalten, aber unter anderen Voraussetzungen hätte die Sache durchaus anders ausgehen können. Aber das war nicht geschehen. Stattdessen hatten sie ihn nur aus dem Weg geschafft, um an Nathan heranzukommen. Außerdem hatte die Ghula sich ihm nicht gestellt, sondern sofort die Flucht ergriffen, als er sich ihr genähert hatte. All das sprach dafür, dass er nicht das Ziel des Angriffs gewesen war. Die alles entscheidende Frage war jedoch, warum das so war und wer dahintersteckte. Und wie derjenige es geschafft hatte, Ezra so einfach auf die falsche Fährte zu locken.   Die Assoziationen, die ihm dazu kamen, gefielen ihm nicht. Darnelle hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er der Meinung war, dass die Vampirgesellschaft eine Modernisierung benötigte. Zwar widersprach er Aemilius noch nicht öffentlich, aber Ezra wurde das Gefühl nicht los, dass er nicht mehr allzu weit davon entfernt war. Trotzdem hätte Ezra nie gedacht, dass er so weit gehen würde, den Unbekannten aktiv zu unterstützen, selbst wenn sich ihre Ziele ähneln mochten. Ein Irrtum, wie er jetzt erkannte. Aber warum?   Weiß er vielleicht, wer hinter all dem steckt. Oder hat er selbst …?   Ezra schüttelte den Kopf. Die Vorstellung war ungeheuerlich. Darnelle war ein Rebell. Das Enfant terrible dieser Stadt und dabei so charmant und geschickt, dass ihn nie irgendjemand ernsthaft anging. Weil er wusste, was die Leute wollten. Und weil er es ihnen beschaffte. Auch unter der Hand und selbst dann, wenn es die Gesetze eigentlich nicht erlaubten. Bisher war Ezra davon ausgegangen, dass die Obrigen davon mehr oder weniger wussten und ihn gewähren ließen, weil er harmlos war. Aber was, wenn sie sich alle getäuscht hatten? Was, wenn Darnelle derjenige war, der die Stadt ins Chaos stürzen wollte?   Nein, das glaube ich nicht. Darnelle würde mir das niemals antun. Es muss noch jemanden geben, der die Fäden in der Hand hält. Aber wer? Und wie spüre ich ihn auf?   Ihm war klar, dass sein Bruder ihm gerade Hand- und Fußfesseln angelegt hatte. Wenn er weiter in die Richtung der Clubs ermittelte, würde er Nathan in Gefahr bringen. Darnelle hatte nicht geblufft, als er angedroht hatte, ihn ans Messer zu liefern. Aber wenn er sich an Aemilius oder einen der anderen Ratsmitglieder wandte, würde er diesen Prozess nur noch beschleunigen. Natürlich blieb immer noch die Möglichkeit, Nathan zu opfern. Zu riskieren, dass er und einige weitere Menschen aus seinem Umfeld ausgelöscht wurden, damit die dunkle Gesellschaft weiter unbehelligt existieren konnte.   Oder ich schließe mich Darnelle an. Diese Möglichkeit war jedoch ebenfalls nicht ohne Risiko, denn Darnelle hatte deutlich gemacht, dass er vorhatte, aus den Schatten zu treten. Was, wenn er sich verschätzt hatte. Wenn ihnen die Menschen doch überlegen waren. Mit Sicherheit würde dieser Weg Opfer erfordern, es würde Krieg geben. Rebellion. Einen Umsturz des Machtgefüges. Vielleicht sogar weltweit. Aber wenn Ezra Glück hatte und es klug anstellte, konnte er sich und diejenigen, die ihm wichtig waren, vielleicht retten. Noch einmal sah er auf das Buch hinab. Die Gedichtzeilen, die von so viel unerfüllter Sehnsucht sprachen.   Was hätte sie getan?   Ezra kannte die Antwort. Ihm war klar, welche Seite Elisabeth gewählt hätte, doch er war sich nicht sicher, ob er das auch konnte.   Ich muss nachdenken. An einem Ort, weit weg von hier. Einem Ort, den er lange nicht besucht hatte. Er wusste nicht, ob es klug war, dorthin zurückzukehren, aber er wusste, dass es derjenige war, an den sein Herz ihn zog.   Kapitel 12: Ein Silberstreif ---------------------------- „Du wurdest WAS?“   Shannons Augenbrauen rasten in Richtung Haaransatz. Nathan lächelte schief und bemühte sich gleichzeitig, möglichst elend auszusehen. Eine Herausforderung, die ihm nicht besonders schwerfiel, seit Marvin mit seinem Make-up-Koffer über ihn hergefallen war. Jetzt war er noch blasser als ohnehin schon, seine Augen zierten dunkle Ringe und seine Nase leuchtete kirschrot. Zusammen mit dem Handtuch um seinen Kopf und dem viel zu großen Bademantel, in den gehüllt er auf Marvins Sofa saß, bildete er ein Abbild des Jammers. Man hätte es Schmierentheater nennen können, aber Marvin hatte darauf bestanden, dass in dem Fall der Zweck die Mittel heiligte. „Ich wurde evakuiert“, wiederholte er geduldig. „Ein Wasserrohrbruch. Es wurde alles überschwemmt.“   „Und das heißt?“, schnarrte Shannon unzufrieden. Ihre Lippen bewegten sich und Nathan konnte sich vorstellen, dass sie sich gerade eine Zigarette wünschte. Dringend.   Im Hintergrund der Bildschaltung konnte man Musik hören, die plötzlich lauter wurde. Shannons Blick glitt an ihm vorbei zu jemandem, der offenbar hinter der Kamera stand. Ihr Ton wanderte ohne Abstufungen von frostig zu keifend. „Oh nein, junges Fräulein. Du ziehst dir sofort etwas an, das mehr als 40 % deines Körpers mit Stoff bedeckt. Nein, ich bin nicht spießig. Nein, es ist mir egal, dass alle deine Freundinnen das auch so tragen. Und wage es ja nicht, so mit den Augen zu rollen. Hast du mich gehört? Hey!“   Einem wütenden Aufkreischen folgte etwas das sich verdächtig nach „Ich zieh zu Dad!“ anhörte und lautes Türknallen. Shannon fletschte die Zähne   „Ja, mach das“, rief sie ihrer Tochter hinterher. „Dein Vater und Bethany werden sich bestimmt freuen. Ihr werdet garantiert beste Freundinnen.“   Sie schnaufte und zu dem Verlangen nach einer Zigarette war anscheinend gerade eines nach einem großen Gin Tonic gekommen. Mit viel Gin und wenig Tonic. Auf Ex. Ihr feuriger Blick richtete sich wieder auf Nathan. „Kinder!“, knurrte sie. „Erst sind sie süß und knuddelig, aber wenn sie älter werden, ist es, als hättest du einen Gremlin nach Mitternacht gefüttert. Im nächsten Leben kauf ich mir einen Hund. Den kann ich wenigstens zur Adoption freigeben, wenn er mir auf den Teppich gekackt hat.“   Shannon schnaufte noch einmal, bevor sie sich wieder fing. Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. „Also gut“, wiederholte sie vollkommen sachlich. „Du wurdest evakuiert. Wegen eines Wasserschadens. Und jetzt?“   Nathan zuckte möglichst leidend mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vorerst kann ich wohl nicht in meine Wohnung zurück, bis alles trockengelegt wurde. Außerdem habe ich mich erkältet, weil ich die halbe Nacht draußen herumstand.“   Er hustete und schniefte und zog sich noch tiefer in seine Bademantelburg zurück. Shannon bleckte die Zähne. „Das heißt, du bist krank?“, fragte sie, als hätte sie gerade Nathan ganz gerne zur Adoption freigegeben. „Ja“, bestätigte er und hustete noch einmal. „Total erkältet. Aber ich kann von zu Hause aus arbeiten, keine Bange“, schob er schnell hinterher, bevor Shannons Miene sich zu sehr verfinsterte. „Den Entwurf für das Buch habe ich fast fertig und Mei kümmert sich um das Layout des Artikels. Es wird keine Verzögerungen geben. Aber wenn du …“ Er zog so laut die Nase hoch, dass Shannon angeekelt das Gesicht verzog. „Aber wenn du darauf bestehst, kann ich natürlich auch ins Büro kommen.“ „Bloß nicht!“, rief seine Chefin und rückte glatt ein Stück vom Bildschirm weg. „Ich hab Dienstag einen Termin beim Scheidungsanwalt. Da muss ich top in Form sein.“   Sie runzelte die Stirn und tippte mit ihren Fingernägeln so energisch auf der gläsernen Tischplatte herum, dass Nathan das Geräusch durch Mark und Bein fuhr.   „Na schön“, meinte sie mit einem Gesichtsausdruck, der jeden Zwei-Meter-Türsteher vor Neid hätte erblassen lassen. „Ich verlasse mich darauf, dass ich beide Entwürfe morgen pünktlich vorliegen habe. Außerdem will ich, dass du rund um die Uhr erreichbar bist. Konferenzschaltung, wenn es notwendig sein sollte. Und dein Gehalt kannst du dir für die Zeit auch abschminken, ist das klar?“   „Vollkommen klar.“ Nathan nickte ergeben, als hätte Shannon ihm gerade einen großen Gefallen getan. Dass Marvin im Hintergrund so tat, als müsse er sich übergeben, war dabei nicht gerade hilfreich. „Ich schicke dir alles noch heute Abend. Da kann nichts schiefgehen.“   „Das hoffe ich für dich“, schnappte sie und beendete ohne weitere Vorwarnung das Gespräch. Nathan starrte blinzelnd auf das Symbol des Providers und die Info, das die Verbindung unterbrochen worden war. „Sie hat es wirklich nicht so mit Verabschiedungen“, murmelte er und sah zu Marvin hoch. Der kochte offenbar innerlich.   „Ist sie weg?“, fragte er. Nathan nickte und klappte den Laptop zu. Selbiges war für seinen Freund offenbar das Startzeichen, in eine eigene Schimpftirade auszubrechen. „Wie kannst du nur für diese Frau arbeiten?“, ereiferte er sich. „Ich hab immer gedacht, du übertreibst, aber sie ist ja tatsächlich ein einziger Alptraum. Kein einziges Wort des Mitleids. Immerhin bist du quasi obdachlos und alles, was sie interessiert, ist, ob du ablieferst?“   Nathan grinste schief, bevor er sich das Handtuch von den vollkommen trockenen Haaren zog. Anschließend schälte er sich aus dem Bademantel, den Marvin aus der hintersten Ecke seines wohl gefüllten Kleiderschrank hervorgekramt hatte. Das Teil aus dickem Plüsch war unglaublich warm und obendrein kanariengelb. Marvin mochte die Farbe stehen, aber Nathan gab sie das Aussehen einer angeschimmelten Ananas. Genau das Richtige für ihren Zweck.   „Na schön“, grollte Marvin und schien dabei voller Tatendrang. „Die erste Bitch hätten wir abgefrühstückt. Stellt sich nur die Frage, was wir mit der zweiten machen?“   Nathan machte ein fragendes Gesicht. „Na, diese Katherine“, erklärte Marvin ungeduldig. „Immerhin hat sie versucht, dich umzubringen. Da müssen wir doch was tun.“   „Und was?“, fragte Nathan. Er griff nach dem Tuch, das sein Freund ihm reichte, um sich die gefakten Krankheitszeichen aus dem Gesicht zu wischen. „Was weiß ich!“, antwortete Marvin aufgebracht. „Auf jeden Fall kannst du doch nicht hier rumsitzen und warten, bis sie irgendwann an deine Tür klopft. Zumal deine Tür gerade auch meine Tür ist, wenn du verstehst, was ich meine. Wir brauchen einen Plan.“   Nathan wusste, dass sein Freund recht hatte. Gleichzeitig war das einfach zu abgefahren. Er sah Marvin zweifelnd an. „Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir hier Stacheldraht und Sprengfallen anbringen? Uns bis an die Zähne bewaffnen?“   Marvins Stirn schlug Wellen.   „Ich bin mir nicht sicher, ob Sprengfallen was nützen würden. Immerhin hörte es sich so an, als wären diese Ghule ziemlich robust. Aber vielleicht treiben wir eine Machete auf, um ihnen den Kopf abzuschlagen. Oder wir basteln uns einen Flammenwerfer. Genug Spraydosen hätte ich da.“   Gegen seinen Willen musste Nathan lachen.   „Du willst mit Haarspray auf jemanden losgehen?“   Marvin machte ein Gesicht, als habe er ihn gerade persönlich beleidigt.   „Hast du dir mal die Warnhinweise auf dem Zeug angeguckt? Wenn du mich fragst, ist das die tödlichste, frei verkäufliche Sache der Welt. Abgesehen von Kombucha Tee, natürlich. Für das Zeug bräuchte man wirklich einen Waffenschein.“   Nathan grinste. Es tat gut, Marvins Aktionismus zuzuhören. Es überspielte die unangenehmen Dinge. Die, die unter der Oberfläche lauerten. Er war überfallen worden. In seiner Wohnung. Würde er in Zukunft fünf zusätzliche Türschlösser anbringen und sich bei jedem unbekannten Geräusch fragen, ob sie wieder da waren? Und würde er überhaupt je wieder zurückkehren können?   Und will ich das überhaupt?   Die Frage ploppte einfach so in seinem Kopf auf, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Noch letzte Nacht hätte er sich vermutlich eher an sein Sofa gekettet, als sein Zuhause „für immer“ zu verlassen. Aber jetzt, da er daran zurückdachte, war da nicht mehr viel, das es zu „seinem“ Zuhause machte. Es war nur noch ein Ort, an dem er nicht mehr sicher war. Vor niemandem.   Außer vielleicht vor einem anderen Vampir.   Ezra hatte immerhin in der Mehrzahl von den blutsaugenden Gesellen gesprochen. Es musste also noch andere geben. Aber wie viele? Woher bekamen sie ihre Nahrung? Und war einer von ihnen derjenige, der die Ghule ausgeschickt hatte, um Nathan zu töten?   Aber warum? War es wirklich Ezras Schuld, dass sie mich angegriffen haben?   Die Erklärung klang einigermaßen plausibel. Die Schlussfolgerung, die sich daran anschloss, gefiel Nathan jedoch überhaupt nicht. Sie lautete nämlich, dass es schlau gewesen wäre, sich möglichst von Ezra fernzuhalten. Gleichzeitig schien er der Einzige zu sein, der Nathan wirklich helfen konnte, auch wenn Marvins Haarspray-Flammenwerfer verlockend klangen.   „Du grübelst schon wieder.“   Marvins Stimme holte Nathan zurück in die Wirklichkeit. Sein Freund hatte es sich in der anderen Sofaecke bequem gemacht und sah ihn fragend an. Nathan lächelte leicht. „Ich hab nur … ich hab darüber nachgedacht, wie es jetzt weitergeht.“   Marvins Mund wurde zu einer amüsierten Schnute. „Also wenn ich raten müsste, kamen in deinen Gedanken weniger sabbernde Untote als vielmehr sexy Vampire vor. Hab ich recht?“   Nathan senkte ertappt den Blick. Natürlich hatte Marvin recht. Aber auch wieder nicht. „Es ist … kompliziert“, sagte er ausweichend. Marvin seufzte. „Wenn ich einen Dollar hätte für jedes Mal, wenn ich diesen Satz gehört habe … Dabei ist das nicht im Geringsten kompliziert. Er ist groß, gut aussehend und er hat dir das Leben gerettet. Wäre er ein Feuerwehrmann, könnte ich an deiner Stelle auch kaum erwarten, dass er mal seinen Schlauch für mich ausrollt.“   Marvin rutschte dichter an Nathan heran. „Das Problem ist, dass der Typ gefährlich ist. Mag ja sein, dass er ein bisschen weniger verrückt ist, als wir dachten. Nicht, dass es das jetzt irgendwie besser macht, aber … Eine Beziehung mit ihm kann dich das Leben kosten. Entweder, weil er dir selber an den Hals geht oder weil das einer seiner tollen Vampirfreunde macht. Die vernaschen dich doch zum Frühstück. Oder als Mitternachtssnack. Je nachdem.“   Nathan verzog das Gesicht.   „Aber Ezra hat gesagt …“   Marvin ließ ihn nicht ausreden. „Ich hab gehört, was er gesagt hat. Du hast es mir ja Wort für Wort wiedergegeben. Aber gerade deswegen. Er hat dich gewarnt. Ein dickes, rotes Stoppschild vor deine Nase gehalten. Ich meine, wer bist du? Ein hormongesteuertes Teenagermädchen, das nicht erkennt, wenn es gerade den Fehler seines Lebens macht? Ich bitte dich, Nathan. Sei realistisch. Die Sache kann nicht gut ausgehen.“   Nathan schwieg. Er wusste, dass Marvin recht hatte. Realität bedeutete, dass er in Gefahr war. Egal, ob Ezra ihm zur Seite stand oder nicht. Und doch wäre ihm wohler gewesen, wenn er hier gewesen wäre. Wenn er ihn hätte … sehen können. Mit ihm sprechen. Ein bisschen von dem zurückhaben, von dem er vor ein paar Tagen noch behauptet hätte, dass er es ums Verrecken nicht in seinem Leben brauchte. Aber die Dinge hatten sich verändert. Er hatte sich verändert. Er konnte nicht mehr so tun, als wäre das alles nicht wahr. Als gäbe es Vampire nicht. Oder Ghule. Oder wusste der Himmel was noch alles für Viecher. Vielleicht war der knausrige Typ aus der Lohnbuchhaltung in Wahrheit ein Goblin. Oder Shannon hatte sich, nachdem sie das Gespräch beendet hatte, zurück in eine mies gelaunte Drachendame verwandelt. Wer wusste das schon?   Er hob den Kopf und sah Marvin an. „Du hast recht. Ich muss realistisch sein. Und realistisch gesehen haben wir gegen diese Ghule überhaupt keine Chance. Schon allein deswegen, weil wir sie nicht erkennen werden. Sie könnten jeder sein. Und was willst du denn machen? Willst du jedem, den du begegnest, erst mal den Puls fühlen? Oder eine Blutprobe verlangen? Ein EKG vielleicht? Nein, Marvin. Wir brauchen Ezra. Er allein kann uns helfen, diese Sache aufzuklären und das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Ansonsten werden wir niemals wieder ruhig schlafen können.“   Nathan konnte sehen, dass das, was er gesagt hatte Marvin nicht gefiel. Aber er wusste auch, dass er recht hatte. Schließlich seufzte Marvin. „Na schön, ich gebe zu, dass es hilfreich wäre, wenn er … wenn er auf unsere Seite wäre.“   „Das ist er“, versicherte Nathan sofort. Marvin schnaubte. „Und wo ist dein schwarzer Ritter auf dem untoten Pferd dann jetzt?“   Nathan atmete tief aus und sank wieder in sich zusammen. „Ich weiß es nicht“, gab er leise zu. „Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als zu warten.“   Marvin verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. „Also wenn das deine Strategie ist, gehe ich lieber mal meine Haarspray-Vorräte checken. Nur für alle Fälle.“   Er erhob sich und Nathan sah ihm nach, wie er in Richtung Schlafzimmer verschwand. „Ich hab nur welches mit pinkem Glitter“, hörte man ihn rufen, nachdem mehrere Dosen hell gegeneinander geklirrt hatten. „Meinst du, das geht auch?“   Nathan schüttelte lächelnd den Kopf, während Marvin weiter überlegte, wie man einem rasenden Untoten am besten den Garaus machen konnte.   Aber ein Problem nach dem anderen.   Langsam öffnete Nathan seinen Laptop, der auf dem Couchtisch immer noch leise vor sich hinsurrte. Er öffnete das Dokument mit dem Vorwort und überflog den Text, bis er zu dessen vorläufigen Schluss kam. Dort setzte er den Cursor in eine neue Zeile und schrieb:   „In diesem Buch möchte ich dir einige Rezepte ans Herz legen, die selbst ausprobiert habe. Es braucht dafür nicht viel Geschick und keine unendliche Reihe an teuren, exotischen Zutaten. Nur den Mut, einfach anzufangen. Also lass es uns wagen. Lass uns zusammen kochen.“   Als er den Punkt am Ende setzte, zögerte er. War es das jetzt? Würde dieser Text die Leute dazu bringen, sein Buch lesen zu wollen? Von seiner Großmutter hatte er geschrieben, seinen ersten Kochversuchen bis hin zu der Erkenntnis, dass Kochen mehr beinhalten konnte, als nur Beilagen um ein Stück Fleisch zu drapieren.   Stirnrunzelnd las er sich diesen Teil noch einmal durch und löschte ihn schließlich. Das Vorwort sollte ja nicht zu lang werden und er wollte nicht, dass sich jemand verurteilt fühlte. Er wollte vielmehr, dass das Vorwort sich wie eine ausgestreckte Hand anfühlte. Eine, die man ergreifen konnte, um gemeinsam einen Weg zu gehen.   Du bist verrückt.   Vermutlich würden das Shannon und Robert ebenfalls so sehen. Vielleicht aber auch nicht. Und selbst wenn. Das hier war sein Buch. Seine Worte. Etwas, das er geschrieben hatte. Und wenn es den Leuten nicht gefiel, dann war das eben so. Er würde es nicht ändern, um das zu erreichen. Dieses Mal nicht.   Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, fügte er den Text in das Exposé ein, schrieb eine kurze Mail an Shannon, fügte die Datei an und rückte auf Senden. Der Computer brauchte eine Weile, bis er die enorme Datenmenge verarbeitet hatte, aber dann wurde Nathan angezeigt, dass der Text erfolgreich auf die Reise geschickt worden war. Ihm war schlecht, sein Herz klopfte wie wild und gleichzeitig wusste er, dass das hier genau das Richtige gewesen war.   Jetzt muss ich nur noch die 73 anderen Baustellen in meinem Leben in den Griff kriegen.   Während er das dachte, glitt sein Blick unwillkürlich zum Fenster. Draußen wurde es bereits dunkel und mit der Dunkelheit kam erneut die Furcht. Ezra hatte gesagt, dass er sich um die Sache mit den Ghulen kümmern würde. Aber wie lange würde das dauern? Wann würde er zurückkommen? Und vor allem: Wo war Ezra gerade?     Das Haus mit den roten Ziegelwänden und dem auffälligen Dacherker residierte ein wenig abseits der Straße. Das es umgebende Weideland, das einst von hunderten von Schafen bevölkert gewesen war, lag zum größten Teil brach oder wurde anderweitig genutzt. Die Erfindung der Kunstfaser hatte die Nachfrage nach Wolle mit den Jahren immer mehr zurückgehen lassen. Aus diesem Grund hatte die Familie, die hier einst gelebt hatte, ihren Besitz schlussendlich verkauft. Ein anonymer Käufer aus dem Ausland hatte ihnen eine unglaubliche Summe geboten und so waren sie weggezogen, hatten das Haus verschlossen und es mitsamt seinem Garten dem Schicksal überlassen, dass der neue Besitzer ihm zugedacht hatte.   Ein Scheinwerferpaar kam die enge Zufahrtsstraße entlang. Der Wagen, zu dem es gehörte, hielt an und ein Mann stieg aus. Langsam ging er auf das Haus zu.   Es war dunkel ringsum, nichts regte sich, nur der Wind in den Bäumen rauschte und irgendwo piepste eine unvorsichtige Maus, bevor sie wieder in den Schatten verschwand. Ezra holte tief Luft. Es schien ihm, als könnte er freier atmen. Der Geruch von Gras und aufblühendem Flieder lag in der Luft. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Zu lange vielleicht. Das Haus war ein wenig verfallen, die Türen und Fensterrahmen benötigten dringend einen neuen Anstrich. Er konnte förmlich die Stimme seiner Mutter hören, wie sie seinen Vater deswegen die Hölle heiß machte, woraufhin er nur ein „Mache ich später“, brummte, bevor er sich wieder in den Stall verzog. Fenster konnte man schließlich warten lassen, die Tiere nicht. Am Ende hätte er wohl Ezra und seinen kleinen Bruder geschickt, um Farbe und Pinsel zu besorgen, und seine Mutter hätte wieder einmal gesagt, wie froh sie doch war, ihre Jungs zu haben.   Und natürlich hätte Emily protestiert, dass sie auch helfen wollte. Aber Mutter hätte sie ins Haus gescheucht, um ihr Nähen, Waschen und Kochen beizubringen. Und Emily hätte es gehasst. Die Erinnerung an seine Schwester ließ ein kleines Lächeln auf Ezras Gesicht erscheinen. Sie hatte nie recht ins Bild gepasst, ebenso wie er. Als sie gestorben war, war er zur Beerdigung gegangen. Weit entfernt von den anderen Trauergästen hatte er gestanden und zugesehen, wie die alte Frau, in die sich das kleine Mädchen in seiner Abwesenheit verwandelt hatte, zu Grabe getragen worden war. Inzwischen kannte niemand mehr seinen Namen und das war gut so.   Mit einem Seufzen wandte er sich ab und ging um das Haus herum. Auf der Rückseite die alte Eiche. Emily war immer am höchsten hinaufgeklettert. So hoch, dass ihre Mutter Angst gehabt hatte, sie könnte hinunterstürzen. Aber Emily hatte nur gelacht. Und sie hatte Ezra zugerufen, dass er zu ihr kommen sollte. Aber er hatte sich nie weiter getraut als bis zur Hälfte des Baums. Irgendwann einmal hatte der Blitz in den Baum eingeschlagen. Ihr Vater hatte den verletzten Riesen dann immer mal fällen wollen, aber die Jahre waren ins Land gegangen, ohne dass etwas passiert war. Inzwischen war die von den Naturgewalten geschlagene Wunde vernarbt, das Holz darunter rissig und grau. Wie ein Mahnmal an ein vergangenes Unglück. Aber der Baum stand immer noch hier. Er war noch da, während die Kinder, die zu seinen Füßen und in seinen Zweigen gespielt hatten, verschwunden waren. Alle bis auf eines.   Aber deswegen bin ich nicht hier.   Nachdem er das Haus gekauft hatte, war er ein paar Mal hierher gekommen. Er hatte in den alten Räumen übernachtet und den Geistern der Vergangenheit gelauscht, bis er schließlich beschlossen hatte, sie hinter sich zu lassen, zusammen mit einem weiteren. Einem, der nicht hierher gehörte und dem er nichtsdestotrotz hier eine Heimat gegeben hatte. Einen Ort, an den er kommen konnte, um sich an sie zu erinnern. Und ein Grab, auch wenn es leer war bis auf eine Kleinigkeit. Ezras Schritte wurden langsamer, als er auf die Stelle zuging, an die er den Stein gesetzt hatte. Ohne Namen, ohne Datum. Nicht viel mehr als eine einfache Steinplatte mit einer Rose darauf. Elisabeth hatte Rosen geliebt. Ihren Duft, ihre Farben und selbst die Dornen, die sie trugen. Sie hatte stets gesagt, dass sie es mochte, dass die Rose sich zu wehren wusste und nicht so einfach zu brechen war. Dass sie stark war und schön, die Königin aller Blumen. Und Ezra hatte gewusst, dass Elisabeth selbst so eine Königin gewesen war. Wild, frei und ebenso unbezähmbar wie der Wind an einem Frühlingstag.   Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Stelle, an der die Platte hätte liegen sollen, war dunkel. Viel dunkler, als sie es hätte sein sollen. Die Erde war aufgewühlt, beiseite geworfen, die Steinplatte selbst lag abseits und war mitten hindurchgebrochen. An ihrer Stelle klaffte ein Loch im Boden. Ezra ließ sich an seinem Rand in das feuchte Gras sinken.   Nein. Nein, das kann nicht sein!   Er streckte seine Hände aus, fuhr mit den Finger, durch die lose Krume. Schmutz und Erde hafteten an seiner Haut und unter seinen Fingernägeln, aber das, was er zu ertasten gehofft hatte, fand er nicht. Immer tiefer, immer schneller grub er in der Hoffnung, dass er vielleicht noch auf etwas stoßen würde. Dass er sich nur geirrt, die Entfernung falsch eingeschätzt hatte. Aber es war vergeblich. Das, was er einst hier begraben hatte, war nicht mehr da. Das samtrote Kästchen mit dem Medaillon und der langen, silbernen Kette war verschwunden.     „Und du denkst, du schaffst das?“   Marvin war bereits angezogen und kurz davor, das Haus zu verlassen, aber seine Sorge um Nathan ließ ihn immer noch zögern. „Natürlich schaffe ich das“, versuchte Nathan seinen Freund zu beruhigen. „Ich werde es mir auf deiner Couch gemütlich machen und mich den ganzen Tag nicht von dort wegbewegen. Versprochen.“   „Auch nicht wenn …“ „Nein, auch dann nicht. „Oder wenn …“ „Mhm-mhm.“ „Aber was ist, wenn …“   Nathan schnaubte. „Meine Güte, Marvin. Du hast doch selbst gesagt, dass du nicht meine Nanny bist. Dann verhalte dich auch nicht so. Du musst zur Arbeit und ich werde schon klarkommen. Ich meine, wer bin ich? Schneewittchen? Und wie groß schätzt du die Chance ein, dass eine alte Hexe hier vorbeikommt und mir vergiftete Äpfel andrehen will?“   Marvin schürzte die Lippen. „Äpfel nicht, aber wenn sie dir mit Okras, Rambutan und Bittermelonen kommt, wirst du vielleicht nicht Nein sagen können. Ich kenne dich doch.“   Nathan lachte und schob Marvin entschlossen in Richtung Ausgang. „Ich verspreche dir, dass ich diese Tür nicht aufmachen werde. Egal, wer davor steht. In Ordnung?“   Marvin schien nicht überzeugt, gab dann aber nach.   „In Ordnung. Aber ruf mich an, wenn sich was wegen deines Buches ergeben hat. Ich will wissen, wie die Verhandlungen laufen. Und melde dich bei Jomar. Immerhin denkt er immer noch, dass ihr übermorgen verabredet seid und wer weiß, was bis dahin passiert.“   Nathans Lächeln geriet in eine leichte Schieflage, aber er versprach es und bugsierte Marvin damit endgültig nach draußen. Danach schloss er ab und legte den Riegel vor. Er war sich zwar nicht sicher, ob das im Fall der Fälle gegen die Ghule helfen würde, aber es gab ihm immerhin eine Illusion von Sicherheit. Anschließend verzog er sich, wie er es Marvin versprochen hatte, auf die Couch um fernzusehen.   Etwa eine halbe Stunde später kündigte ein dumpfes Summen seines Laptops einen Bildanruf an. Schnell überprüfte Nathan noch einmal den Sitz seines Make-ups, bevor er annahm. Shannons Gesicht erschien und sie sah absolut angepisst aus. „Warum hat das so lange gedauert?“, fauchte sie statt einer Begrüßung. Nathan rang sich ein Lächeln ab.   „Ich war im Badezimmer“, log er, ohne rot zu werden. Wobei man das unter der Schicht Talkumpuder auf seinem Gesicht vielleicht gar nicht gesehen hätte. Shannon würdigte seine Entschuldigung keiner Erwiderung, sondern drehte ihren Bildschirm so, dass er auch den Rest der Gesprächsteilnehmer sehen konnte. „Nathan wäre dann da. Wir können anfangen“, bemerkte Shannon spitz, bevor sie wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm. Neben ihr saß Robert und machte ein ernstes Gesicht. Nathan rutschte das Herz in die Hose, als er sich räusperte.   „Also Nathan, erst einmal möchte ich dir mein Bedauern aussprechen. Wir haben schon ein Sammelglas aufgestellt und die Kollegen spenden fleißig, damit du deine ruinierten Möbel ersetzen kannst. „Oh, äh …“, machte Nathan verblüfft. „Das wäre aber wirklich nicht notwendig …“ Robert hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.   „Doch, doch, das ist notwendig. Du kannst jetzt alle Hilfe brauchen, die du kriegen kannst und ich möchte, dass du weißt, dass wir uns alle hier als große Familie sehen.“   Er lächelte und Nathan wurde ein wenig warm unter dem großen Schal, den er sich heute um den Hals gebunden hatte. Immerhin hatte er niemanden anlügen wollen. Zumindest nicht so.   Robert hingegen fuhr ungerührt fort. „Da das Ganze aber natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist und du ja auch in Zukunft dein Brot verdienen musst, wollen wir uns nun deinem Entwurf zuwenden.“   Nathans Herz rutschte ihm in die Hose. Wie hatte Robert das Exposé gefallen? Und Shannon? Würde sie ihn fertigmachen? Mei an seinen Bilder und der Seitenaufteilung herumkritteln? Würden sie die ganze Sache abblasen, weil es ihnen mit Nathan als unbekanntem Novum doch zu heikel war?   Robert machte ein ernstes Gesicht. Das machte die Sache nicht wirklich besser.   „Ich muss sagen, dass ich wirklich recht angetan war“, begann er jedoch. Nathan horchte auf. „Die Aufmachung mit den Fotos zu den verschiedenen Arbeitsschritten gefällt mir. Allerdings sollte das Endprodukt präsenter sein. Mei hat deswegen den Vorschlag gemacht, die Einzelfotos als kleinen Streifen am Rand des Rezepts zu platzieren und stattdessen eine ganze Seite für das fertige Gericht zu reservieren. Foodporn, du verstehst? Ich muss die Sache zwar noch mit den Editoren zusammen durchrechnen, aber ich denke wirklich, dass das Konzept aufgehen könnte. Aber was mich wirklich umgehauen hat, war dein Vorwort. Es war so … echt. Als hättest du einen Brief an einen Freund geschrieben.“   Nathan wusste nicht recht, wie er jetzt reagieren sollte. War das jetzt ein Lob oder …?   „Langer Rede, kurzer Sinn: Wir machen es.“   Nathan blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Hatte er sich gerade verhört? „Im Ernst, jetzt?“, rutschte es ihm heraus. Seine Hände begannen zu zittern, sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb und er hatte das Gefühl, gleich einen Luftsprung machen zu müssen. Einzig die Tatsache, dass er ja den armen Kranken spielte und sich obendrein vermutlich vollkommen lächerlich gemacht hätte, hielt ihn davon ab. Sie wollten sein Buch drucken. Sie wollten es D R U C K E N!   Robert grinste und auch Shannon gönnte ihm ein ehrliches Lächeln. Nathan konnte es immer noch nicht glauben. „Natürlich kommt noch jede Menge Arbeit auf uns zu. Wir werden auch noch den Erfolg des Artikels abwarten und wir brauchen bessere Fotos, eine komplette Rezeptliste, wir müssen die ganzen Sachen testkochen lassen … Aber alles in allem: Herzlichen Glückwunsch.“   „Danke!“   Nathan wusste kaum, wo ihm der Kopf stand. Wie im Traum bemühte er sich, der Konferenz zu folgen, in der der komplette Inhalt des Buches durchgekaut und auf Herz und Nieren überprüft wurde. Man entschloss sich, noch ein Glossar für die wichtigsten Zutaten einzuführen und ein Kapitel über grundsätzliche Küchenpraktiken. „Dann brauchen wir das in den Rezepten nicht immer zu wiederholen“, erklärte Robert und von Mei kam gleich der Vorschlag, auch diese Erklärungen mit einer Art Filmstreifen zu unterlegen. So entstand nach und nach ein fertiger Entwurf und Nathan merkte gar nicht, wie die Zeit verging, bis Robert irgendwann zu einer Mittagspause aufrief. „Mal die grauen Zellen lüften“, schlug er vor. „Und etwas essen nach all den schmackhaften Köstlichkeiten, die wir hier die ganze Zeit vor der Nase haben. Nathan sieht außerdem so aus, als müsse er sich dringend mal hinlegen. Er glüht ja regelrecht.“   Nathan, der zwischendurch vollkommen vergessen hatte, dass er ja „krank“ war, hustete demonstrativ. „Ja, genau. Ich bin auch schon ganz heiser. Aber ihr könnt mich jederzeit anrufen, falls irgendwas ist.“ „Machen wir“, versprach Robert noch, bevor Shannon mal wieder die Verbindung kappte, ohne sich zu verabschieden.   Vollkommen fertig, aber gleichzeitig überglücklich lehnte Nathan sich zurück. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er würde wirklich ein Buch veröffentlichen. Sein Name würde darin zu lesen sein, sein Foto auf der Rückseite oder in so einem kleinen Lebenslauf am Ende des Buches.   Ich werde berühmt.   Nun ja, vielleicht nicht gleich berühmt. Aber so ein bisschen. Vielleicht. Hoffentlich.   Nathan wollte sich gerade noch ein wenig in dem Gedanken ergehen, als plötzlich das Telefon klingelte. Er nahm ab und erhielt sogleich einen Anranzer. „Ich sitze hier wie auf heißen Kohlen, weil du dich nicht meldest“, beschwerte sich Marvin vom anderen Ende der Leitung. „Was ist los bei dir? Irgendwelche ungebetenen Gäste oder Neuigkeiten aus dem Verlag?“ „Sie machen es“, wiederholte Nathan Roberts Worte und musste im nächsten Moment den Hörer weit vom Ohr weghalten, weil seine Ohren von Marvins Jubelschrei widerhallten. „Oh man, das ist so klasse“, plapperte sein Freund, nachdem er aufgehört hatte in den höchsten Tönen zu quietschen. „Ich freu mich unheimlich für dich. Das müssen wir feiern. Gleich heute. Ich bring was zu Essen mit.“   Nathan machte ein unbestimmtes Geräusch. „Also wenn du was einkaufst, könnte ich auch …“   „Ach papperlapapp“, unterbrach Marvin ihn. „Für heute hast du genug erreicht. Du musst nicht auch noch kochen. Wie wäre es, wenn ich auf dem Heimweg bei 'Ophir' vorbeigehe? Du liebst das Shakshuka von da.“   Prompt begann Nathans Magen zu knurren. Er hatte bestimmt seit Stunden nichts gegessen. „Okay“, stimmt er zu und fügte lachend hinzu: „Aber nur, wenn du auch Baklava mitbringst. Ich steh auf diesen Süßkram.“   „Was man dir gemeinerweise überhaupt nicht ansieht“, jammerte Marvin, versprach aber trotzdem, alles zu besorgen. Als sie auflegten, fühlte Nathan sich gut. Erstaunlich gut, wenn man bedachte, was in der vorletzten Nacht passiert war.   Aber wir kriegen das hin, beschloss er und ballte unbewusst die Hand zur Faust. Gemeinsam kriegen wir das hin. Kapitel 13: Genug ist genug --------------------------- In Nathans Mund breitete sich ein unglaublicher Geschmack aus. Süß, reich, vollmundig, mit einem Hauch Zitrone, Mandeln und Pistazien. Dazwischen: Gewürze. Er konnte sie nicht alle zuordnen, aber die Mischung passte hervorragend zu dem vielschichtigen Filoteig, der trotz des vielen Sirups, mit dem er getränkt worden war, immer noch eine gewisse Knusprigkeit besaß. Eine atemberaubende Mischung aus saftiger Nachgiebigkeit und genau dem richtigen Crunch. Das perfekte Mundgefühl. Eine Sinfonie aus Geruch, Geschmack und Textur, die seine Sinne vernebelte. Nathan stöhnte leise. Das war einfach zu gut. Wenn er doch nur dieses Gewürz erkennen würde, dann könnte er …   Ein strenger Blick traf ihn von Marvins Seite des Tisches. Nathan hörte auf zu kauen. „Warum hast du Jomar nicht angerufen?“   Er klang nicht anklagend und doch sprang Nathans schlechtes Gewissen sofort darauf an. „Weil … äh“, stammelte er und hätte sich beinahe an seinem Stück Baklava verschluckt. Mit knapper Not schaffte er es, nicht daran zu ersticken und spülte seinen Nachtisch eilig mit einem Schluck heißem Pfefferminztee herunter.   „Weil ich seine Nummer nicht habe“, rechtfertigte er sich. „Mein Telefon ist doch kaputt, also …“   „Ausrede!“   Marvin ließ den Löffel sinken, den er gerade noch in einer Portion Malabi versenkt hatte. Roter Granatapfelsirup tropfte von der milchweißen Puddingmasse zurück in die Schüssel.   „Du zögerst das Unvermeidliche nur heraus.“   Nathan senkte den Kopf und seufzte. „Ja, ich weiß. Aber ich weiß einfach nicht, was ich ihm sagen soll.“ „Bist du interessiert?“   Marvins Stimme war immer noch frei von Vorwürfen, aber die Frage ließ Nathan trotzdem unbehaglich hin und her rutschen. Da war so viel, was in seinem Leben momentan drunter und rüber ging, dass er einfach nicht wusste, was er darauf antworten sollte. Vielleicht wenn die Dinge anders gelegen hätten. Wenn da nicht dieser gewisse Vampir gewesen wäre. Oder die Ghule, die ihn umbringen wollten. Er war sich sicher, dass es dann anders ausgesehen hätte. Aber so …   „Also nicht.“   Nathan schüttelte den Kopf, obwohl das nicht die ganze Wahrheit war. Er war ja interessiert, es war nur …   „Dann sag ihm genau das. Es ist nicht fair, ihn noch länger hinzuhalten.“   Nathan starrte weiter auf den Baklavakrümel am Boden seines Teeglases. Natürlich hatte Marvin recht. Es war nicht richtig, Jomar immer noch in dem Glauben zu lassen, dass das mit ihnen etwas werden könnte. Obwohl Nathan sich wünschte, dass es so gewesen wäre. Jomar war nett. Zuvorkommend, höflich, aufmerksam. Mit Sicherheit ein guter Liebhaber und zudem noch charmant und witzig. Gut aussehend. Er war der perfekte Partner. Jemand, mit dem man sein Leben verbringen konnte. Lieben, streiten, sich versöhnen. Ihn seinen Eltern vorstellen und einen gemeinsamen Urlaub verbringen. Weihnachtsgeschenke austauschen. Sich darüber in die Haare kriegen, wem welche Unterwäsche gehörte und in welcher Farbe das Schlafzimmer gestrichen werden sollte. Alltag eben. Nathan konnte es förmlich vor sich sehen und es war gut. Unheimlich gut. Und irgendwie war es auch das, was er wollte, nur … da gab es eben dieses Mehr. Dieses Was wäre wenn, das ihn nicht losließ und an seinem Herzen zog, wann immer er daran dachte. Es war dieses Gefühl, dieses sehnsüchtige Verlangen, das ihn zögern ließ. Viel zu lange zögern.   Marvin seufzte. „Na gut, ich werde es dir einfach machen. Ich rufe jetzt Felipe an und besorge mir Jomars Nummer. Danach rufe ich ihn an und gebe dir den Hörer. Einverstanden?“   Nathan hätte gerne protestiert, aber in Ermangelung einer vernünftigen Alternative nickte er nur. Marvin lächelte ihn aufmunternd an. „Keine Bange, du schaffst das. Sag ihm einfach, dass du noch nicht so weit bist.“ Wieder nickte Nathan. Es war wohl besser, Jomar nicht im Detail zu erklären, was gerade in seinem Leben abging. Dabei hätte alles so einfach sein können. So glatt und einfach.     Mit halbem Ohr hörte er zu, wie Marvin Felipes Nummer wählte und ein Gespräch mit ihm begann. Auch, dass sein Freund im Schlafzimmer verschwand und die Tür halb hinter sich zuzog, bekam er mit.   Ich sollte vielleicht den Tisch abräumen, dachte er und blieb dennoch sitzen. Es war, als warte er auf etwas. Auf eine Art Startschuss. Ein Geräusch, das …   Es klopfte.   Nathan schrak hoch und starrte in Richtung Tür. Hatte er sich gerade verhört?   Im Nebenzimmer sprach Marvin immer noch mit Felipe. Seine Stimme war eine Nuance höher gewandert. Er lachte. Die beiden redeten offenbar nicht über ihn und Jomar.   Noch einmal klopfte es.   Nathan erhob sich und blieb nach zwei Schritten unschlüssig stehen. Er wusste, dass das hier ein Riesenfehler war. Er sollte diese Tür nicht öffnen. Er sollte Marvin holen und sich bewaffnen. Sein Blick blieb an einem Schirm hängen, der an der Garderobe neben dem Eingang deponiert war. Es war eine denkbar dürftige Waffe, aber das Beste, was gerade in Reichweite war. Also griff er danach und streckte dann die Hand nach dem Türknauf aus. Auf der anderen Seite war nichts zu hören.   Sollte ich fragen, wer da ist?   Mit Sicherheit wäre das schlau gewesen. Andererseits: Welche Möglichkeiten gab es denn? Es könnte einer von Marvins Nachbarn sein, der sich etwas Milch oder ein paar Eier ausborgen wollte. Nathan verzog das Gesicht. Ob Katherine ihn bereits gefunden hatte?   Aber die würde doch nicht klopfen. Außer vielleicht, um Aufmerksamkeit zu vermeiden. Es sei denn …   Immer noch starrte er den Türknauf an, als wäre er eine giftige Schlange. Und er verwünschte Marvins Hausverwaltung dafür, dass es hier keine Türspione gab. Wobei kein Lichtschein unter der Tür durch drang. Er hätte also vermutlich gar nichts erkennen können, selbst wenn es ein Guckloch gegeben hätte.   Ich muss nachsehen.   Mit unendlicher Langsamkeit näherte Nathan sich der Tür. Er streckte die Hand aus, drehte den Kopf, die Tür sprang ihm entgegen und …   Marvins Schirm polterte zu Boden.   „Ezra!“   Ezra stand einen guten Meter von der Tür entfernt. Seine Umrisse hoben sich nur schwach von der ihn umgebenden Dunkelheit ab. Trotzdem wusste Nathan sofort, wen er vor sich hatte. Sein Herz machte einen Satz.   „Bist du allein?“   Die Frage brachte Nathan aus dem Konzept. Er war sich sicher, dass nicht nur er Marvin im Hintergrund hören konnte. Oder meinte Ezra etwas anderes damit? Was sollte er antworten?   „Wie? Äh … nein“, brachte er schließlich stotternd hervor. „Nein, ich … Marvin ist auch da. Er telefoniert gerade. Mit Felipe. Der Große, der letztens auch hier war. Du erinnerst dich?“   Ezra nickte knapp. Jetzt, da seine Augen sich langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fiel Nathan auf, dass er blass war. Blasser als sonst. Da war eine Härte in seinen Zügen, eine Statuenhaftigkeit die vorher nicht da gewesen war. „Ist alles in Ordnung?“ Kaum, dass er die Frage gestellt hatte, hätte er sie gerne wieder zurückgenommen. So wie Ezra aussah, war nichts in Ordnung. Nathan spürte es. Wie die Schwingungen eines zu straff gespannten Gummibandes. Was war hier los? „Ich würde das lieber nicht hier besprechen.“   Ezras Stimme war bemüht. Höflich. Distanziert. So ganz anders, als Nathan es sich vorgestellt hatte. Und doch. Er war wieder da. Das war doch ein gutes Zeichen, oder nicht? „Ich … ich kann Marvin fragen, ob du reinkommen kannst. Wenn du möchtest. Also ich meine … Möchtest du?“   Der letzte Satz klang selbst in Nathans Ohren viel zu hoffnungsvoll. Falls es Ezra aufgefallen war, ließ er sich jedoch nichts anmerken. „Ja, bitte“, antwortete er im gleichen Tonfall wie zuvor. Nathans Mundwinkel zuckten. „O-okay. Ich hole ihn.“   Den Blick immer noch auf Ezra gerichtet lief er los und wäre fast gegen den Türrahmen geknallt. Gerade noch rechtzeitig bekam er die Kurve, umschiffte das Hindernis und prallte im gleichen Atemzug um ein Haar mit Marvin zusammen, der mit dem Telefon am Ohr aus dem Schlafzimmer kam. Vollkommen entgeistert sah er erst Nathan an und dann in die Richtung, aus der er gekommen war. Im nächsten Moment zuckte er zusammen. „Jomar?“, fragte er und machte ein Gesicht wie ein Premieren-Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte. Nathan und wedelte hektisch mit den Händen in der Luft herum. Er konnte jetzt unmöglich mit Jomar sprechen.   „Ja, äh … hier ist Marvin“, stammelte sein Freund weiter. „Was für ein Zufall, dass du auch da bist. Weißt du, Nathan steht nämlich gerade neben mir und …“   „Sag ihm, ich ruf wieder an“, zischte Nathan so laut, dass Jomar es vermutlich gehört hatte. Marvin wirkte irritiert. „Ja, also ich glaube, es passt gerade nicht so gut. Er hat sich verschluckt. Auf dem Klo. Bye!“   Endlich drückte Marvin auf den roten Hörer. Er wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Nathan bereits mit den Neuigkeiten herausplatzte. „Ezra ist da.“   „Ezra?“ Sein Freund riss die Augen auf. „Wo?“   „Vor der Tür!“   Nathan konnte nicht behaupten, dass Marvin aussah, als würde ihn das irgendwie beruhigen. Eher im Gegenteil. „Scheiße! Und jetzt?“   Nathan zuckte mit den Achseln. „Du hast gesagt, du lässt ihn rein.“   Eigentlich hatte Marvin das nicht wirklich versprochen. Er hatte nur gesagt, dass Ezra nützlich sein könnte. Dankenswerterweise verzichtete Marvin jedoch darauf, Nathan auf diesen kleinen aber feinen Unterschied hinzuweisen. Er drückte seinem Freund lediglich das Telefon in die Hand und stapfte in Richtung Flur. In der Tür blieb er stehen. Nathan, der hinter ihm kam, konnte sehen, dass Ezra immer noch an derselben Stelle stand, an der er ihn zurückgelassen hatte. Es sah aus, als hätte er nicht einmal geblinzelt. „Guten Abend“, sagte er ein wenig steif.   Marvin schnaufte. Nathan hörte ihn etwas murmeln, das verdächtig nach 'Der hat echt die Eier, hier wieder aufzutauchen' anhörte, bevor er sich straffte und Ezra herausfordernd anfunkelte. „Du willst also hier rein?“, fragte er lauernd. Ezras Miene blieb unbeweglich. „Wenn es keine Umstände macht, ja.“   Marvin blies hörbar die Backen auf.   „Umstände?“, wiederholte er gedehnt. „Tja, ich weiß nicht. Hast du wieder vor, diesen Vampir-Hokuspokus mit mir abzuziehen? Denn dann werde ich dich nämlich nicht reinlassen.“   Auch jetzt bewegte Ezra keinen Muskel.   „Ich könnte dir versprechen, dass ich es nicht tun werde“, sagte er in neutralem Tonfall. „Das würde dir jedoch keinerlei Garantie geben. Allerdings hoffte ich, in Zukunft darauf verzichten zu können. Zu unserem gegenseitigen Benefit.“   Marvin schnaufte.   „Das heißt also, ich muss mich darauf verlassen, dass du uns nichts antust?“   Dieses Mal blieb Ezra die Antwort schuldig. Nathan hielt unwillkürlich den Atem an. Würden sie sich vertragen?   Marvin schnaufte noch einmal, dann seufzte er. „Also meinetwegen. Du kannst reinkommen.“ „Vielen Dank.“   Ezra zögerte noch einen Moment, bevor er tatsächlich über die Türschwelle kam. Er bückte sich nach dem Schirm, den Nathan fallen gelassen hatte, hob ihn auf, trat durch die Tür und schloss sie. Fragend deutete er auf die Garderobe. „Dort?“   Marvin nickte und Ezra hängte den Schirm an einen der Haken. Danach drehte er sich zu ihnen herum.   Nathan musste zugeben, dass die Situation noch viel seltsamer war, als er es sich vorgestellt hatte. Allein das Bild, wie Ezra in schwarzem Mantel und Anzug in Marvins bunt gefülltem, immer leicht vollgestopft wirkenden Vorflur stand, war so absurd, dass Nathan beinahe gelacht hätte. Allerdings nur beinahe. „Wollen wir … ins Wohnzimmer gehen?“   Er versuchte locker zu klingen, aber er war es nicht; ebenso wenig wie die beiden anderen. Während Marvin ein Stück zurückwich und sich neben ihn drängte, blieb Ezra einfach stocksteif stehen. Er wies lediglich auf die Tür, in der Nathan und Marvin gerade standen. „Ich nehme an, das ist dort?“   Nathan nickte. Erst im nächsten Augenblick wurde ihm bewusst, dass Ezra gar nicht ins Wohnzimmer gehen konnte, weil er und Marvin die Tür blockierten. Kurzerhand fasste er seinen Freund am Arm und zog ihn nach drinnen. Ezra folgte ihnen. Als sein Blick auf das Chaos auf dem Tisch fiel, runzelte er die Stirn. Hitze kroch in Nathans Gesicht.   „Wir haben gerade gegessen“, erklärte er. „Die … das … ich hab noch nicht abgeräumt.“   Er wollte anfangen, die Papierpackungen und Plastiktüten zusammenzuklauben, aber Ezra hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. „Nicht notwendig, ich bleibe nicht lange.“   Nathan erstarrte. Er sank gegen die Lehne von Marvins ausgefranster Couch und blieb dort wie angenagelt sitzen. Marvin, der das Ganze beobachtet hatte, schickte Nathan einen fragenden Blick. Unauffällig schüttelte der den Kopf. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.   Ezra ging noch ein paar Schritte in den Raum hinein. Kurz vor dem Fenster blieb er stehen, drehte sich zu ihnen herum. Sein Gesicht wirkte wie aus Eis geschnitzt.   „Ich bin gekommen, um dir mitzuteilen, dass deine Wohnung wieder hergerichtet ist. Ich würde allerdings Abstand davon nehmen, dorthin zurückzukehren. Die Gefahr, dass sie überwacht wird, ist zu groß.“   Nathan nickte leicht. Im Grunde hatte er sich das schon gedacht, aber … „Für wie lange?“   Ezra wich seinen Blick aus. Oder vielleicht sah er auch einfach nur nicht hin. „Ein Jahr. Vielleicht zwei oder drei. Je länger, desto besser.“   Nathan blieb die Spucke weg. Damit hatte er nicht gerechnet.   „Aber … wo soll ich denn dann wohnen? Ich kann doch unmöglich so lange auf Marvins Couch schlafen.“   Marvin nickte dazu. Ezras Blick streifte Nathan, bevor er wieder zu einem anderen Ort glitt. Schlussendlich blieb er an Marvin hängen, der daraufhin sichtbar nervös wurde. „Ihr solltet beide gehen. Verlasst die Stadt. Das Land, wenn ihr könnt. Ich hatte es Nathan schon einmal gesagt, aber auf mich wollte er nicht hören. Vielleicht hast du mehr Glück als ich.“   Marvin sah zuerst Ezra an, dann Nathan und wieder zurück. „Das ist ein Scherz oder? Ihr verarscht mich.“ „Ich mache keine Scherze. Ezra klang immer noch vollkommen regungslos. Nathan konnte es einfach nicht glauben.   „Aber … warum?“, stammelte er. „Du hast doch gesagt, du kümmerst dich. Warum sollen wir jetzt fliehen?“   Ezra sah ihn immer noch nicht an.   „Es haben sich einige … Schwierigkeiten ergeben. Wenn ihr wollt, kann ich euch über die Grenze bringen. Das ist alles.“   Niemand sagte etwas. Alle schwiegen, bis Marvin es endlich nicht mehr aushielt. „Also das kannst du mal ganz gepflegt vergessen. Ich gehe nirgendwohin und Nathan auch nicht.“   Ezras Miene bewegte sich nicht einen Millimeter.   „Geht. Oder bleibt. Es ist eure Entscheidung.“   Marvin gab einen abfälligen Laut von sich. „Unsere Entscheidung?“, echote er. „Dass ich nicht lache. Du kommst hier an, stehst ganz mysteriös in der Gegend rum, dass man sich fast in die Hose macht vor Angst, und dann faselst du irgendwas davon, dass wir das Land verlassen sollen? Ich meine, geht’s noch?“   Marvin stemmte die Hände in die Hüften. Seine Augen funkelten wie eine wild gewordene Diskokugel. Ezra beeindruckte das nicht.   „Ich habe euch meine Hilfe angeboten. Wenn ihr sie nicht wollt, liegt das nicht in meiner Verantwortung.“   Mit diesen Worten schickte er sich an, an Marvin vorbei in Richtung Tür zu gehen. Der reagierte prompt so, wie Nathan befürchtete. Er stellte sich Ezra in den Weg. Ezra blieb stehen. „Lass mich durch“, knurrte er. Marvin rührte sich nicht. „Befiehl es mir doch“, forderte er und reckte das Kinn angriffslustig in die Luft.   Ezra presste die Kiefer aufeinander. Sein Blick bohrte sich in Marvins, doch der wich keinen Millimeter zur Seite. Schließlich gab Ezra auf. Er wandte den Kopf ab. „Du hast keine Ahnung, worum es hier geht.“ Marvin bleckte die Zähne.   „Ach ja? Dann erleuchte mich mal. Bisher weiß ich nämlich nur, dass irgendwelche Zombies versucht haben, meinen besten Freund zu fressen, und dass du was damit zu tun hast. Also spuck endlich aus, was du weißt.“   Ezra antwortete nicht. Er stand einfach nur da wie eine Puppe, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Nathan erhob sich und kam auf ihn zu.   In diesem Moment klingelte das Telefon. Der Ton ließ Nathan zusammenzucken. Die Tatsache, dass er das Telefon immer noch in der Hand hatte, machte die Sache nicht besser. Erst, als Marvin es ihm aus der Hand nahm und ranging, blinzelte er wieder. „Hallo? Ja? Was? Nein! Nein, so war das doch gar nicht. Felipe, hör zu, ich …“   Marvin legte die Hand auf den Hörer und verzog das Gesicht.   „Er ist stinkend sauer. Ich glaube, ich muss da mal die Wogen glätten. Bin gleich wieder da.“   Mit diesen Worten verschwand Marvin in Richtung Schlafzimmer und ließ Nathan und Ezra allein zurück. Stille kehrte ein, aber es war keine gute Stille. Eher die dumpfe Hoffnungslosigkeit eines nebligen Novembermorgens. Wenn man schon wusste, dass die Sonne den ganzen Tag nicht richtig aufgehen würde. Alles war trüb und grau.   „Ezra?“ Der Name schlüpfte ganz von selbst über seine Lippen. Er wartete auf eine Reaktion. Irgendein Zeichen, dass er gehört worden war, doch da war nichts. Wie eine unsichtbare Wand, die zwischen ihnen stand. Eine Wand, die nur er einreißen konnte. Denn Ezra würde es nicht tun, dessen war er sich sicher. Also trat er noch einen Schritt näher. Und noch einen, bis er so nahe vor dem anderen stand dass er ihn fast schon berührte. Und dann tat er es. Er legte die Hand auf seinen Arm. So wie vor zwei Tagen.   „Was ist passiert?“ Es musste irgendetwas passiert sein, dessen war Nathan sich sicher. Aber was? Was hatte Ezra so aus der Bahn geworfen, dass er …   „Es ist besser, wenn du das nicht weißt.“   Ezras Stimme klang rau. Als müsste er sich zwingen zu sprechen. Es schnitt Nathan ins Herz und doch …   „Nein“, sagte er fest. Er trat noch einen Schritt nach vorn, sodass sie jetzt dicht voreinander standen. Ezra hob erstaunt den Kopf. Nathan sah ihm fest in die Augen. „Es ist nicht besser. Ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist. Was macht dir solche Angst?“   Es war ein Schuss ins Blaue. Er hatte sich weit, weit vorgewagt und möglicherweise würde Ezra ihn nicht auffangen. Möglicherweise würde er einfach beiseite treten. Aber vielleicht auch nicht.   Bitte, sprich mit mir!   Aber Ezra schwieg. Ohne ein Wort zu sagen, wandte er den Kopf ab und wich Nathans Blicken aus.   Ach scheiß drauf.   Mit einem tiefen Atemzug überbrückte Nathan die letzte Distanz zwischen ihnen. Er schlang die Arme um Ezras Hals und drückte ihn an sich.   Ezra stand nur da. Regungslos. Vollkommen erstarrt. Als könnte er nicht glauben, was Nathan gerade getan hatte. Und mit jedem Moment, da ihre Umarmung andauerte, wurde es seltsamer. Nathan wusste es, aber er konnte nicht loslassen. Dabei war es so dumm. So hirnrissig. So absolut …   Die Bewegung war zögerlich. Stockend. Als würde Ezra gegen etwas ankämpfen, das ihn zurückhielt. Aber er gab nicht auf. Er neigte den Kopf, seine Arme schoben sich um Nathan herum. Langsam. Unendlich langsam. Wie ein Gletscher. Nichtsdestotrotz bewegte er sich und als seine Handflächen endlich Nathans Rücken berührten, kam es Nathan vor, als ginge ein Seufzen durch seinen Körper. Ezra floss. Er schmolz. Wurde zu Wachs in Nathans Armen.   Nathan schloss die Augen. Seine Arme legten sich fester um Ezra und hielten ihn. Ganz fest. Er spürte ihn unter sich zittern und beben. Ezras Finger krallten sich in den Stoff seines Oberteils, zogen ihn näher. So nahe, dass seine Nähe alles war, was Nathan noch wahrnehmen konnte. Den festen Körper an seinem, die starken Arme um ihn herum. Ezras Lippen an seinem Hals. Das Schlucken, das heftige Atmen. Mit einem Mal wurde Nathan sich bewusst, dass er vielleicht eine winzige Kleinigkeit vergessen hatte.   „Hast du Hunger?“   Ein Teil von Nathan merkte zynisch an, dass er das vielleicht früher hätte in Erfahrung bringen sollen. Vorzugsweise bevor sie Ezra in die Wohnung gelassen hatten. Der Rest jedoch war ganz ruhig.   „Ein wenig“, murmelte Ezra. Sein Atem geisterte immer noch über Nathans Nacken. Heiß. Verlangend. Doch schon spürte Nathan, wie sich sein Griff lockerte. Ezra wollte sich aus seinem Arm freimachen. Schnell hielt er ihn fest. „Bleib“, bat er. „Es ist okay. Ich habe keine Angst.“   Das war gelogen. Er hatte Angst. Jede Menge sogar. Angst davor, dass es wehtun würde. Davor, wie Marvin reagieren würde. Mit Sicherheit würde er ausrasten. Es nicht verstehen. Diese Angst war da. Wovor er jedoch keine Angst hatte, war Ezra.   Er hat mir das Leben gerettet. Warum sollte er mich jetzt töten? Es ist doch nur ein bisschen Blut. Das bin ich ihm schuldig.   „Trink ruhig, wenn du willst. Ich bin einverstanden.“   Wieder musste Ezra schlucken. Nathan spürte die Bewegung an seinem Hals. Ein leises Keuchen. „Nein. Nein, es geht schon. Es war nur … der erste Impuls. Tut mir leid.“   Erneut folgte Schweigen. Ein ängstliches Abwarten, ob der jeweils andere aus der fragilen Fusion ausbrechen würde. Aber niemand ging. Sie blieben und lauschten ihrem gegenseitigen Atem, dem unruhigen Herzschlag, der fast schon wie einer wirkte. Irgendwann wurde er langsamer.   Ezra zog Nathan wieder ein wenig näher zu sich heran. Dieses Mal war die Umarmung weniger verlangend, weniger verzweifelt. Sie hüllte Nathan ein wie ein Kokon. Nur mit Mühe hielt er ein Seufzen zurück. Das hier war so gut.   „Ich kann dich nicht beschützen.“   Ezras Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken. So leise, dass Nathan fast daran zweifelte, die Worte wirklich gehört zu haben. Trotzdem waren sie ausgesprochen worden und würden nicht einfach wieder verschwinden. Nathan atmete tief ein. „Wovor beschützen?“ Wieder blieb Ezra stumm. Nathan hob den Kopf und sah ihn an. Da war so viel in seinem Blick. Wut, Trauer, Enttäuschung, Schmerz und noch etwas anderes. Etwas Tieferes.   „Was ist passiert?“ Fast rechnete er damit, dass Ezra weiter schweigen würde, doch er wurde überrascht. Ezra begann zu sprechen.   „Ich bin Samstagnacht noch einmal in deine Wohnung zurückgekehrt. Ursprünglich wollte ich in der Nähe nach Spuren suchen, aber … Ich traf dort jemanden. Jemand, der auf dich aufmerksam geworden war.“ „Wen?“ „Meinen Bruder.“   Nathan blinzelte überrascht. Das war neu. „Du hast einen Bruder?“   Ezra wandte den Blick ab. Seine Lippen wurden schmal. „Er ist nicht mein leiblicher Bruder, falls du das meinst. Wir wurden nur von der gleichen Vampirin gewandelt.“ Immer noch sah Ezra ihn nicht an. Seine Gedanken schienen weit weg zu sein. Nathan schluckte. „Und dieser Bruder …“ „Sein Name ist Darnelle.“ „Darnelle also. Hat er etwas gesagt?“   Nathan konnte sehen, wie Ezras Kiefermuskeln arbeiteten. „Er hat mir gedroht. Wenn ich nicht aufhöre, mich in seine Angelegenheiten einzumischen, würde er …“ „Mich umbringen.“   Es war keine Frage, nur eine Feststellung. Ezra lachte bitter auf. „Schlimmer als das.“ „Noch schlimmer?“   Ezra schloss die Augen. Seine Finger gruben sich in den Stoff von Nathans Oberteils.   „Was wird er tun?“, fragte Nathan erneut. Wieder zuckten Ezras Gesichtsmuskeln wie unter Schmerzen. „Er hat gesagt, wenn ich mich weiter mit den Ghulen befasse, wird er es unserem Vater sagen.“   Nathan versuchte gar nicht erst, diese neue Information zu verarbeiten. Er hätte gerne gewusst, wie dieser „Vater“ in das Familiengefüge passte, aber er fragte nicht. Dazu war das hier zu wichtig. „Und dann wird er mich umbringen?“ Ezra öffnete die Augen. Dieses wusste Nathan sofort, dass sie ihn sahen. Richtig sahen. Vielleicht zum ersten Mal. Ein trauriges Lächeln begleitete Ezras Blick. „Nein“, sagte er leise. „Wenn unser Vater herausbekommt, dass du noch am Leben bist, dann wird er mich zwingen, dich zu töten.“   Für einen Moment war Nathan wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte sich nie viele Gedanken über den Tod gemacht, aber bisher war er sich immer sicher gewesen, dass sein Ableben immerhin niemanden besonders unglücklich machen würde. Abgesehen von Marvin vielleicht. Aber zu wissen, dass man durch die Hand eines … Freundes sterben würde. Nicht irgendein gesichtsloser Krimineller, der es nur auf seine Brieftasche abgesehen hatte, sondern jemand, der ihm in die Augen gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Nathan vermochte nicht, sich das vorzustellen.   Und er? Was würde er dabei empfinden?   Mit ein wenig Mühe schob er seine Mundwinkel nach oben. „Na ja … immerhin. Wenn es schon jemand tun muss, dann wäre es mir am liebsten, wenn du es wärst. Ich meine, du würdest es doch … kurz und schmerzlos machen, oder?“   Es war Galgenhumor und er wusste es. Ezra zog Nathan nur noch ein wenig näher an sich heran. „Ich will nicht, dass du stirbst“, sagte er leise. „Ich will, dass du lebst.“   Nathan lachte. Es klang ein bisschen verzweifelt. „Oh, wenn ich ehrlich bin, wäre mir das auch lieber. Aber die Wahl hab ich ja anscheinend nicht.“ Wieder schwankte Ezra zwischen Lachen und etwas anderem. „Aber verstehst du denn nicht? Wenn du gehst …“   „Ich will aber nicht gehen“, unterbrach Nathan ihn. Allein die Vorstellung war für ihn ungeheuerlich. Wo sollte er denn auch hin? Alles hinter sich zu lassen und zu fliehen mit nichts als dem nackten Leben am Leib … nein! Er hatte hier ein Zuhause. Einen Job. Ein Leben. Und das würde er nicht so einfach aufgeben, nur weil irgendein dahergelaufener Vampir meinte, dass er nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, um das zu ändern. Doch noch bevor er Ezra das alles verkünden konnte, kam Marvin aus dem Schlafzimmer gestürmt. Er schäumte.   „Diese verdammte Bitch!“, fauchte er. Nathan war so verdattert, dass er glatt vergaß, Ezra loszulassen. Als Marvin sie sah, schnellten seine Augenbrauen nach oben. „Ach so ist das also. Na dann spitzt mal die Ohren, ihr Turteltäubchen. Aus eurer Weltreise mit Vampir wird nichts. Wir bleiben nämlich hier und treten diesen Ghulen ganz gehörig in den Arsch. Von denen lass ich mir nicht mein Leben ruinieren. Und wenn ich ihnen den Kopf mit den Zähnen abbeißen muss. Die werden es noch bereuen, sich mit Marvin Tuttle angelegt zu haben. Jetzt ist hier Achterbahn!“   Nathan, der es für besser hielt, nur noch ganz langsame Bewegungen zu machen, zog sich Stück für Stück aus Ezras Arm zurück. Auch der schien nicht so recht zu wissen, was er von dem tobenden Marvin halten sollte. Selbiger hingegen lieferte sofort eine Erklärung. „Weißt du, was gerade passiert ist?“, blaffte er Nathan an. „N-nein?“ „Felipe hat mit mir Schluss gemacht. Weil ich ihm von dieser ganzen Scheiße erzählt habe. Von den Ghulen und Vampiren und allem. Und jetzt denkt er, ich wolle ihn verarschen. Er hat einfach aufgelegt.“ „Du hast WAS?“   Nathan glaubte, sich verhört zu haben. Marvin, der gerade noch vorgehabt hatte, Ghulen die Kehle durchzubeißen, sackte in sich zusammen. „Ja“, jammerte er kleinlaut. „Felipe war so sauer wegen Jomar. Und als ich versucht habe, ihm eine halbwegs plausible Erklärung zu liefern, ist er misstrauisch geworden. Und da hab ich ihm alles erzählt. Es kam einfach so aus mir raus.“   „Oh, Marvin!“   Nathan konnte gar nicht laut genug stöhnen.   „Du bist so ein Riesen-Rindvieh!“ „Ich wei~iß.“   Marvins anschließenden Schnüffeln und die erfolglose Suche nach einem Taschentuch, die damit endete, dass er sich mit einer Serviette die Nase putzte, war für Nathan fast noch schwerer zu ertragen als Ezras passive Trostlosigkeit. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatten denn jetzt alle den Verstand verloren? „Habt ihr beide den Verstand verloren?“ Dass der Satz einfach so aus ihm herausgeplatzt war, verwirrte Nathan. Allerdings nicht so sehr wie Marvin und Ezra, die ihn beide anstarrten, als wäre er gerade vom Mond gefallen. Aber jetzt war ohnehin schon alles zu spät.   „Hier wird niemand losziehen und allein einen wütenden Mob mit Fackeln und Mistgabeln mimen“, erklärte Nathan seinem besten Freund. „Aber wir werden auch nicht einfach aufgeben und weglaufen“, fügte er an Ezra gewandt hinzu. „Das hier ist verdammt nochmal mein Leben und wenn ich eh schon mit einem Bein im Grab stehe, dann kann ich auch genauso gut versuchen, es wieder herauszuziehen.“   Die Ansprache war wohlgemerkt nicht die imponierendste aller Zeiten. Entsprechend fiel die Reaktion darauf aus. „Was willst du denn machen?“, sagte Marvin mit jeder Menge Falten auf der Stirn. „Diese Stadt ist riesig und wir wissen ja nicht einmal, wo wir anfangen sollen nach dieser Katherine zu suchen.“   „Also was das angeht …“   Ezras Blick wanderte nach diesem halben Satz von einem zum anderen.   „Ich wüsste da was. Aber gleichzeitig ist es unmöglich, dorthin zu gelangen.“ „Und wo?“   Nathan betete, dass Ezra nicht wieder einen Rückzieher machen würde. Er musste doch begreifen,, dass diese Schlacht noch nicht verloren war. Er musste!   Ezra leckte sich über die Lippen.   „Mein Bruder betreibt mehrere Clubs in dieser Stadt. Sie dienen vor allem der Tarnung um … um Vampire mit Nahrung zu versorgen.“   Nathan hörte, wie Marvin nach Luft schnappte. Die Assoziationen, die ihm dazu kamen, waren auch nicht gerade die besten. „Und weiter?“   Ezra zögerte sichtlich.   „Ich bin mir sicher, dass irgendjemand dort die Ghula kennen muss, die dich angegriffen hat. Leider sind mir diesbezüglich die Hände gebunden. Sobald ich anfange, dort herumzuschnüffeln, würde Darnelle sofort Maßnahmen ergreifen.“   Der intensive Blick, der Nathan daraufhin traf, ließ ihn schaudern. Er hatte zwar ernst gemeint, was er gesagt hatte, aber die Aussicht, durch Ezras Hand zu sterben, war trotzdem nicht gerade erfreulich. Er überlegte.   „Aber du hast Zutritt zu diesen Clubs, oder?“ „Sicher. Das hat jeder Vampir.“ „Es wäre also nicht weiter verwunderlich, wenn du dort auftauchen würdest.“ „Nein?“ „Und wenn du nicht allein wärst?“   Es dauerte einen Augenblick, bevor Ezra begriff, was Nathan meinte. Er wurde noch eine Spur bleicher. „Nein. Nein, das kannst du nicht tun. Er würde …“   Ezras Stimme versagte. Nathan konnte nur ahnen, zu was für Grausamkeiten dieser Darnelle sich vielleicht hinreißen lassen würde, wenn er ihn in die Finger bekam. Aber vielleicht ließ sich das ja auch vermeiden. Sein Blick fiel auf Marvin.   „Ich habe da eine Idee“, sagte er langsam, bevor er den anderen seinen Plan erklärte. Als er fertig war, sahen die beiden ihn an, als wären ihm jetzt auch noch zwei Köpfe gewachsen. „Das wird niemals funktionieren.“ „Das ist Wahnsinn. Du weißt nicht, auf was du dich da einlässt.“   Marvins Gesichtsfarbe schwankte zwischen braun und grau und Ezra raufte sich die dunklen Haare. Sein Mund stand offen und zum ersten Mal konnte Nathan seine Eckzähne sehen. Sie waren tatsächlich spitz. „Das erlaube ich nicht.“ „Dann werde ich es alleine durchziehen.“   Nathan graute vor dieser Vorstellung, aber er machte ein so entschlossenes Gesicht, dass Marvin empört aufbegehrte. „Kommt überhaupt nicht in die Tüte. Wenn du in diesen Club gehst, gehe ich mit. Ich lasse dich nicht im Stich.“   Nathans Blick richtete sich auf Ezra. Er sah, dass die Emotionen unter dessen Haut herumkrochen wie Schlangen. Eine ganze Badewanne voll Wut, Zorn, Angst und noch etwas. Etwas, auf das Nathan zählte. Etwas, von dem er hoffte, dass es mehr war als der Mut der Verzweiflung.   Ezra gab sich einen Ruck. „Na schön“, seufzte er. „Aber vorher muss ich euch noch einiges erklären. Es gibt Regeln in diesen Clubs. Viele Regeln. Wenn ihr nicht auffallen wollt, müsst ihr sie kennen.“   „Oh, Moment.“   Marvin sprang auf, tingelte zu einem Tischchen, kramte in dessen Schubladen und kam anschließend mit einem Block und einem Kugelschreiber zurück, auf dessen Spitze eine glitzernde Ballerina mit einem Federpuschel als Rock saß. Er drückte der Puppe auf den Kopf. Es klickte. „Also gut“, sagte er mit gezücktem Glitzerstift. „Dann lass mal hören. Ich bin ganz Ohr.“ Kapitel 14: La vie en rose -------------------------- Die Liste, die Ezra ihnen gab, war lang. Unendlich lang. So lang, dass Nathan ernsthaft zweifelte, dass sie auch nur zwei Schritte weit kommen würden. Und das war noch lange nicht alles. „Der Club, in den wir uns begeben werden, liegt unterirdisch. Man gelangt nur durch einen Fahrstuhl hin. Es gibt keine Fenster, keine anderen Ausgänge.“   Marvin krauste die Nase. „Ist das überhaupt erlaubt? Was, wenn ein Feuer ausbricht?“   Ezra hob eine Augenbraue. „Ich mein ja nur“, brummelte Marvin und wandte sich wieder seinen Notizen zu. Ezra seufzte lautlos und fuhr fort. „Ich werde euch an der Türkontrolle vorbeibringen, danach sollten sich unsere Wege trennen. Als Gruppe fallen wir eher auf.“   Wieder unterbrach Marvin ihn. „Aber ich bleibe doch bei dir, oder?“   Ein stummer Blickwechsel folgte. Nathan konnte nur ahnen, was in den beiden vorging. Schließlich nickte Ezra leicht. „Ja, du bleibst bei mir. Aber wir sollten uns dafür noch ein wenig näher kennenlernen. Es wird Gerede geben, wenn du jedes Mal zusammenzuckst, sobald ich dich auch nur ansehe.“   „Solange es beim Ansehen bleibt, habe ich nichts dagegen.“   Ezra wandte den Kopf ab und seufzte. Dieses Mal hörbar. Den Blick und die Gedanken in die Ferne gerichtet saß er einfach nur da. Wie eine Statue. Eine nachdenkliche Statue. Nathan wagte kaum zu atmen. „Kannst du tanzen?“, fragte Ezra unvermittelt. Marvin, der einen Augenblick brauchte um zu begreifen, dass er gemeint war, machte ein empörtes Gesicht. „Natürlich kann ich tanzen. Aber hallo!“ „Auch mit jemandem zusammen?“   Marvins Grinsen wurde zuerst breiter, bevor es schrittweise erstarb. „Äh … ja, aber … wie genau meinst du das?“ „So, wie ich es gesagt habe.“   Ezra erhob sich. Seine Bewegungen glichen einem Raubtier auf der Pirsch. Kurz vor Marvins Sitzplatz blieb er stehen und streckte die Hand aus. „Darf ich bitten?“   Marvin riss die Augen auf. Nathan musste zugeben, dass es ihm genauso ging. „Ja, wie jetzt?“, stammelte sein Freund. „Ich soll mit dir tanzen? Hier? Jetzt? Ohne Musik?“   Anhand seiner Stimmlage war nicht zuerkennen, welches dieser Dinge Marvin am meisten Unbehagen verschaffte. Allerdings konnte man wenigstens gegen eines davon etwas tun. „Ich mach euch Musik“, meinte Nathan und griff nach Marvins Handy. Mit einem Wisch entsperrte er es und startete die Musik-App. Im nächsten Moment drangen elektronische Drums und eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. Marvin zuckte zusammen. „Ähm, das ist vielleicht nicht so ganz …“   Die Stimme begann zu rappen. Ezras Hand war immer noch ausgestreckt. Süßer Gesang und ein starker Beat begleiteten die Geste. Marvin rang mit sich, bis er schließlich aufgab.   „Oh, na schön. Meinetwegen.“   Er legte seine Hand in Ezras. Der zog ihn hoch. In seinen Arm. Vereinnahmte ihn vollkommen. Und dann begannen sie zu tanzen. Nathan stockte der Atem.   Scheiße, ist das sexy. Ezras Hüfte schwang genau im Takt. Er war nicht aufdringlich, aber die Bewegung war definitiv suggestiv genug, um eine Wirkung zu erzielen. Er war immerzu um Marvin herum. Dabei unterbrach er nie den Augenkontakt. Seine Hände auf Marvins Arm, seinem Rücken, seiner Taille. Kleine, unauffällige Berührungen, die mehr Kontakt herstellten, als sie sollten. Zumindest in Nathans Augen. Und doch kam er nicht umhin, das Schauspiel zu genießen. Selbst als Ezra sich zu Marvin herabbeugte. Als seine Lippen sich dessen Hals näherten. Sie fast berührten. Fast. Zwischen Nathans Beinen pulsierte es.   „Okay, fuck! Das reicht!“   Marvin schubste Ezra energisch von sich. Seine Augen funkelten, die Wangen glühten. „Das war … scheiße! Das war …“   Er brach ab, offenbar unfähig in Worte zu fassen, wie es gewesen war, mit Ezra zu tanzen. Der hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. Sein Blick ruhte jedoch immer noch auf Marvin. „Und?“, fragte er mit dunkler, samtiger Stimme. „Glaubst du mir jetzt, dass ich dir nichts tue.“   Marvin schnappte nach Luft. „Du wolltest mich beißen!“ „Du bist ja auch sehr appetitlich.“ „Aber ich …“   Marvin wollte noch mehr sagen, als Ezra plötzlich vor ihm stand. Seine Augen bohrten sich in Marvins.   „Hör zu und hör mir gut zu. Wenn wir tatsächlich durchziehen wollen, was Nathan vorgeschlagen hat, musst du dich sicher in einem Raum voller Vampire bewegen können. Die meisten von ihnen sind Menschen, aber es werden mit Sicherheit welche wie ich darunter sein. Echte Vampire. Vampire, die deinen Herzschlag hören können und deine Angst riechen. Und wenn du vor denen herumzitterst wie ein kleines Häschen, dann werden sie dich fressen. Mit Haut und Haaren. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“   Marvin starrte Ezra an. Er hatte die Hände an den Körper gezogen und war offenbar vollkommen erstarrt. Trotzdem brachte er es fertig zu nicken. Ezra bleckte die Zähne. „Gut“, knurrte er. „Denn wenn Nathan etwas passiert, weil du uns verraten hast …“ Er führte nicht aus, was genau er dann mit Marvin zu tun gedachte, aber das musste er auch nicht. Sein Blick sprach mehr als Bände. Nathan räusperte sich. „Also ich will ja nichts sagen, aber … bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?“   Ezras Kopf ruckte zu ihm herum. Sein Blick brannte auf Nathans Haut.   „Wie meinst du das?“, zischte er. Nathan versuchte ein Lächeln.   „Du drohst ihm. Denkst du wirklich, dass das dazu führt, dass er weniger Angst vor dir hat?“   Das Lodern in Ezras Blick erstarb. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Natürlich nicht. Es ist nur … ich sollte vielleicht gehen. Wir machen an einem anderen Tag weiter.“   Mit einem Schritt war er von Marvin zurückgetreten, mit einem weiteren bei seinem Mantel angelangt, den er achtlos auf die Sofalehne geworfen hatte. Kaum, dass Nathan zweimal geblinzelt hatte, war er schon an der Tür.   „Ezra! Warte!“   Nathan sprang auf und eilte in den Flur. Ezra war schon an der Treppe. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend floh er regelrecht nach unten. Aber Nathan gab nicht auf. In Windeseile folgte er ihm, bis Ezra schließlich stehen blieb. Seinen Blick immer noch abwärts gerichtet, stand er. Der Mond schien durch ein kleines Fenster und beleuchtete die ausgetretenen Stufen nur teilweise. Der Rest lag im Schatten ebenso wie Ezras Gesicht. Vorsichtig machte Nathan einen Schritt auf ihn zu. „Ezra?“   Er sprach leise, um die Nachbarn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Trotzdem hatte er das Gefühl, immer noch viel zu laut zu sein. Also stieg er noch eine der Stufen hinab. Und noch eine und eine weitere, bis er nur noch ein Stück weit von Ezra entfernt stand. „Was ist los?“   Wieder hatte er nur geflüstert. Ezras Antwort bestand aus einem tiefen Atemzug. „Nichts. Ich habe nur … Hunger. Das ist alles.“   Nathan runzelte leicht die Stirn. Er war sich sicher, dass das nicht alles war, aber er beschloss, nicht weiter nachzufragen. Wenn Ezra nicht bereit war, sich ihm zu öffnen, dann sollte es so sein. Trotzdem war die Vorstellung, dass er jetzt dort rausgehen und sich irgendein anonymes Opfer suchen würde oder – noch schlimmer – zu jemandem gehen, den er kannte und mehr vertraute als ihm, unerträglich. Nathan wollte nicht, dass Ezra ging.   „Also was das angeht …“, begann er zögernd. „Mein Angebot steht noch.“   Eine sachte Neigung seines Kopfes unterstrich, was er meinte. Ezra reagierte nicht, zumindest nicht äußerlich. Nur ein Schlucken verriet, dass er Nathan gehört und verstanden hatte. Nathans Puls stieg.   „Was ist?“, fragte er noch einmal. „Warum kommst du nicht her und holst dir, was du brauchst? Habe ich die falsche Blutgruppe. Das falsche Deodorant? Oder liegt es am Knoblauch? Wenn ich gewusst hätte, dass du …“ „Nein, das ist es nicht“, unterbrach Ezra ihn heftig. „Aber ich … ich will dir nicht wehtun.“   Nathans Lippen wurden schmal.   „Irgendjemandem wirst du wehtun“. „Das ist nicht dasselbe.“   Ezra bewegte sich. Wie in Zeitlupe löste sich seine Hand vom Geländer. Er drehte sich zu Nathan herum, sah ihn an. Nathan spürte die Blicke wie einen Gluthauch über seinen Körper gleiten. Ezra wollte ihn und nicht nur sein Blut, dessen war er sich sicher. Ihn nicht aus den Augen lassend überwand Ezra die letzten Stufen, die zwischen ihnen lagen, und war plötzlich ganz nahe. So nah, dass sie sich fast berührten. Ein trauriges Lächeln zierte Ezras Gesicht. „Glaube mir. Wenn die Umstände anders wären, würde ich vielleicht tatsächlich … würde ich das Angebot annehmen. Aber das hier ist der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort. Du wirst deine Kräfte in den nächsten Tagen brauchen und ich … ich benötige heute etwas mehr, als du mir gefahrlos geben könntest. Deswegen glaube mir, wenn ich dir sage, dass es besser ist, wenn ich ablehne.“   Nathan wusste, dass Ezra die Wahrheit sagte. Und das er recht hatte. Trotzdem versetzten ihm die Worte einen Stich. „Dann gehst du lieber zu jemand anderem?“ „Nur, um dir nicht zu schaden.“ „Und dem anderen?“   Ihm war klar, dass er sich närrisch aufführte, aber er musste es einfach wissen. Ezra lächelte. „Ich werde dafür sorgen, dass auch ihm nichts geschieht. Bist du damit zufrieden?“   Nathan blieb die Antwort schuldig. Er senkte den Blick und richtete ihn auf Ezras Brust. Wenigstens solange, bis Ezra die Hand unter sein Kinn schob und es wieder anhob. „Nathan“, sagte er leise. Seine seltsam leuchtenden Augen fingen Nathans Blick ein und hielten ihn fest. „Du musst dir keine Gedanken machen. Ich werde mich zurückhalten. Ich verspreche es.“   Da war ein Kratzen in Nathans Hals, das einfach nicht weggehen wollte. Er schluckte erneut. „Was versprichst du mir?“   Ezra lächelte leicht. „Dass ich ihn nicht töten werde. Oder sie. Obwohl ich denke, dass ich einen Mann wählen werde. Aber ich werde nur sein Blut trinken und ich werde aufpassen, dass es nicht lebensbedrohlich wird. Sollte ich mehr brauche, nehme ich einfach noch einen anderen Donor dazu. In Darnelles Clubs gibt es genug Freiwillige, die dieses Privileg genießen würden.“   Nathan nickte. Zu dem Kratzen war ein Stechen hinter seinen Augenlidern gekommen. Er blinzelte, um es zurückzuhalten. „Und was ist mit dem, der ins Krankenhaus musste?“   Ezras Lächeln verschwand und wich einem Ausdruck, den Nathan nicht recht zu deuten wusste. Ezra räusperte sich.   „Das war … nicht geplant. Er hat mich überrascht und ich wollte ihn eigentlich töten, aber dann … dann musste ich an dich denken. An das, was du gesagt hast. Über Mitgefühl. Und ich dachte: Gut. Diesen einen. Diesen einen schenke ich Nathan. Wegen seiner Überzeugung. Weil er ist, was er ist. Weil …“   Ezra unterbrach sich. Er sah Nathan an, aber die Worte, die er gerade noch hatte sagen wollen, kamen nicht mehr aus seinem Mund. Nathan hob fragend die Brauen. „Weil?“   Ezra antwortete nicht. Er stand nur da und wich plötzlich Nathans Blick aus, als könnte er nicht mehr ertragen, von ihm angesehen zu werden. Dabei murmelte er irgendetwas Unverständliches. Unbewusst lehnte sich Nathan noch ein Stück vor.   „Was hast du gesagt?“   Ezra atmete angespannt. „Ich sagte, dass … dass ich wohl wollte, dass du einen guten Eindruck von mir hast. Deswegen war ich am Abend des Angriffs auch bei dir. Ich wollte dir davon erzählen. Wollte sehen, wie du reagierst. Und ich wollte … mich verabschieden. Eigentlich. Weil ich wusste, dass ich deinem Anspruch niemals gerecht werden könnte. Aber dann …“   Er führte nicht weiter aus, was dann geschehen war. Sie waren beide dort gewesen und hatten es gesehen. Er hatte gegen seinen Plan und vielleicht sogar gegen seine Überzeugung gehandelt. Wegen Nathan.   Bin ich gerade dabei, dasselbe zu tun? Wie weit würde ich gehen?   Nathan lächelte schmal. „Tja, manchmal tut man wohl dumme Dinge, um … um jemanden zu beeindrucken. Womit ich jetzt nicht sagen will, dass es dumm war, diesen Mann am Leben zu lassen. Ganz im Gegenteil, aber … du weißt, was ich meine, oder?“   Ezra hob den Kopf. Da war plötzlich Verstehen in seinem Blick. Seine Fingerspitzen berührten Nathans Wange. „Du musst mich nicht beeindrucken“, sagte er leise. „Das hast du nämlich längst.“   Nathan wollte noch etwas darauf erwidern, doch, was immer er hatte sagen wollen, verschwand auf magische Weise aus seinem Gehirn und wurde nur noch durch einen Gedanken ersetzt.   Küss mich!   Ohne es wirklich wahrzunehmen, streckte er sich Ezra noch weiter entgegen, während der sich vorbeugte. Nathans Lider schlossen sich und dann endlich versiegelte Ezras Mund den seinen mit einem Kuss.   Nathan schwebte. Mit einem Bein stand er immer noch in diesem dunklen Treppenhaus und kam Ezras sanfter Berührung entgegen, mit dem anderen stand er irgendwo auf Wolke 37 und hörte die Englein singen. Aber nicht lange, denn die Realität war so viel besser als irgendwelche Traumbilder. Die Realität war echt und in ihr war Ezra, der ihn küsste.   Ihre Lippen streichelten und neckten sich. Fingen einander ein, nur um sich wieder zu entlassen und erneut zu haschen. Dabei kamen sie sich immer näher. Schon merkte Nathan, wie er rückwärts gegen die Wand gedrückt wurde. Das Treppengeländer war auf der Höhe seiner Nieren, aber es störte ihn nicht. Viel mehr verstärkte es noch den Druck, den Ezras Körper auf seinen ausübte. Aber es hielt auch die Hand auf, die an seinem Rücken abwärts fuhr. Mit einem entschiedenen Ruck machte Nathan sich von der Begrenzung frei und presste sich umso stärker an Ezra. Ein Keuchen antwortete ihm. Er nutzte die Gelegenheit, um mit seiner Zunge den Eingang zu Ezras Mund zu erforschen. Sofort wurde er in Empfang genommen, nur um gleich darauf wieder an der Wand zu landen. Dieses Mal mit einer Hand an seinem Hintern. Er stöhnte. Hob den Kopf und ließ Ezras Lippen an seinem Hals herabgleiten. Wieder wurde er gehalten, bedrängt, begehrt. Ezra wollte ihn und er wollte ihn ganz. Plötzlich jedoch riss Ezra den Kopf zurück. Er keuchte.   „Verdammt, Nathan!“ Der Griff um Nathan wurde lockerer. Die Hand, die sich in seinen Haaren vergraben und seinen Kopf zurückgebogen hatte, löste sich von ihm. Wie in einem Nebel, einem Rausch nahm er wahr, dass Ezra sich von ihm zurückzog. Nicht vollkommen, aber so weit, dass das gierige Zupacken eines beuteschlagenden Raubtiers wieder zu einer Umarmung wurde. Aus einem wurden wieder zwei. Zwei heftig atmende Individuen, die einander stützten, sich Halt gaben. Ezra lehnte sich an ihn. Er schluckte. „Das wäre beinahe schief gegangen“ flüsterte er und lachte leise. „Du bist wirklich unmöglich.“   Nathan lächelte und schloss die Augen. Ezras Gewicht fühlte sich gut auf ihm an. „Sorry. Ich hab mich da wohl ein bisschen hinreißen lassen.“ Er zuckte, als Ezras Lippen über seinen Hals streichelten. Ganz sacht, nur ein flüchtiger Kuss. „Du kannst nichts dafür“, murmelte Ezra gegen seine Haut. Seine Lippen verteilten weiter feine Küsse. „Vampire haben diese Wirkung auf ihre Opfer.“ „Aber du wolltest mich doch gar nicht beißen.“ „Doch wollte ich.“   Ezra richtete sich auf. Seine Lippen steiften noch einmal Nathans Mund, während seine Finger sanft über seine Kehle glitten. „Ich will dich beißen. Unbedingt. Am liebsten gleich jetzt und hier. Aber ich sagte dir bereits, dass das nicht geht. Der Blutverlust würde dich zu sehr schwächen und du wirst alle deine Kräfte brauchen. Deswegen muss ich mich zurückhalten, so leid es mir tut. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass es mir sehr leid tut. So sehr.“   Nathan stockte der Atem. Da war so viel Bedauern in Ezras Stimme und gleichzeitig so viel Begehren, das es ihn zu überwältigen drohte. Sie wollten es, sie wollten es beide. Und doch … „Und wenn du … nur ein bisschen?“ Ezra lachte leise. „Du überschätzt meine Fähigkeiten zur Zurückhaltung. Wenn ich einmal angefangen hätte, würde ich es auch zu Ende bringen. Das Eine und das andere.“   Noch einmal beugte er sich zu Nathan und küsste ihn. Seine Finger glitten an Nathans Seite entlang, seine Zunge spielte mit ihm. Wieder wollte Nathan den Kopf zurücklegen, doch Ezra hielt ihn auf, hielt ihn fest und küsste ihn stattdessen tief und leidenschaftlich. Dabei streichelte, koste und umgarnte er ihn so, wie er es mit Marvin getan hatte. Nur noch viel enger und intimer. Nathans Erregung stieg und mit ihm der Wunsch, auch Ezras Körper zu erkunden. Ihn anzufassen. Seine Finger auf harte Muskeln und nackte Haut zu legen. In der Hand zu halten, was sich mehr als deutlich gegen seinen Schritt drückte. Er wollte wissen, wie er sich anfühlte. Wollte ihn spüren. Ganz und gar. An sich. In sich. Sofort. „Wir könnten warten, bis Marvin schläft“, murmelte er. „Oder du schickst ihn ins Schlafzimmer und befiehlst ihm, nicht wieder rauszukommen, bis wir fertig sind.“   Erneut antwortete ihm ein Lachen. „Du weißt, dass das nicht geht.“   Nathan seufzte. „Jaa, ich weiß. Aber die Vorstellung hat trotzdem was.“   Er löste den Kuss und sah Ezra in die Augen.   „Werden wir uns wiedersehen?“ Die Frage mochte albern sein, aber Nathan wollte es trotzdem hören. Wollte sichergehen, dass Ezra nicht wieder einfach verschwand.   Ezra lächelte, auch wenn eine Spur von Trauer darin war. „Ja, werden wir. Ich verspreche es.“ „Wann?“ „Morgen. Wenn ich es schaffe. Ich muss noch … etwas erledigen.“ „Und was?“ Der Schatten auf Ezras Gesicht vergrößerte sich. Zuerst dachte Nathan, dass sich eine Wolke vor den Mond geschoben hätte, aber dann wurde ihm bewusst, dass es Ezra war, der diesen Effekt auslöste. Er hüllte sich in Dunkelheit und Schweigen, aber nur für einen Moment. Dann seufzte er.   „Ich wurde bestohlen. Ein Erinnerungsstück, das mir sehr wichtig war. Es mag Zufall sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun hat.“ „Und was?“   Ezra seufzte erneut. „Wenn ich das wüsste, wäre ich schon einen Schritt weiter. Aber vielleicht ist auch gar nichts dran und es war einfach nur ein dummer Zufall, dass das … dass der Gegenstand ausgerechnet jetzt entwendet wurde. Auch wenn ich mir nicht recht vorstellen kann, wie es dazu kam. Er war zu gut versteckt.“   Nathan ahnte, dass Ezra ihm nicht sagen wollte, worum es sich bei dem Ding handelte, dass ihm abhandengekommen war. Den Grund dafür konnte er nur raten, aber es hatte mit Sicherheit etwas mit Ezras Vergangenheit zu tun. Eine Vergangenheit, die mehr Jahre umfassen mochte, als Nathan sich überhaupt vorzustellen vermochte. Er atmete tief ein. „Dann … hoffe ich einfach mal, dass wir uns bald wiedersehen.“   Ein vages Lächeln antwortete ihm. „Ja, das hoffe ich auch.“   Noch einmal strichen Ezras Lippen sanft über seine. Im nächsten Moment war er fort und Nathan hörte nur noch seine Schritte, die im Dunkeln nach unten eilten. Er war sich sicher, dass Ezra auch das hätte vermeiden können, wenn er gewollt hätte. Immerhin ist er ein Vampir, versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, aber je mehr er es versuchte, desto harmloser wurde Ezra in seiner Vorstellung.   „Ich muss vorsichtig sein“, murmelte er vor sich hin, während er sich wieder den Stufen zuwandte, die ihn nach oben zu Marvins Wohnung führen würden. Dort wartete sein Freund sicherlich immer noch ziemlich aufgebracht auf ihn. Er würde ihn beruhigen müssen. Die Wogen glätten. Schlafen gehen. Seinen Job machen.   „Es hilft ja nichts“, seufzte er schließlich und machte sich mit Schwere im Herzen an den Aufstieg.       Die fünfte Stunde war bereits verstrichen, als Ezra in das Penthouse hoch über der Stadt zurückkehrte. Die Lichter waren allesamt gelöscht, trotzdem bewegte sich Ezra so sicher durch die Räume, als wäre es helllichter Tag. An dem Korridor, der zu Aemilius’ Arbeitszimmer führte, blieb er stehen. Leise Musik war zu hören. Eine Frauenstimme. Sie sang. Französisch. Langsam ging Ezra weiter. Von drinnen kamen leise Laute und ein blasser Schein, der unter der Tür durchschien. Kurzentschlossen griff Ezra nach der Klinke und öffnete.   Aemilius saß an seinem Schreibtisch. Ein riesiges, antikes Stück aus dunklem Holz mit Messingbeschlägen und abschließbaren Schubladen. Ihm allein war es zu verdanken, dass die an jeder freien Wand aufgestellten und bis zum letzten Winkel vollgestopften Bücherregal den Raum nicht komplett erdrückten. Die Präsenz des wuchtigen Stücks reichte aus, um sie im Schach zu halten und auf ihren Platz zu verweisen.   Auf dem Tisch lagen Stapel von ledergebundenen Büchern. Eines davon hatte Aemilius vor sich liegen und studierte akribisch die Zahlenkolonnen, die es beinhaltete. Als Ezra eintrat, blickte er auf. Kein Wort der Begrüßung kam über seine Lippen. Nur ein stummer, anklagender Blick, der Ezra traf wie eine Ohrfeige. Sicher war sein Fortbleiben bemerkt worden. Er hatte vor seiner Abreise nicht einmal Rapport abgelegt. Jetzt, so wusste er, würde er die Quittung dafür bekommen.   Mit hocherhobenem Kopf trat er vor. „Vater“, sagte er mit einem flüchtigen Nicken. Dabei versuchte er zu erkennen, was Aemilius las, aber es ergab für ihn keinen Sinn. Aemilius bedachte ihn mit einem abschätzigen Lächeln. „Davon verstehst du nichts“, sagte er und schloss das Buch. „Es sind nur alte Geschäftsaufzeichnungen, die ich gerade durchgehe und auf Unregelmäßigkeiten prüfe.“   Ezras Augenbraue zuckte. „Und?“, fragte er in möglichst neutralem Ton. „Hast du etwas gefunden?“   „Nur Kleinigkeiten. Nichts, was von Belang wäre.“   Aemilius musterte ihn weiter. Ezra wartete darauf, dass er eine Frage stellte. Nach den Ghulen, wo er in den letzten Tagen gewesen war, aber nichts dergleichen kam. Nur dieser Blick. Und die Musik. Ezra hörte jetzt genauer hin. Es war ein bekanntes Stück. Uralt für die heutigen Begriffe, und doch unvergessen. Es versetzte ihn zurück in die Zeit, als Elisabeth noch bei ihnen gewesen war. Tag und Nacht. Wie lange war das her? „Es erinnert mich an sie“, sagte Aemilius plötzlich. „Als hätte man es für sie geschrieben. Denkst du nicht auch?“   Ezra nickte leise. Er wusste nicht, wo all das hier hinführen sollte, aber sein Unbehagen wuchs. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum fragte sein Vater ihn nicht nach seinen Nachforschungen? Stattdessen sprachen sie über … Musik?   „Ich habe Neuigkeiten“, sagte er und beschloss, sich genau an seinen Plan zu halten. Er würde Aemilius nur so viel wie unbedingt notwendig offenbaren. Den Rest würde er sich für später aufheben. Oder für nie.   „Ich war in der Lage, einige der Ghule zu stellen. Zwei von ihnen wurden im Kampf getötet. Ein dritter, eine Ghula, entkam. Zweifelsohne wird sie ihrem Meister davon berichten. Er wird jetzt wissen, dass wir ihm auf den Fersen sind.“   Aemilius Miene zeigte keinerlei Regung. Er fixierte Ezra nur weiter ohne Unterlass. Wie einen Käfer auf einer Nadel. „Und der Mensch?“, fragte er schließlich. Ezra wäre beinahe zusammengezuckt. „Er starb bei dem Angriff“, gab er so gelassen wie möglich zurück. „Die Ghule haben sich seiner bemächtigt, ganz wie erwartet.“   „Und du konntest ihnen nicht einfach folgen, nachdem sie ihn beseitigt hatten?“   Ezra bemühte sich, nicht zu blinzeln. Dieser Punkt war die Schwachstelle in seiner Version des fraglichen Abends. „Ich habe es versucht“, sagte er so ruhig wie möglich. „Aber sie haben mich bemerkt. Es kam zu einem Kampf, dabei konnte die Ghula entkommen.“   Aemilius lehnte sich ein Stück vor. Er faltete die Hände auf der Tischplatte und fasste Ezra scharf ins Auge. „Das heißt, du hast deine Zeit damit verplempert, dich wie ein Trottel aufzuführen, und obendrein unserem Gegner noch wertvolle Karten in die Hand zu spielen. Ist das so?“ Ezra nickte leicht. „Hast du denn überhaupt etwas vorzuweisen?“   Ezra straffte die Schultern. „Immerhin wissen wir jetzt, dass es sich tatsächlich um Ghule handelt. Es muss also einen Vampir geben, der sie erschafft.“ „Oder mehrere.“ „Oder mehrere.“   Aemilius’ Mundwinkel zuckten.   „Und wie hast du vor, ihm oder ihnen auf die Schliche zu kommen? Indem du dich weiter auf Friedhöfen herumtreibst und hoffst, dass dir dein Glück in den Schoß fällt?“   Ezra hob an zu antworten, doch Aemilius schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. „Genug von deinem Gebrabbel. Ich denke, es ist an der Zeit, unsere Taktik zu ändern. Diese Ghula, die dir entkommen ist. Was weißt du über sie?“   Ezra zögerte. Nathan aus dem Spiel zu nehmen, war einfach gewesen. Darnelle erst gar nicht aufs Tapet zu bringen, ungleich schwieriger. „Ich habe sie gesehen“, gab er ausweichend zurück. „Flüchtig. Die beiden anderen Ghule haben mich ziemlich auf Trab gehalten.“   Aemilius Augen wurden schmaler. „Das ist unglücklich, denn wie es aussieht, ist sie unsere einzige Spur. Und du bist dir ganz sicher, dass du sie nicht wiedererkennen würdest? Hatte sie vielleicht etwas an sich? An ihrem Aussehen, ihrer Kleidung? Irgendein Erkennungsmerkmal, das uns einen Hinweis geben würde, wo wir nach ihr suchen müssen?“   Ezra biss sich innerlich auf die Lippen. Er durfte Aemilius auf keinen Fall von der Tätowierung erzählen. Der ältere Vampir würde nicht zögern, Darnelle zur Rede zu stellen und wenn das passierte …   Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein, da war nichts.“ „Bist du dir sicher?“   Aemilius hatte den Kopf vorgestreckt und musterte ihn so intensiv, dass Ezra beinahe einen Schritt zurückgetreten wäre. Er wusste, dass Vampire gegen die Kräfte eines anderen immun waren. Trotzdem fühlte er sich unter Aemilius’ Blick unwohl. Nur mit Mühe war er in der Lage, ihn ruhig zu erwidern. „Absolut sicher. Da war nichts.“   Aemilius lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun gut. Wenn du sagst, dass es so war, muss ich es wohl glauben. Schließlich würdest du mich niemals anlügen. Nicht wahr, mein Sohn?“ Der Spott, der sich nur mühsam hinter den Worten verbarg, biss und stach. Er täuschte Ezra jedoch nicht über die Klinge des Misstrauens hinweg, die nur wenig besser darunter versteckt lag. Ezra reckte das Kinn vor.   „Natürlich nicht, Vater.“   Ein Lächeln, dünn wie eine Messerschneide, antwortete ihm.   „Schön. Dann lass dir gefälligst etwas einfallen, wie wir den Verräter in die Finger bekommen. Je schneller, desto besser. Andernfalls …“   Aemilius sprach den Satz nicht zu Ende. Ezra senkte den Kopf.   „Ja, Vater. Ich werde dich nicht enttäuschen.“   Er deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und verließ den Raum, ohne abzuwarten, ob er entlassen war. Auf seinem Weg nach draußen folgten ihm die Worte der Sängerin.     Wenn er mich in den Arm nimmt Ganz leise mit mir spricht Seh ich das Leben rosa   Er sagt mir Liebesworte Ganz alltägliche Worte Das macht etwas mit mir   Er ist in mein Herz getreten Ein Stück vom großen Glück Von dem ich den Grund kenne   Er ist derjenige für mich Ich die für ihn im Leben Er hat es mir gesagt Auf Lebenszeit geschworen   (Frei übersetzt nach: Edith Piaf - La vie en rose)   Kapitel 15: Grenzkontrolle -------------------------- Der nächste Abend begann wie der vorherige. Marvin hatte auf dem Weg von der Arbeit etwas zu Essen besorgt, obwohl Nathan angeboten hatte, für sie zu kochen. „Morgen“, hatte Marvin gesagt und Nathan einfach nicht zu Wort kommen lassen. „Morgen gehe ich meinetwegen einkaufen, aber heute Abend tun mir die Füße weh und deswegen gibt es Koreanisch. Ende der Durchsage.“ Deswegen – und nur deswegen – saß Nathan vor einem wirklich leckeren Japchae aus Glasnudeln und gebratenem Gemüse und bekam keinen Bissen herunter. Dabei hatte der Koch sogar hochwertige Dangmyeon verwendet. Diese Nudeln aus Süßkartoffelmehl banden das Aroma der Soße besser als ihre durchsichtigen Verwandten aus Mungbohnen- oder Maisstärke und intensivierten dadurch das Geschmackserlebnis. In Nathans Mund erwachte heute Abend jedoch kein Feuerwerk. Mit einem Seufzen stellte er die weiße Faltpackung beiseite und legte seine Stäbchen daneben. „Du bist nervös“, stellte Marvin fest. Seine Mischung aus Gemüse, Hühnchen und höllisch scharfer Erdnusssoße war schon fast zur Gänze in seinem Magen verschwunden. „Glaubst du wirklich, dass er kommt?“, wollte er kauend wissen. „Ich weiß es nicht“, gab Nathan zurück. Ungeachtet dessen sah er schon wieder zur Uhr und dann zur Tür. Gleichzeitig lauschte er, ob er unten einen Wagen vorfahren hörte. Am liebsten hätte er den Fernseher abgeschaltet, den Marvin wie immer viel zu laut aufgedreht hatte. Sie würden ihn noch verpassen. „Ganz ruhig, Brauner“, meinte sein Freund jedoch nur und spießte noch ein Stück Brokkoli auf. „Entweder er kommt oder er kommt nicht. Meine Mutter hat immer gesagt: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ Nathan nötigte sich ein Lächeln ab, bevor er wieder zum Fenster sah. Vielleicht kam Ezra heute so spät, weil er vorher noch … zu Abend aß. Der Gedanke löste ein merkwürdiges Gefühl in seiner Magengegend aus. Wieder eilte sein Blick zur Tür. „Himmel, du bist ja aufgeregter als eine Jungfrau vor ihrer Hochzeitsnacht. Soll ich euch nachher mal für ne halbe Stunde allein lassen?“ Marvins Grinsen nahm dem Vorwurf die Bissigkeit, aber die Tatsache, dass er mit seinem Vorschlag so nah an dem lag, was Nathan bereits selbst durch den Kopf gegangen war, machte die Sache nicht besser. So gar nicht. „Nein, das hier ist deine Wohnung. Ich werde doch nicht …“ „Ach Unsinn“, unterbrach Marvin ihn. „Meinst du vielleicht, ich bin blind. Ihr zwei fresst euch doch gegenseitig mit den Augen auf. Da werde ich doch nicht meine Hand dazwischen halten oder gar nach dem Gartenschlauch greifen. Solange du das, was er mit dir macht, freiwillig tust …“ Nathan sah auf die Serviette herab, die in seinem Schoß lag. Er wusste, worauf Marvin anspielte. Er hatte ein Faible für Männer, die nicht gut für ihn waren. Oder zu ihm. Unerreichbare Arschlöcher, die ihn entweder auflaufen ließen oder ihn benutzten und dann wegwarfen, nachdem sie seiner überdrüssig geworden waren. Dass er gut darin war, sich etwas vorzumachen, hatte er ja gerade erst hinreichend bewiesen. „Ezra ist nicht so“, widersprach er trotzdem. Marvin prustete in sein Kimchi. „Ach wirklich? Und das weißt du woher? “ Nathan sah in seinen immer noch fast unberührten Salat.   „Ich weiß nicht. Ich versuche mir ja immer wieder zu sagen, dass das mit uns nichts werden kann. Dass er Vampir ist und das absolut nicht geht, aber … aber da ist etwas zwischen uns. Etwas Besonderes.“ Marvin machte ein Gesicht, als wolle er fragen, ob Nathan neuerdings doch anfangen hatte, an Seelenpartner und Horoskope zu glauben, als es plötzlich an der Tür klopfte. Gleichzeitig schraken sie zusammen. „Er ist da!“, rief Nathan und fing im nächsten Moment eilig an, die Verpackungen vom Tisch zu räumen. In seinem Kopf hatte er ein merkwürdiges Déjà-vu. „Jaha, ich komme“, flötete Marvin zur Tür und wedelte ungeduldig in Nathans Richtung. Man hätte glauben können, die Queen persönlich stände vor seiner Wohnung. Nathan fühlte sich nackt und ungenügend. Im Flur angekommen sah Marvin noch einmal zu ihm zurück. Nathan war alles andere als bereit. Trotzdem nickte er. Marvin erwiderte die Kopfbewegung und schob die Sicherheitskette zur Seite. Man wusste schließlich nie, wer draußen stand. In diesem Fall war es Ezra. „Hi, äh. Komm rein.“ Marvin trat beiseite und ließ Ezra vorbei. Der schob sich ein wenig umständlich in den engen Flur, der mit Marvin und ihm deutlich überbesetzt war. In der einen Hand hielt er einige Kleidersäcke, in der andere mehrere Tüten. „Ich habe eure Garderobe mitgebracht“, erklärte er auf Marvins erstaunte Frage hin. „Das Etablissement, in das wir uns begeben wollen, hat diesbezüglich einige spezielle Anforderungen.“ Marvin riss die Augenbrauen in die Höhe. „Äh … da sind jetzt aber keine Latexanzüge oder Harnische drin, oder? Nicht, dass Bondage nicht sexy wäre, aber mitmachen? Da muss ich leider passen.“ Marvin machte eine abwehrende Bewegung, die jedoch in der Luft erstarb, als Ezra ihm einen warnenden Blick zuwarf. Er stellte die Tüten auf dem Boden ab und drapierte die Kleidersäcke über dem Sessel. „Ihr werdet im Rampenlicht stehen, sobald wir dort ankommen. Das gilt insbesondere für dich. Damit unsere Täuschung gelingt, müssen wir alles tun, damit du dich absolut sicher in diesen fremden Gewässern bewegst. Ein falscher Schritt und …“ Ezra führte nicht weiter aus, was er meinte. Nathan sah Marvin schlucken. Er selbst kam sich jetzt bereits vollkommen unsichtbar vor. Was vielleicht nicht das Schlechteste ist. „Na los, nun sag schon, was da drin ist“, drängelte Marvin. Im Gegensatz zu Nathan liebte er es, shoppen zu gehen. „Die Etiketten sagen mir nämlich gar nichts.“ „Das wundert mich nicht“, gab Ezra zurück und schenkte Nathan immer noch keine Beachtung. Was sollte das für ein Spiel sein? Bevor er jedoch dazu kam, Ezra danach zu fragen, hatte Marvin schon angefangen, die mitgebrachten Pakete zu öffnen. Seine Augen wurden mit jedem von ihnen größer. „Oh Scheiße!“, hauchte er und zog etwas aus einer Tüte, das im behaglichen Licht seiner Wohnzimmerlampe rot und schwarz changierte. Das Bündel entfaltete sich zu einem Hemd mit einer asymmetrischen Knopfleiste und einem kleinen Stehkragen. Der Größe nach zu urteilen war es nicht für Nathan gedacht. „Meine Güte, das ist ja traumhaft“, jubilierte er und strich begeistert über den seidigen Stoff. „Das muss ich anprobieren.“ „In der anderen Tasche sind dazu passende Untergewänder. Ich bin mir recht sicher, dass eines davon dir passen wird.“ Marvin verzog kurz das Gesicht. Hosen kaufen war immer der schwierigste Teil seiner Mission. Sie waren entweder zu eng, zu lang oder beides. Seufzend schnappte sich Marvin jedoch auch die zweite Tüte und verschwand mit einem „Bin gleich wieder da“ im Schlafzimmer. Im nächsten Moment waren Ezra und Nathan allein. Nathan räusperte sich. „Hey“, sagte er überflüssigerweise. Immerhin befand Ezra sich bereits seit geraumer Zeit mit ihm im selben Raum. Aber andererseits hatten sie bisher noch kein Wort miteinander gewechselt. Es war beinahe gespenstisch. „Hey“, sagte jetzt auch Ezra. Er sah erholter aus als beim letzten Mal. „Hast du … hast du dieses Ding, das dir verloren gegangen ist, wiedergefunden?“ Hätte es einen Preis für den schlechtesten Smalltalk gegeben, Nathan hätte ihn mit diesem Opener sicherlich abgeräumt. Ezras Miene blieb unergründlich. „Nein, ich … habe diesbezüglich noch keine weiteren Nachforschungen angestellt. Die Zeit war dafür nicht ausreichend.“ Er wies auf die Dinge, die er mitgebracht hatte. Natürlich. Auch ein Vampir konnte Dinge nicht einfach mithilfe eines Fingerschnippens erscheinen lassen. „Außerdem wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen. Aber ich … ich denke, dass du jetzt ein wenig sicherer sein solltest. Ich habe meinem Vater erzählt, dass die Ghule dich getötet haben. Er sollte dich also nicht mehr behelligen.“ Nathans Mundwinkel wanderten eher automatisch nach oben. „Das ist … toll.“ „Ja, nicht wahr?“ Auch Ezra lächelte jetzt ein wenig verlegen. Der Anblick brachte Nathans Magen zum Wanken und ließ seine Knie weich werden. Er war sich sicher, hätte er gerade auf Rollschuhen gestanden, wäre er vollkommen ohne sein Zutun einfach auf Ezra zugerollt. Ich habe ihn vermisst. Nicht, dass er den Tag über dazu viel Zeit gehabt hätte. Shannon hatte ungefähr ein halbes Dutzend mal angerufen und Marvin mindestens doppelt so oft. Dazwischen hatte Nathan versucht produktiv zu sein. Seine Gedanken waren jedoch viel zu oft zu Ezra und dem vergangenen Abend zurückgewandert, sodass er schließlich aufgegeben und sich eine Folge seiner Lieblingsserie nach der anderen reingezogen hatte. Erst kurz bevor Marvin nach Hause gekommen war, hatte er noch einmal versucht, das Vorwort seines Buches zu überarbeiten. Das Ergebnis war grauenvoll gewesen, sodass er das Dokument geschlossen hatte, ohne eine der Änderungen zu speichern. Verschlimmbessern the next level. „Aber er macht mir Druck.“ Nathan blinzelte verständnislos. „Wer macht dir Druck?“ „Mein Vater. Er will, dass ich diese Ghula finde. Wenn er eine Ahnung hätte, wie ich vorhabe das anzustellen, würde er sicherlich schäumen vor Wut. Oder mich enterben.“ Nathan musste ein wenig schmunzeln. „Würde das nicht voraussetzen, dass er irgendwann stirbt?“ „Stimmt auch wieder.“ Für einen Moment war sie wieder da. Die Verbindung, die sie am Abend vorher gehabt hatten. Der fein gesponnene Faden wurde jedoch in dem Moment wieder zerstört, als Marvin die Tür aufriss und einen Auftritt hinlegte, der sich gewaschen hatte. „Ich. Sehe. So. Gut aus!“ Wie ein Pfau in einem pinken Paillettenkleid stolzierte Marvin ins Wohnzimmer. Dabei gebärdete er sich, als würde er inmitten einer jubelnden Menge über einem Laufsteg schreiten. Und Nathan musste neidlos anerkennen, dass er wirklich was hermachte. Das Hemd saß wie angegossen und die genau im richtigen Maße anliegende Hose ließ ihn um einiges schlanker wirken. Nur in der Länge musste Ezra sich verschätzt haben. Der schwarze Stoff schlackerte um Marvins Fußknöchel. „Das Hemd kriegt er definitiv nicht zurück“, flüsterte Marvin Nathan zu, als er nach einer vollendeten Drehung neben ihm zum Stehen kam. „Das Ding ist der Oberhammer.“ „Du siehst toll aus“, bestätigte Nathan und wollte noch etwas anfügen, als Ezra auf sie zukam. „Du hast die Schuhe vergessen“, erklärte er und hielt Marvin einen Karton entgegen. Als Marvin ihn öffnete, wurden seine Augen erst groß und dann schmal. „Absätze?“, fauchte er. „Willst du mir damit irgendetwas sagen?“ Ezra hob eine Augenbraue. „Es lag mir fern, dich zu beleidigen. Aber ich habe gewisse Standards und …“ „Standards?“, schnappte Marvin. „Soll das etwa heißen, dass ich deinen Standards nicht entspreche? Reicht es nicht, wenn ich mir diesen Scheiß auf jeder verdammten Dating-App und nahezu jeden Samstagabend anhören muss, wenn es heißt 'Sorry, nicht unter 1,80 m.' Musst du jetzt auch noch mit dieser Scheiße anfangen. Müsste es einem Vampir nicht viel mehr um die inneren Werte gehen? Wahrscheinlich habe ich Glück, dass die Zeit nicht für eine Fettabsaugung reicht, sonst würdest du das vermutlich auch noch verlangen.“ Er funkelte Ezra an wie ein übergeschnappter Yorkshire-Terrier einen American Stafford. Nathan war sich nicht sicher, wer gewinnen würde. Zu seiner Erleichterung war es Ezra, der den Rückzug antrat. „Es tut mir leid“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Wenn du die Schuhe nicht tragen möchtest, werde ich natürlich …“ „Wer hat denn das behauptet?“, unterbrach ihn Marvin schnippisch. „Natürlich werde ich sie anziehen. Die Dinger sind endgeil. Ich wollte nur klarstellen, dass ich sie anziehe, weil ich das will und nicht etwa, um irgendwelchen dämlichen Standards zu entsprechen. Klar soweit?“ Mit diesen Worten schnappte er sich die Schuhe und wackelte damit wieder zurück ins Schlafzimmer. Kurz darauf konnte man durch die Tür einen kleinen Entzückensschrei hören. Nathan unterdrückte ein Grinsen. „Sieht so aus, als hättest du einen Volltreffer gelandet“, meinte er in Ezras Richtung. Der musste sich ein Lachen offenbar auch verkneifen. Das Funkeln, das dabei in seinen Augen aufglomm, gefiel Nathan. Er wollte mehr davon sehen. Ich wünschte, wir wären allein. Aber natürlich ging das nicht. Außerdem hatten sie noch zu tun. „Möchtest du deine Sachen auch anprobieren? Ich habe dir ein paar Anzüge zur Auswahl mitgebracht, aber ich denke, du solltest mit diesem hier anfangen.“ Ezra griff nach einem der Kleidersäcke und hielt ihn Nathan entgegen. Der nahm ihn entgegen und musterte die glänzende, graue Oberfläche. Auch ihm sagte die Aufschrift auf dem Bezug nichts. Die Sachen lagen vermutlich weit außerhalb seiner Preisklasse. „Maßgeschneidert wäre natürlich besser gewesen, aber in der Kürze der Zeit …“ Ezra klang entschuldigend. Nathan hatte jedoch bereits den Reißverschluss geöffnet. Das, was dahinter zum Vorschein kam, ließ seinen Atem stocken. „Das ist nicht dein Ernst!“, rief er und zerrte ein Preisschild heraus, das unübersehbar vierstellig war. „1800 Dollar?“ „Ich sagte ja, er ist nichts Besonderes. Wenn du möchtest, könnte ich noch einen Schneider …“ „Nein!“ Nathan schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist … viel zu viel!“ Ezra schien zunächst das Problem nicht zu verstehen, dann wurde seine Miene ernst. „Dein Leben wird davon abhängen, dass man dich nicht wahrnimmt. Du wirst den Club das erste Mal betraten, also wirst du unweigerlich Blicke auf dich ziehen. Je weniger Punkte sie finden, an denen sie hängenbleiben können, desto besser. Deswegen wirst du auch diese hier tragen.“ Ezra griff nach der Tüte, der er schon Marvins Schuhwerk entnommen hatte, und reichte Nathan ebenfalls einen Karton. Als er ihn öffnete, schlug ihm der Geruch von neuem Leder entgegen. „Kommt nicht in Frage“, proklamierte er prompt und wollte Ezra den Karton zurückgeben. „Ich ziehen nichts an, was aus Teilen von getöteten Tieren besteht.“ Ezra runzelte leicht die Stirn. „Ich verstehe deine Bedenken, aber solltest du nicht daran interessiert sein, dass der Tod des Tieres wenigstens nicht sinnlos war und alle Teile von ihm eine Verwendung finden?“ Nathan unterdrückte mit Mühe ein Schnauben. „Das mag vielleicht der Fall gewesen sein, als unsere Vorfahren Tiere noch in ihrem natürlichen Lebensraum gejagt haben. Damals herrschte ein Gleichgewicht, bei dem niemand mehr nahm, als er gab. Aber heutzutage ist das nicht mehr der Fall. Tiere werden nicht mehr gezüchtet, sie werden produziert. Wie Ware. Einzig und allein zu dem Zweck, uns mit dem zu versorgen, was wir benötigen. Oder meinen zu benötigen. Denn vieles ließe sich mit sehr viel weniger Auswirkungen auf unseren Lebensraum herstellen und ohne dass eine andere Kreatur dafür leiden muss. Und am Ende machen wir uns damit selbst kaputt. Dabei möchte ich nicht mehr mitmachen.“ Wieder versuchte er Ezra die Schuhe zurückzugeben, aber der machte keine Anstalten, ihm den Karton abzunehmen. „Diese Schuhe könnten im Zweifelsfall deine Lebensversicherung sein. Jeder, dessen Gehör nicht vollkommen verstopft ist, wird sofort die Unterschiede zu einem künstlich hergestellten Material erkennen. Es wäre ein Makel, durch den du auffallen würdest. Du musst aber unsichtbar werden. Begreifst du das?“ Nathan zögerte. Noch einmal sah er auf die Schuhe hinab, die für ihn all das verkörperten, was er ablehnte. Er verurteilte niemanden, der das anders sah. Aber für sich selbst war es schon so selbstverständlich geworden, auf diese Dinge zu verzichten, dass er sich nicht vorstellen konnte, davon abzuweichen. „Vertraust du mir?“ Die Frage ließ Nathan den Kopf heben. Ezra war unbemerkt ein Stück näher getreten und stand jetzt direkt vor ihm. Zwischen ihnen stand nur noch der Schuhkarton. Nathans Herz begann erwartungsvoll zu pochen. „Und?“ Noch immer sah Ezra ihn aufmerksam an. Versuchte auszuloten, wie weit Nathans Bereitschaft, ihm zu folgen ging. Seine Treue. Seine Naivität? Er atmete tief durch. „Ich vertraue dir“, sagte er langsam. „Zumindest insofern, dass ich annehme oder vielmehrweiß, dass du mir nicht schaden willst. Und auch Marvin nicht. Vielleicht keinem Menschen. Zumindest hoffe ich das. Aber ich weiß nicht, ob ich diesen Kompromiss hier eingehen sollte. Ob ich mich damit nicht selbst verrate.“ Ezra antwortete nicht sofort. In gewisser Weise beruhigte Nathan das. Ezra schien tatsächlich über seine Worte nachzudenken. Als er schließlich den Kopf hob, lag ein entschlossener Ausdruck in seinem Blick. „Ich verlange nicht, dass du dich aufgibst. Wenn du es also wünschst, werde ich versuchen, einen adäquaten Ersatz zu finden.“ Ich wünschte nur, du würdest es nicht tun. Den letzten Satz hatte Ezra wieder nicht ausgesprochen, aber Nathan war klar, dass er ihn gedacht hatte. Aber war es ihm nicht trotzdem anzurechnen, dass er es versuchte? Oder war das genau das, was Ezra ihn glauben lassen wollte? Oder vielleicht reagiere ich auch einfach nur über, indem ich versuche, unsere Beziehung über ein Paar Schuhe zu definieren. Als wenn es gerade nichts Wichtigeres gäbe. „Na schön“, sagte er und zog den Karton wieder zu sich heran. „Ich werde sie tragen. Aber nachdem wir die Sache hinter uns gebracht haben, werde ich sie meistbietend versteigern und den Erlös einem Tierschutzverein zukommen lassen.“ An Ezras Mundwinkeln zupfte ein Lächeln. „Damit bin ich einverstanden.“ Er wies auf den Anzug, der immer noch halb ausgepackt auf seinen Einsatz wartete. „Und der Anzug?“ „Den verkaufe ich auch. Ich brauche so einen Firlefanz nicht.“ „Auch nicht, wenn du mir darin gefällst?“ Ezras Blick, in den jetzt etwas anderes getreten war, sandte ein Kribbeln seine Wirbelsäule entlang. Nathan begann zu grinsen. „Aber nur, wenn du mir mal zeigst, wie du ohne aussiehst.“ „Das wird sich sicherlich einrichten lassen.“ Ezra blieb in der Tür stehen und wäre beinahe wieder rückwärts hinausgestolpert. Sein Bett war besetzt und das sehr gründlich. „Darf ich erfahren, was du da tust?“ Darnelle, der sich auf der geschmackvollen Tagesdecke ausgebreitet und die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte, öffnete träge ein Auge. „Ich ruhe mich aus“, erklärte er, ohne sich auch nur ein Stück zu bewegen. „Immerhin scheint auf dich zu warten neuerdings eine zeitraubende Beschäftigung zu sein und auch meine Kraft ist nicht unerschöpflich. Aber wo wir beim Thema sind: Dieser Nathan scheint eine ziemliche Kondition zu haben oder hast du dir inzwischen ein neues Spielzeug gesucht?“ Ezras Finger schlossen sich fester um den Türknauf. Das Gefühl, einen entscheidenden Teil der Unterhaltung verpasst zu haben, drängte sich ihm auf, aber er versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Trotzdem war er neugierig. „Wie kommst du darauf, dass ich mich mit ihm getroffen habe?“, fragte er möglichst beiläufig, während er nun doch ins Zimmer trat, die Tür ein wenig zuschob und begann, seine Krawatte zu lösen. Während er zum Kleiderschrank ging, folgte Darnelle jeder seiner Bewegungen mit den Augen. „Nun, nach unserer kleinen Unterhaltung letztens, dachte ich mir, dass es besser wäre, dich und deine Aktivitäten ein wenig im Blick zu behalten. Deswegen weiß ich auch, dass du heute im 'La Cage' warst, dir dort einen Sub geschnappt hast und keine halbe Stunde später wieder auf der Bildfläche erschienen bist. Da das unmöglich gereicht haben kann, um dir – oder ihm – eine ausreichende Befriedigung zu bieten, bin ich natürlich neugierig, wo du danach gewesen bist. Immerhin sind seit dem mehrere Stunden vergangen in denen du schier unauffindbar warst. Ich habe sämtliche mir bekannten Adressen gecheckt, aber du warst wie vom Erdboden verschluckt.“ Ezra antwortete nicht darauf, sondern begann nur, sich auszuziehen. Unter der Oberfläche brodelte es jedoch. Wenn Darnelle ihn überwachen ließ, würde es nur eine Frage der Zeit sein, bis Nathans Aufenthaltsort herausbekam. Ich muss ihn ablenken. Aber wie? Während er sein Hemd abstreifte, fühlte er Darnelles Blicke auf seiner Haut. Das wäre natürlich eine Möglichkeit, seinen Bruder auf andere Gedanken zu bringen. Darnelle sagte nie Nein zu ihm. Niemals. Aber die Gefahr, dass Aemilius sie erwischte, war groß. Er sah es nicht gerne, wenn seine beiden „Söhne“ es miteinander trieben, und auch Ezra fühlte Widerwillen gegen die Idee in sich aufsteigen. Auch wenn es nur zu Nathans Bestem wäre, aber ich habe es ihm versprochen. Kein Sex mit jemandem außer ihm. Darnelle hätte ihn ausgelacht, wenn er davon gewusst hätte. Die Idee, sich nur an einen einzigen Partner zu binden, war ihm schon immer suspekt gewesen. Darnelle brauchte die Abwechslung. Zumindest seit Elisabeth nicht mehr war. Sie war eine der wenigen Konstanten in seinem Liebesleben gewesen. Wenn man denn da überhaupt noch von Liebe sprechen kann. Darnelle benutzte das Wort gerne freizügig und für alles Mögliche. Für ihn war es nicht mehr als ein Witz. Ein Umstand, den Ezra beschloss zu nutzen. Wenn ich ihn glauben lasse, dass er mich bereits am Haken hat, hört er vielleicht auf, mir hinterherzuspionieren. „Weißt du, ich habe über deine Worte nachgedacht“, sagt er beiläufig, während er jetzt auch noch begann, sich seiner Hose zu entledigen. „Und ich glaube, wir sollten uns doch einmal anhören, was du zu sagen hast. Du und deine Freunde.“ Er drehte sich zu Darnelle herum, sich sehr wohl bewusst, dass er immer noch mit hungrigen Augen beobachtet wurde. „Diesen Samstag“, schlug er vor, als wäre es ihm gerade erst eingefallen. „Ich bringe Nathan mit, dann kannst du ihn kennenlernen.“ Darnelles Blick wurde eine Nuance schmaler. Irgendetwas an dieser Ankündigung missfiel ihm offenbar. Aber was? War der Sinneswandel doch zu plötzlich? Zu unglaubwürdig? Ich muss ihn dazu kriegen, dass er mir glaubt. Ezra ließ sein Gesicht ernst werden. „Ich gebe natürlich zu, dass mir deine Einstellung Menschen gegenüber immer noch nicht gefällt. Besonders jetzt, wo ich Nathan kennengelernt habe. Ich möchte, dass es ihm gut geht. Dass er in Sicherheit ist. Aber da ich ihn nicht davon überzeugen konnte, das Land zu verlassen …“ Er trat näher an das Bett. Auf dem Darnelle immer noch ausgestreckt lag und keinerlei Anstalten machte, Platz zu machen oder sich zu erheben. „Werde ich wohl eine Möglichkeit finden müssen, ihn anderweitig zu beschützen. Dafür wäre ich bereit, einiges zu tun.“ Darnelle begann anzüglich zu grinsen. „Einiges? Wie viel ist einiges?“ Ezra verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Das entscheide ich, wenn der Samstag vorbei ist. Ist das ein Angebot?“ Darnelle ließ seinen Blick über Ezras Körper gleiten. Gier lag darin. Und Begehren. „Und was wirst du jetzt noch tun?“, fragte er und erhob sich langsam. Als er jedoch die Hand nach Ezra ausstreckte, wich der einen Schritt zurück und wies auf die angelehnte Tür. „Jetzt werde ich schlafen. Es war eine anstrengende Nacht und ich würde morgen Abend gerne ausgeruht sein. Immerhin bin ich offiziell immer noch auf Ghuljagd.“ Für einen Moment glomm etwas in Darnelles Augen auf. Ein kleiner Funke, der vermutlich in der Lage war, einen ganzen Waldbrand auszulösen. Aber ebenso schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. „Na gut“, sagte er lächelnd und glitt mit einer geschmeidigen Bewegung vom Bett. „Dann werde ich dich jetzt eben allein lassen.“ Ohne große Eile ging er durch den Raum und sein Morgenmantel wehte dabei wie ein Umhang hinter ihm her. An der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu Ezra herum. „Aber ich sage dir, du verpasst etwas. Süße Träume, geliebter Bruder.“ Damit verschwand er und Ezra atmete erleichtert auf. Kapitel 16: Im Dunkeln ---------------------- Nathans Schritte hallten von den Wänden wieder. Unter seinen Füßen nasser Asphalt. Es war kalt. Windig. Er hätte frieren müssen, aber dazu schlug sein Herz viel zu schnell. Und sein Puls stieg noch an, je näher sie dem Gebäude kamen, unter dem sich laut Ezras Aussage der „Darkroom“ befand. Der Club, auf den sie es abgesehen hatten. Den sie infiltrieren wollten. Was hatte er sich nur dabei gedacht?   Ganz ruhig.   Ezra hatte es ihnen wieder und wieder eingebläut. Wenn einer von ihnen Panik bekam, würden sie auffliegen. Deswegen war es absolut essentiell, dass sie sich ganz normal verhielten. So, als würden sie hier jeden Tag ein und aus gehen. Immerhin gelang es ihm inzwischen, sich in den Sachen, die Ezra für ihn besorgt hatte, einigermaßen ungezwungen zu bewegen, auch wenn er den kompletten Anzug zugunsten eines Ensembles aus Hemd und Hose verschmäht hatte. Sogar an die Tatsache, dass er diese scheußlichen Schuhe tragen musste, hatte er sich inzwischen gewöhnt.   Die armen Geschöpfe bei 'Happy Tails' werden es mir danken, sagte er sich immer wieder, während er sich bemühte, mit Marvin Schritt zu halten, der förmlich über die leere Straße schwebte. Fast so, als wäre er ins einem Element, was er vermutlich auch war. Die Rolle seines Lebens. Halleluja!   „Ist es noch weit?“, fragte Marvin in diesem Moment. „Nein.“   Ezra wirkte nicht im Geringsten angespannt. Alles, was er tat, war routiniert. Was es vermutlich auch war. Immerhin kam er fast jeden Abend hierher. Es hatte schon damit angefangen, dass sie sein Auto einfach am Straßenrand abgestellt hatten. Ezra hatte den Schlüssel stecken lassen und war ausgestiegen, ohne sich weiter um das Fahrzeug zu kümmern. Kurz darauf war der Wagen an ihnen vorbeigefahren mit einem Fremden am Steuer. Nathan war sich sicher, dass er, wenn sie gehen wollten, auf ebenso geheimnisvolle Weise wieder auftauchen würde. Wo er bis dahin war, musste sie nicht kümmern. Ezras Bruder hatte für alles gesorgt.   „Wir sind da.“ Wo genau „da“ sein sollte, konnte Nathan nicht erkennen. Es gab keine Leuchtreklame, kein Schild keinen sichtbaren Eingang. Nur eine einzelne, in eine Mauer eingelassene Stahltür, die keinerlei Möglichkeit bot, sie zu öffnen. Ezra blieb davor stehen und klopfte. Einen Augenblick später wurde sie wie von Geisterhand geöffnet. Dahinter war niemand zu sehen. Nur absolute Dunkelheit. Nathan fröstelte.   „Ihr solltet jetzt eure Masken aufsetzen.“   Schnell griff Nathan nach der einfachen schwarzen Halbmaske, die er früher am Abend erhalten hatte, und befestigte sie an seinem Hinterkopf. Marvin tat dasselbe mit seinem Exemplar, das wesentlich aufwendiger gearbeitet und mit einem dunkelroten Muster versehen war. Ezras silberne Maske hingegen hing immer noch locker an seinem Handgelenk. „Und du?“, fragte Nathan gerade noch oberhalb der Grenze dessen, was er für hörbar hielt. „Ich werde meine erst aufsetzen, wenn wir unten sind. Es soll kein Zweifel daran bestehen, wer ich bin.“   Ein Schauer rieselte bei diesen Worten über Nathans Rücken. Natürlich hatte er geahnt, dass Ezra nicht irgendwer war. Immerhin war kaum zu übersehen gewesen, dass er über nicht gerade geringe finanzielle Mittel verfügte. Dass diese jedoch auch mit erheblichem Einfluss einhergingen, war Nathan allerdings erst so richtig klar geworden, als Ezra Marvin auf seine Rolle vorbereitet hatte.   „Du bist“, hatte er gesagt, „der Favorit des Bruders des Clubbesitzers. Damit rangierst du ganz oben in der Hierarchie der Donoren. Man wird dich bewundern, anstarren, testen. Jeder wird wissen wollen, wen sich der jüngste Spross der einflussreichsten Familie der Stadt auserkoren hat. Also sei darauf vorbereitet, dass man dir Fragen stellt. Fragen, die du mit dem Hinweis auf deine Verschwiegenheit nicht beantworten wirst. Aber du wirst so tun, als wenn es dir schwerfällt, das wird ihr Interesse nur noch anfachen.“   „Aber … ich weiß doch gar nichts über dich“, hatte Marvin geantwortet und Ezra hatte nur gelächelt. „Gut. Dann wirst du ihnen ja auch nichts verraten können.“   Seitdem ging Nathan dieses Gespräch nicht mehr aus dem Kopf. Das Gefühl, dass er sich vielleicht doch in etwas verrannte. Dass er gerade sein Leben riskierte für einen Mann, den er nicht einmal kannte.   Hätte ich doch gehen sollen? Abhauen, solange ich noch kann?   Aber jetzt war es zu spät, um kalte Füße zu kriegen. Die Sicherheitskameras, die gut versteckt in zwei Nischen oberhalb des Eingangs eingelassen worden waren, hatten ihn bereits erfasst und wenn er jetzt floh, würde er vermutlich keine zehn Schritte weit kommen. Nur, weil die Häuser um sie herum verlassen wirkten, hieß das nicht, dass sie es auch waren. Ebenso gut mochte ein gutes Dutzend unsichtbare Augen auf sie gerichtet sein, bereit beim kleinsten Fehltritt zuzuschlagen.   Nur kein Druck.   Mit einem letzten Atemzug wagte er sich hinab in die Dunkelheit.   Sie gingen einige Meter in vollkommener Finsternis. Nathan hätte sich gerne an irgendetwas orientiert, aber die undurchdringliche Schwärze ließ lediglich zu, dass er den Schritten vor ihm folgte, bis sie an eine weitere Tür kamen. Als sie geöffnet wurde, verbarg sich dahinter graues Zwielicht und eine dritte Tür, bei der es sich offenbar um die des Fahrstuhls handelte. Nathan hätte beinahe aufgeatmet, wäre da nicht der breitschultrige Riese gewesen, dem das Wort „Security“ in dicken Lettern auf die Stirn geschrieben stand. Kaum, das Nathan den Raum betreten hatte, kam Leben in die muskelbepackte Wand aus Fleisch und Knochen. „Halt“, knurrte der Wachmann. „Hast du eine Einladung?“   Nathan zuckte zusammen, blieb jedoch still, wie Ezra es ihm gesagt hatte. Ezra selbst tat zunächst unbeteiligt. Der Wachmann kam drohend näher. „Ich hab gefragt, ob du eine Einladung hast“, grollte er. „Ich …“, begann Nathan, wurde jedoch sofort von Ezra unterbrochen. „Wie lange dauert das denn noch, Ian? Du weißt, ich warte nicht gerne.“ Der Riese zuckte zusammen. „Natürlich. Sofort, Sir.“   Er murmelte etwas in sein Headset und nur Sekunden später öffneten sich die Aufzugtüren. Gelangweilt trat Ezra ein. Sein Blick streifte wie zufällig durch den Raum und blieb dann an Nathan hängen. „Lass den Jungen durch.“   „Aber ihr Bruder …“, versuchte der Wachmann zu entgegnen, doch Ezra zeigte sich nicht im Geringsten amüsiert.   „Ich sagte, du sollst ihn durchlassen.“   Der Bulle senkte ergeben das Haupt. „Wie Sie wünschen, Sir. Soll ich ihn ebenfalls als Ihren Gast eintragen?“   Ezra musterte Nathan, als wäre er etwas, in das er gerade hineingetreten war. „Ja“, gab er gelangweilt zurück. „Tu das. Was immer er trinkt, geht heute Abend auf meine Rechnung. Im Gegenzug wird er mir nicht mehr vor die Augen kommen. Haben wir uns verstanden, Bursche?“   Nathan nickte und musste seine Erleichterung dabei nicht einmal spielen. Ezra schnippte mit den Fingern und deutete auf den Kabinenboden. So schnell ihn seine Füße trugen, eilte Nathan an seine Seite. Dabei hielt er den Blick gesenkt und tat so, als würde er vor Angst zittern. Wieder etwas, das nicht unbedingt gespielt war. Erst, als sich die Türen vollständig geschlossen hatten, wagte er wieder zu atmen. Allerdings war er damit nicht alleine. „Puh, das war haarscharf. Wird das den ganzen Abend so weitergehen? Meine Nerven!“   Aus den Augenwinkeln sah Nathan, wie Marvin sich Luft zufächelte. Ezra hingegen wirkte weiterhin vollkommen entspannt. „Das war erst die erste Hürde“, sagte er leise, ohne den Mund zu bewegen. „Wenn wir unten sind, beginnt der richtige Ärger.“   Nathan hätte nur zu gerne gewusst, was das heißen sollte, aber noch bevor er fragen konnte, verkündete ein leises Klingeln die Ankunft des Fahrstuhls. Das Geräusch jagte Nathans Puls in die Höhe.   „Ruhig jetzt“, raunte Ezra ihm zu, bevor sich die glänzenden Stahlplatten beiseiteschoben und ihnen Zutritt in den „Darkroom“ gewährten.     Showtime!   Marvin straffte die Schultern und streckte das Kinn vor. Auf diesen Abend hatte er seit Tagen gewartet. Okay, vielleicht nicht wirklich gewartet. Mehr voll böser Vorahnungen darauf hingefiebert. So wie auf seine Abschlussprüfung. Mit schlaflosen Nächten – wortwörtlich; immerhin hatte er einen Vampir als Nachhilfelehrer gehabt – und endlosen Kostümproben. Dazu noch sein Job. Am Ende hatte er nur noch Sterne gesehen. Und Streifen, denn exakt die hatte er Lady Pilkinton auf ihre Nägel gemalt. In pink und grün. In etwa die Farben, in der die Lady dann angelaufen war. Natürlich hatte er sich sofort wortreich entschuldigt und alles wieder entfernt, aber uff, damit war er verdammt haarscharf an einer Kündigung vorbeigeschlittert. Und jetzt … jetzt stand er hier im „Darkroom“. Und der war so gar nicht, was er erwartet hatte.   Statt einem schummrigen Kellergewölbe mit klapprigen Kabinen und klebrigen Wänden ähnelte dieses Etablissement eher einem vornehmen Restaurant oder einer gediegenen Bar. Zwischen dunklem Holz und schwarz gestrichenen Wänden herrschten noble Eleganz und verschwenderischer Protz. Ausladende Kronleuchter, die von den erstaunlich hohen Decken hingen, warfen gedämpftes Licht auf rotes Leder, purpurnen Samt und lackglänzendes Mobiliar. In einer Ecke spielte eine Band und eine Sängerin beklagte mit rauchiger Stimme den Verlust ihres Geliebten in einer regnerischen Nacht. Davor wiegten sich Pärchen im Takt der schwermütigen Musik. Zu ihren Füßen eine ebenholzfarbene Tanzfläche.   Eine der Bedienungen schwebte vorbei. In ihrer Hand ein mit Getränken beladenes Tablett, an ihrem Körper wenig Stoff. Schnüre, Stäbchen, Haken und Ösen brachten in Form, was in Form zu bringen war, und bedeckten dabei nur das Nötigste. Ihre Stiefel hingegen waren atemberaubend.   „Sollte ich jetzt beleidigt sein?“, murmelte Ezra an seiner Seite. Fragend sah Marvin zu ihm auf. Ein feines Lächeln zierte das Gesicht des Vampirs. „Kaum, dass du mit mir ausgehst, fängst du an Frauen nachzuschauen? Ich glaube, ich bin ein schlechter Einfluss.“   Marvin schnappte nach Luft und wollte gerade erwidern, dass er mitnichten am Inhalt der mehr als knappen Verkleidung interessiert gewesen war, als schon das nächste, weibliche Geschöpf auf sie zugestrebt kam. Die Frau war groß, trug ein tief ausgeschnittenes, rotes Abendkleid und lächelte auf eine Weise, die nicht im Geringsten ihre spitzen Eckzähne verdeckte. Ihre fein ziselierte Maske, die mit unzähligen Brillanten besetzt war, konkurrierte nur unwesentlich mit ihrer Halskette, deren Steine so riesig waren, dass man vermutlich mit einem davon Marvins gesamten Wohnblock hätte kaufen können. Er beschloss sofort, dass er sie nicht leiden konnte. „Sieh an, sieh an“, flötete die Dame, deren stahlblaue Augen wie geschliffene Dolche funkelten. „Der junge van Draken. Dein Bruder hat behauptet, du wärst im Ausland. Was für ein dreister Lügner!“ „Camille“, entgegnete Ezra und hauchte ihr rechts und links einen Kuss auf die Wange. „Ich hatte nicht erwartet, dich heute hier zu sehen. Ich dachte, du seist in Mailand.“ „Ach, zu viel Sonne, zu viele blutarme Gigolos. Du hättest mitkommen sollen, das wäre spaßig geworden.“   Ezra bemühte sich um ein diplomatisches Lächeln. „Das nächste Mal vielleicht.“ „Ach, das sagst du immer.“   Die Vampirin lachte, bevor sich die mörderischen Eiskristalle in ihrem Gesicht auf Marvin richteten. In seiner Vorstellung malte sie ihm ein rotes Fadenkreuz auf die Brust. „Aber ich sehe, du bist nicht allein“, stellte die Vampirin fest und spitzte die rot bemalten Lippen. „Wer ist denn der Leckerbissen, den du da mitgebracht hast?“   Ezra wandte sich Marvin zu.   „Das ist Nathan. Er ist mein …“   Unfairerweise ließ er offen, was er meinte. Liebhaber? Zimmernachbar? Abendessen? Was zum Teufel sollte das? Das hatten sie nicht abgesprochen. Allein die Tatsache, dass Marvin seinen besten Freund mimte und damit hoffentlich die Aufmerksamkeit der anwesenden Vampire auf sich zog, während der echte Nathan sich undercover nach Spuren diese Ghula umsah, war schon verdammt gewagt gewesen. Aber dass Ezra jetzt auch noch anfing zu improvisieren? Nicht cool! Marvin hätte ihm am liebsten vors Schienbein getreten, wenn sie denn an einem Tisch gesessen hätten. Leider waren weit und breit weder Tisch noch Stuhl in Sicht, die er zwischen sich und die gierig grinsende Vampirlady hätte schieben können.   „So so. Nathan also“, gurrte sie jetzt auch noch und streckte Marvin auffordernd ihre Hand entgegen. Im ersten Moment wollte er danach greifen, aber dann fiel ihm ein, was Ezra ihm beigebracht hatte. Er fasst nur leicht nach ihren Fingern, beugte den Nacken und brachte seine Lippen in die Nähe ihres Handrückens in Andeutung eines Kusses. „Enchanté, Madame“, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. „Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“   Die Vampirin zeigte erneut die Zähne. „Die Freude ist ganz meinerseits“, hauchte sie, bevor sie sich wieder an Ezra wandte. „Kommt, wir müssen ihn den anderen zeigen. Sie werden umfallen, wenn sie das sehen.“ Damit hängte sie sich an Ezras Arm und zog ihn mit sich. Marvin hatte fast Mühe, ihnen zu folgen. Endlich, nur kurz bevor sie eine Gruppe von Leuten erreichten, ließ die Schreckschraube Ezra wieder aus ihren Fängen. Sofort war er an Marvins Seite. „Die erste Hürde ist genommen“, murmelte er leise. „Aber Achtung jetzt. Neben Camille sind heute noch mindestens vier weitere echte Vampire hier. Ich kann sie spüren.“   Marvin wurde heiß und kalt. Mit sechs oder mehr Blutsaugern in einem unterirdischen Bunker festzusitzen, gehörte nun wirklich in die Kategorie grässlicher Alptraum. Dabei hatte er doch gewusst, dass genau das passieren würde. Es machte die Sache nur nicht im Geringsten besser.   Ganz locker. Wir haben das geübt. Also los, du schaffst das.   Er nahm eine Gestalt aufs Korn, die in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt war und mit dem Rücken zu ihnen stand. Der hohe Kragen und eine dunkle Sonnenbrille verdeckten das Meiste seines Gesichts, aber Marvin konnte trotzdem erkennen, dass seine Haut einen ziemlich ungesunden, fast schon weiß anmutenden Farbton besaß. „Der dort?“, flüsterte er. Ezra folgte seinem Blick. Ein leicht amüsierter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.   „Nein. Dieser dort ist trotz seiner Vorlieben durch und durch menschlich. Aber der Hagere am Ende der Bar mit der Luchsmaske. Das ist Valkow. Von dem musst du dich fernhalten. Er ist dafür bekannt, nicht gerade zimperlich zu sein. Es heißt, einem seiner Donoren hätte er mal den Kopf abgerissen und in seinem Blut gebadet. Mein Bruder hatte schon jede Menge Ärger mit ihm.“   Marvin rückte unwillkürlich ein wenig näher an Ezra heran.   Hätte ich auch nicht gedacht, dass mir das mal passieren würde.   „Und wer noch?“ „Das dort hinten ist Rodolfo. Er hat bereits jemanden für diesen Abend gefunden.“   Ezra deutete auf die Tanzfläche, wo ein glattgeschniegelter Latin Lover gerade eine alabasterhäutige Rothaarige mit einer Schwanenmaske auf die Tanzfläche führte. Ihr schwarzes Spitzenkleid war aufwendig gearbeitet und ihren langen, weißen Hals zierte eine unauffällige Tätowierung. Was auf den ersten Blick wie ein leicht schiefes Dreieck aussah, war in Wirklichkeit der althebräische Buchstabe D. Jeder der Clubs hatte sein eigenes Symbol. Wer zur Verfügung stand für einen Drink, trug es offen zur Schau, wer gerade pausieren musste, weil sich schon jemand an ihm vergangen hatte, hielt es bedeckt. Vergehen gegen diese Regel wurden nicht geahndet, konnten jedoch bei Wiederholung durchaus unangenehme Folgen haben. Welche, das hatte Ezra nicht gesagt, aber Marvin war sich sicher, dass sie von ein paar Gläsern Gratis-Champagner nicht aufgewogen wurden.   „Möchtest du etwas trinken?“ Wie aufs Stichwort fragte Ezra nach seinen Wünschen. Der Blick, den er ihm dabei schenkte, war warm und fürsorglich. „Champagner? Oder etwas Stärkeres?“, hakte Ezra nach, als Marvin nicht antwortete.   Bitte ein Glas Wasser und ein Taxi. „Ähm … überrasch mich doch einfach?“ Ezra lächelte.   „Warte hier“, sagte er, ließ Marvins Arm los und ging in Richtung Bar. Kaum, dass er weg war, kehrte das Camille-Monster zurück, im Schlepptau zwei distinguierte Herren in samtenen Gehröcken. „Das ist er“, schrillte sie. „Ist er nicht hinreißend. Wundervolle Haut. Und wie er riecht.“   Camilles Nüstern blähten sich und Marvin kam sich mit einem Mal vor wie ein Bulle in einer Zuchtanstalt. Es fehlte nur noch, dass sie ihm die Hose runterzog um zu sehen, ob das, was sie dort vorfand, auch ihren Vorstellungen entsprach. Dabei würde er jemand wie sie nicht mal mit der Kneifzange anfassen. Allein die Vorstellung!   Camille, die sein Schweigen offenbar missverstanden hatte, brach in glockenhelles Lachen aus. „Oh, keine Sorge. Ich werde schon nicht ohne seine Erlaubnis naschen. Dein Protecteur würde mir den Hals umdrehen und es dauert immer furchtbar lange, bis das wieder verheilt ist.“   Sie und ihre Spießgesellen brachen in lautes Gelächter aus und Marvin wünschte sich ganz woanders hin. Nach Hause, vorzugsweise mit Felipe eingekuschelt auf seiner Couch. Oder im Bett. Dort wäre er sicher. Aber Felipe weigerte sich immer noch mit ihm zu reden Marvin hatte mittlerweile aufgegeben, ihn anrufen zu wollen. Stattdessen stand er jetzt hier vor dieser Vampirziege und musste sich begutachten lassen wie ein Stück Fleisch.   Aber nicht mit mir. Der werd ich zeigen, was ne Harke ist.   „Also meine Liebe, wenn ich Ihnen da einen ganz wundervollen Chiropraktiker empfehlen darf. Der hat mich in Nullkommanichts wieder hingekriegt, nachdem Ezra mich die ganze Nacht durch die Laken gezogen hat. Ich konnte danach ja wirklich kaum mehr gehen, aber dieser Doktor …“   Marvin blinzelte unschuldig, während es Camille sprichwörtlich die Sprache verschlug. Marvin hielt sich gespielt erschrocken die Hand vor den Mund „Oh nein! Hab ich etwa was Falsches gesagt? Wie ungeschickt von mir.“ Leider währte die Überraschung der Vampirin nicht lange an. Nach einer unangenehm kurzen Zeit der Stille begann sie erneut zu lachen und auch die Herren an ihrer Seite – einer von ihnen ein Donor aus einem anderen Club – fielen mit ein. „Nein, dieser Nathan“, rief sie. „Herzerfrischend, ja wirklich. Du musst mich unbedingt mal einladen, wenn ihr beiden …“   Camille zwinkerte Ezra zu, der gerade mit einem hohen Glas gefüllt mit einer blutroten Flüssigkeit zu ihnen zurückkehrte. Allein die Bläschen, die darin aufstiegen, beruhigten Marvin ungemein. Ezras Blick glitt zu der Vampirin, die immer noch ganz in ihr Amüsement verstrickt war. Mit leicht gerunzelten Brauen beugte er sich zu Marvin herab. „Was hast du ihr erzählt?“ „Dass wir beide die ganze Nacht gevögelt haben.“   Ezras Gesichtsausdruck sprang von besorgt zu fassungslos.   „Das hast du Camille erzählt? Ausgerechnet ihr?“ „Warum nicht?“ „Weil sie die größte Klatschbase ist, die ich kenne. Das wird in Nullkommanichts die Runde machen.“   Marvin grinste schwach. „Nun, dann hast du jetzt immerhin einen Ruf zu verlieren.“   Ezra sah zunächst aus, als würde er ihm die Sache übel nehmen, doch dann lachte er leise. „Na schön, dann bin ich jetzt eben ein Casanova.“   Marvin wurde ernster. Er dachte an Nathan.   „Bist du das normalerweise nicht?“   Ezra sah ihn an.   „Warum fragst du das?“   Marvin deutete ein Lächeln an. „Er ist mein bester Freund. Also?“   Ezra sah für einen Moment zu Boden, bevor er Marvin wieder in die Augen blickte. „Es ist nicht so leicht“, begann er, bevor er urplötzlich verstummte. Als Marvin seinem Blick folgte, sah er einen Mann durch die Menge hindurch auf sie zukommen. Seine rotblonden Haare wurden von einer silbernen Tigermaske zurückgehalten, um seinen Hals lag eine Kette aus Zähnen. Spitzen Zähnen.   Die werden doch nicht von Vampiren sein?   „Bruder“, sagte der Fremde und öffnete die Arme. Die Aufschläge seines Jacketts entblößten ein schwarzes Rüschenhemd, das bis zum Bauchnabel hin aufgeknöpft war. Darunter ein recht ansehnliches Stück nackte Haut.   Ezra zwang ein Lächeln auf sein Gesicht.   „Darnelle“, antwortete er. Er reichte Marvin sein Glas, bevor er sich in eine Umarmung ziehen ließ. Es sah aus, als würde ein Tiger seine Beute schlagen. „Wie schön, dass du kommen konntest“, intonierte der Tiger. „Ich habe nur auf euch gewartet.“   Marvin war sich sicher, dass er trotz der vielen Gespräche, die um ihn herum stattfanden, alle Ohren plötzlich nur noch auf sie gerichtet waren. Der Vorhang war zurückgezogen worden und die Show hatte begonnen. Jetzt durfte er es nicht mehr vermasseln Ganz ruhig, Marvin. Das Wichtigste an einem Magier ist immer die reizende Assistentin.   Die Augen des Tigers richteten sich auf ihn, als habe er ihn vorher überhaupt nicht bemerkt. Eine Lüge, wie Marvin sich sicher war. „So so“, grollte der Tiger, „du bist also Nathan. Ich freue mich, dich kennenzulernen.“   „Die Freude ist ganz meinerseits“, würgte Marvin hervor. Er hatte das Gefühl, dass sein Blut unter Darnelles prüfendem Blick in seinen Adern zu kochen begann. Vermutlich würde er gleich explodieren und eine fürchterliche Schweinerei hinterlassen. Die Vorstellung hatte einen gewissen Reiz. „Du solltest etwas trinken“, säuselte der Tiger. „Dein Hals scheint ganz trocken zu sein.“   Marvin nickte und gehorchte. Das Getränk prickelte an seinem Gaumen und hatte eine süße, fruchtig-aromatische Note.   Kir Royal, bemerkte irgendein abgeschiedenes Areal seines Gehirns, das anscheinend von der allgemeinen Panik nichts mitbekommen hatte. Da sind Johannisbeeren drin. „Johannisbeeren“, murmelte er und nahm gleich noch einen Schluck. Vielleicht würde der Alkohol ja dabei helfen, sein flatterndes Herz zu beruhigen.   Der Tiger lächelte und bot ihm seinen Arm an. „Komm, Nathan. Lass uns uns ein wenig … unterhalten.“   Marvin warf einen verzweifelten Blick in Ezras Richtung. Der nickte unauffällig. Alles lief ganz genau nach Plan.       Ermattet ließ Nathan sich auf einen Barhocker sinken und bestellte ein Kirschsoda. Der Barkeeper im hinteren Teil des Clubs bediente ihn schnell und routiniert. Nach Geld fragte er wie auch schon die Male zuvor nicht. Nathan griff nach seinem Glas. Er brauchte etwas, an dem er sich festhalten konnte. Mit wenig Hoffnung drehte er sich halb auf seinem Sitz herum und sah sich um.   Hier war es ruhiger und weniger gut beleuchtet als vorne an der Tanzfläche. Nischen mit lederbezogenen Eckbänken boten Platz, um sich diskret zurückzuziehen und Dinge zu tun. Eine Tatsache, die, wie er feststellen konnte, gerade von einem Dreiergespann in die Tat umgesetzt wurde. Die drei schienen gut miteinander bekannt; sie lachten, scherzten. Doch schon bald driftete die Konversation ab. Die Berührungen wurden häufiger, die Worte weniger und als der Mann eine kleine Samtrolle aus seiner Jacke zog, sie auf dem Tisch ausbreitete und ein mit einer Plastikkappe versehenes Skalpell daraus hervorzauberte, wusste Nathan bereits, was gleich passieren würde. Trotzdem verschlug es ihm den Atem, als der Mann tatsächlich die Klinge am Oberarm der in der Mitte sitzenden Frau ansetzte und ihr einen Schnitt zufügte. Sofort erschienen einige Blutstropfen an der von einem Tattoo umgebenen Stelle, die er gierig aufleckte. Genüsslich kostete er die rote Flüssigkeit wie einen edlen Wein, bevor er seiner Begleiterin das Skalpell reichte und sich erneut daran machte, an der blutenden Wunde zu saugen. Die Frau auf der anderen Seite küsste die Donorin auf die Wange, bevor sie ihre Hand nahm und mit feinen Stichen die Spitze ihres Zeigefingers punktierte. Danach legte sie das Instrument beiseite und schob sich den verletzten Finger in den Mund. Intensiven Blickkontakt mit dem Opfer haltend, begann sie daran zu nuckeln. Die Frau, deren Blut getrunken wurde, schloss die Augen und gab sich dem Pärchen – Nathan war sich sicher, dass die beiden „Vampire“ zusammengehörten – ganz und gar hin. Dabei zuzusehen war seltsam erregend und abstoßend zugleich. Nathans Gedanken wanderten zu Ezra. Ezra, dem er den ganzen Abend aus dem Weg gegangen war. Er fragte sich, wie es wohl war, von ihm gebissen zu werden. Ihn ganz zu spüren. „Genießt du die Aussicht?“   Eine männliche Stimme holte Nathan wieder zurück in die Wirklichkeit. Jemand schob sich neben ihn und stellte sein Glas auf der Theke ab. Martini vermutlich. Zumindest schwamm eine Olive in der glasklaren Flüssigkeit. Ihr Besitzer war ein Mann mittleren Alters. Seine langen, dunklen Haare wurden im Nacken von einer Samtschleife zusammengehalten. Dazu trug er einen Gehrock aus dunkelrotem Brokat, eine schwarze, vogelartige Maske und helle Kontaktlinsen. Zumindest war das die einzige Erklärung die Nathan für seine Augenfarbe hatte.   Es sei denn …   Nein, bei dem Fremden konnte es sich nicht um einen echten Vampir handeln. Sein Getränk und das vollkommene Fehlen spitzer Eckzähne waren dabei ein recht guter Hinweis. Nathan räusperte sich. „Ja, also … ich wollte nicht starren, aber das Ganze ist noch ziemlich neu für mich.“ Der Fremde lächelte.   „Dein erster Besuch hier?“   Nathan schlug die Augen nieder. Die Rolle, die er sich ausgedacht hatte, verbot ihm, allzu selbstbewusst aufzutreten. Nicht, dass es ihm schwergefallen wäre, so zu tun, als würde ihn all das hier ziemlich einschüchtern.   „Ja, ist es. Ich war eigentlich mit einer Freundin verabredet. Sie wollte mir alles zeigen, aber sie ist leider nicht aufgetaucht. Ihr Name ist Katherine. Du kennst sie nicht zufällig?“ „Katherine?“ Der Mann, der sich immer noch nicht vorgestellt hatte, überlegte. „Nein, leider sagt mir das nichts. Ist sie …“   „Sie ist ein Donor. Groß. Lange, dunkle Haare. Auffallend hübsch. Sehr elegant.“   Der Fremde schüttelte bedauernd den Kopf.   „Nein, tut mir leid. Das sagt mir nichts. Aber vielleicht warten wir einfach gemeinsam, ob sie noch kommt, und lernen uns dabei ein wenig näher kennen?“   Die hellen Augen hinter der Maske sahen ihn fragend an. Nathan wusste, dass er eigentlich ablehnen musste, aber er hatte dieses Gespräch heute Abend bereits ein gutes Dutzend Mal geführt. Immer mit dem gleichen Ergebnis. Niemand kannte Katherine oder jemand, auf den seinen Beschreibung passte. Es war, als wäre sie nie hier gewesen. „Also eigentlich …“, begann er und überlegte, wie er den anhänglichen Galan möglichst elegant loswerden konnte, als der sich plötzlich aufrichtete. Seine Augen weiteten sich und sein Blick richtete sich auf jemanden, der unbemerkt von hinten an Nathan herangetreten war. Nachthans Nackenhaare richteten sich auf. „Ich glaube, er ist nicht interessiert“, sagte eine weiche, fast schon einschmeichelnd klingende Stimme in seinem Rücken. „Vielleicht solltest du weiterziehen.“   Der Mann vor ihm zögerte. Offenbar war er nicht bereit, seine „Beute“ einfach so aufzugeben.   „Aber ich habe ihn zuerst gesehen. Er soll mir wenigstens die Ehre erweisen, mich selbst abzuweisen.“   Derjenige, der hinter Nathan stand, lachte leise. „Ja, das sollte er wohl. Also, was sagst du? Möchtest du dich weiter mit unserem Gast unterhalten oder möchtest du … mit mir kommen?“   Nathan schluckte. Er war sich mittlerweile sicher, dass, wer auch immer hinter ihm stand, ein richtiger Vampir sein musste. Einzig Mister Olive-im-Glas war noch in der Lage, ihn vor dem drohenden Unheil zu retten. Selbst wenn das hieß, das Nathan ihm etwas von seinem Blut geben musste. Ein geringer Preis dafür, wenn man bedachte, was die Alternative war. Und doch merkte Nathan, wie er von ihm abrückte auf den Unsichtbaren in seinem Rücken zu.   „Ich bin nicht interessiert“, sagte er mit einer merkwürdigen Stimme, die nicht seine eigene war. Der menschliche Vampir verzog das Gesicht. „Na gut, ich habe verstanden. Dann wünsche ich euch beiden noch einen schönen Abend. Vielleicht sieht man sich später noch.“   Damit glitt er von seinem Stuhl, nahm seinen Drink und setzte seine Wanderung durch die dunklen Gänge fort. Kaum, dass er fort war, wich die merkwürdige Spannung von Nathan. Der Mann in seinem Rücken bewegte sich nicht.   „Eine gute Wahl“, sagte er. „Gavin ist ein Schwachkopf, der sich einbildet, wer weiß wie anziehend zu sein. Dabei ist seine Erfolgsquote lausig und seine Donoren rennen in Scharen davon, weil sie sein Gesülze nicht ertragen können. Glaub mir, ich hab dir einen Gefallen damit getan, dass ich ihn verscheucht habe.“   Der unbekannte Vampir kam jetzt etwas näher. So nah, dass Nathan glaubte, gleich von ihm herumgerissen und auf der Bar zerfleischt zu werden.   „Und?“, fragte der Vampir mit verführerischem Timbre, „Wie gefällt dir der Club?“   Nathan schluckte. Er hätte gerne noch etwas von seinem Soda gehabt, aber das stand nahezu unerreichbar eine halbe Ellenbogenlänge von ihm entfernt. Nur mit Mühe räusperte er sich.   „Ja, es ist … sehr nett hier“ „Und würdest du gerne noch mehr sehen? Ich könnte es dir zeigen. Die Cocktailbar vielleicht? Die Tanzfläche? Die Waschräume oder … die Spielzimmer?“ Die letzten Worte hatte der Vampir Nathan ins Ohr geraunt. Warmer Atem streifte seine Haut. Er erschauderte. Der hinter ihm Stehende lächelte erneut. „Mhm, interessant. Du willst wissen, auf was du dich hier eingelassen hast. Na dann komm. Lass uns gehen.“   Eine Hand legte sich auf seine Schulter und schob ihn von seinem Stuhl in Richtung Gastraum. Nathan wollte sich gerne bemerkbar machen. Wollte sagen, dass er das nicht wollte, aber seine Zunge war wie gelähmt und seine Füße gingen ohne sein Zutun in eine Richtung, die er nicht kannte. Sie steuerten auf einen dicken Samtvorhang zu, der zwischen zwei Paneelen hing. Nathan war sich sicher, dass er ihn vorher schon gesehen, aber nicht wirklich bemerkt hatte. Lag dahinter etwa noch ein Teil des Clubs?   „Geh weiter.“   Der Zwang hinter den Worten war körperlich spürbar. Ohne es zu wollen, begann Nathan wieder, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Einzig seine Gedanken drehten sich wie wild im Kreis. Er musste hier weg. Schnell! Der Vorhang teilte sich vor ihnen und offenbarte einen weiteren dunklen Gang, in dem Nathan kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Nur vereinzelte, an den Wänden angebrachte Kerzenleuchter wiesen ihnen den Weg tiefer hinein in den Kaninchenbau. Dicker Teppichboden dämpfte ihre Schritte und auch sonst war kein Laut zu hören. Daran änderten auch die in regelmäßigen Abständen auftauchenden Türen rechts und links des Ganges nichts. Dahinter verbargen sich vermutlich die „Spielzimmer“, von denen sein Häscher gesprochen hatte.   Da drin hört dich niemand schreien.   Der Gedanke ließ Nathans Kehle eng werden.   Vor der letzten Tür ganz am Ende des Ganges blieben sie stehen. „Öffne sie.“   Nathan zögerte. Der Vampir hatte dieses Mal keinen Befehlston eingesetzt. Trotzdem erschien es ihm nicht ratsam, ihn zu verärgern. Also griff er nach der Klinke der mit schwarzem Leder beschlagenen Tür und drückte sie nach unten. Sofort sprang die Tür auf und gab den Eingang zu einem nahezu leeren Raum frei. Er war rund und rot vom Fußboden bis zur Decke. In seiner Mitte stand ein einsamer Stuhl. „Setz dich.“   Nathan trat in den Raum, der dieses Mal ausreichend beleuchtet war, und ging auf den Stuhl zu. Ohne sich umzusehen nahm er Platz. Hinter ihm wurde die Tür geschlossen. Danach … Stille.   „Und jetzt?“, fragte er, nachdem er eine Weile gewartet hatte. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er nicht vollkommen allein im Raum war, denn so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht das kleinste Geräusch wahrnehmen. Er spürte auch nichts. Hieß das, dass der Vampir ihn eingesperrt hatte und gegangen war? Oder beobachtete er ihn heimlich? Wartete er, wie lange Nathan seinem Befehl nachkam? Obwohl es im Grunde genommen kein Befehl gewesen war. Nur eine Bitte.   Und eine Bitte kann man abschlagen.   Seinen ganzen Mut zusammennehmend ballte Nathan die Fäuste, stand auf und drehte sich um. Kapitel 17: Furcht und Mitleid ------------------------------ Der Mann ihm gegenüber war groß, schlank und wie er selbst ausschließlich in schwarz gekleidet. Den Kopf leicht erhoben, den Blick geradeaus gerichtet stand er da und sah ihn an. Ein Lächeln hing an seinen Mundwinkeln. Darüber eine Maske aus purem Silber.   „Hallo Nathan.“   Nathan erstarrte. Sein Herz machte einen entsetzten Satz.   Woher …? Eine nachlässige Geste verhinderte, dass er auch nur den Mund öffnete. „Oh bitte. Erspare uns beiden einen weiteren Akt dieser unseligen Scharade. Wir wissen doch beide, dass der tumbe Tropf an Ezras Seite nicht der ist, der er vorgibt zu sein. Es zu leugnen, zöge das hier nur unnötig in die Länge.“   Spitze Zähne blitzten auf. „Es sei denn natürlich, du genießt meine Gesellschaft so sehr, dass du zu bleiben wünschst. In dem Fall ließe sich da sicherlich etwas arrangieren.“   Nathans Mund wurde trocken. Er ahnte, wen er da vor sich hatte. Die üppige Garderobe, das Gebaren, ja selbst die Fähigkeit, einen vorkommen leeren Raum allein mit seiner Anwesenheit zu füllen, waren so charakteristisch, dass es keinen Zweifel gab.   „Ich … ich habe dem hier nicht zugestimmt.“   Ein kläglicher Versuch, den Vampir an die Regeln zu erinnern, denen auch er unterworfen war. Es war verboten, unwilligen Opfern Blut abzuzapfen oder sie mittels seiner Fähigkeiten dazu zu bringen. Es musste freiwillig geschehen und Nathan war mit Sicherheit nicht freiwillig hier.   Wieder lächelte der Vampir. „Ach? Und du denkst, dass mich das aufhalten wird? Mein Bruder hat dir doch sicherlich jede Menge schreckliche Geschichten über mich erzählt.“   Nathan unterdrückte mit Mühe ein Nicken. Ezras Worte hallten in seinem Kopf wieder. Er ist gefährlich. Lass dich nicht auf ihn ein, geh ihm aus dem Weg und falls du ihm begegnest, sieh ihm nicht in die Augen. Niemals! Hast du mich verstanden?   Und doch stand er hier. Ganz allein. Mit Darnelle. Ein Lachen schreckte ihn aus seinen Gedanken. Es war ein angenehmes Geräusch. Wie Champagner. „Also hatte ich recht. Er hat dir von mir erzählt. Das ist gut. Familie ist wichtig, weißt du.“   Ein abschätzender Blick. „Hast du Geschwister, Nathan?“   Nathan schluckte. Seine Kehle war inzwischen wie ausgedörrt und er wünschte sich sehnlichst, irgendwo anders zu sein. In dieser Diamantenmine in Namibia vielleicht, die er gestern in einer Dokumentation gesehen hatte. Dort konnte jeder Fehltritt, jede falsche Bewegung, jeder verdächtige Schatten auf dem Röntgengerät dazu führen, dass man sich plötzlich mit Handschellen gefesselt auf dem Weg in eine Gefängniszelle befand. Dieses Gefängnis hier hatte keine Gitterstäbe. Es hatte nur Darnelle.   Etwas verspätet schüttelte Nathan den Kopf. Der Vampir nahm es zur Kenntnis.   „Eltern?“   Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals. Was sollten die Fragen?   Wieder schüttelte er den Kopf. Darnelles linker Mundwinkel zuckte. „Tot?“ Fast hätte Nathan noch einmal den Kopf geschüttelt. Er wusste, dass es lächerlich war, aber seine Zunge fühlte sich an wie gelähmt. Er brachte kein Wort heraus.   Darnelle seufzte leise. „Weißt du, Nathan, ich versuche hier, dich ein wenig besser kennenzulernen. Das wird mir aber nicht gelingen, wenn du dich weigerst, mit mir zu sprechen.“   Er machte eine kleine Pause, bevor er erneut fragte: „Sind deine Eltern verstorben?“   Das Blut rauschte in Nathans Ohren, seine Brust war wie zugeschnürt. Aber er musste antworten. Er musste.   „Sie … leben noch. Denke ich.“   Er hörte förmlich, wie Darnelle fragend die Augenbrauen hob. „Du denkst?“   Vor Nathans Augen begann es zu flimmern. „Ich habe sie eine Weile nicht gesehen“, brachte er hervor. „Mein Vater war schon immer viel auf Reisen und meine Mutter … hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen. Ich habe sie nie getroffen.“ Es auszusprechen war schwerer, als er gedacht hatte. Diese Wunden waren doch schon lange verheilt.   Darnelle wirkte zufrieden. Er wandte den Blick ab und betrachtete, wie es schien, die Wände des runden Raums. „Das erklärt dann wohl, warum du bei deinen Großeltern aufgewachsen bist. Nette, ältere Leute. Ein wenig engstirnig vielleicht, mit festen, moralischen Prinzipien. Kein Platz für Abweichungen.“   Nathan brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was Darnelle gerade gesagt hatte. Sein Kopf ruckte herum. „Was hast du mit meinen Großeltern zu schaffen? Lass sie zufrieden. Sie haben nichts hiermit zu tun.“ Darnelle schenkte ihm einen Blick aus den Augenwinkeln.   „Nun, wenn du das sagst. Dabei sind sie doch der Grund, warum du hier bist, nicht wahr? Der Grund, warum es dich aus deinem kleinen Südstaatennest in die große Stadt gezogen hat. Ein Freund hat dich begleitet, wie ich hörte. Sei Name ist mir gerade entfallen, aber ich bin mir sicher, wenn ich scharf nachdenke, fällt er mir wieder ein.“   Der Vampir wandte sich ihm jetzt wieder zu, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. „Gibt es sonst noch jemand, von dem ich wissen sollte? Jemand, der in deinem Leben eine Rolle spielt. Freunde, Bekannte, Nachbarn? Ein Haustier vielleicht? Jeder, der dich vermissen oder nach dir suchen würde, ist interessant.“   Ein Schaudern lief über Nathans Rücken. Er dachte an Marvin und dass er ihn hier rausbringen musste. Aber wie sollte er das schaffen? Er war hier gefangen. Selbst wenn die Tür nicht abgeschlossen war, würde Darnelle ihn keine drei Schritte weit kommen lassen. Und damit nicht genug. Er würde sich nicht damit zufriedengeben, nur ihn auszulöschen. Der Vampir würde nicht eher Ruhe geben, bevor er auch noch die letzte Erinnerung an ihn, den letzten Menschen, der ihn gekannt hatte, restlos ausradiert hatte.   Unbewusst ballte Nathan die Hand zur Faust.   „Schluss mit den Spielchen.“   Er wusste nicht, woher er den Mut nahm, das zu sagen.   „Wenn du mich töten willst, dann tu es doch endlich. Du musst mir vorher keine Angst machen. Oder genießt du es so sehr, mich leiden zu sehen?“ Darnelle legte den Kopf schief. „Angst machen? Dich töten? Ach Nathan, du missverstehst mich vollkommen. Nichts läge mir ferner als das. Aber du wirst sicherlich nachvollziehen können, dass es mich nicht besonders freut, wenn man hinter meinem Rücken meine Gäste in Unruhe versetzt. Immerhin erinnere ich mich, diesbezüglich Ezra gegenüber recht deutlich geworden zu sein. Und doch bringt er dich in diese Lage, während er selbst sich mit deinem Ersatz auf der Tanzfläche vergnügt? Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich und bereitet mir Sorgen.“   Nathan presste die Kiefer zusammen. Er glaubte Darnelle kein Wort.   „Es war meine Idee“, platzte er heraus. „Ich habe Ezra vorgeschlagen, diesen Tausch zu vollziehen.“ Die Eröffnung schien den Vampir zu überraschen. Einen Augenblick lang herrschte Stille und Nathan fragte sich bereits, ob er wohl besser geschwiegen hätte, als Darnelle wieder zu sprechen begann. „Du hattest diese Idee?“, fragte er langsam.   Nathans Herz klopfte gegen seine Rippen. „Ja. Ich … ich wollte …“   Ein Blick aus eisblauen Augen schnitt ihm das Wort ab. „Du wolltest was?“ Die Schlinge, die bereits um seinen Hals lag, zog sich noch ein Stück weiter zusammen. Das Atmen wurde schwerer. Nathan begann zu schwitzen. „Ich weiß nicht“, plapperte er ziellos. „Da war Ezra und M- … mein Freund und sie waren beide so verzweifelt, dass ich einfach etwas tun musste.“   Immer noch zappelte er aufgespießt am Blick des Vampirs wie ein Schmetterling an einer Nadel. Aber er hatte ihm nichts Besseres anzubieten. Da waren keine versteckten Motive, kein Wunsch nach Rache oder Gerechtigkeit. Er war kein Held. „Es ist die Wahrheit“, beteuerte er noch einmal. „Ich wollte nur helfen.“ Darnelle atmete. Nathan sah, wie sich seine Brust hob und senkte. Dann plötzlich hob er die Hand. Mit einer ausholenden Bewegung griff er nach seiner Maske und zog sie sich vom Kopf. Das Gesicht, das dahinter zum Vorschein kam, war weniger furchterregend, als Nathan es sich ausgemalt hatte. Schmale Lippen, tief liegende Augen von einem betörenden Blau und eine prominente Nase bildeten eine aparte Mischung, die mit Sicherheit Aufmerksamkeit erregte. Mehr Aufmerksamkeit, als Nathan sich momentan wünschte. „Erstaunlich“, sagte Darnelle. Die Maske immer noch in der Hand betrachtete er Nathan, als sähe er ihn zum ersten Mal.   „Was ist erstaunlich?“   Nathan wagte kaum, selbst Luft zu holen, und trotzdem musste er fragen. Darnelle musterte ihn schweigend. „Es ist erstaunlich“, sagte er schließlich, „dass jemand, der doch dazu ausersehen ist, am unteren Ende der Nahrungskette zu stehen, sich in solche Lebensgefahr begibt, rein aus dem Impuls heraus, anderen zu helfen. Man sollte doch meinen, dass irgendwelche niederen Instinkte dies verhindern.“   Gegen seinen Willen musste Nathan lachen. „Tja, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich damit mal zum Arzt gehen. Gesund ist das sicher nicht.“   Er zögerte, bevor er hinzusetzte: „Ebenso wenig, wie sich überhaupt auf einen Vampir einzulassen. Aber es ist nun einmal passiert und ich … ich würde mich wieder so entscheiden, wenn ich könnte.“   Vermutlich nicht. Wenn er wirklich die Gelegenheit gehabt hätte, darüber nachzudenken, würde er beim nächsten Mal wahrscheinlich darauf achten, am richtigen Bahnhof auszusteigen, um bloß nicht in irgendwelchen verlassenen Gassen auf leichenfressende Ghule zu stoßen. Aber andererseits hatte ihm dieses Erlebnis auch Ezra eingebracht. Ezra, der sich erst, nachdem er Nathan fast verloren hatte, dazu entschlossen hatte, einen Schritt auf ihn zuzugehen. Ezra, dessen Familie Nathan auf die eine oder andere Weise nach dem Leben trachtete, und mit dem es sicherlich niemals hübsche Fotos vom gemeinsamen Urlaub am Strand geben würde. Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde schreiend das Weite suchen, wenn man ihn vor diese Wahl stellte. Aber er hatte es nicht getan. Er war geblieben.   Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Darnelle, der immer noch dastand und ihn ansah, begann mit einem Mal zu lächeln.   „Ich glaube, ich beginne zu verstehen, was Ezra in dir sieht“, sagte er leise. „Welche Sehnsucht du befriedigst, was dich für ihn so anziehend macht. Er braucht dich, ebenso wie er mich braucht. Wir sind zwei Seiten derselben Medaille.“   Die Wortwahl überraschte Nathan, doch noch bevor er dazu kam, eine entsprechende Frage zu stellen, war Darnelle plötzlich ganz nahe. So nahe, dass es Nathan die Luft zum Atmen nahm. Sanft strichen Darnelles Finger über seine Wange. Die Berührung ließ Nathan erschaudern. Darnelle lächelte immer noch. „Weißt du Nathan, ich glaube, wenn wir uns erst einmal näher kennengelernt haben, wirst du feststellen, dass ich gar kein so übler Kerl bin. Ich beschütze die meinen und alle, die ihnen wichtig sind. Sich gut mit mir zu stellen, hat allerlei Vorteile. Ich könnte dir jede Menge Vergünstigungen verschaffen.“   „Vergünstigungen?“   Darnelles Nähe war irritierend. Nathan bemerkte, wie sein Körper darauf zu reagieren begann. Schnell wollte er von ihm abrücken und drückte sich im Gegenteil nur noch näher an ihn.   Das Lächeln wurde breiter. Fangzähne wurden sichtbar. „Oh ja. Obwohl mich interessieren würde, wie weit du zu gehen bereit bist. Immerhin ist Ezra ein Vampir und du nur ein Mensch. Früher oder später würden sich eure Wege trennen. Es ist der Lauf der Dinge.“   Kundige Finger glitten von Nathans Wange über sein Kinn hinunter zu seinem Hals bis zu der Stelle, an der sich seine Schlagader befand. Fast meinte er, das unruhige Puckern selbst fühlen zu können. Der Puls des Lebens.   „Allerdings gäbe es da eine Möglichkeit“, raunte Darnelle ihm ins Ohr. „Etwas, das dir erlauben würde, für immer bei Ezra zu bleiben.“   Nathans Nackenhaare richteten sich auf. Er spürte die Gefahr. Die Wahrheit, die hinter den Worten lauerte. Er wollte sie nicht hören, aber Darnelle war wie ein Abgrund.   „Welche Möglichkeit?“, fragte er atemlos, während warme Lippen seinen Hals liebkosten.   Ein Lächeln auf seiner Haut.   „Du weißt, wovon ich spreche.“   Eine Hand legte sich auf seine Hüfte und zog ihn näher heran. Eine zweite bog seinen Kopf zurück.   „Schließ die Augen, kleiner Nathan. Lass mich dir zeigen, wie es ist, einer von uns zu sein.“       Die letzten Akkorde des Liedes waren kaum verklungen, als Marvin sich schon aus seinem Arm lösen wollte. Entschieden hielt Ezra ihn fest und zog ihn näher heran. „Nicht so schnell“, zischelte er leise. „Man sieht uns zu.“   Marvins Gegenwehr erlahmte augenblicklich.   „Tut mir leid. Kuss?“ Ezra atmete ein-, zweimal tief durch, bevor er sich vorbeugte und Marvins Lippen mit den seinen berührte. Es war leicht, unschuldig. Sie wussten es beide. All die Leidenschaft, die man sehen konnte, war nur gespielt.   Ob es ihn genauso viel Überwindung kostet wie mich?   Nach einer angemessenen Zeit trennten sie sich wieder voneinander. Ezra sah Marvin in die Augen. Sein Blick war leicht glasig. Er war müde und hatte zu viel getrunken. Eine gefährliche Kombination. Zumal auch die anderen es merken und vermutlich ausnutzen würden. Er musste ihn hier wegbringen. Bald.   „Wir sollten nicht mehr allzu lange bleiben“, murmelte er daher, während er Marvin seinen Arm anbot, um ihn zurück zur Bar zu geleiten. „Kannst du irgendwie herausfinden, wie weit Nathan mit seinen Nachforschungen ist?“ Es war ein Risiko, Marvin allein loszuschicken. Wenn ihn jemand abfing und in ein Gespräch verwickelte, konnte das unangenehme Folgen haben. Ezra hatte schon ein paar Mal verhindern müssen, dass er zu viele persönliche Informationen preisgab. Der Alkohol, der Glamour, die freundlichen Mienen und das gespielte Interesse. Marvin war anfällig dafür. Mehr als Ezra gedacht hatte. Der ganze Abend glich dem Tanz auf einem Minenfeld. Einer der Gründe, warum Ezra seinen Begleiter zu einem richtigen Tanz aufgefordert hatte. Er hatte eine Pause von dieser ständigen Wachsamkeit gebraucht. Dort, im Takt der Musik, hatten sie für einen Moment Ruhe finden können, auch wenn Ezras Gedanken dabei immer öfter zu Nathan gewandert waren.   Wo er wohl ist? Wir hatten vereinbart, dass er den Club verlässt, sobald er etwas herausgefunden hat. Aber er ist noch hier? Warum ist er noch hier? „Klar“, gab Marvin auf seine Frage hin zurück. „Soll ich ihm was ausrichten?“ Ezras Augen scannten den Raum. Irgendetwas stimmte nicht. Was war es?   „Ja“, gab er abwesend zurück. „Sag ihm …“   Darnelle! Er ist nicht da! Ezras Herzschlag beschleunigte sich für einen Moment. Wohin war sein Bruder verschwunden? Warum hatte er ihn allein gelassen?   Es ist nichts, versuchte er sich zu beruhigen. Bestimmt nur etwas Geschäftliches. Er wird gleich wiederkommen.   Trotz dieser Versicherung wuchs Ezras Unruhe von Augenblick zu Augenblick. Er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Wie bei einem herannahenden Erdbeben konnte er die Schwingungen fühlen. Sie breiteten sich aus. Wurden stärker. Ezra drehte sich im Kreis. Versuchte herauszufinden, woher diese Empfindungen kam. Der Raum um ihn herum wurde zu einem Kaleidoskop aus Farben, Formen und Klängen. Gelächter, Gesang und Gläserklingen. Augen, die ihn beobachteten, Hände, die sich nach ihm ausstreckten, Stimmen, die ihn riefen. Eine davon kam ihm bekannt vor. Sie klang verzweifelt. „Ezra. Ezra, was ist los?“   Er blinzelte. Marvin stand vor ihm, die Augen weit aufgerissen. Er roch nach Angst und Alkohol.   „Er ist in Gefahr.“   Mehr brauchte Ezra nicht sagen. Sofort war Marvins Müdigkeit wie weggeblasen. „Wo?“, wollte er wissen. Entschlossenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ezras Gedanken sprangen von Raum zu Raum. „Die Hinterzimmer.“ Es gab keinen anderen Ort, wo Nathan sein konnte. Ezra hätte es gewusst. Aber dort hinten herrschten andere Gesetze, andere Verhältnismäßigkeiten. Dort war man ungestört. Unentdeckt. Darnelle hatte dafür gesorgt.   Darnelle. Der Name durchzuckte Ezra wie ein Stromschlag. War es möglich, dass …?   Nein. Nein nein nein nein nein. Alles nur das nicht. Seine Schritte beschleunigten sich. Er rannte fast. Ignorierte die Blicke um sich herum. Die aufgeschreckten Gäste. Die entsetzten Schreie. Falls das hier ein Fehlalarm war, würde Darnelle ihn rösten. Ganz langsam auf kleiner Flamme. Aber falls nicht … Ezra wagte nicht, sich das auszumalen. Er wusste, was passieren würde, wenn Darnelle Nathan in die Finger bekam. Er wusste es einfach. Er hatte es selbst erlebt.   „Du willst es doch auch“, flüsterte die Stimme. „Hab keine Angst. Ich werde dir nicht wehtun. Nur ein kleiner Schluck. Es ist vollkommen ungefährlich.“   Aber es war nicht ungefährlich gewesen. Es hatte ihn fast umgebracht.   „Schneller, schneller.“ Er achtete längst nicht mehr darauf, ob Marvin ihm folgte. Seine Sinne waren nach vorn gestreckt. Sie suchten und fanden. „Wo sind wir hier?“   Die Frage schwebte den Gang entlang, ohne auf jemanden zu treffen, der sie beantwortete. Eine der Türen öffnete sich. Camille. Die Lippen rot wie ihr Kleid, auf dem Bett hinter ihr ein junger Mann. Er schlief, aber er würde sich erholen.   „Ezra? Was zum …?“   Auch sie wurde von ihm zurückgelassen. Er wusste, wo er hinmusste. Der letzte Raum. Das viktorianische Zimmer. Darnelle hatte es extra für ihn entworfen. Ezra liebte diese Kulisse. Opulenz und Schönheit. Wärme und Tranquilität. Manchmal brauchte er etwas anderes, aber oft, sehr oft, kam er hierher um zu speisen. Um Sex zu haben. Mehr als einmal in einer Nacht. Doch jetzt, in diesem Moment, lag ihm nichts ferner als das. Jetzt fühlte er einfach nur Angst. Und Wut. Er musste ihn finden.   Die Tür flog auf, aber der Raum war leer. All die Möbel, das Bett, die Schränke, Tische und Kommoden waren verschwunden. Nur ein einzelner Stuhl war verblieben und auf ihm …   „Nein!“   Ezra stürzte nach vorn. Die zusammengesunkene Gestalt, dieser menschliche Überrest, dessen Puls er kaum noch wahrnehmen konnte. Was hatte Darnelle getan? „Nathan! Nathan, hörst du mich?“ Er war auf die Knie gesunken. Seine Finger tasteten kalte, schweißbedeckte Haut. Er war leicht. So leicht, als er in Ezras Arme sank. Fiel. Kraftlos. Leblos. Was war geschehen?   „Nathan, wach auf!“   Marvin erschien an der Tür. Er schnaufte. Schwitzte. Sein Herzschlag dröhnte in Ezras Ohren. „Ist er tot?“   Ezra sah auf das blasse Gesicht hinab. Nathans Augen waren geschlossen. Seine Maske fehlte.   Was hat er dir angetan?   „Nein, er lebt. Wir müssen ihn hier rausbringen.“   Mehr sagte er nicht. Er konnte nicht. Die schwarzen Tentakel, die seine Stimmbänder lähmten, krochen höher und höher. Sie mussten hier weg. Er musste hier weg. Sonst würde etwas Furchtbares geschehen. „Komm. Nach oben.“   Der Körper in seinen Armen wog fast nichts und doch so schwer, dass er fast zusammenbrach. Das Gewicht der Schuld. Nathan war seinetwegen hier. Alles nur seinetwegen. Aber er musste stark sein. Er musste ihn beschützen. Um jeden Preis. „Warte.“   Er hörte Marvin hinter sich her keuchen.   „Hier. Die lag am Boden. Wir sollten sie ihm aufsetzen.“   Ezra blieb stehen. Marvin stand da und hielt Nathans Maske in der Hand. Sie musste neben ihm gelegen haben. Er hatte sie nicht bemerkt. „Ja. Ja, das sollten wir.“   Marvins ruhige Besorgtheit, die routinierten Bewegungen, mit denen er Nathan die Maske wieder anlegte, beruhigten ihn. Er spürte, wie sehr Marvins Herz raste. Sah, wie seine Finger zitterten. Trotzdem bewahrte er die Fassung. Bemühte sich. Für seinen Freund.   Er war auch einst so. Ein Beschützer. Ein Fels. Was ist geschehen, das ihn so verändert hat? „So, fertig.“   Marvin zog seine Hände zurück. Die Maske saß nicht perfekt, aber sie würde Nathans Identität hinreichend verdecken, bis sie den Club verlassen hatten.   Halte durch. Gemeinsam erreichten sie den Gastraum. Hier herrschte immer noch das Chaos, das sie hinterlassen hatten. Aufgebrachte Gäste, Securitykräfte, die ziellos herumliefen, Vampire, deren Sinne nach ihm peitschten. Er ließ alles an sich abgleiten. Den Blick stur auf den Fahrstuhl gerichtet, durchquerte er den Club. In seinem Windschatten Marvin der, als sie sich der Tür näherten, daraus hervortrat. „Wir wollen gehen“, herrschte er den Türsteher an. Der warf einen Blick auf Nathan und zögerte. „Jetzt“, grollte Ezra. Vermutlich hatte der Mann ebenso wie die anderen Anweisung bekommen, niemanden hinauszulassen, bevor die Situation geklärt war. Aber Ezra würde nicht warten. Er würde gehen, auf die eine oder andere Weise.   Die Hand des Mannes, die sich schon in Richtung Headset bewegt hatte, sank wieder herab. „Wie Sie wünschen, Herr van Draken.“ Er hielt die Chipkarte vor das Lesegerät und die Tür des Aufzugs öffnete sich. Ezra stieg ein. Ein auffordernder Blick an Marvin und der drückte den Knopf. Die Türen schlossen sich. Das Letzte, was Ezra sehen konnte, waren die zerborstenen Überreste einer perfekten Illusion.     Kühle Nachtluft empfing sie. Sie hatten nicht gesprochen. Es schien, als hätten sie beide den Atem angehalten, bis sie das Gebäude verlassen hatten. Der Flur an der Oberfläche war leer gewesen, ebenso wie die Dächer, auf denen sich bei ihrer Ankunft noch Wachposten befunden hatten. Ezra hatte sie gespürt, aber nichts gesagt, um die beiden Menschen nicht zu beunruhigen. Jetzt war einer von ihnen vollkommen verängstigt und der andere …   „Sollen wir ihn in ein Krankenhaus bringen?“   Ezra zögerte. Von Ferne hörte er, wie sich ein Wagen näherte. „Nein“, sagte er mit fester Stimme. „Das hier ist nichts, bei dem menschliche Ärzte etwas ausrichten können. Wir bringen ihn zu dir.“   Ein Zucken verriet ihm, dass Marvin nicht begeistert war. Aber er gehorchte. Als der Wagen vorgefahren wurde, öffnete er die Hintertür. Ezra legte Nathan auf den Rücksitz. Sein Körper zeigte überhaupt keinen Widerstand. Sein Herz schlug langsam. Viel zu langsam.   Ezras Blick richtete sich auf Marvin. „Würdest du fahren?“   Marvin schnappte nach Luft. „Ich?“, kiekste er. „Ich … ich bin seit Jahren nicht …“   „Du schaffst das. Ich vertraue dir.“ Ein tiefer Atemzug, ein resignierendes Seufzen. „Na schön. Ich hoffe nur, du hast eine gute Versicherung.“ Diese kleine menschliche Sorge rang Ezra beinahe ein Lächeln ab. Sie hatten so viel größere Probleme als Geld. Unendlich viel größere. „Fahr einfach. Ich bleibe bei Nathan.“ Sie stiegen ein. Ezra schob sich neben Nathan auf den hinteren Sitz und bettete seinen Kopf auf seinem Schoß. Noch immer zeigte er keinerlei Reaktion. Dafür gab es zwei mögliche Erklärungen. Er konnte nur hoffen, dass es die bessere von beiden war.   Und wenn nicht? Die Frage drängte sich unwillkürlich auf, aber Ezra schob sie beiseite. Er wollte über diese Möglichkeit jetzt nicht nachdenken. Nicht, bevor er Nathan in Sicherheit wusste. Einen Schritt nach dem anderen.     Ezra trug Nathan die Stufen zu Marvins Apartment empor. Noch nie war ihm ein Weg so lang vorgekommen. Marvin fummelte mit den Schlüsseln herum. „Ich hab's gleich. Moment.“   Endlich öffnete sich die Tür. Ezra trat ein und ging gleich weiter in Richtung Schlafzimmer. Marvin eilte ihm hinterher. Er öffnete auch diese Tür, warf einen Berg Kleidungsstücke achtlos vom Bett und schlug die Decke zurück. Ezra legte Nathan darauf. Er entfernte die Maske, öffnete seine Hemdknöpfe. Die Haut unter seinen Fingern fühlte sich immer noch kalt an. Marvin schloss derweil die Vorhänge. Danach trat er neben Ezra. Sein Blick war starr auf Nathan gerichtet. „Ist er verletzt?“ Ezra suchte den leblose Körper ab. Es gab keine Verletzungen, keine Wunden die er spüren oder anders hätte wahrnehmen können. Aber das musste nichts heißen. Wenn Darnelle ihn gebissen hatte, hatte er die Wunde mit Sicherheit wieder mittels seines Speichels verschlossen. Zudem klammerte sich Ezra immer noch an die Hoffnung, dass er es nicht getan hatte. Es musste so sein.   „Ich kann nichts entdecken.“   Marvin runzelte die Stirn. „Könnte er gebissen worden sein?“ „Ich weiß es nicht“, herrschte Ezra ihn an. Er wusste, dass Marvin nur nervös war und deswegen plapperte. Dass er dabei ausgerechnet Ezra größte Befürchtung ausgesprochen hatte, war nur ein Zufall.   Nein, das ist nicht das Schlimmste, was er hätte tun können. Aber wenn er ihn von seinem Blut hat trinken lassen. Wenn er ihn gewandelt hat … dann ist Nathan so gut wie tot. Wenn er die Prozedur überhaupt überlebt. Das darf einfach nicht sein.   Marvin, der offenbar gemerkt hatte, in was für einem Zustand Ezra war, machte einen Schritt rückwärts.   „Okay, gut, ich verstehe. Aber … bist du dir sicher, dass wir ins nicht doch lieber in ein Krankenhaus bringen sollten.“   Marvin hatte Ezra die Hand auf die Schulter gelegt. Die ruhige Wärme floss durch den Stoff. Pulsierendes Leben, so wie es sein sollte. Nicht dieses schwache Flackern, das er unter seinen Fingern fühlte. „Ich weiß es nicht“, wiederholte Ezra leise.   Eine Weile lang saßen und standen sie einfach nur da. Irgendwann räusperte Marvin sich.   „Also du kannst … hierbleiben. Heute Nacht meine ich. Ich werd auf dem Sofa schlafen.“   Ezra merkte, wie sein Stresspegel stieg. Sein Herz schlug schneller, sein Geruch veränderte sich. Fast meinte Ezra die Elektrizität in seinen Nervenzellen riechen zu können. Fragend wendete er den Blick nach oben. Marvin verzog das Gesicht. „Na ja, ich … also normalerweise würde ich dir jetzt einen Tee oder so anbieten. Zur Beruhigung. Aber du trinkst ja keinen Tee.“   Ezra antwortete nicht. Natürlich hatte Marvin recht. Er war immer noch ein Vampir. Ein Blutsauger. Ein natürlicher Feind des Menschen.   Sein Blick glitt zu Nathan, der immer noch blass und wie tot auf Marvins Bett lag. Die farbenfrohe Tagesdecke ließ ihn noch bleicher erscheinen. Sie roch nach Marvin. Ein Geruch, an den Ezra sich in den letzten Tagen mehr als gewöhnt hatte. Auch wenn sie noch dabei waren, sich zu sortieren und auch wenn er bisher nur etwas mehr als geduldet war. Es war fast schon so etwas wie … Heimat.   Was hast du ihnen nur angetan?   Er wusste, dass es nur einen Ort gab, an dem er Antworten erhalten würde. Antworten auf Fragen, die er nie hatte stellen wollen. Aber er musste es tun. Nathan zuliebe. Und vielleicht auch sich selbst. Er hatte schon viel zu lange gezögert.   Es endet heute Nacht.   Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck erhob er sich und strich seinen Anzug glatt.   „Ich kann nicht bleiben.“   Er erklärte Marvin nicht, was er damit meinte. Es hätte ihn nur noch weiter beunruhigt. Den Weg, der vor ihm lag, würde er allein beschreiten müssen.   Bereits auf dem Weg zur Tür spürte er eine Hand an seinem Arm. Es war Marvin. Seine dunklen Augen blickten besorgt. „Du kommst doch wieder, oder?“   In seiner Stimme schwang leichte Panik mit. Er sah zurück zum Bett. „Ich meine, du lässt mich doch jetzt mit der ganzen Scheiße nicht alleine, oder?“   Ezra schluckte. Wie von selbst glitten seine Finger zu Marvins warmer Hand.   „Ich komme wieder“, versprach er. „Aber wenn nicht … pass auf ihn auf, ja?“   Marvin grinste schief.   „Was meinst du denn, was ich mein ganzes Leben lang schon mache. Aber er ist manchmal so stur.“   „Wie ein kleiner Ziegenbock“, bestätigte Ezra. Noch einmal drückte er Marvins Hand. „Mach dir keine Sorgen. Er wird durchkommen.“   Einer plötzlichen Eingebung folgend griff er in seine Jacketttasche und zog eine Visitenkarte heraus. Sofort hob Marvin abwehrend die Hände.   „Oh nein. Mit dem Trick kannst du mir nicht kommen.“   Ezra lächelte schmal. Er zückte einen Stift und schrieb einige Ziffern auf die Karte. Danach reichte er sie Marvin. „Hier. Das ist meine Telefonnummer. Wenn etwas ist … ruf mich an.“   Marvin nahm die Karte entgegen. Fast schon ehrfürchtig blickte er auf das edle Stück Papier herab.   „O-okay. Ich werd anrufen.“   Ezra antwortete nicht. Er drehte sich nur um und verließ die Wohnung, so wie er es in letzter Zeit häufiger getan hatte. Heute vielleicht zum letzten Mal. Kapitel 18: Vabanquespiel ------------------------- Wie ein Bollwerk ragte die Fassade des vielstöckigen Gebäudes vor ihm auf. Ezra sah daran empor und konnte ein leichtes Flattern in seinem Magen nicht verdrängen. Wenn es nur um ihn gegangen wäre, hätte er die Stadt wohl noch in der heutigen Nacht verlassen. Aber es ging nicht nur um ihn. Er hatte andere – Nathan – mit hineingezogen. Er war es ihnen schuldig.   Mit einem letzten tiefen Atemzug ließ er das Lenkrad los und öffnete die Wagentür. Den Schlüssel ließ er stecken, die Tür unverriegelt. Sollte er zurückkommen, würde er sehen, ob das Fahrzeug noch an seinem Platz stand.   Der Fahrstuhl brachte ihn die endlosen Stockwerke nach oben. Als die Türen sich öffneten, erwartete ihn Stille. Ezra trat aus der Kabine. Sie schloss sich automatisch hinter ihm. Er lauschte, aber kein Laut drang an sein Ohr. Auch sonst nahm er keinerlei Schwingungen wahr. Das Apartment schien verlassen. Sollte er sich getäuscht haben?   Langsam begann er, die Räume zu durchstreifen, vorbei an teuren Möbeln und edlem Interieur. Doch nichts davon hatte einen wirklichen Wert, nichts davon war echt. Es waren nur Dinge, angehäuft wie in einem Museum.   Oder einem Mausoleum.   Endlich erreichte er das oberste Stockwerk. Wolkengedämpftes Mondlicht fiel durch die großen Fensterfronten und warf diffuse Schatten auf die marmornen Böden. Die weiße Sitzgruppe stand verlassen da. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Asche kalt. Nichts deutete auf irgendeine Form von Leben hin. Die einzigen Anzeichen dafür kamen von außerhalb. Von den Menschen, auf deren Leben er von hier oben aus herabsehen konnte. Ezra trat noch näher ans Fenster und blickte hinaus.   Ich sollte jetzt dort unten sein.   Das Gefühl war heftiger, als er erwartet hatte. Es war, als zöge etwas an ihm. An seinem Herz.   Ein leises Klirren ließ ihn herumfahren. In den Schatten hinter der Bar bewegte sich etwas. Eine dunkle Silhouette trat nach vorn. In ihrer Hand hielt sie ein Glas.   „Du hast lange gebraucht. Ich musste die hier schon zweimal erneuern.“ Wieder klimperten die Eiswürfel und die goldbraune Flüssigkeit um sie herum schwappte träge hin und her. Ezra roch den Alkohol mit einer Spur von Rauch, Torf und bitterer Schokolade. Ein teurer Whiskey. Eigentlich zu teuer, um ihn als Requisite zu verschwenden. Aber wen in seiner Familie interessierte das schon?   Ezras Blick fokussierte sich wieder auf Darnelle. Dass er ihn nicht bemerkt hatte, bewies, wie gut der andere inzwischen in der Lage war, seine Anwesenheit zu maskieren.   Oder ich bin aus der Übung.   Beides war möglich. Beides war gleich beunruhigend. „Du hast mich also erwartet.“   Ein Lächeln verformte Darnelles Lippen. „Natürlich. Immerhin ist das hier dein Zuhause. Der Ort, an dem du immer willkommen bist.“   Ezra verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Das hier fühlte sich nicht mehr nach Sicherheit an. Eher wie …   Eine Falle.   Misstrauisch und bis aufs Äußerste gespannt beobachtete er Darnelle, der jetzt hinter der Theke hervortrat und langsam begann, den Raum zu durchqueren. Als er an Ezra vorbeiging, konnte der Nathans Geruch an ihm wahrnehmen.   Er versucht nicht einmal, es zu verstecken.   Darnelle war jetzt am Fenster angekommen. Es schien, als betrachte er die Stadt. Seine blassen Züge spiegelte sich in dem dunklen Glas.   „Aber es ist ja nicht das erste Mal, dass du mich warten lässt“, sagte er, ohne sich umzusehen. Auf den ersten Blick klang es wie eine einfache Feststellung. Doch da war eine Nuance, ein leiser Unterton in seiner Stimme, die Ezra hellhörig werden ließ. Etwas daran war eigenartig und anders, als er erwartet hatte. Aber was?   Verdammt! Ich habe keine Zeit für solche Spielchen.   Ezra versuchte ein Lächeln.   „Ich habe dich warten lassen? Wir haben doch fast den ganzen Abend miteinander verbracht. Ich wusste nicht, dass du so große Sehnsucht nach mir hast.“ Darnelle schnaubte leise.   „Tja, das sollte man meinen, nicht wahr? Und doch galt deine Aufmerksamkeit fast ausschließlich diesem Nathan oder wie immer sein richtiger Name auch sein mag.“   Sein Blick traf Ezras durch die Scheibe.   „Hast du wirklich gedacht, dass du mich mit diesem dilettantischen Manöver täuschen kannst?“   Ezra schluckte und beruhigte gleichzeitig seinen Herzschlag. Darnelle wusste es. Er hatte es die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt.   „Du hast mir keine Wahl gelassen.“   Darnelle lachte bereits, bevor Ezra den Satz beendet hatte. „Keine Wahl? Oh du weißt, dass das nicht stimmt. Du hättest mir einfach die Wahrheit sagen können. Du weißt, dass ich eine Lösung gefunden hätte. Das tue ich doch immer.“   Wieder wollte sich Ezras Puls beschleunigen. Nur mit Mühe könnte er verhindern, dass das verräterische Organ in seiner Brust ihn ans Messer lieferte. Seit wann fiel es ihm so schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren?   Du wirst doch nicht weich werden?   Er wusste nicht genau, wem die Stimme gehörte, aber er mochte sie nicht.   „Und wenn mir deine Lösung nicht gefallen hätte?“, fragte er. „Was dann?“   Wieder lachte Darnelle.   „Dann willst du also behaupten, dass deine Lösungen besser sind als meine?“   Er drehte sich herum und bedachte Ezra mit einem spöttischen Lächeln. „So wie mit diesem Wachmann, den du am Leben gelassen hast, obwohl er dich hätte identifizieren können?“   Ezras Herz setzte einen Schlag aus. Er hatte doch nicht …? Darnelles Lächeln wurde breiter. „Was? Hast du gedacht, dass ich zusehe, wie mein kleiner Bruder alles aufs Spiel setzt, was ich aufgebaut habe? Was wir aufgebaut haben?“ Ezra begann zu zittern. Die Wahrheit, die er so lange nicht hatte sehen wollen, stürzte auf ihn ein. Sein Magen rebellierte, sein Blut kochte, während es gleichzeitig in seinen Adern gefror. Er war so ein Idiot! „Du!“, zischte er. „Du warst es, der mich an diesem Abend in die Irre geführt hat. Und dann hast du mir diesen Wachmann auf den Hals gehetzt, um mich aufzuhalten, damit die Ghule …“ Darnelle unterbrach ihn, indem er sich abwandte. „Ich habe nichts dergleichen getan. Oder zumindest nicht aus den Gründen, die du mir unterstellst.“ „Dann warst du es?“ „Dann war ich was?“   „Die Koordinaten“, bellte Ezra. Seine Finger gruben sich in das Leder des weißen Sofas, das neben ihm stand. Es knirschte und war bis zum Zerreißen gespannt. „Hast du mir die falschen Koordinaten geschickt?“ Darnelle sah auf das Glas hinab, in dem nur noch einige wenige, farblose Stücke schwammen.   „Ich werde wohl neues Eis brauchen“, seufzte er.   „Darnelle!“   Ezras Beherrschung schnappte in sich zusammen. Mit einem Satz war er bei seinem Bruder. Das Glas entglitt dessen Händen und zerschellte auf dem Fußboden. Im nächsten Moment prallte Darnelle mit dem Rücken gegen die Wand, Ezras Hände an seinem Kragen. „Sag mir jetzt endlich die Wahrheit. Hast du versucht, Nathan umzubringen?“   Darnelles Augen leuchteten auf. Seine Mundwinkel hoben sich. „Nein, das habe ich nicht.“ „Dann hast du es beauftragt.“   Dieses Mal blieb Darnelle ihm die Antwort schuldig. Stumm stand er da und sah ihn an. Ezra knurrte. Noch bevor er wusste, was er tat, hatte er die Faust gehoben und zugeschlagen. Darnelles Nase brach. Blut schoss aus seinen Nasenlöchern. Er sog scharf die Luft ein. Immer noch grinsend, doch jetzt blutbeschmiert, sah er zu Ezra auf.   „Du hast keine Ahnung, nicht wahr?“, fragte er lachend und spuckte aus. Danach fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.   „Möchtest du probieren?“   Der Blutstrom war längst wieder versiegt, das pulsierende Rot zum Stillstand gekommen. Ezra konnte hören, wie die Knochen zurück an Ort und Stelle rutschten. In wenigen Augenblicken würde nichts mehr davon zeugen, dass Darnelle überhaupt verletzt gewesen war. Nur das Blut, das sein Kinn besudelte. Der Geruch war berauschend. Ezra packte stärker zu. „Antworte mir endlich! Was hast du mit ihm gemacht?“ Darnelle grinste.   „Nichts.“ „Du lügst!“ Wieder wollte Ezra zuschlagen, doch noch bevor er die Faust erneut gehoben hatte, schnalzte Darnelle vorwurfsvoll mit der Zunge. „Ah, nicht doch. Was würde wohl Nathan von dir denken, wenn er sich so sehen würde. Ein wildes Tier, voller Gewalt und Blutdurst.“   Ezra erstarrte. Es war, als hätten sich Darnelle Worte in giftigen Efeu verwandelt, der sich unbarmherzig um seine Glieder wand und ihn festhielt. Er wollte Darnelle immer noch wehtun, aber er konnte nicht. In Darnelles Augen blitzte es auf. „Wie ich es mir dachte“, gluckste er. „Du hast ihm diese Seite von dir noch gar nicht gezeigt, oder? Aber warum? Hattest du Angst, dass er sich dann von dir abwendet? Dich verachtet? Dich … fürchtet?“ Darnelle kicherte. Er lehnte den Kopf gegen die Wand, gegen die Ezra ihn drückte, und lachte. „Oh, da wäre ich gerne dabei. Der Augenblick, in dem er erkennt, was er wirklich heißt, ein Vampir zu sein. Aus diesem Grund habe ich ihn auch nicht gewandelt, auch wenn ich ihn dir zuerst zum Geschenk machen wollte. Die Gefahr, dass er einfach aufgibt und lieber stirbt, anstatt die Jahrhunderte an deiner Seite zu verbringen, war mir einfach zu groß. Es sei denn natürlich, du stehst darauf, Ghule zu ficken. Ich fand ja schon immer, dass du und Gilbert …“ „Hör auf!“ Ezra schrie. Er ballte seine Hand zur Faust und wollte zuschlagen, aber noch bevor er die Bewegung zu Ende geführt hatte, fing jemand sie ab. Sein Arm wurde nach hinten geschleudert, der Raum drehte sich um ihn und er landete flach auf dem Rücken. Der Aufprall trieb die Luft aus seinen Lungen. Ein Gewicht drückte ihn zu Boden. „Hände weg von meinem Meister“, fauchte eine weibliche Stimme. Schläge prasselten auf ihn ein. Jemand rief seinen Namen. Darnelle?   Mit einem gezielten Hieb gegen die Rippen wollte er seine Angreiferin stoppen, aber die prügelte weiterhin unbeeindruckt auf ihn ein. Die Schläge waren kraftvoller, als sie hätten sein dürfen. Zumal er keinerlei Regung aus ihrem Inneren wahrnahm. Sie war wie tot. Die Ghula!   Die Überraschung lähmte Ezra für einen Augenblick und brachte ihm zwei weitere schmerzhafte Treffer ein. Sein Schlüsselbein brach, der zweite Schlag riss seinen Kopf so heftig herum, dass er seinen Schädel knacken hörte. Instinktiv holte er aus, um ihre Kehle zu zerfetzen. Ein Schwall schwarzen Blutes schoss aus den gerissenen Wunden. Er bekam etwas davon in den Mund. Es verklebte sein Gesicht, seine Augen. Trotzdem gelang es ihm, seine Angreiferin von sich runter zu katapultieren. Mit einem Satz war er wieder auf den Füßen. Kampfgeräusche waren zu hören. Darnelle rang am Fenster mit …   Aemilius?   Ezra kam nicht dazu, sich darüber zu wundern. Die Ghula packte ihn am Fuß und zog. Vergeblich versuchte er, den Sturz abzufangen. Seine blutverschmierten Finger glitten haltlos über den glatten Boden, während sie ihn in Richtung Treppe schleifte. Als er merkte, was sie vorhatte, begann er um sich zu treten. Wieder hörte er Schläge, Schreie. Er musste dieses Ding loswerden!   Seine Hand erwischte ein Beistelltischchen. Die darauf befindliche Lampe krachte zu Boden und zersplitterte in tausend Stücke. Er holte aus und warf. Blitzschnell duckte die Ghula sich. Darauf hatte Ezra nur gewartet. Mit einem schnellen Ruck beförderte er sie ein Stück nach vorn und trat zu. Er spürte, wie der Kieferknochen unter der Wucht des Aufpralls zersplitterte. Noch einmal traf er und zermalmte auch noch den Rest. Die Ghula kreischte. Schwarzes Blut tropfte zu Boden, aber sie ließ nicht los. Ihre Finger lagen wie ein Schraubstock um seinen Knöchel.   Verdammt!   Mit einem letzten Akt der Verzweiflung riss er noch einmal an dem Bein, das sie umklammert hatte. Die Ghula verlor das Gleichgewicht und stürzte. Noch im Fallen griff er zu und schmetterte ihren Körper zu Boden. Sein Knie landete auf ihrem Brustkorb. Drückte ihn ein. Sie begann um sich zu schlagen. Fäuste trommelten gegen seine Brust, seine Arme und Beine Beine. Scharfe Fingernägel hieben schmerzhafte Wunden und Risse. Sie gebärdetet sich wie toll. Ihr einstmals schönes Gesicht zerkratzt und zerfurcht, der untere Teil fehlte.   Ezra überlegte nicht lange. Ohne zu zögern griff er mitten hinein in das widerliche Chaos aus Blut, Haaren und Knochensplittern. Totes Fleisch quoll zwischen seinen Fingern hervor, während er ihre Wirbelsäule zu fassen bekam. Ein scharfer Ruck und die Spannung, die die Ghula gerade noch aufrecht gehalten hatte, erlosch. Die Untote sackte in sich zusammen.   Angewidert ließ Ezra die leblosen Überreste los und kam auf die Füße. Alles an ihm klebte und stank nach Verwesung. Der Boden war schwarz verschmiert und die unförmige Masse inmitten der immer größer werdenden, dunklen Lache erinnerte nur noch sehr vage an einen menschlichen Körper. Aber es war noch nicht vorbei.     Am anderen Ende des Raumes entdeckte er Darnelle. Auch er trug Spuren eines Kampfes und zu seinen Füßen lag eine grauhaarige Gestalt. Ezra riss die Augen auf. „Aemilius?“ Sein Blick irrte zu Darnelle. „Was hast du mit ihm gemacht?“   Sein Bruder antwortete nicht sofort. Er hob den Kopf und machte einen Schritt auf Ezra zu. In seinem Gesicht stand eine seltsame Verwirrung. „Er hat …“, begann Darnelle, als plötzlich ein Ruck durch seinen Körper ging. Eine hölzerne Spitze zerriss den Stoff seines Hemdes auf Herzhöhe und schob sich noch ein Stück daraus hervor.   „Was …?“ Darnelle wollte nach dem Pflock greifen. Ihn wieder herausziehen, doch seine Hände glitten von dem schmierigen Holz ab. Er brach in die Knie. Keuchend. Blutend. Schub um Schub quoll es aus seiner Brust. Hinter ihm ragte Aemilius’ Gestalt auf. Ezra konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen. Er war mörderisch. „Darnelle Rivoire, hiermit verurteile ich dich aufgrund von Aufrührerei, Durchführung verbotener Rituale, Verrat und Angriff gegen ein Ratsmitglied zum Tode. Die Strafe wird sofort vollstreckt.“   Noch einmal trieb er den Pflock tiefer in Darnelles Körper. Ezra konnte förmlich spüren, wie er sich gegen den Fremdkörper wehrte. Wie er versuchte zu heilen. Zu flicken, was unabdingbar für das Überleben war, aber er konnte nicht. Der Pflock verhinderte es. „Aemilius“, rief Ezra. „Aemilius, hör auf.“ „Nein“, fauchte der ältere Vampir. „Er hat schon viel zu lange sein Unwesen getrieben. Es endet heute Nacht.“ „Nein!“ Darnelle starrte Ezra an. In seinem Blick ein Schmerz, wie Ezra ihn noch nie gesehen hatte. Lautlos bewegte er die Lippen, während das Blut seine Lungen füllte. „Darnelle!“   Ohne zu überlegen, sprang Ezra nach vorn. Er fing seinen Bruder auf und hielt ihn fest. Darnelles Gesicht zuckte.   „Ich … ich habe das nicht … “, flüsterte er. Der Rest dessen, was er sagen wollte, ging in einem erneuten Hustenanfall unter. Mehr Blut lief über sein Kinn. Es war rot aber mit ekelhaften, schwarzen Schlieren darin. Ezra zuckte zurück. „Was ist das?“ „Das ist Ghulblut“, knurrte Aemilius. „Der Pflock war damit getränkt.“   „Aber wie …?“   Ezra wollte noch mehr sagen, doch Darnelle bäumte sich ein letztes Mal in seinen Armen auf. Immer noch waren seine Augen fest auf Ezra gerichtet. Tränen schimmerten darin und eine von ihnen rann stumm seine Wangen hinab.   „Darnelle!“ Eiskalte Finger griffen nach ihm. Umklammerten seine Hand. Ezras Brust wurde eng. Er spürte Darnelles Leid, als wäre es sein eigenes.   Im nächsten Moment war es vorbei. Darnelles Körper erschlaffte. Ezra kannte dieses Gefühl. Er hatte schon mehr als einmal einen Toten im Arm gehabt. Er wusste, wie sich das anfühlte. Aemilius trat zu ihnen. Der ältere Vampir betrachtete den Leichnam von oben herab.   „Er hat bekommen, was er verdient hat“, sagte er, ohne das Wort direkt an Ezra zu richten. „Ich werde den Rat informieren.“ Ezra antwortete nicht. Er wusste, dass sein Bruder für immer von ihm gegangen war, aber der Schmerz war seltsam gedämpft. Wie durch Watte oder feuchte Leinenbinden, die sich über seine Augen legten, sein Herz, seinen Verstand.   „Hätte er nicht … eine Verhandlung bekommen müssen?“, fragte er mit erstickter Stimme. Der Einwand war lächerlich. Unwichtig. „Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen“, erklärte Aemilius ohne einen Hauch von Mitgefühl. „Die Beweise, die du zusammengetragen hast, hätten zweimal für eine Verurteilung gereicht.“ „Beweise?“ Ezra wurde hellhörig. „Welche Beweise?“   Aemilius lachte trocken. „Nun, sieh dich doch mal um. Du hast ihn so weit aus der Reserve gelockt, dass er sich dir offenbart hat. Allein die Anwesenheit der elenden Ghula ist diesbezüglich nicht von der Hand zu weisen. Und sie trug sein Zeichen. Sie muss also zu ihm gehört haben.“   Ezra sah auf seine Hände hinab. Dort mischte sich das schwarze Blut der Ghula mit Darnelles rotem. War er wirklich derjenige gewesen, der sie erschaffen hatte? War er ihr Meister?   Sie hat es gesagt, oder nicht? Ihn verteidigt. Also muss es stimmen.   „Aber warum?“   Die Frage war ihm über die Lippen gekommen, bevor er darüber nachgedacht hatte. Jetzt, da sie im Raum stand, kam er jedoch nicht umhin, sie zu beachten. „Warum hat er das gemacht?“, wiederholte er.   Aemilius schnaubte.   „Ist das nicht offensichtlich? Er wollte Chaos stiften. Die Stadt in den Ruin treiben und auf ihrem Gerippe tanzen. Er und seine sogenannten Freunde sind nichts als ein Haufen aufgeblasener Querulanten, die sich einbilden, sie wüssten alles, nur weil sie ein paar Jahrhunderte überlebt haben. Emporkömmlinge allesamt. Als wenn jemand, der aus der Gosse kommt, wüsste, was es heißt zu regieren.“ Der Hass, der ihm entgegenschlug, ließ Ezra zurückweichen. Ihm war bewusst, dass es schon immer Spannungen zwischen Aemilius und Darnelle gegeben hatte. Ihr Vater hatte mehr als einmal betont, dass er Darnelle für eine Kanalratte hielt, die es geschafft hatte, sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Aber er hätte nie mit einer derartigen Abscheu gerechnet.   Sieh es doch ein. Es passt alles zusammen. Er hat dich benutzt. Erpresst. Hat dich mundtot gemacht und versucht, dich auf seine Seite zu ziehen. Er wollte eine Rebellion. Du selbst hast bereits überlegt, ob er es nicht sein könnte, der hinter allem steckt. „Aber warum hat er sich dann an Nathan vergriffen? Er hätte doch froh sein müssen, dass ich abgelenkt war. Warum hat er mich immer wieder bedrängt und meine Nähe gesucht? Es wäre ihm doch ein Leichtes gewesen …“ Ezras Gemurmel erstarb, als sein Blick auf einen Gegenstand fiel, den Aemilius in die Höhe hielt. Im Licht der sterbenden Nacht blitzte er silbern auf. Ezras Augen wurden groß.   „Das ist … Elisabeths Medaillon!“   Den Blick unverwandt auf das Schmuckstück gerichtet trat er näher. Mondlicht spiegelte sich in dem filigranen Muster des Anhängers. Im Inneren war Platz für Bilder. Fotos von geliebten Menschen, damit man sie ganz nahe an seinem Herzen tragen konnte.   „Woher hast du das?“ Der ältere Vampir verzog keine Miene. „Ich fand es in Darnelles Zimmer. Er muss es dir gestohlen haben. Vielleicht, um dich erneut damit zu quälen.“   Aemilius streckte den Arm aus und Ezra griff zu. Ungläubig ließ er die silbernen Glieder der Kette durch seine Finger gleiten. Das Medaillon war immer noch wunderschön. Wie an dem Tag, an dem er es vergraben hatte. Woher hatte Darnelle davon gewusst? „Du wolltest es ihr zum Geburtstag schenken. Darnelle hatte beobachtet, wie du es gekauft hast. Er hat es dir heimlich entwendet und es Elisabeth gezeigt, um dir die Überraschung zu verderben. Du warst so vor den Kopf gestoßen, dass du ihr das Geschenk nie gegeben hast.“ Aemilius bewegte sich hinter ihm, aber Ezra achtete nicht darauf. Sein Blick war einzig und allein auf das Schmuckstück in seiner Hand gerichtet.   „Er hat mich verspottet“, sagte er leise. „Ob ich denken würde, dass sie sich wegen so eines billigen Kleinods für mich entscheiden würde. Dabei war das gar nicht meine Absicht. Ich wollte nur …“   „Ich weiß, was du wolltest“, unterbrach ihn Aemilius. „Aber Darnelle war eifersüchtig. Er hat es nicht ertragen, euch beide zusammen zu sehen. Wann immer das der Fall war, hattet ihr nur noch Augen füreinander. Das hat ihn wahnsinnig gemacht.“ Ezra runzelte die Stirn.   „Aber das stimmt nicht“, murmelte er. „Elisabeth hat immer …“ Aemilius lachte auf.   „Oh, es ging ihm dabei nicht um Elisabeth.“   Ezras Gedanken kamen ins Stocken. Seine erste Reaktion war zurückzuweisen, was Aemilius eben gesagt hatte. Da war nichts gewesen zwischen ihm und Darnelle. Nichts, was über körperliche Befriedigung und Freundschaft hinausgegangen war. Sie hatten Spaß miteinander gehabt und das immer nur, wenn Elisabeth sie dazu aufgefordert hatte.   Aber Elisabeth ist fort und das schon lange. Er jedoch ist geblieben.   Ezra unterdrückte ein Keuchen. Für ihn hatte Elisabeths Tod alles geändert. Sie hatte den Mittelpunkt seines Lebens, ja seines ganzen Seins bedeutet. Aber was, wenn das für seinen Bruder nicht so gewesen war? Wenn er sein Herz an jemand anderen verloren hatte? Jemand, der ihn nie auf diese Weise betrachtet hatte.   Noch einmal schienen Darnelles Finger in seinen zu liegen, die leuchtend blauen Augen ihn durch den Tränenschleier hinweg anzusehen.   Du hast keine Ahnung, nicht wahr? Ich will doch nur, dass du glücklich bist. Bitte. Ich brauche es.   Ezras Brust zog sich zu einem kalten Knoten zusammen. Er konnte nicht atmen. Sollte das wirklich möglich sein? Nach all der Zeit?   „Aber warum hat er nie etwas gesagt?“   Wieder lachte Aemilius. „Hättest du ihn denn erhört? Für dich gab es doch immer nur Elisabeth. Selbst sein dilettantischer Versuch, dich durch eine Wandlung an sich zu binden, ist fehlgeschlagen. Oder meinst du etwa, es war ein Versehen, dass er dich in jener Nacht fast getötet hat? Nein, mein Lieber. Das war alles von langer Hand geplant und wäre Elisabeth nicht dazwischen gekommen, wärst du jetzt von seinem Blut. Manchmal frage ich mich, ob er es nicht war, der sie damals in die Flammen gestoßen hat.“   Ezra fuhr auf. Diese Anschuldigung war ungeheuerlich. Er wusste, dass es eine Lüge war. Darnelle hatte Elisabeth geliebt. Genau wie sie alle. „Das glaube ich nicht.“ Aemilius schnaubte belustigt. „Glaube es oder glaube es nicht. Nach all dieser Zeit spielt es ohnehin keine Rolle mehr. Du warst der Einzige, der das nicht verstanden hat.“   Wieder schüttelte Ezra den Kopf. Die Vorstellung, dass Darnelle etwas mit Elisabeths Tod zu tun gehabt haben könnte, war ungeheuerlich. Andererseits würde es erklären, warum er die Ghule auf Nathan gehetzt hatte. Er wollte ihn aus dem Weg räumen. Die Konkurrenz ausschalten. Allerdings …   Irgendetwas stimmt da nicht. Wenn es ihm wirklich darum gegangen wäre, Nathan zu töten, warum hat die Ghule dann nicht einfach tagsüber geschickt? Oder einen menschlichen Killer angeheuert und einen Raubüberfall inszeniert oder etwas in der Art. Warum hat er bis zur Nacht gewartet und damit riskiert, von mir als Schuldiger identifiziert zu werden? Warum hat er das gemacht?   Nur mit halbem Ohr vernahm er das feuchte, schmatzende Geräusch, das hinter seinem Rücken erklang. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum Darnelle derart stümperhaft hätte vorgehen sollen, wenn er sonst ein Meister der Heimlichkeiten war. Ein Mann ohne Spuren. Es ergab keinen Sinn.   Es sei denn …   Ezra hob den Kopf. Sein Blick richtete sich auf Aemilius, der mit dem Pflock in der Hand über ihn gebeugt dastand. „Es sei denn, jemand anderes wollte mich nur glauben lassen, dass er es war.“   Aemilius’ Lippen verzogen sich zu einem zähnestarrenden Lächeln.   „Ganz schön clever für einen Schafficker aus Kanada. Man könnte meinen, dass du doch etwas von mir gelernt hast.“   Ezra presste die Kiefer aufeinander. „Du warst es, nicht wahr? Du hast die Ghule auf die Stadt losgelassen. Und dann hast du versucht, es Darnelle in die Schuhe zu schieben. Was hast du dir davon versprochen? Dass wir uns gegenseitig zerfleischen?“   Aemilius grinste breit.   „Oh nein, das war eigentlich nicht mein Plan, aber ein netter Zusatzgewinn. Zumal es den Verdacht so wunderbar von mir abgelenkt hätte. Du wärst als großer Held aus der Sache hervorgegangen, ich als dein Mentor hätte meinen Platz im Rat behalten, es war einfach perfekt.“   Sein Grinsen wurde kälter, der Ausdruck gezwungener. „Aber dann musstest du diesen Menschen ja retten. Ich hatte Katherine gesagt, dass sie sich auf keinen Fall auf einen Kampf mit dir einlassen soll. Sie sollte lediglich dafür sorgen, dass du sie neben der Leiche erwischst. Dann, so war ich mir sicher, würdest du außer dir vor Wut in den Club deines Bruders stürmen und ihn vor den Augen aller zur Rede stellen. Aber wie immer hast du den Schwanz eingezogen und warst zu feige, um einen offenen Kampf zu wagen. Du hast gekniffen und dich versteckt. Wie gut, dass ich schon ahnte, wo du hingehen würdest, und dort alles vorbereitet hatte. Du bist so vorhersehbar.“   Ezra lief es kalt den Rücken hinunter. Aemilius Worte zeigten ihm, dass er mit allem Recht hatte. Vermutlich hatte der ältere Vampir die Summe für den Kauf des Hofs seiner Eltern in irgendeinem alten Geschäftsbuch entdeckt. Er war dorthin gereist und hatte an sich gebracht, was nie für ihn bestimmt gewesen war. Und dann hatte er versucht, Darnelle den Diebstahl in die Schuhe zu schieben. Ebenso wie die Sache mit den Ghulen. Ein perfider Plan,d er fast funktioniert hätte. „Also warst du es“, stellte er fest. „Aber warum? Weil er dir damals Elisabeth weggenommen hat? Oder ich?“   Aemilius blinzelte überrascht, bevor er schallend anfing zu lachen.   „Oh, wie naiv kann man sein? Anscheinend hast du es immer noch nicht kapiert.“   Er hörte auf zu lachen und funkelte Ezra an. „Als wenn es mich nach all den Jahren noch interessieren würde, mit wem sie damals ins Bett gestiegen ist. Diesbezüglich waren sie und Darnelle sich ähnlicher, als sie wahrhaben wollte. Wie eine rollige Katze hat sie sich verhalten und er hat jedem seinen Arsch hingehalten, der sich auch nur an den Hosenstall gegriffen hat. Die beiden waren wirklich das perfekte Paar. Aber mit dir war das anders.“   Aemilius’ Stimme wurde zu einem Zischen. „Dir hat sie schöne Augen gemacht. Hat dich überall mit hingeschleppt, dich ausstaffiert, gehegt und verhätschelt wie einen verdammten Schoßhund. Jedes zweite Wort aus ihrem Mund drehte sich um dich.“   Er lachte auf. „Aber selbst das war mir egal. Sogar als sie sich deinetwegen von mir trennen wollte, habe ich ihr zwar gesagt, dass sie es bereuen würde, aber wie hätte ich sie daran hindern sollen? Sie hat schon immer gemacht, was ihr in den Sinn kam. Als sie dann starb, war es für mich nicht mehr als eine kleine Unannehmlichkeit. Ich habe mein Leben weitergelebt und ein Imperium erschaffen, das seinesgleichen sucht. Aber Darnelle … Dieser dreckige, kleine Hurenbock hat bereits sein Leben lang seine nach den Arschlöchern fremder Männer stinkenden Finger nach allem ausgestreckt, was nicht ihm gehörte. Er hätte besser bei seinen Partys und seidenen Bettlaken bleiben und sich nicht in politische Angelegenheiten einmischen sollen. Anhänger um sich scharen und Unfrieden stiften, wie eine Made, die des Specks um sie herum überdrüssig geworden ist. Er konnte nicht genug kriegen, wollte immer noch mehr. Und wie eine Dirne, die zu gierig geworden ist, hat er jetzt die Quittung dafür bekommen. Einen van Draken bestiehlt man nicht.“   Der ältere Vampir umfasste den Pflock fester. „Zu dumm, dass du anscheinend nicht mal in der Lage bist, einer extra für dich vorbereiteten Fährte zu folgen. Du wärst als strahlender Held aus der Sache hervorgegangen. Als derjenige, der die Stadt von der herannahenden Bedrohung gerettet, deinen Bruder überführt und die Aufständler in ihre Schranken verwiesen hat. Aber du musstest ja beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten wieder unter Darnelles Rockzipfel kriechen und dich damit erpressbar machen. Als wenn ich nicht schon längst gewusst hätte, was da vor sich ging. Vielleicht hätte ich dich dein kleines Spielzeug sogar behalten lassen für eine Weile. Als Belohnung für deine gute Tat sozusagen. Jetzt jedoch wird mir nichts anderes übrig bleiben, als diesen Burschen zu töten. Immerhin ist er ein Zeuge. Wir können ja nicht zulassen, dass er damit an die Öffentlichkeit geht, nicht wahr?“ Ezra spannte sich.   „Du wirst Nathan nichts antun.“ Aemilius grinste. „Wie ich hörte, ist das ja nicht einmal mehr notwendig. Darnelle hatte ihn bereits in der Mangel und du hast genug Zeugen hinterlassen, die aussagen werden, dass du deswegen außer dir warst. Du hast ihn verfolgt, es kam zum Streit, die Ghula mischte sich ein und am Ende habt ihr euch gegenseitig zerfetzt. Ein perfektes Szenario, um euch für immer loszuwerden.“   Ohne weitere Vorwarnung holte Aemilius mit dem Pflock aus und stach zu. Ezra zuckte zurück, doch er war zu langsam. Das schwarze Holz durchbohrte seine Schulter und ein beißender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper. Er schrie auf und riss sich los, doch es war bereits zu spät. Das Gift war in die Wunde vorgedrungen und tat seinen tückischen Dienst. Er spürte, wie die Wunde zu heilen versuchte, aber das Fleisch vor dem Gift zurückzuckte. Wie es auswich und versuchte, einen Weg drumherum zu finden. Der Schmerz war unbeschreiblich. Nervenzerfetzend. Ezra sog scharf die Luft ein. „Zwickt ein bisschen, nicht wahr?“ Aemilius lächelte und zog sein Hemd aus der Hose. An seiner Seite entblößte er die Narbe, die Ezra bereits viele Male gesehen hatte. Er hatte nie gefragt, woher sie stammte. Lächelnd deutete Aemilius darauf. „Ein Überbleibsel des Krieges. Ein überambitionierter Jäger hat mir die halbe Seite aufgerissen und sie mit Ghulblut beschmiert. Damals wussten unsere Gegner noch, wie man einen Vampir zur Strecke bringt. Aber wir haben dafür gesorgt, dass dieses Wissen in Vergessenheit geraten ist. Wir brachten Gesetze heraus, die die Haltung und Erschaffung von Ghulen verboten. Wir taten alles, um zu verhindern, dass jemals wieder jemand solche Schmerzen erleiden muss. Aber ich denke, heute Nacht werde ich eine Ausnahme machen.“   Mit einer Geschwindigkeit, die sein Äußeres Lügen strafte, sprang Aemilius auf ihn zu und holte erneut zum Stoß aus. Dieses Mal wich Ezra im letzten Moment aus und der Pflock traf eines der edlen Sitzmöbeln. Mit einem reißenden Geräusch schlitzte Aemilius das weiße Leder der Länge nach auf und wirbelte herum. Ezra brachte sich mit einem beherzten Satz in Sicherheit. Er ging gerade noch rechtzeitig hinter einer weiteren Couch in Deckung, bevor eine der schweren Kristallvasen den Boden hinter ihm in einen Splitterregen tauchte. Viel Zeit zum Aufatmen blieb ihm jedoch nicht. Schon hörte er, wie Aemilius hinter ihm her setzte, wild entschlossen, auch sein Herz zu durchbohren.   Ich muss mir was einfallen lassen.   „Hab ich dich!“   Nur wenige Zentimeter neben Ezras Kopf stak der Holzpflock aus dem Polster der Couch. Aemilius hatte es glatt durchstoßen. Ezra sah seine Chance und griff zu, doch schon hatte der ältere Vampir den Pflock zurückgezogen und hieb zum zweiten Mal nach ihm. Dieses Mal verfehlte er noch knapper. „Wird es nicht eigenartig aussehen, wenn Darnelle und ich durch die gleiche Waffe sterben?“, warf er Aemilius zusammen mit einer abstrakten Skulptur entgegen. Der andere duckte sich und die Bronzeplastik polterte zu Boden.   Vielleicht macht das die Sicherheitsleute aufmerksam.   Kaum hatte er das gedacht, sah er Aemilius grinsen. „Oh, keine Bange“, meinte er leichthin. „Man wird eure Leichen niemals finden. Siehst du? Die Sonne geht bald auf. Von euch wird nichts übrig bleiben.“   Noch einmal versuchte Aemilius einen Ausfall, aber Ezra war auf der Hut. Wie ein Stierkämpfer wich er dem heranrasenden Vampir aus und rettete sich mit einem Sprung in Richtung des offenen Kamins. Daneben das gusseiserne Kaminbesteck. Ezra griff nach dem Schürhaken. Gerade noch rechtzeitig hob er die improvisierte Waffe über den Kopf, um den nächsten Hieb abzufangen. Krachend trafen die ungleichen Materialien aufeinander. Ezra meinte, das Holz knirschen zu hören. Er ächzte unter der Wucht des Aufpralls.   „Du hast keine Chance gegen mich“, fauchte Aemilius und stach wieder zu. Seine Ausdauer war unerschöpflich. Ezra hingegen bemerkte bereits, wie seine Kräfte zu schwinden begannen. Die Wunde an seiner Schulter hatte sein gesamtes Jackett durchtränkt und immer noch wurde das kostbare Rot aus der Wunde gepumpt. Schwindel griff mit dünnen Spinnenfingern nach ihm und seine Sicht begann unscharf zu werden. Er musste die Blutung stoppen. Aber wie? Wieder wehrte er einen Schlag ab und brachte mit einem Satz mehr Abstand zwischen sich und die teuflische Waffe. Er musste sie Aemilius abnehmen und … Sein Blick blieb an dem Körper der Ghula hängen. Ihr kopfloser Körper lag immer noch in der schwarzen Blutlache. Ein See voller Gift, wenn man es genau nahm.   Aber nur, wenn ich es in seine Blutbahn bekomme.   Doch wie sollte er das anstellen? Aemilius würde kaum abwarten, bis er eine Spritze mit Ghulblut aufgezogen und sie ihm verabreicht hatte.   Es sei denn …   So unauffällig wie möglich schob Ezra sich an den Leichnam heran. Ohne hinzusehen bohrte er die Spitze des Schürhakens in den Körper der Ghula, während er Aemilius gleichzeitig nicht aus den Augen ließ.   Der ältere Vampir bleckte die Zähne.   „Du bist ein Feigling“, fauchte er. „Das warst du schon immer. Sobald es Schwierigkeiten gibt, ergreifst du das Hasenpanier. Du bist ein Schwächling. Ein Trottel. Ich frage mich, was sie je an dir gefunden hat. Du taugst eher dazu, einen Pinsel zu schwingen denn ein Schwert. Einen Künstler hat sie dich genannt. Dabei verstehst du so viel von Kunst wie eine Sau vom Harfe spielen. Du bist ein Nichts. Ein Dreck. Bauernabschaum, der vergessen hat, wo sein Platz ist.“   Wieder stürmte Aemilius heran, doch dieses Mal blieb Ezra stehen und wich nicht aus. „Ich bin kein Feigling!“, rief er, als hätten ihm die Worte etwas anhaben können. Unmerklich spannte er sich. Dabei packte er den Schürhaken fester. Er hatte nur einen Versuch. Wenn der scheiterte …   Aemilius war heran. Er sprang, holte mit dem Pflock aus und zielte direkt auf Ezras Herz. Ezra ging in die Knie. Die Hand mit dem Schürhaken schnellte nach oben und die schwarzglitzernde Metallspitze durchbohrte den herabstürzendenVampir.   Erneut warf sich Ezra zur Seite. Der Pflock streifte seine Wange und riss eine brennende Spur. Ezra zischte und zog sich noch weiter zurück. Am Boden lag Aemilius und stöhnte. Ezra erhob sich. Der Blutverlust ließ ihn taumeln.   „Mag sein, dass ich nur ein dummer Schafficker bin“, sagte er keuchend. „Aber ich weiß, wie man einen Wolf fängt.“ Aemilius lachte. Er richtete sich auf. Blut kam aus seinem Mund, der Schürhaken stak mitten in seinem Bauch. „Ach ja?“, fragte er und grinste. „Dann solltest du auch wissen, dass man einem Wolf nicht das Fell abzieht, bevor man sicher ist, dass man ihn auch wirklich getötet hat.“   Schon griff Aemilius nach dem Schürhaken und begann, ihn sich aus dem Leib zu ziehen. Ezra holte tief Luft. „Ich brauche dich nicht zu töten. Ich brauche nur dafür zu sorgen, dass du nicht mehr weglaufen kannst.“   Ezra stürmte auf Aemilius zu. Der hieb mit dem Pflock nach ihm, aber Ezra blockte den Schlag ab und prallte gegen den älteren Vampir. Er stieß ihn rückwärts und warf sich gleichzeitig hinterher. Die gläserne Außentür barst unter ihrem Gewicht und in einem Scherbenregen stürzten sie gemeinsam nach draußen.   Auf dem Dach war es bereits hell. Jeden Moment würden die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont lecken. Ezra hatte nicht viel Zeit.   Mit voller Wucht hieb er auf den Griff des Schürhakens. Der Schlag trieb die Metallstange tief in die steinernen Bodenplatten. Anschließend sprang Ezra rückwärts und rettete sich nach drinnen, während über der Stadt die Sonne aufging.   Aemilius heulte auf. Erfolglos versuchte er, den Eisenstab aus dem Boden zu ziehen, aber seine Hände glitten immer wieder an dessen glitschiger Oberfläche ab. Gleichzeitig war der Stab so lang, dass er sich nicht darüber hinweg schieben konnte. Er war gefangen wie ein Wolf in einer Fallgrube.   „Du Hundsfott!“, kreischte er. „Niederträchtige Ratte! Wenn ich dich in die Finger kriege …“   „Ich glaube nicht, dass das noch passieren wird.“ Gleißend brach die Sonne über das Dach herein. Immer näher kam das helle Leuchten dem älteren Vampir, bis es ihn schließlich einhüllte. Sein Körper begann zu glühen und von innen heraus zu leuchten. Ein Schrei löste sich aus seiner Kehle, wie Ezra ihn noch nie vernommen hatte. Jede einzelne Zelle erstrahlte im Licht des mächtigen Himmelskörpers, bevor sie von innen heraus explodierte. Geblendet schloss Ezra die Augen und wandte den Kopf ab. Die Druckwelle spülte über ihn hinweg und mit ihr der Geruch nach verkohltem Fleisch und verbrannten Haaren. Die Hitze nahm ihm den Atem.   Es ist vorbei.   Vollkommen erschöpft ließ Ezra sich neben der Tür zu Boden sinken. Seine Schulter brannte, seine Muskeln versagten ihm den Dienst. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Alles an ihm wünschte sich nichts mehr als zu schlafen und nie wieder aufzuwachen.   Vielleicht sollte ich einfach hier sitzen bleiben.   Das Sonnenlicht würde auch ihn irgendwann erreichen. Er brauchte einfach nur zu warten, dann würde der neue Tag auch seinen Körper zu einem Haufen Asche werden lassen.   Vielleicht wäre es besser so.   Die Welt brauchte keine Vampire. Niemanden der sie benutzte, manipulierte und mit ihren Leben spielte, als wären die Menschen nicht mehr als Schachfiguren auf einem riesigen Spielfeld. Bauernopfer, die bereitwillig hierhin und dorthin verschoben werden konnten, wie es den Vampiren gerade passte. Wesen wie er waren wertlos, nutzlos und dienten einzig und allein dem Zweck, sich selbst am Leben zu erhalten. Schmarotzer, die sich wortwörtlich vom Blut der Gesellschaft nährten. Es war erbärmlich.   Unsere Zeit ist vorbei. Wir sollten gehen.   Irgendwo in dem Chaos aus umgeworfenen Möbeln, aufgeschlitzten Polstern, zerstörten Kunstgegenständen und den zwei blutverschmierten Leichen begann plötzlich etwas zu klingeln. Sein Telefon. Es musste ihm während des Kampfes aus der Tasche gerutscht sein und jetzt versuchte jemand äußerst Hartnäckiges, ihn zu erreichen. Das Geräusch wollte und wollte nicht verstummen.   Ächzend erhob Ezra sich schließlich. Er folgte dem Klang des nervigen Piepens, bis er irgendwann es zwischen den Überresten eines venezianischen Glastisches fand. Auf dem gesprungenen Display leuchtete eine unbekannte Nummer. Einen Moment lang betrachtete Ezra sie, dann ging er ran. „Hallo?“ „Ezra? Ezra, bist du das?“   Marvins Stimme klang aufgeregt.   „Ja, ich bin es“, bestätigte Ezra. Sein Herz begann zu zittern.   „Er ist aufgewacht. Nathan ist aufgewacht.“   Ezra schloss für einen Moment die Augen. Immer noch fühlte er den Drang in sich, einfach ins Licht zu gehen. Alles hinter sich zu lassen. All das Leid, dass er verursacht hatte. All die Schmerzen.   Aber was wird dann aus Nathan? Würde er es verstehen? Sein Leben weiterleben und ihn einfach vergessen? Oder würde er sich am Ende die Schuld geben, so wie er es all die Jahre mit Elisabeths Tod gemacht hatte.   Nein. Das kann ich ihm nicht antun.   Mit Gewalt kämpfte Ezra sich in die Höhe. Sein ganzer Körper schmerzte und aus der Wunde, die Aemilius geschlagen hatte, sickerte immer noch Blut. Zudem stieg die Sonne immer höher. Er würde sich vorbereiten müssen, wenn er jetzt rausging.   „Ich komme“, sagte er jedoch nur. Dann legte er auf. Kapitel 19: Im Gleichgewicht ---------------------------- Als es klopfte, erhob sich Felipe als Erster. „Ich gehe“, sagte er bestimmt und verwies Marvin mit einer Geste zurück auf die Couch. Mit wenigen Schritten war er im Flur. Vor der Tür stand ein Typ in einem schwarzen Sweater. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen und das Cap darunter tief ins Gesicht gezogen. Alles an ihm war sorgfältig verhüllt. Sogar seine Hände steckten in dicken, schwarzen Handschuhen. „Kann ich reinkommen?“, fragte er, ohne etwas von seiner Verkleidung abzulegen oder sich zu erkennen zu geben. Felipe festigte seinen Stand. „Dein Name ist Ezra, nicht wahr?“ Der Typ hob ganz leicht den Kopf. Felipe spürte seinen Blick. „Ja.“ „Und du bist ein Vampir?“ Ein leichtes Zögern. „Es zu leugnen wäre eine Lüge. Ich nehme an, dass Marvin dich bereits über alles in Kenntnis gesetzt hat?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Felipe bleckte die Zähne. „Allerdings hat er das. Er hat mir erzählt, dass du ihn und Nathan hier in irgendeine Scheiße mit reingezogen hast. Vampire. Ghule. Untote, die nachts die Straßen unsicher machen. Soll ich dir das wirklich glauben?“ Der Fremde verzog den Mund. Felipe konnte es im trüben Licht des dunklen Flurs nur undeutlich erkennen und trotzdem stach ihm dieses Detail ins Auge. Es war fast ein wenig unheimlich. „Zu entscheiden, ob du es glaubst oder nicht, liegt nicht in meiner Macht. Unwissenheit kann ein Segen sein oder ein Fluch. Wenn deine eigentliche Frage jedoch lautet, ob ich es bereue, dann ist die Antwort: Ja. Ich hätte die beiden nicht in meine Angelegenheiten verwickeln sollen und niemals, absolut niemals, hätte ich zulassen dürfen, dass einem von ihnen etwas zustößt. Es war feige und unverantwortlich von mir. Ich hätte es besser wissen müssen, aber ein Vampir zu sein macht einen nicht unfehlbar.“ Felipe presste die Kiefer zusammen. Seit sein Telefon mitten in der Nacht geklingelt hatte, am anderen Ende ein panischer Marvin, der irgendwas von Vampiren gefaselt hatte und davon, dass sein bester Freund bewusstlos in seinem Bett liege, hatte er sich zusammengerissen. Er hatte den Wunsch, auch diese Nummer zu blockieren und Marvin zu sagen, wohin er sich seine dämliche Geschichte stecken konnte, unterdrückt, und war zu ihm gefahren. Vorgefunden hatte er ein Szenario, das eins zu eins zu der wilden Story passte, die Marvin ihm aufgetischt hatte; angefangen von nächtlichen Tanzstunden bis hin zu einer reichlich missglückten James Bond Imitation. Und jetzt kam der Typ, der für diesen ganzen Mist verantwortlich war, mit einem einfachen „Tut mir leid“ um die Ecke? Eigentlich hätte Felipe ihm dafür jetzt ganz gewaltig eine reinhauen müssen. Dinge im Affekt zu lösen hatte jedoch noch nie jemandem etwas anderes eingebracht als Ärger. Zumal die ganze Sache ja glimpflich abgelaufen zu sein schien. Selbst Nathan hatte keinerlei Blessuren davongetragen, außer dass er ungewöhnlich blass und ziemlich neben der Spur war. Er schlief im Nebenzimmer und Felipe hatte nicht vor, ihn zu wecken. „Na schön. Du kannst reinkommen“; knurrte er missmutig. Er trat beiseite und langte nach der Schulter des angeblichen Vampirs. Als er sie berührte, zuckte der zurück und zog scharf die Luft ein. Sofort zog Felipe seine Hand wieder zurück. Seine Finger waren feucht. „Was zum …? Ist das etwa Blut?“ „Blut?“ Marvin, der bisher brav auf dem Sofa ausgeharrt hatte, sprang auf und kam jetzt ebenfalls zur Tür. Seine Augen und Ohren waren weit aufgerissen. Ohne zu zögern drängelte er sich an Felipe vorbei. „Ezra! Oh mein Gott,hi! Warum hast du ihn nicht reingelassen? Bist du verletzt? Mach doch mal die Vorhänge zu. Komm, wir müssen uns das ansehen.“ Felipe hatte kaum Zeit zu reagieren, da hatte Marvin ihn schon wieder ins Wohnzimmer geschoben und damit begonnen, die Vorhänge vor die Fenster zu zerren. Als Felipe ihn verständnislos ansah, verdrehte Marvin die Augen, „Das Sonnenlicht! Du willst doch nicht, dass uns Ezra hier einfach zu Staub zerfällt. Also los, hilf mir mal.“ Felipe verkniff sich einen Kommentar darüber, dass sie es langsam ein bisschen zu weit trieben. Trotzdem gehorchte er und machte sich ebenfalls an den Gardinen zu schaffen. Kaum war auch das letzte bisschen aufkommendes Tageslicht ausgesperrt, stand Ezra auch schon mitten im Raum. „Vielen Dank.“ Felipe zuckte zusammen. Weder hatte er mitbekommen, wie Ezra näher getreten war, noch hatte er gehört, wie er die Tür geschlossen oder seine Handschuhe abgelegt hatte. Was er jedoch zweifelsfrei erkennen konnte, war der dunkle Fleck, der sich unmissverständlich gegen den Stoff seines Sweatshirts abzeichnete. Dieser angebliche Vampir war verletzt und das nicht zu knapp. Sofort schaltete Felipes Gehirn in den Notfallmodus. „Du da. Hinsetzen!“, befahl er knapp und wandte sich an Marvin. „Ich brauche den Verbandskasten.“ Während Marvin loseilte, um das Gewünschte zu holen, wich Ezra zurück. „Ich muss erst …“ begann er, aber Felipe hatte genug von diesem Affentheater. „Ich sagte: Hinsetzen!“, blaffte er noch einmal. „Wenn du hier umkippst, nützt du niemandem etwas. Am allerwenigsten Nathan. Also hör jetzt auf rumzuzicken und lass mich das da ansehen.“ Ezra zögerte noch einen Moment, bevor er sich tatsächlich auf dem ihm angewiesenen Platz niederließ und das Shirt mit einiger Mühe über den Kopf zog. Darunter kam ein Massaker zum Vorschein. „Oh Scheiße!“ Marvin blieb mit dem Verbandszeug in der Hand wie angewurzelt stehen. „Wie ist das denn passiert?“ Ezra, der jetzt mit freiem Oberkörper vor ihnen saß, lächelte schwach. Sein Gesicht war selbst für einen Weißen viel zu bleich und in seiner Schulter prangte ein riesiges Loch. Es sah aus, als hätte jemand ein Steakmesser hineingebohrt und ein paar Mal herumgedreht, um möglichst viel Schaden anzurichten. „Jemand hat versucht, mich zu töten“, erklärte er jedoch ohne mit der Wimper zu zucken. „Wer? Und warum?“, quiekte Marvin aufgeregt, aber Felipe war klar, dass sie für lange Erklärungen keine Zeit hatten. Er zog sein Telefon aus der Tasche. „Ich rufe jetzt einen Krankenwagen. Die Wunde muss dringend ärztlich versorgt werden.“ Schneller, als er es für möglich gehalten hatte, stand Ezra plötzlich neben ihm. Seine Hand schloss sich um Felipes Arm und drückte ihn mühelos nach unten. „Ich kann in kein Krankenhaus“, sagte er ruhig. „Ich bin ein Vampir, schon vergessen?“ Felipe lag es auf der Zunge ihm zu sagen, dass er endlich mit diesem Mist aufhören sollte, wenn er nicht krepieren wollte, aber da war etwas in Ezras Blick, das ihn zögern ließ. Was, wenn es doch stimmte? Konnte das möglich sein?“ „Ich dachte, Vampire sind unverwundbar?“, knurrte er. Die waren doch alle vollkommen verrückt geworden. „Nicht unverwundbar“, entgegnete Ezra. „Nur ziemlich zäh.“ Sein Gesichtsausdruck wurde bittend. „Kannst du etwas tun, um die Blutung zu stoppen? Ich würde gerne vermeiden, noch weiter Marvins Einrichtung zu gefährden. Die Flecken lassen sich bekanntlich schlecht auswaschen.“ Felipe zögerte. Ihm war klar, dass das nur ein vorgeschobener Grund war. Diesem …Vampirging es mit jedem Moment, den er hier herumsaß, schlechter. Nicht mehr lange, und er würde tatsächlich bewusstlos werden. Wenn Vampire denn bewusstlos wurden. Er wäre nicht der Erste, den du zusammenflickst. Aber die Verletzung ist riesig. Wenn er deswegen abnippelt, bist du deinen Job los. Für immer. Felipe schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, er würde es bereuen. Trotzdem konnte er seine Freunde jetzt nicht im Stich lassen. Wenn sie einander nicht halfen, wer dann? „Na schön“, sagte er schließlich und griff nach der roten Box, die Marvin immer noch in Händen hielt. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber wenn es schlimmer wird …“ „Werde ich es aushalten.“ Felipe kommentierte das nicht weiter. Allein die Tatsache, dass die Schmerzen und der Blutverlust dieses Weißbrot nicht schon längst zu Boden geschickt hatten, waren mehr, als er jedem anderen zugetraut hätte. Entweder der Typ war also ein echt gut getarnter Shaolin-Mönch … Oder eben doch ein Vampir. Felipe schnaufte. Die Wunde sah wirklich übel aus und sie sonderte einen merkwürdigen Geruch ab. Wie verrottetes Fleisch. Und was zur Hölle machte solche Löcher? „Ich könnte sie reinigen“, überlegte er halblaut. Das würde vielleicht den Gestank beseitigen und mögliche Krankheitserreger, die sich sicherlich darin tummelten. „Danach könnte ich einen Druckverband anlegen, um die Blutung zu stoppen. Aber ob das reicht …“ „Es wird reichen“, versicherte Ezra. „Ich brauche nur Zeit, um zu heilen. Und vielleicht etwas frisches Blut.“ Er grinste und zeigte dabei ein Paar spitzer Eckzähne. Felipe wollte gerade erwidern, dass das ja wohl ein schlechter Scherz war, als plötzlich die Schlafzimmertür aufging. Nathan trat heraus. „Das mit dem Blut könnte ich übernehmen.“ Die Köpfe der Anwesenden ruckten zu ihm herum. Alle starrten ihn an. Die vergangenen Stunden hatte Nathan damit verbracht, wie tot in Marvins Bett zu liegen. Danach zu erwachen war … eigenartig gewesen. Schockierend. Er hatte nicht gewusst, wo er war, und allein Marvins Fürsorge war es zu verdanken, dass er kurz darauf wieder in einen dieses Mal weniger komaartigen Schlaf gefallen war. Er war so unglaublich erschöpft gewesen. Aber jetzt war er wach und hatte nicht vor, das Unvermeidliche noch weiter hinauszuzögern. Die Begegnung mit Ezra. Ezra machte Anstalten aufzustehen. „Dein Arsch bleibt unten“, knurrte Felipe nur halb so freundlich, wie Nathan es sich gewünscht hätte. Felipes Hand legte sich auf Ezras unverletzte Schulter und drückte ihn wieder nach unten. „Erst mal kümmern wir uns um diese Schweinerei hier.“ Ezra protestierte nicht. Er ließ sich von Felipe verarzten, der großzügig Jod in und um die fast handtellergroße Wunde herum verteilte, bevor er anfing, mit Kompressen und Mullbinden zu hantieren und Marvin Anweisungen zugeben, wo er zu drücken oder festzuhalten hatte. Ezras Blick hingegen war die ganze Zeit auf Nathan gerichtet. Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals. Als die Prozedur sich dem Ende entgegenneigte, wurde das Klopfen schneller. Und dann … dann war es endlich soweit. Ezra erhob sich und kam auf ihn zu. „Hallo Nathan.“ Ezras Stimme war sanft. Viel zu sehr, wenn man bedachte dass Marvins Wohnzimmer hinter ihm aussah, als wäre dort gerade jemand abgeschlachtet worden. Nathans Blick glitt über den weißen Verbandsstoff, der sich um Ezras Oberkörper wand. Der Geruch des Antiseptikums stieg ihm in die Nase. Es roch nach Krankenhaus und Tod. Der Gedanke ließ Nathans Kehle eng werden. „Hi“, antwortete er ein wenig verspätet. Da war etwas, dass er Ezra sagen wollte. Worüber er mit ihm sprechenmusste. Aber wann? Und wie? Immerhin schien Ezra gerade erst dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein und war vielleicht noch nicht einmal außer Gefahr. Da konnte er doch nicht … „Geht es dir gut?“ Die Frage brachte Nathan aus dem Konzept. Gut? Was hieß das? Ob er körperlich unversehrt war? „Er hat mich nicht gebissen.“ Das war nicht wirklich eine Antwort auf Ezras Frage. Aber es war das, was er wissen musste. Oder nicht? Die Unsicherheit nagte an Nathan wie eine hungrige Ratte. Ezra atmete hörbar aus. „Ich weiß“, sagte er leise. „Ich habe es in dem Moment gewusst, als er …“ Er fuhr nicht fort. Da war etwas an seinem Schweigen, das Nathan alarmierte. Irgendetwas musste passiert sein. Etwas Schlimmes. Wieder glitt sein Blick zu dem Verband. „Warerdas?“ Die Vorstellung, dass Darnelle Ezra angegriffen hatte, machte Nathan rasend und ließ ihn gleichzeitig in Ohnmacht erstarren. Er hatte sich nicht wehren können. Er war zu schwach gewesen. Viel zu schwach. Ezra schüttelte leicht den Kopf. „Nein. Das war … Aemilius.“ Als Nathan ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu: „Der Vampir, den ich meinen Vater nannte.“ „WAS?“ Noch bevor Nathan etwas erwidern konnte, war Leben in Marvin gekommen. Er ließ den Müllbeutel mit den blutigen Binden sinken und starrte Ezra an. „Dein Vater hat versucht, dich umzubringen? Nachdem dein Bruder Nathan entführt und wer weiß was mit ihm angestellt hat? Sind die denn alle total bescheuert?“ Ezra schluckte. Er öffnete den Mund und zögerte dann, als suche er nach Worten. „Darnelle ist tot.“ Stille folgte diesem Satz. Alle, inklusive Nathan, schienen den Atem anzuhalten. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Dem kleinen Teil von sich nachzugeben, der triumphierend die Faust in die Luft werfen wollte. Denn da war Ezra, der mit gesenktem Kopf vor ihm stand. Ezra, der offensichtlich litt. Er war ein schlechter Mensch. „Wie ist es passiert?“ Nathan brachte nicht den Mut auf, die Frage anders zu stellen. Ob Ezra …? „Aemilius hat ihn getötet.“ Noch während Nathan erleichtert aufatmen wollte, sprach Ezra weiter. „Er war es auch, der die Ghule erschaffen hat, um mich dann mit gefälschten Hinweisen auf Darnelles Spur zu bringen. Er wollte dass ich denke, dass mein Bruder … dass er an allem schuld ist. Es war eine Hexenjagd, die einzig und allein dem Zweck diente, Aemilius’ politische Position zu festigen. Dabei ist er buchstäblich über Leichen gegangen.“ Ezras schloss kurz die Augen, bevor er weiter sprach. Sein Ton wurde bitter. „Aber er hat sich verrechnet. Darnelle war nicht … er hat die Rolle nicht ausgefüllt, die ihm zugedacht war. Er hat sein eigenes Spiel gespielt. Eines, das ich ebenfalls nicht durchschaut habe. Und am Ende hatten alle darunter zu leiden.“ Wieder schwiegen die Anwesenden. Nathan warf einen Blick zu Marvin, der zuerst ein Gesicht zog und dann mit dem Kopf auf Ezra deutete. Als Nathan nicht reagierte, wurde sein Kopfgewackel dringlicher und bekam Unterstützung von erhobenen Augenbrauen und einer auffordernden Geste. Nathan räusperte sich. „Das tut mir leid. Ich meine, dass dein Bru… dass Darnelle …“ Ezra hob den Kopf. „Ist schon okay. Ich weiß, was er getan hat. Und ich kann nicht oft genug sagen, wie leid es mir tut, dass ich es nicht verhindert habe. Ich hätte dich niemals allein lassen dürfen.“ Nathans Fingernägel bohrten sich in seine Handflächen. Jetzt war nicht die Zeit für Vorwürfe. „Ist schon gut“, sagte er leichthin. „Mir ist ja nichts passiert.“ Marvin schnaufte. „Na ja, nichts passiert ist ein wenig untertrieben, würde ich sagen. Du wärst fast gestorben.“ Nathan öffnete den Mund, um zu antworten, aber Ezra war schneller. „Nathan war nie ernsthaft in Gefahr. Darnelle hat ihn lediglich mit einem Bann belegt. Einem Befehl zu schlafen, der nur von ihm selbst gelöst werden konnte. Er wusste, dass ich es merken oder zumindest vermuten würde. Ein Trick, um mich … zu ihm zu bringen.“ Ezras Zögern und die gewählte Formulierung sandte ein merkwürdiges Kribbeln Nathans Wirbelsäule hinab. Da war etwas, was er verschwieg. Aber was? Und warum? Marvin schnaufte noch einmal. Dann sah er von einem zum anderen. „Und wie geht es jetzt weiter? Ich meine, Darnelle ist tot und dein Vater …“ „Ebenfalls.“ Marvin riss die Augen noch ein wenig weiter auf. „Der istauchtot?“, echote er fassungslos? „Fuck! Dann wurde ja heute Nacht deine ganze Familie ausgelöscht?“ Ezras Gesicht wurde ausdruckslos. „Meine Familie starb schon vor langer Zeit. Heute Nacht habe ich lediglich zwei Wegbegleiter verloren, von denen ich dachte, dass ich ihnen vertrauen könnte.“ Wieder schwiegen alle, bis Felipe sich erbarmte. „Tut mir leid, Mann“, sagte er. „Das muss hart sein.“ Ezra nickte knapp. „Ich werde darüber hinwegkommen.“ Es klang zu nüchtern, um wahr zu sein. Nathan wusste das und doch konnte er es nicht über sich bringen, etwas zu sagen. Da steckte ein Stein viel zu fest in seiner Kehle. Auch Marvin schien fassungslos. Allerdings gingen sich seine Bedenken in eine ganz andere Richtung. „Und der Club? Was wird jetzt aus dem?“ Das drückende Gefühl in Nathans Magengrube verstärkte sich. Er wollte nicht an den Club denken. Die unterirdischen Räume, die geheimen Zimmer. Ein Gefängnis ohne Ausweg. Ezra presste die Lippen aufeinander. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich wollte…“ „Du wirst ihn doch offen lassen, oder?“, unterbrach Marvin ihn. Seine Stimme war eine halbe Oktave nach oben gewandert. „Ich meine, wenn Typen wie Valkow oder dieser Sir Arnold, von dem er so geschwärmt hat, anfangen die Straßen unsicher zu machen, wandere ich unter Garantie aus. Hasta la vista, Baby! Trinidad oder Tobago oder so. Irgendwo weit, weit weg von hier.“ Nathan wollte seinem Freund sagen, dass er die Klappe halten sollte. Sah er denn nicht, dass Ezra nicht in der Verfassung dazu war? Aber Marvin kannte kein Erbarmen. „Du musst das ja auch nicht alles alleine stemmen“, plapperte er munter weiter. „Wir alle würden dich dabei sicher unterstützen. Ist doch so, oder Leute?“ Er sah zuerst Felipe, dann Nathan an. Nathan wollte den Kopf schütteln. Was würde passieren, wenn er sich noch weiter darin verstrickte? Was dann? „Sicher“, brummte Felipe. „Ich kenne mich zwar mit diesem ganzen übernatürlichen Kram nicht aus, aber wenn ich helfen kann, bin ich dabei.“ Er wurde daraufhin von Marvin angestrahlt und ehe er sich versah, klebte der ihm auch schon an den Lippen und überhäufte ihn mit Komplimenten, wie stark und männlich und sexy er gerade rübergekommen war. Nathan sah den beiden zu, bis er nicht mehr ignorieren konnte, dass er selbst seit geraumer Zeit beobachtet wurde. Langsam und wie gegen einen inneren Widerstand drehte er sich zu Ezra herum. Der Blick aus dessen dunklen Augen traf ihn trotzdem unvorbereitet. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Sofort wollte Nathan versichern, dass es ihm nie besser gegangen war, aber er wusste, dass Ezra die Lüge sofort durchschaut hätte. Deswegen sagte er gar nichts und rettete sich nur in ein halbes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Er musste es nicht sehen, um das zu wissen. Aus Marvins und Felipes Richtung kam hohes Kichern und schweres Atmen. Die beiden waren anscheinend dabei, ihre Differenzen endgültig beizulegen. „Also wisst ihr …“, begann Marvin auch sofort und hatte sichtbar Mühe, noch gerade zu stehen. „Es ist ja schon ganz schön spät geworden. Oder früh, wie man es nimmt und … Also ich denke, ich würde jetzt gerne mal eine Runde an der Matratze horchen, wenn ihr wisst, was ich meine.“ Marvins Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht davon sprach, dass er schlafen wollte, selbst wenn sich sein Kopf demnächst auf Höhe seiner Knie befände. Nathan schluckte schwer. „Tja, also ich … ich könnte … ins Wohnzimmer oder …“ „Nein, nein!“, winkte Marvin sofort ab. „Felipe hat mir angeboten, den Rest der, äh …Nachtbei ihm zu verbringen. Immerhin können wir Ezra ja schlecht wieder nach draußen schicken. Es ist inzwischen schon fast hell.Und hier drin wird es zu viert ein bisschen sehr kuschelig.“ Alles, was Marvin sagte, war die Wahrheit. Ezra war seinetwegen hergekommen und jetzt saß er hier fest. Und Nathan hatte ihm nichts gegeben. Gar nichts. „Außerdem glaube ich, dass ihr beide euch mal unterhalten solltet.“ Während Ezra den Kopf zur Seite drehte, zuckte Nathan ertappt zusammen. Wie ein sadistischer Zahnarzt hatte Marvin den Finger genau auf die Wunde gelegt und erbarmungslos darin herumgestochert. Er und Ezra brauchten eine Wurzelbehandlung und zwar dringend. „Also gut, ihr zwei Hübschen. Ich werfe noch schnell ein paar Sachen zusammen und dann bin ich weg. Und ihr schaltet am besten das Telefon aus, zieht die Vorhänge fest zu und dann redet ihr. Habt ihr verstanden? Aber keine allzu ausufernden Schweinereien! Ich hab die gute Bettwäsche drauf. Tata!“ Marvin verschwand wie angekündigt im Schlafzimmer und kam kurz darauf mit einer prall gefüllten Reisetasche wieder heraus. Er grinste. „Nur für alle Fälle“, meinte er und umarmte erst Nathan und dann sogar Ezra. „Ruht euch aus. Redet. Und keine Blutflecken auf dem Teppich, klar? Wir sehen uns.“   Damit schnappte er sich Felipe und verließ kichernd und glucksend die Wohnung. Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, atmete Nathan auf. Allerdings nur solange, bis Ezra sich neben ihm bewegte. „Wenn du möchtest, bleibe ich hier im Wohnzimmer.“   Offenbar war Ezra aufgefallen, was Nathan so mühsam versucht hatte zu verbergen. Noch vor einem Tag hätte er sich zu diesem Zeitpunkt wohl mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu Ezra herumgedreht, bereit genau das durchzuziehen, was Marvins Bettwäsche in ernsthafte Gefahr bringen würde. Damals war er noch neugierig gewesen. Und sicher. Aber jetzt?   „Kommt gar nicht in Frage“, sagte er trotzdem. „Das Sofa ist unbequem und du brauchst … Ruhe?“   Dass das letzte Wort wie eine Frage geklungen hatte, nahm seiner Ansprache jegliches Feuer. Tatsächlich wusste er nicht, was Ezra jetzt brauchte. Er wusste auch nicht, was genau passiert war, außer dass die beiden anderen Vampire tot waren. Und dass Darnelle unschuldig gewesen war.   Nein, nicht unschuldig. Nur nicht in die Sache mit den Ghulen verwickelt. Das ist ein Unterschied.   „Also, äh … möchtest du dich hinlegen?“ „Ja, bitte.“   Nathan hinterfragte Ezras Entscheidung nicht. Den Blick gesenkt ging er an ihm vorbei und öffnete die Tür zu Marvins Schlafzimmer.   Drinnen herrschte noch mehr Chaos als im Rest der Wohnung. Erst recht nachdem Marvin unzählige Kisten und Kästen geöffnet – und offen gelassen – hatte, um seine Siebensachen zusammenzusuchen.   „Ich räum das mal schnell weg“, meinte Nathan schnell und machte sich daran, die gröbste Unordnung zu beseitigen und wenigstens Schubläden und den begehbaren Kleiderschrank wieder zu schließen, bevor er sich dem Bett zuwandte. Das war unglücklicherweise vollkommen zerwühlt und obendrein auch noch verschwitzt.   Ich hätte lüften sollen, schoss es ihm durch den Kopf, aber jetzt war es zu spät, um ein Fenster aufzureißen. Ezra stand immer noch geduldig in der Tür. Er war Nathan nur mit den Augen gefolgt. „Soll ich dir helfen?“, fragte er, während Nathan noch mit der übergroßen Decke und dem dazugehörigen Laken kämpfte.   „Ja, nein, ich schaff das schon“, erwiderte Nathan schnaufend, bis plötzlich jemand den Stoff auf der anderen Seite erfasste und mühelos in Position warf. Als die Decke wieder richtig lag, sah Nathan Ezra schuldbewusst an. „Ich hätte das auch alleine gekonnt.“ „Aber zusammen ist es einfacher.“   Nathan antwortete nicht darauf. Er blieb einfach nur stehen, selbst als Ezra jetzt um das Bett herum und auf ihn zukam. Dicht vor Nathan blieb er stehen. „Was ist los?“ Die Frage kam nicht von ungefähr. Nathan war verkrampft. Er hatte seine Finger ineinander verschlungen und hielt den Kopf gesenkt. Wahrscheinlich verriet ihn auch sein Herzschlag, sein Geruch und auch sonst alles, was Ezra wahrnehmen konnte und er nicht.   Weil er ein Vampir ist.   Ezra zögerte kurz, dann trat er noch etwas näher. Er suchte Nathans Blick.   „Fürchtest du dich vor mir?“   Nathans Kopf schnellte nach oben. Als er Ezra ansah, entdeckte er Kummer. Und Bedauern. Der Kloß in seinem Hals wuchs.   „Nein, ich fürchte mich nicht“, versicherte er trotzdem. „Nicht vor dir. Ich weiß, dass das, was Darnelle getan hat, nichts mit dir zu tun hatte. Es ist nur …“   Ein Zucken in Ezras Gesicht ließ ihn innehalten. Hatte er etwas Falsches gesagt? Ezra atmete hörbar aus.   „Es war meine Schuld“, sagte er leise. „Ich hätte dich niemals in diese Gefahr bringen sollen. Ich wusste, wie gerissen Darnelle ist. Ihn auf seinem eigenen Spielfeld herauszufordern, war Wahnsinn. Ein Wahnsinn, dem ich nie hätte zustimmen dürfen. Aber ich war zu feige, um mich ihm in einem offenen Kampf zu stellen. Stattdessen habe ich dich vorgeschickt und das … war falsch.“   Sein Ton und der Ausdruck auf seinem Gesicht, schnitten Nathan wie Messer ins Herz. Er wusste, dass er etwas sagen. Dass er es erklären musste.   „Es war nicht deine Schuld. Jedenfalls nicht nur. Immerhin war die Sache mit dem Club meine Idee.“ „Aber ich hätte wissen müssen …“ „Stopp!“   Nathan hatte, ohne zu überlegen, den Finger gehoben und ihn auf Ezras Lippen gelegt. Als er Ezras Gesichtsausdruck sah, hätte er ihn am liebsten wieder zurückgezogen, aber er zwang sich, ihn dort zu lassen. „Du wirst dich jetzt hinlegen“, bestimmt er. „Und dann wirst du mir zuhören, weil ich dir nämlich etwas zu sagen habe. Etwas Wichtiges. Und ich möchte, dass du mich dabei nicht unterbrichst.“   Ezras Blick flackerte kurz, aber er erwiderte nichts. Stattdessen schlüpfte er, ohne Nathan aus den Augen zu lassen, aus seinen Schuhen und ließ sich rücklings auf die weiche Matratze sinken. Nathan wartete ab, bis er sich einigermaßen bequem eingerichtet hatte, bevor er sich abwandte, um das Bett herumging und sich mit dem Rücken zu Ezra auf die andere Seite setzte. Nur so, da war er sich sicher, würde er es schaffen, alles auszusprechen, was ihm durch den Kopf gegangen war. In den letzten Tagen und Stunden und in den schier endlosen Minuten, in denen Darnelle ihn im Arm gehalten hatte.   Mit Blick auf Marvins Schlafzimmerteppich, begann er zu sprechen.   „Also eigentlich weiß ich gar nicht wirklich, wo ich anfangen soll. Vermutlich am Anfang, aber das Ende wäre in diesem Fall auch passend. Oder mittendrin.“ Er stockte und hörte, dass Ezra anhob zu sprechen. Schnell fuhr er fort, bevor ihn wieder der Mut verließ.   „Ich habe gesagt, dass ich keine Angst vor dir habe, und das stimmt auch. Du hast mich gefragt, ob ich dir vertraue, und das tue ich. Trotzdem hat die Begegnung mit Darnelle mich am eigenen Leib erfahren lassen, wie sehr ich dir unterlegen bin, denn …“ Seine Kehle wurde wieder eng, als er daran dachte, was passiert war. „Ich war hart“, schoss es ohne weitere Vorwarnung aus ihm heraus. „Erregt. Und obwohl ich nicht wollte, dass Darnelle mich beißt oder mich gar … verwandelt, war da ein Moment, in dem ich mich ihm fast hingegeben hätte. Weil ich gar nicht anders konnte.“   Nathan schluckte. Seine Augen hatten verdächtig zu stechen begonnen und seine Kehle war wie zugeschnürt. Er fühlte sich schwach. Elend. Aber er wusste, dass es noch nicht vorbei war. „Als ich hinterher verstand, warum ich so reagiert hatte und dass es nur daran lag, dass Darnelle ein Vampir war, wurde mir klar, dass … dass ich immer darauf angewiesen wäre, dass du diese Macht mir gegenüber nicht missbrauchst. Denn ein Wort von dir, eine unbedachte Bewegung, eine Laune kann dazu führen, dass ich … dass mir etwas passiert. Oder meinen Freunden. Ich unterstelle nicht, dass du dazu irgendwelche Absichten hegst, aber allein dass die Möglichkeit besteht … “   Er schwieg kurz, um sich zu sammeln. Vermutlich brannte Ezra darauf, ihm zu versichern, dass er nichts zu befürchten hatte und er ihm nie etwas antun würde. Nathan konnte hören, wie er sich auf dem Bett bewegte. Aber er sagte nichts. Er wartete nur ab, dass Nathan weitersprach.   „Aber auch das macht mir keine Angst. Obwohl es das vielleicht sollte. Was mir jedoch Angst macht, ist, dass ich mich vielleicht unbewusst davon beeinflussen lasse und Dinge tue, die ich nicht möchte, nur um zu verhindern, dass du … na ja.“ Er sprach nicht weiter. Vermutlich wusste Ezra, was er sagen wollte. Vorsichtig und obwohl er Angst vor dem hatte, was er sehen würde, drehte Nathan sich langsam herum. Ezra saß auf dem Bett und blickte ins Leere. Als er jedoch bemerkte, dass Nathan ihn ansah, hob er den Kopf.   „Bist du fertig?“   Nathan wusste nicht, wie er Ezras Tonfall deuten sollte. War er wütend. Traurig? Enttäuscht? Überrascht? Nathan war sich nicht sicher, also nickte er nur.   Wieder senkte sich Stille über den Raum. Fast erwartete Nathan, dass Ezra jetzt aufstehen und gehen würde, bis ihm einfiel, dass er das nicht konnte. Er saß hier fest. Mit Nathan, der sich gerade wie ein Arsch verhalten hatte. Egoistisch. Rücksichtslos. Nur auf sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse bedacht. Immerhin hatte Ezra auch eine harte Nacht hinter sich. Er hatte Menschen … Vampire verloren, die ihm nahegestanden und ihn dennoch hintergangen, belogen und betrogen hatten. Und er, Nathan, machte jetzt so ein Fass auf, weil er sich nicht sicher war, was er fühlte?   Er öffnete den Mund, um Ezra zu sagen, dass es ihm leidtat, als der den unverletzten Arm ausstreckte.   „Kommst du zu mir?“   Die Enge in Nathans Hals kehrte mit einer Heftigkeit zurück, die ihn würgen ließ. Er wollte zu Ezra. Er wollte ihn. Und doch war da diese Angst, sich wieder auf etwas einzulassen, dass er nicht kontrollieren konnte.   Aber er ist nicht Darnelle. Und auch nicht Christian. Er ist nicht wie sie. Nur ich bin immer noch der Gleiche. Vielleicht bin ich es, dem man nicht vertrauen kann? Vielleicht bin ich das Problem.   Nathan atmete gegen den Brechreiz an, den dieser Gedanke in ihm auslöste. Wahrscheinlich war er wirklich das Problem. Deswegen suchte er sich auch immer irgendwelche Typen, die so kalt und unerreichbar waren. Oder Vampire.   „Ich würde gerne. Aber ich weiß nicht, ob ich …“ „Dann komm her.“   Ezras Arm war immer noch ausgestreckt. Er wartete. Aber wie lange? Wann würde er die Lust verlieren und entscheiden, dass Nathan die Mühe nicht wert war?   „Bitte.“ Wieder wollte Nathans Angst in die andere Richtung ausschlagen. Die, die ihm einredete, dass es lediglich Ezras Vampirseite war, die ihn anzog.   Aber das stimmt nicht. Das kann nicht sein. Nicht nur.   Nathan gab sich einen Ruck. Mit gesenktem Blick robbte er über das Bett hinweg an Ezras Seite.   „Möchtest du dich zu mir legen?“ Nathan nickte erneut. Er wollte, dass Ezra ihn festhielt. Dass er bei ihm war. Noch einmal rückte Nathan näher. So nahe, dass er Ezra tatsächlich berührte. Seine Seite, sein Bein, Teile seines Arms. Vor ihm der Oberkörper mit dem Verband, die wohl proportionierten Muskeln, ebenmäßige, helle Haut, nur unterbrochen von einer feinen, dunklen Linie, die unterhalb des Nabels abwärts lief. In diesem Moment fiel ihm auf, dass Ezra halb nackt war und sie obendrein noch miteinander im Bett lagen. Wärme kroch in sein Gesicht. Unwillkürlich hob er den Kopf.   Ezra sah ihn immer noch an. Und er sah heiß aus. Plötzlich wünschte Nathan sich, dass er nichts gesagt hätte. Erneut begann sein Hals sich zuzuziehen.   „Tut mir leid“, sagte er nun doch und hatte keinen Schimmer, ob Ezra wusste, was er damit meinte. Aber der lächelte nur, wenngleich auch ein wenig traurig. „Schon okay“, sagte er leise. „Ich weiß, wie du dich fühlst.“   Mit dieser Eröffnung hatte Nathan nicht gerechnet. „Du weißt?“, wiederholte er ungläubig.   Ezras Mundwinkel hoben sich ein winziges Stück. „Ja, das tue ich. Immerhin war ich auch mal ein Mensch. Und ich war verliebt. In eine wunderschöne Vampirdame.“ Nathan sah, dass Ezras Augen dunkler geworden waren. Eine seltsame Melancholie lag in seinem Blick, den er irgendwo in weite Ferne gerichtet hatte. „Was ist passiert?“, fragte Nathan leise. Ezra sah ihn nicht an, während er erzählte.   „Ich traf Elisabeth auf meiner Flucht vor dem Ersten Weltkrieg. Sie nahm mich auf, gab mir zu essen und ein warmes Bett und obwohl ich wusste, dass ich für diese Gaben einen schrecklichen Preis bezahlen würde, blieb ich. Ich tat, was immer sie und ihre Begleiter verlangten, nur um in ihrer Nähe sein zu dürfen. Bis ich eines Tages … zu viel gab.“   Ezra schwieg für einen Moment, als kämpfte er mit den Erinnerungen. Vorsichtig, als könnte jeder von ihnen durch eine zu schnelle Bewegung zerbrechen, ließ Nathan sich neben ihn sinken. Er bettete seinen Kopf an Ezras Schulter und lauschte weiter den Worten, die aus seinem Mund kamen.   „Elisabeth und zwei weitere Vampire reisten zu dieser Zeit als Familie. Vater, Mutter und Sohn. Dazu gab es noch einen Kutscher, einen Ghul, wie ich später erfuhr, und mich. Der Einfachheit halber hatten sie mich in dem Gasthaus, in dem wir untergekommen waren, ebenfalls als ihren Sohn ausgegeben. Ich und der jüngere ihrer beiden Begleiter schliefen daher in einem Raum. Eines Nachts, als ich mich eigentlich bereits zur Ruhe begeben hatte, kam er zu mir. Ich dachte zuerst, dass ihn andere Gelüste nicht schlafen ließen, aber er offenbarte mir schnell, dass er von mir trinken wollte. Ich sagte zuerst Nein, weil ich wusste, dass es noch nicht an der Zeit war, aber er ließ nicht locker und so bot ich ihm schließlich meinen Hals an. Und er trank. Aber er nahm und nahm, immer mehr, bis auf einmal die Tür aufflog und Elisabeth hereinkam. Wie ein Racheengel ging sie auf ihn los und zerrte ihn von mir herunter. Aber ich war bereits schwach. Ich wusste in diesem Moment, dass ich sterben würde und mein einziger Trost war es, dass ich sie noch einmal sehen konnte, bevor ich diese Welt verließ.“   Nathan hörte, wie Ezra tief einatmete. Sein Brustkorb bewegte sich und ein warmer Luftzug strich über Nathans Arm, der jetzt quer über Ezras Bauch lag.   „Und was geschah dann?“   Ezras Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln.   „Sie bot mir ihr Blut an. Ursprünglich war es seine Idee, mich zu wandeln, aber für mich war es stets Elisabeth, die ich für meine Rettung verantwortlich machte. Sie öffnete sich in dieser Nacht die Pulsadern und ließ mich von ihrem Blut trinken. Drei Tage später erwachte ich als Vampir.“   Nathan, der unbewusst den Atem angehalten hatte, hob ein wenig den Kopf. „Und der andere Vampir? Was wurde aus ihm?“ Ezra schenkte ihm einen sanften Blick. Und Nathan verstand. „Darnelle! Der Vampir, der dich angegriffen hat, war Darnelle.“   Ezra nickte leicht. „Und der zweite? War das … ?“ „Aemilius. Ja.“   Nathan schwieg. Für einen Moment war er versucht sich vorzustellen, wie es in jener Nacht gewesen war. Wie Ezra versucht hatte, sich Darnelle zu entziehen … und gescheitert war. Die Bilder, die das in seinem Kopf heraufbeschwor, ließen ihn innerlich erzittern. Er wusste, dass Ezra keine Chance gehabt hatte. Der Gedanke ließ seinen Magen erneut schwanken.   Ezra richtete sich jetzt ein wenig auf, sodass Nathan von ihm zurückwich und sich ebenso wie Ezra auf dem Bett aufstützte. Halb sitzend lagen sie nebeneinander. Ezra seufzte leise. „Mir scheint, die Geschichte hat ihre Wirkung verfehlt.“   „Nein, überhaupt nicht“, widersprach Nathan sofort. „Ich … es tut mir leid, dass du so … dass du das erleben musstest. Das muss furchtbar gewesen sein.“   Ezra lächelte ein wenig schief. „Tja, ähm … also eigentlich hatte ich gehofft, dass du es romantisch fändest, dass Elisabeth mich zu einem der ihren gemacht hat. Sie hätte mir nie etwas angetan. Sie hat mich geliebt.“ „Dann hätte sie besser auf dich aufpassen müssen, anstatt dich ausgerechnet mit Darnelle allein zu lassen!“   Nathan klappte erschrocken den Mund wieder zu. Dass er dieser Elisabeth speziell das vorwarf, machte die Sache nicht unbedingt besser. Auch Ezra schien nicht zu wissen, was er jetzt sagen sollte. „T-tut mir leid“, stotterte Nathan. „Ich wollte nicht …“   „Ist schon gut“, unterbrach Ezra ihn. „Vielleicht hast du damit sogar recht. Elisabeth konnte wirklich manchmal etwas gedankenlos sein. Aber ich denke, sie hat Darnelle einfach vertraut. Er war ihr Freund. Ihr Geliebter. Wie hätte sie ahnen können, dass er sie betrügen würde?“   Immerhin hat sie zugelassen, dass er dich wie Dreck behandelt, dachte Nathan, aber er sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Für heute hatte er genug Porzellan zerschlagen.   Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander, bis es Nathan schließlich nicht mehr aushielt.   „Was passierte, nachdem du zu einem Vampir geworden bist?“   Ezra sah an ihm vorbei irgendwo in Richtung der unaufgeräumten Kommode.   „Für mich begann die schönste Zeit meines Lebens. Ich war mit der Frau zusammen, die ich liebte, und wir genossen, was immer das Leben uns zu bieten hatte. Durch sie lernte ich die Welt kennen. Wir besuchten Städte, von denen ich bisher nur gehört hatte und manchmal nicht einmal das. Rom, Athen, Paris, Prag. Es war ein fulminantes, ein ausschweifendes Leben. Wie ein Rausch. Obendrein die Gewissheit, dass dieses Glück für immer halten würde. Ich hätte nicht glücklicher sein können.“   Ezras Stimme war am Schluss immer leiser geworden und Nathan konnte bereits das Aber darin hören, bevor er es ausgesprochen hatte. „Aber die Zeiten waren unruhig. Wir hätten fliehen können, vielleicht sogar sollen, aber Elisabeth wollte von all dem nichts wissen. Sie weigerte sich, Europa zu verlassen, und so begaben wir uns an einen vermeintlich sicheren Ort, um dort abzuwarten, dass der Krieg an uns vorbeizog. Wir hätten nicht falscher liegen können.“   Ezra hatte jetzt die Augen geschlossen, seine Gedanken weit weg. Nathan wagte kaum zu atmen, und doch musste er wissen, was passiert war. „Wo ist Elisabeth jetzt?“, fragte er, obwohl er die Antwort längst kannte. Ezras Gesichtsmuskeln zuckten. „Sie starb. Eine Brandbombe traf das Hotel, in dem wir untergekommen waren. Elisabeth wurde von den Flammen eingeschlossen. Wir hörten noch, wie sie schrie, aber wir konnten nichts für sie tun. Am Ende gewann das Feuer.“   Ezra schwieg, doch auch Nathan wusste nicht, was er jetzt sagen sollte. Dieses Ende klang selbst für einen Vampir unheimlich grausam. Zu wissen, dass Ezra diese Situation hilflos hatte mitansehen müssen, machte es nur noch schlimmer. Er musste halb wahnsinnig gewesen sein vor Schmerz. „Und dann?“, fragte Nathan trotzdem, nur um die Stille zu durchbrechen. Ezra atmete tief ein.   „Wir blieben noch eine Weile in Europa. Darnelle und ich überzogen die Stellungen der Angreifer mit einem blutigen Rachefeldzug. Wie Berserker fielen wir über sie her und töteten alle, die unseren Weg kreuzten. Aber es waren zu viele und die Orte, an die wir uns zurückziehen konnten, wurden immer weniger. Am Ende verließen wir das Land, um hier neu anzufangen. Aemilius kümmerte sich um alles. Er nahm Kontakt auf, pflegte Beziehungen, sorgte für Vermögen, Land und Macht. Er erschuf ein Imperium aus dem Nichts heraus und schon bald schien es, als wären wir alle Sorgen los. Doch das Loch, das Elisabeth in meinem Herzen hinterlassen hatte, war zu groß, um es mit irgendwelchen Besitztümern zu füllen. Stattdessen beschränkte ich mich lange Zeit darauf, einfach gar nichts zu fühlen.“   Ezra öffnete die Augen. Er sah Nathan an und in seinem Blick lag plötzlich wieder so etwas wie Hoffnung. Zärtlichkeit. Und Wärme.   „Bis ich dich traf“, sagte er leise. „Ich weiß, dass das eigenartig klingen muss und ich habe wirklich versucht, mir immer wieder genau das in Gedächtnis zu rufen, was auch du gesagt hast. Dass ich ein Vampir bin und du ein Mensch. Aber du bist etwas Besonderes, Nathan. Und ich würde mich freuen, wenn du wenigstens … irgendwann … darüber nachdenken könntest, mir eine Chance zu geben. Wenn du nicht mehr … also, wenn ich …“   Ezra verstummte und Nathan bildete sich ein, das wilde Pochen seines Herzens hören zu können. Oder vielleicht war es auch nur sein eigenes, das gegen das Gefängnis, in dem es sich befand, anhämmerte. Es wollte hinaus. Es wollte frei sein. Glücklich. Mit Ezra.   Nathan biss sich auf die Lippen. Sollte er es wirklich wagen?   „Okay“, sagte er entschlossen, bevor er es sich anders überlegen konnte. „Aber bevor wir irgendwas tun, was ich später bereue, will ich, dass wir uns besser kennenlernen. Miteinander ausgehen. Auf Dates. Richtige Dates. Ohne dunkle Ecken und Vampire, die mir mein Blut abzapfen wollen oder dich umbringen. Und ich will, dass du mir alles über dich erzählst. Jede noch so kleine Kleinigkeit. Ich meine, du hast über hundert Jahre auf dieser Welt verbracht. Da muss es doch Tonnen von Dingen geben, von denen du berichten kannst. Wichtige, historische Ereignisse, bei denen du live dabei warst. Die Mondlandung, das Kennedy-Attentat oder die Erfindung des Farbfernsehens!“   Ein kleines Lächeln zupfte an Ezras Mundwinkeln herum. Er sah Nathan von unten herauf an. „Also wenn ich ehrlich bin, gehe ich tatsächlich lieber ins Kino.“   Nathan erinnerte sich. Ezra hatte so etwas erwähnt.   „Um Leute auszusaugen?“, fragte er mit dem Ansatz eines Grinsens im Gesicht. „Nur, wenn sie damit einverstanden sind.“   Eine winzige Welle der Erregung wusch über Nathan hinweg. Er sah, wie Ezra versuchte, unauffällig zu schlucken. Sich zurückzuziehen und sich zu beherrschen, doch das Kribbeln in Nathans Bauch blieb.   Er ist ein Vampir. Er kann nicht anders. Er dachte an die Szenen im Club, die er beobachtet hatte. Das Gefühl und die Neugier, die sie in ihm ausgelöst hatten. Die Frage danach, wie es sich anfühlte, sich so vollkommen hinzugeben. Die Begegnung mit Darnelle hatte dieses Bedürfnis verblassen lassen, aber es war da gewesen. Und zu diesem Zeitpunkt hatte ihn kein Vampir beeinflusst.   Und wenn wir beide es wollen, wäre es dann nicht … in Ordnung?   Er räusperte sich, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Denn da war noch etwas, dass er unbedingt klarstellen musste.   „Es gibt da allerdings noch eine Sache“, begann er und versuchte den Gedanken an Darnelle zurückzudrängen. „Ich will, dass du mir versprichst, dass du nie versuchen wirst, mich zu einem Vampir zu machen.“   Ezra antwortete nicht darauf. Nathan fürchtete für einen Augenblick, dass er zu weit gegangen war, aber dieser Punkt war für ihn nicht verhandelbar. „Ich respektiere, dass du dich von Blut ernährst“, erklärte er weiter, „und dass es dafür offenbar keine Alternative gibt. Aber für mich ist die Vorstellung einfach … Es geht nicht. Verstehst du das?“   Ezras Miene wurde für einen Moment unergründlich. Er schien über etwas nachzudenken. Nathan zog die Nase kraus.   „Ist das okay für dich?“ Ezra hob den Blick. Darin herrschte ein seltsamer Tumult, den Nathan sich nicht erklären konnte. Oder wollte. Hatte Ezra etwa gehofft, dass er …?   „Ich überlege, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, wie ich darauf verzichten könnte.“   Nathan blinzelte überrascht. „Was meinst du damit? Willst du jetzt auf Blutkonserven umsteigen? Oder Tierblut?“ Ezra schüttelte den Kopf. „Das würde nicht funktionieren. Die Übertragung gelingt nur, wenn das Blut, das ich trinke, von einem lebendigen Menschen kommt. Aber …“   Er strich mit der Hand über den Verband auf seiner Brust.   „Als Aemilius mich angriff, benutzte er dazu einen Pflock, der mit Ghulblut getränkt war. Diese Substanz hat eine Art Umkehrwirkung auf das, was uns Vampire am Leben erhält. Sie verhindert die Heilung und setzt die vampirische Macht außer Kraft. Und jetzt frage ich mich, ob es vielleicht möglich wäre, mich damit wieder … zurückzuverwandeln.“   Nathan erstarrte. Das hörte sich zu fantastisch an, um wahr zu sein. Trotzdem konnte er sich nicht darüber freuen.   „Und was, wenn es schiefgeht?“   Ezra verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln. „Dann wäre meine Zeit hier wohl abgelaufen.“   Nathan dachte nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde darüber nach. „Nein!“, schmetterte er Ezra entgegen und richtete sich auf, damit der auch merkte, dass es ihm damit ernst war. „Du wirst nicht dein Leben aufs Spiel setzen, nur weil ich …“   „Aber du hast doch das Gleiche für mich getan.“   Ezra schien tatsächlich nicht zu verstehen. „Ja, aber das wusste ich nicht!“, konterte Nathan aufgebracht. „Nicht wirklich. Und als ich es endlich verstanden hatte, wurde mir klar, dass du das nie hättest verlangen dürfen. Und auch nicht hast. Es war meine Entscheidung und sie war selten dumm, aber es war immer noch mein freier Wille. Selbst Darnelle hat das begriffen und der hielt ja bekanntlich nicht besonders viel von Menschen.“   Ezra machte ein Gesicht, als hätte Nathan ihm eine Ohrfeige versetzt. Er tat Nathan leid, aber er wusste, dass das hier wichtig war. Unheimlich wichtig. „Wenn wir wollen, dass das mit uns funktioniert, werden wir … wir werden uns so akzeptieren müssen, wie wir sind. Ohne Anpassung unserer Essgewohnheiten. Oder Kleidungsstile. Oder sonstiger Dinge, die uns wichtig sind. Die uns ausmachen.“   Ezra schwieg dazu. Nathan sah, dass ihn noch etwas beschäftigte. Fragend sah er Nathan an.   „Was passiert, wenn du einen Unfall hast, der dein Leben bedroht? Dürfte ich dich dann retten?“   Nathan zögerte. Er wusste, wie seine Antwort darauf aussah, trotzdem wollte er Ezra nicht das Gefühl geben, dass er das Angebot leichtfertig ausschlug.   „Wenn dieser Fall eintritt, sollten wir beide besser hoffen, dass ein guter Arzt in der Nähe ist. Ansonsten …“   Er sagte nicht mehr. Es war nur ein theoretisches Szenario und das wussten sie beide. Ezra nickte langsam. „In Ordnung.“   Sein Brustkorb hob und senkte sich unter einem tiefen Atemzug.   „Wenn das dein Wunsch ist, werde ich mich dem fügen. Aber ich werde, solltest du in Zukunft eine Leidenschaft für lebensgefährliche Hobbys entwickeln, darüber nachdenken, dich in meinem Keller einzusperren. Bei veganer Diät, selbstverständlich. Wir wollen ja nicht, dass du dich allzu sehr veränderst.“   Sein Tonfall war vollkommen ernst, während er das sagte, aber Nathan verstand, dass das ein Friedensangebot war. Eines, das er vorhatte, anzunehmen.   „Gut“, sagte er und bemühte sich sehr, nicht zu grinsen. „Aber ich muss dich warnen. Ich bin ein anspruchsvoller Gast.“   Auch Ezras Mundwinkel zuckten. „Tja und ich habe, wie es aussieht, unheimlich viel Geld zu Verfügung. Dazu Häuser, Ländereien, Immobilien, Aktien. Ich könnte dir einen Koch kaufen, wenn du willst.“ „Und wenn ich selbst kochen möchte?“ „Bekommst du eine Küche.“ „Und wenn sie mir nicht gefällt?“   Ein warmes Lächeln erschien auf Ezras Gesicht.   „Dann werden wir auch dafür eine Lösung finden.“ „Glaubst du das wirklich?“ „Ja, das glaube ich.“   Für einen Moment sahen sie sich in die Augen. Da war wieder dieses Kribbeln. Diese Verbindung, die sie bereits damals gehabt hatten. Noch bevor Nathan überhaupt gewusst hatte, dass Ezra tatsächlich ein Vampir war.   Vielleicht finde ich ja beides anziehend. Den Vampir und den Mann.   Mit immer lauter klopfendem Herzen rückte er ein Stück näher an Ezra heran. So nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.   „Ich glaube, ich würde dich jetzt gerne küssen.“   Ezra lächelte.   „Dann tu’s doch einfach.“   Mit einem letzten Blick in Ezras dunkle Augen beugte Nathan sich vor, doch noch bevor er ihn erreichte, war der ihm bereits entgegengekommen. Ihre Lippen trafen sich zu einem Kuss. Er war gut. Sanft und leidenschaftlich zugleich und er versprach der Auftakt von etwas Großem zu werden. Etwas sehr, sehr Großem. Kapitel 20: Für immer --------------------- Einige Monate später     Nervös setzte Nathan einen Fuß vor den anderen. In seinen Händen balancierte er eine Plastikbox, in der sich die Häppchen für die Party befanden. Sie wackelten und hopsten bei jedem Schritt. Nathan stöhnte leise.   Mist. Mistmistmistmistmist. Wahrscheinlich ist alles ruiniert, wenn ich ankomme. Ich hätte doch lieber nur einen Salat machen sollen. Der wäre haltbarer gewesen.   Leider hatte ihn beim Nachdenken über mögliche Mitbringsel zu Marvins und Felipes Geburtstagsfeier der Ehrgeiz gepackt. Er hatte unbedingt etwas Außergewöhnliches kreieren wollen. Fingerfood, der nicht nur geschmacklich sondern auch optisch etwas hermachte. Zu diesem Zweck hatte er frittierte Polentastückchen, gebratene Zucchinischeiben, mit schwarzem Sesam bestreute Avocado und halbierte Cocktailtomaten auf Zahnstocher gesteckt und jeden von ihnen noch mit einem frischen Basilikumblatt verziert. Theoretisch gesehen sollte durch die gewählte Reihenfolge die Feuchtigkeit von der Polenta ferngehalten werden, sodass sie schnittfest blieb. Momentan war Nathan jedoch eher davon überzeugt, dass sich das Ganze in einen krümeligen Haufen Maisgries mit Gemüse und Holzstäbchen verwandeln würde, sobald jemand den Inhalt der Box auch nur schief ansah.   Auch bei den Gurkenhäppchen wurde er sich zunehmend unsicher. Ob die Kombination aus Wrapteig, Avocadocreme und Gurke wohl jemanden anlocken würde? Immerhin war er auf dem Weg zu einer Barbecue-Party. Bei solchen Veranstaltungen war Grün nicht unbedingt die bevorzugte Speisefarbe.   Und was ist, wenn jemand keine Avocado mag? Himmel! Ich habe in beiden Gerichten welche drin. Das war ja nun wirklich selten dämlich!   Jetzt war es jedoch zu spät, um noch umzuplanen, denn der Hinterhof, in dem die Feier stattfinden sollte, war längst in Sicht- und vor allem in Hörweite. Gitarrenklänge und Salsa-Rhythmen mischten sich mit starken Bässen, spanischem Rap und Gelächter. Nathan vernahm Klatschen, Rufen und etwas, das stark nach Trillerpfeifen klang. Automatisch wurden seine Schritte langsamer. Er wollte nicht vollkommen abgehetzt dort ankommen und vielleicht würde so wenigstens die Hälfte der Häppchen heil ihr Ziel erreichen.   Das nächste Mal nehm ich ein Taxi, beschloss er im Stillen und wappnete sich für den bevorstehenden Ansturm.   „Na~tan!“   Dem freudigen Ausruf folgte ein wirrer Strom des schnellsten Spanisch, das er je gehört hatte und zwei kräftige, braune Arme zerrten ihn höchst resolut ein Stockwerk tiefer. Er brachte gerade noch ein heiseres „Vorsicht“ heraus, da ihm sowohl die Dose mit dem Fingerfood wie auch sein Gleichgewicht drohten abhanden zu kommen.   „Ay, ich habe doch gesagt, du brauchst nicht zu kochen“, wechselte Felipes Mutter Sofía ansatzlos ins Englische. Die erstaunlich kleine Frau mit den kastanienbraunen Haaren und dem knallroten Lippenstift schnappte Nathan am Ellenbogen und zog ihn ohne viel Federlesen hinter sich her in die Menge.   „Komm, komm! Iss! Trink! Es ist reichlich da. Wir haben sogar eine Torte. Selbstgemacht. Du musst probieren!“   Ehe Nathan sich versah, wurden ihm seine Häppchen bereits aus der Hand genommen und auf einem sich unter Tonnen von Essbarem durchbiegenden Tisch abgestellt. Nathan wollte noch darauf hinweisen, dass irgendjemand unbedingt den Deckel abnehmen musste, um Schwitzwasser zu vermeiden, als er auch schon das nächste, weibliche Wesen am Hals hängen hatte. „Claudia“, krächzte er mühsam, während er rechts und links einen angedeuteten Kuss hingehaucht bekam. Felipes Cousine hatte sich heute herausgeputzt und dabei die schwindelerregentsten Absatzschuhe mit dem kürzesten Rock, den ihre Mutter zugelassen hatte, kombiniert. Nathan war schleierhaft, wie sie darin später tanzen wollte, aber er wusste, sie würde es tun. „Nathan! Cómo estás? Wie schön, dass du kommen konntest. Oh sieh mal, da ist Simone. Hallo Simone!“ Schon winkte die junge Frau ihrer Freundin, die gerade am Eingang aufgetaucht war, und verschwand schwatzend mit ihr zwischen den anderen Gästen.   Nathan sah sich um. Über einem enormen Grillfeuer brutzelten Tonnen von Steaks und Rippchen, eine Bar bot Bier, Cocktails und alkoholfreie Getränke an und auf einer freigeräumten Fläche drehten und schwenkten bereits etliche Tänzer und Tänzerinnen im Licht elektrischer Lichterketten, die kreuz und quer über dem Hof gespannt worden waren, ihre Hüften. Dazwischen liefen lachend Kinder umher und spielten Fangen, während ihre Großmütter ihnen nachriefen, nicht zu wild zu machen, bevor sie sich wieder ihren Schwestern im Geiste zuwandten, mit denen sie zusammen auf angegilbten Gartenstühlen am Rand des Geschehens saßen und lautstark darüber debattierten, wie viel Knoblauch in ein gescheites Gallo Pinto gehörte und ob man nun besser rote oder schwarze Bohnen dafür verwendete. Ringsherum sah man lachende, trinkende und feiernde Gesichter in den unterschiedlichsten Schattierungen; weiß waren die wenigsten davon. Nathan kam sich fast ein wenig fehl am Platz vor und wollte schon den Rückzug in eine der weniger belebten Ecken antreten, als er plötzlich jemand Bekanntes entdeckte.   Jomar war zu dem aus allen Poren schwitzenden Grillmeister getreten. Wie schon bei ihrem ersten Treffen trug er ein ärmelloses, schwarzes Oberteil und dazu passende Hosen, die seine sportliche Figur zur Geltung brachten. Ein markanter Bartschatten bedeckte die untere Gesichtshälfte und ließ ihn gleichzeitig sinnlich und sexy wirken. Er war ohne Zweifel ein ziemliches Bild von einem Mann. Unwillkürlich blieb Nathan stehen und beobachtete ihn. Eine ganze Reihe strahlend weißer Zähne blitzte auf, als er über einen Scherz des gabelschwenkenden Schürzenträgers lachte. Und dann fiel sein Blick genau in Nathans Richtung. Nathan zuckte ertappt zusammen.   Es war natürlich zu erwarten gewesen, dass Jomar heute Abend hier sein würde. Er war immerhin Felipes bester Freund. Zudem hatten sie bereits geklärt, dass zwischen ihnen nichts laufen würde. Nathan hatte sich für die versäumte Verabredung und sein unerklärtes Abtauchen entschuldigt und inzwischen konnten sie schon fast normal miteinander umgehen. Trotzdem wäre es Nathan lieber gewesen, Jomar nicht unbedingt allein gegenüber treten zu müssen. Suchend sah er sich um, konnte jedoch weder Marvin noch Felipe unter den Gästen entdecken. Dafür kam Jomar jetzt direkt auf ihn zu.   „Hey Nathan!“, rief er. „Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ „Äh ja“, entgegnete Nathan stotternd. „I-ich musste noch arbeiten. Sorry.“   Dass er eigentlich den halben Abend neben dem Telefon gesessen und auf einen Anruf gewartet hatte, musste er Jomar ja nicht unbedingt auf die Nase binden. „Wie immer also“, antwortete Jomar lachend. „Na Hauptsache, du bist jetzt da. Komm, wir besorgen dir was zu trinken. Felipe und Marvin sollten jeden Moment wiederkommen.“   „O-okay.“   Mit einem leicht beklommenen Gefühl in der Magengegend folgte Nathan Jomar in Richtung der Bar und wurde Zeuge, wie der auf dem Weg dorthin mindestens drei Gesprächseinladungen ausschlug. Womöglich von Verwandten oder Freunden, die er lange nicht gesehen hatte. Wahrscheinlich hätte er nichts lieber getan, als sich zu ihnen zu gesellen, um die laue Sommernacht zu genießen. Stattdessen kümmerte er sich um Nathan. Es war nicht richtig, aber Nathan wusste auch nicht, wie er die Einladung hätte ausschlagen sollen.   Er ist nur nett. Beruhige dich.   An der Bar angekommen, wechselte Jomar ein paar Worte auf Spanisch mit dem Barkeeper, bevor er sich wieder Nathan zuwandte. „Und? Was möchtest du trinken?“ „Äh … was hast du?“   Jomar dunkle Augen funkelten im Licht der bunten Lampions, die rund um die Bar drapiert worden waren.   „Lass dich überraschen“, antwortete er grinsend und gab eine Bestellung auf. Kurz darauf hielt Nathan etwas in Händen, das aussah wie ein Glas Saft. Vorsichtig probierte er.   „Ich schmecke Maracuja, Ananas, Orange, Limette und einen Schuss Grenadine. Ist das richtig?“   Jomar grinste.   „Du hast den Rum vergessen. Der Rum ist doch das Wichtigste.“   Er zwinkerte Nathan zu, der gleich noch einen Schluck zur Beruhigung nahm, weil ihn das davon abhielt, etwas Dummes zu sagen. Unglücklicherweise wartete Jomar, bis er fertig war, und lächelte ihn immer noch wieder an. „Ist ne Weile her“, sagte er so freundlich, dass Nathan unwillkürlich den Blick in sein Cocktailglas senkte. „Ja, ne ganze Weile“, murmelte er. „Ich hatte viel zu tun.“   „Schreibst du an einem neuen Buch?“   Nathan hob den Blick von seinem Drink. Irgendetwas an Jomars Verhalten war merkwürdig, aber er konnte den Finger nicht darauf legen, was es war. Allerdings bot ihm die Themenvorlage die Möglichkeit, über etwas zu sprechen, mit dem er sich auskannte. Kochbücher. Wie wundervoll! „Ja, ich …äh … ich habe gerade eine neue Sammlung angefangen. Feiertags-Rezepte. Für Weihnachten, Thanksgiving und so weiter. Ich habe sogar schon eine Idee für einen weiteren Band. Snacks. Mein Redakteur meinte zwar, es wird ne harte Nuss, den Superbowl zu veganisieren, aber probieren kann man es ja mal.“   Jomar lachte auf. „Meinst du wirklich, dass du eine Chance hast gegen Hot Dogs, Riesen-Truhähne und Buffalo Wings?“   Nathan erlaubte sich ein Grinsen.   „Du hast meine vegane Wings-Version aus Blumenkohl noch nicht probiert. Wenn ja, wüsstest du, dass ich schwere Geschütze aufzufahren gedenke. Die Dinger sind köstlich.“   Jomar machte ein erstauntes Gesicht.   „Ach wirklich? Dann musst du mir unbedingt mal das Rezept geben. Oder muss ich warten, bis das Buch herauskommt?“   Wieder lachten sie beide und beinahe hätte Nathan angenommen, dass zwischen ihnen jetzt wirklich wieder alles in Ordnung war, als Jomar plötzlich zu Boden blickte. „Ich hab mir übrigens dein Buch gekauft“, sagte er und wirkte dabei ein wenig verlegen. „Ich wollte es mal ausprobieren, weißt du? Was du da so kochst, meine ich.“   Er sah Nathan von unten herauf an, als erwartete er irgendeine Reaktion. Nathan schluckte leicht und nahm zur Sicherheit noch einen Schluck von seinem Cocktail. Was sollte er darauf antworten?   Bleib einfach ganz normal. Was würdest du sagen, wenn Felipe sich das Buch gekauft hätte? Was er nicht tun würde, schon allein deswegen, weil Marvin natürlich ein Gratis-Exemplar bekommen hatte und die beiden so gut wie immer zusammen hockten. Aber wenn …   „Hat es … denn geschmeckt?“   Jomar verkniff sich jetzt deutlich ein Grinsen. Nathan irritierte das. Was war denn an der Frage so witzig?   „Also wenn man es genau nimmt, haben mir deine 'Linguini à la Nathan' sogar ziemlich den Arsch gerettet. Ich hatte wirklich Angst, dass Josh mich bis in alle Ewigkeiten hasst, wenn ich nichts Ordentliches zustande bringe, aber diese Nudeln haben es echt gerockt.“   Nathan blinzelte und stellte fest, dass zwei Seelen in seiner Brust miteinander rangen. Die eine wollte mit stolz geschwellter Brust das Lob entgegennehmen. Die andere wollte wissen, wer Josh ist. Die zweite gewann.   „Wer ist Josh?“   Jomar begann zu lachen. „Josh ist eine Landplage. Wenn er nicht das Badezimmer besetzt oder an seinem Handy klebt, beschäftigt er sich damit, den Checker raushängen zu lassen und seiner Umwelt mit seinen Stimmungsschwankungen auf die Nerven zu gehen. Typisch Teenager eben. Und er ist Veganer. Ich sag dir, das sind die schlimmsten.“   Er grinste und fuhr fort, bevor Nathan auf die Spitze eingehen konnte. „Ich gehe mit seinem Dad aus.“   „Oh“, machte Nathan erst ein wenig verblüfft und dann gleich noch einmal, als die Information endlich sein Großhirn erreicht hatte. „Du hast jemanden kennengelernt?“   Insgeheim hätte Nathan sich gerne selbst dafür geohrfeigt, dass er dabei so erstaunt klang. Natürlich hatte Jomar jemanden kennengelernt. Er lebte schließlich nicht in einem Kloster und da Nathan nicht zur Verfügung stand, hatte Jomar sich selbstverständlich nach einem Ersatz umgesehen. Daran war nichts Erstaunliches. Oder Verwerfliches.   Jomar grinste über das ganze Gesicht. „Jepp, habe ich. Und weißt du wo?“ „Nein. Wo?“ „Im Supermarkt. Er stand vollkommen überfordert vor der Kühltheke und hat mir mit einem hinreißend verzweifelten Gesicht eine Packung vegane Mortadella unter die Nase gehalten. Ob ich wüsste, ob die gut wäre. Als ich dann sagte, dass ich auch nur hier stände, weil ein Freund von mir Veganer ist, und ich ansonsten von dem ganzen Kram keine Ahnung hätte, mussten wir beide lachen. Danach hat er mich spontan auf einen Kaffee eingeladen.“   Jomar Grinsen wurde jetzt wieder kleiner, aber in seinen Augen erschien ein warmer Glanz. „Am Ende hat er gesagt, dass er mich gerne mal wiedersehen würde. Ich hab erst angenommen, dass das ein Scherz sein sollte, aber dann hab ich gedacht: Warum nicht? Gehst du eben mal mit ihm aus und guckst, wie es sich entwickelt.“   Nathan begann zu schmunzeln. „Und es entwickelt sich?“   Jomars Grinsen kehrte zurück. „Oh ja, das tut es. Er ist wirklich der Wahnsinn. Wir reden manchmal einfach nur oder kochen zusammen. Gehen spazieren oder hören Musik. Es ist unheimlich schön.“   Er seufzte, bevor er hinzusetzte: „Obwohl eine Sache schon nervt. Rachel, seine Ex, hat voll den Aufstand gemacht, als sie mich das erste Mal gesehen hat. Ob er sich nicht schämen würde, sich so einen jungen Kerl anzulachen, und dass ich glatt sein Sohn sein könnte. Im Supermarkt hat man Matthew für meinen Onkel gehalten und selbst Ramon meinte letztens, ob ich mir jetzt nen Sugardaddy geangelt hätte. Als wenn es nichts Wichtigeres gäbe als unser Alter. Am liebsten würde ich mir ein Schild um den Hals machen: Nein, ich ficke ihn! Die Leute sind echt so beschränkt, sag ich dir.“   Joamr nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, bevor er erneut zu lächeln begann.   „Aber genug von mir. Wie läuft es bei dir? Oder sollte ich sagen: bei euch?“   Jomars vorsichtige Frage zwängte ein erneutes Grinsen auf Nathans Gesicht. Natürlich wusste er, dass Nathan mit jemandem ausging. Nathan hatte es erwähnt, auch wenn Ezra und Jomar sich bisher nie begegnet waren. Der Kreis der Eingeweihten war nach wie vor klein und sollte es nach Möglichkeit auch bleiben. Mit einem Vampir zusammenzusein bedeutete einige Herausforderungen und oft genug machte ihnen ihr unterschiedlicher Lebenswandel einen Strich durch die Rechnung. Insbesondere dann, wenn Ezra nachts arbeiten musste. „Wir arbeiten beide zu viel“, gab Nathan deshalb zurück. „Aber heute nicht. Heute wird gefeiert.“   „Darauf trinken wir.“   Jomar hob seine Flasche und prostete Nathan zu. Nathan erwiderte mit seinem Cocktail. Das helle Klirren verschwand jedoch vollständig in einem Fanfarenstoß, der in diesem Moment aus den Lautsprechern schepperte. Im nächsten Moment erklang 'Happy Birthday' in einer Salsa-Version und am Rand der Menge erschien ein dreistöckiges Monstrum von einem Kuchen mit mehr Wunderkerzen, als offiziell erlaubt sein sollten, und genug regenbogenfarbenen Zuckerguss, um drei Partymeuten an den Rand einer ernsthaften Diabetes zu bringen. Ein Blick in Marvins und Felipes strahlende Gesichter, die hinter der Torte herschritten, reichte jedoch aus, um das Ganze nur noch zu einem Hintergrundrauschen verblassen zu lassen. Sie sahen so glücklich aus. Auch als Felipe jetzt das Wort ergriff und eine kleine Rede in das eilig herbeigebrachte Mikrofon sprach, nahm dieses Gefühl nicht ab. Er und Marvin küssten sich. Schnitten die Torte an. Fütterten sich gegenseitig damit und posierten vorher noch für Fotos. Es war ein Riesenspektakel.   Nathan lachte. Er winkte. Zückte die Kamera und schoss ein Bild nach dem anderen. Setzte sich mit Händen und Füßen gegen Sofía zur Wehr, die ihm unbedingt ein Stück Torte aufdrängen wollte. Und er trank. Mehr als er sollte. Denn während er nach außen hin vorgab, ein glücklicher Partygast zu sein, irrte sein Blick immer öfter zu der Stelle, an der er sich nur einen einzigen Anblick erhoffte. Er wusste, dass es dumm war. Eine Nachricht von Ezra hatte ihn kurz vor seinem Aufbruch informiert, dass er später kommen würde. Wie viel, konnte er noch nicht sagen, aber er wollte sich beeilen. Danach nichts mehr. Und obwohl Nathan wusste, dass das okay für ihn sein sollte – okay sein musste – war es das heute Abend nicht. Heute Abend wollte er Ezra an seiner Seite haben.       Ezras Finger trommelten auf dem Lenkrad herum, während sein Blick alle zwei Sekunden zu der Ampel hochwanderte, die sich seit gefühlten Stunden weigerte, auf Grün zu springen. Dabei war sie nicht die erste. Er hatte anscheinend eine rote Welle erwischt. Anders konnte er sich nicht erklären, warum er für den Weg, den er sonst innerhalb einer halben Stunde zurücklegte, fast doppelt so lange brauchte. Noch dazu um diese Uhrzeit. Es war nicht einmal Rush Hour, verdammt nochmal!   Na komm schon. Mach jetzt!   Die Versuchung, aus dem Wagen zu steigen und gegen die störrische Lichtanlage zu treten, war groß. Allerdings nicht groß genug, um es wirklich zu tun. Zumal er wusste, dass ein Teil seines Frustes sich auf ganz andere Themenfelder bezog. Störrische, alte Vampire beispielsweise. Die Ratssitzung, der er in den frühen Abendstunden hatte beiwohnen müssen, hatte ihn mehr als nur einen Nervenstrang gekostet. Vermutlich war es gut gewesen, dass er sich darauf beschränkt hatte, dem Treffen online beizuwohnen. Ansonsten wäre er womöglich dem einen oder anderen Mitglied gegenüber handgreiflich geworden.   Sie waren so … stur. Er konnte von Glück sagen, dass er etwas in der Hinterhand hatte, um sie im Schach zu halten. Die Sache mit dem Ghulblut durfte nicht publik werden, also hatte Ezra dieses wohlbehütete Geheimnis genutzt, um sich seinen Platz im Rat zu sichern. Er hatte ihnen klargemacht, dass sie alle einen hohen Preis bezahlen würden, wenn ihm etwas zustieße. Und sie hatten es ihm geglaubt. Einer der Vorteile, den er aus der Tatsache gezogen hatte, Aemilius’ Ziehsohn gewesen zu sein. Ihm traute man diese Dinge ebenso zu, wie man sie Aemilius zugetraut hatte. Damit war er allerdings auch schon am Ende seines Handlungsspielraums angekommen. Man erlaubte ihm, die Stadt so zu führen, wie er es für richtig hielt. Alles, was darüber hinausging, lag außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs. Und es machte Ezra wahnsinnig. So sehr, dass er am liebsten in das Lenkrad gebissen hätte, statt es nur fast aus seiner Verankerung zu reißen.   Ich weiß schon, warum ich mich früher aus solchen Sachen herausgehalten habe. Ich bin einfach kein Politiker.   Aber er hatte jetzt einen verantwortungsvollen Posten. Er hatte Macht. Und Geld. Er konnte Dinge bewirken, statt das Leben nur an sich vorbeiziehen zu lassen. Aber das Ganze kostete ihn auch Zeit. Und Nerven. Und wesentlich mehr seiner Geduld, als er sich je hatte träumen lassen.   Die Ampel wechselte endlich die Lichtphase und Ezra trat das Gaspedal durch. Eigentlich hatte er schon vor Stunden hier sein wollen, aber kaum, dass er die Verbindung zum Rat gekappt hatte, hatte ihn ein Hilferuf aus einem der Clubs erreicht. Einige Gäste hatten sich nicht an die Regeln halten wollen und Ezra selbst hatte nach dem Rechten sehen müssen, bevor die Sache vollkommen außer Kontrolle geriet. Natürlich hatte er schnell herausbekommen, dass die Störenfriede bezahlt worden waren, um Stress zu machen. Ein Problem, das Ezra leicht lösen konnte, indem er ihnen mehr anbot als die ursprünglichen Auftraggeber. Es war reine Schikane, das wusste er. Trotzdem würde er herausfinden müssen, wer die Unruhestifter geschickt hatte, und dann …   Stopp jetzt! Genug damit für heute Nacht. Du wirst noch alles verderben.   Die Straße, in der er üblicherweise parkte, war natürlich ausgerechnet heute gesperrt worden und so musste Ezra den Wagen einen ganzen Block weit entfernt abstellen, bevor er endlich aussteigen und sich auf den Weg zur Party machen konnte. Leider zeigte die Uhr bereits weit nach Mitternacht. Weit, weit nach Mitternacht. Noch nicht so sehr, dass man von „früh“ sprechen konnte, aber so weit, dass er den Großteil der Feier wohl verpasst hatte. Mit einem Seufzen beschleunigte er seine Schritte.   Auf dem mit Lichterketten und Lampions geschmückten Hinterhof herrschte immer noch ausgelassene Stimmung, auch wenn Ezra sofort merkte, dass ein Gutteil der Gäste ziemlich angetrunken war. Allen voran das Gastgeberpaar, das sich gerade zu sanften Rhythmen auf der Tanzfläche wiegte. Sie waren jedoch so sehr in sich versunken, dass Ezra darauf verzichtete, sich ihnen vorzustellen. Zunächst wollte er Nathan suchen. Er kam jedoch nicht mehr dazu, denn kaum, dass er einen Fuß in Richtung Bar gemacht hatte, stellte sich ihm jemand in den Weg. „Du?“, grollte Nathan und es hätte nicht seines glasigen Blicks bedurft, der einige Schwierigkeiten hatte, Ezra zu fixieren, um zu bemerken, dass auch er schon ziemlich viel Alkohol konsumiert hatte. „Was fällt dir ein, hier einfach so aufzutauchen?“   Ezras Augenbrauen wanderten ein Stück in die Höhe. „Ich, ähm … wurde eingeladen?“, meinte er in einem leicht fragenden Tonfall. „Ach“, machte Nathan und schnaufte. „Und das fällt dir jetzt ein? Wenn alles vorbei ist?“   Ezra wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Anscheinend war Nathan tatsächlich sauer auf ihn, weil er aufgetaucht war. Wie von selbst sah er zu Marvin und Felipe hinüber, die einander in den Armen lagen, vollkommen weltvergessen und ungeachtet der Tatsache, dass ihr beträchtlicher Größenunterschied die ganze Sache ziemlich eigenartig aussehen ließ. „Hey“, fauchte Nathan und versuchte erfolglos, mit seinen Fingern vor Ezras Nase herumzuschnippsen. „Ich rede mit dir. Weißt du eigentlich, in was für eine Lage du mich bringst? Ich bin müde, ich bin betrunken und ich gehöre seit mindestens einer Stunde ins Bett. Aber nein, weil der Herr Vampir ja jetzt doch noch auftaucht, muss ich … mhm-mhm …“ Der Rest von Nathans Protest ging in einem Kuss unter, den Ezra ihm kurzerhand auf den Mund drückte. Es dauerte ungefähr drei Sekunden, bevor Nathan in seine Arme schmolz. Sanft zog Ezra ihn näher und küsste ihn noch einmal, dieses Mal zärtlicher. Anschließend rückte er ein Stück von ihm ab und sah ihn prüfend an.   „Wieder beruhigt?“   Nathan schob die Augenbrauen zusammen und die Unterlippe nach vorn. „Ja“, grummelte er. „Tut mir leid. Ist mir so rausgerutscht. Du bist trotzdem unmöglich.“ „Du auch“, gab Ezra ungerührt zurück und begann, Nathan im Takt der Musik zu bewegen. Seine Bemühungen hatten ein weiteres Stöhnen zur Folge. „Siehst du?“, maulte Nathan theatralisch. „Jetzt muss ich mit dir tanzen. Und eigentlich wollte ich das schon vor drei Stunden tun, aber du bist einfach nicht gekommen.“   „Es gab Ärger in einem der Clubs.“ „Mhm.“   Ezra hörte an Nathans Stimmlage, dass sein Ärger sich so gut wie amortisiert hatte. Er war bereit zu vergeben. „Es tut mir wirklich leid“, murmelte er und küsste Nathan erneut. „Du weißt, dass ich lieber hier gewesen wäre. Immerhin habe ich deswegen extra auf einem Zoom-Meeting bestanden. Mit dem Vampir-Rat. Weißt du eigentlich, was das heißt?“   „Dass du dich über so ziemlich jede Tradition der westlichen und östlichen Hemisphäre hinweggesetzt und mindestens zwanzig Obervampire mächtig verärgert hast“, leierte Nathan leicht genervt herunter. „Ich weiß, ich weiß. Aber die könnten sich wirklich mal angewöhnen, ihre Termine rechtzeitiger bekannt zu geben. Geheimhaltung hin oder her. Du hast schließlich auch ein Leben.“   Ezra schmunzelte. Da war er ja wieder, sein kleiner Ziegenbock. „Und ich bin verdammt froh, dass du ein Teil davon bist.“ „Ein winziger Teil.“ „Ein großer Teil. Ein verdammt großer Teil.“ „Du solltest nicht so viel fluchen. Felipes Mutter ist da echt streng.“   Ezra spürte, wie Nathan sich an ihn schmiegte, die Arme um ihn schlang und den Kopf an seine Schulter lehnte. Wäre er ein normaler Mann gewesen, hätte er jetzt wohl angenommen, dass alles wieder in Ordnung war. Aber er war ein Vampir. Er hörte die leichten Unregelmäßigkeiten in Nathans Atemrhythmus, die für seinen Zustand eine Winzigkeit zu schnellen Herzschläge. Er spürte die Anspannung, die Nathans ganzen Körper vibrieren ließen. Nicht zu vergleichen mit dem Zittern eines Rennpferdes in seiner Box, aber doch so deutlich spürbar, dass Ezra wusste, dass da noch etwas war. Etwas, das Nathan vor ihm zu verbergen versuchte. Aber was?   „Wie war die Party?“   Die Art, mit der Nathans Bewegungen kurz stockten, verriet Ezra genug, um zu wissen, dass er auf der richtigen Spur war. Natürlich hätte er das nicht fragen müssen. Er hätte den Frieden annehmen können, den Nathan ihm anbot, und ihn ablenken, sodass er erst sehr viel später wieder anfangen würde, darüber zu grübeln. Wenn Ezra nicht mehr da war.   Aber genau das will ich nicht. Ich will für ihn da sein.   „Gut!“, behauptete Nathan jedoch stoisch. „Es war toll. Das Essen, die Drinks. Meine Polentaspieße sind nicht auseinandergefallen. Alle waren begeistert. Nur Sofía wollte nicht einsehen, warum ich die Torte nicht probieren konnte. Aber ansonsten war es ein wirklich schöner Abend.“   Ezra unterdrückte ein Seufzen. Er kannte Nathan inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das nur die halbe Wahrheit war. Bevor er sich jedoch entschieden hatte, ob es noch eines weiteren kleinen Schubses bedurfte oder ob Nathans Vertrauen zu ihm und der angetrunkene Mut groß genug sein würden, um auch den Rest zu erzählen, fuhr sein Geliebter bereits fort.   „Ich habe mit Jomar geredet.“   Ah, jetzt kamen sie der Sache schon näher. Ezra wusste, dass der junge Mann mit den lateinamerikanischen Wurzeln ernsthaftes Interesse an Nathan gezeigt hatte. Er empfand das nicht als Bedrohung, da er wusste, dass Nathan diesbezüglich absolut ehrlich zu ihm gewesen war. Trotzdem beschäftigte Nathan diese Episode immer noch und Ezra konnte sich einige Gründe vorstellen, warum das so war. Worauf er nicht vorbereitet war, war das, was er tatsächlich zu hören bekam. „Er trifft sich mit jemandem.“   Nathan wich seinem Blick aus und Ezra ahnte, dass es besser war, jetzt nicht nachzufragen. Als Nathan jedoch auch nach einiger Zeit immer noch nicht weitersprach, rückte er ein Stück von ihm ab und sah ihn prüfend an. „Und das stört dich?“   Nathan blies sofort die Backen auf.   „Nein, nein. Überhaupt nicht. Er hat mir von diesem Matthew erzählt und das muss ein wahrer Heiliger sein. Er ist Lehrer an einer der Schulen hier in der Gegend und trotz des miesen Gehalts und der ganzen Scheiße liebt er seinen Beruf noch immer. Er gibt sich Mühe mit seinen Schülern, ist für sie da und versucht, irgendwie ein bisschen Wissen und Anstand in ihre Köpfe zu kriegen. Der Mann verdient eine Medaille. Außerdem ist Jomar echt verschossen in ihn und er in Jomar, da beißt die Maus keinen Faden ab.“   Ezra runzelte leicht die Stirn. „Aber …?“, hakte er nach.   Nathan atmete hörbar aus. „Aber er war verheiratet. Er hat einen Sohn, eine nervige Exfrau und er ist … er ist 20 Jahre älter als Jomar. Fast doppelt so alt also. Das ist ne ganze Menge.“   Nathan verstummte und Ezra musste zugeben, dass er das Problem immer noch nicht ganz verstand. Immerhin war auch er ein ganzes Stück älter als Nathan und das war neben allen Dingen, die ihnen in die Quere gekommen waren, nie ein Problem gewesen. Warum also regte ihn das so auf? „Aber du sagst doch, sie lieben sich“, versuchte er zu vermitteln. Er kam jedoch nicht weit.   „Ja natürlich tun sie das“, fauchte Nathan. „Noch! Aber was ist, wenn sie älter werden? Wenn Matthew irgendwann mal gebrechlich wird. Senil. Wenn er Jomar nicht mehr erkennt. Wenn er überall Falten und Haare in den Ohren hat. Im Rollstuhl sitzt und gefüttert werden muss. Wird Jomar es dann immer noch mit ihm aushalten?“   Er zückte sein Handy und wedelte damit vor Ezras Nase herum.   „Ich hab das gegoogelt. Weißt du, dass bei zehn Jahren Altersunterschied die Trennungsrate bereits bei 39% liegt. Bei 20 Jahren sind es sogar 95%. Das kann also gar nicht klappen.“   Ohne Kommentar nahm Ezra Nathan das Handy ab und begann selbst zu lesen. Ein Schmunzeln ließ seine Mundwinkel nach oben wandern. „Da steht, dass die Trennungsrate erhöht ist im Gegensatz zu gleichaltrigen Paaren. Die Zahlen sind also nicht absolut zu sehen, denn immerhin trennen die sich ja auch nicht alle. Du darfst den beiden also eine Chance geben.“   „Ja aber …“, widersprach Nathan und sein Ton wurde verzweifelt. „Was ist, wenn ich irgendwann mal alt werde? Wirst du dann immer noch da sein? Und was ist, wenn ich eines Tages sterbe? Willst du dann mit mir ans Meer fahren und wir genießen einen letzten gemeinsamen Sonnenaufgang, bevor wir beide ins Gras beißen? So wie in diesem Film, den wir letztens gesehen haben? Ist es das, was du willst?“   Nathan sah Ezra an und in seinem Blick war plötzlich eine tiefe Traurigkeit.   „Wäre es da nicht besser, wenn wir es beenden, solange wir noch können? Solange wir noch eine Chance haben auf ein bisschen Glück? Ohne einander?“   Ezra schluckte. Er wusste, dass ein Teil dessen, was Nathan gesagt hatte, die Wahrheit war. Nathan würde altern und irgendwann sterben, während er ewig jung blieb. Ein Segen, der in dem Moment zu einem Fluch werden würde, an dem er ihn das Liebste kostete, was er hatte. Erneut. Und ja, auch er hatte durchaus schon ein paar Mal darüber nachgedacht, wie er diesem Schicksal entfliehen konnte.   Unwillkürlich zuckte seine Hand zu der Narbe auf seiner Schulter. Die Wunde, die der Pflock geschlagen hatte, war inzwischen verheilt, aber es hatte lange gedauert. Sehr lange. Viel länger, als bei einem Vampir üblich war, und das entstandene Gewebe war schwächer als der Rest seines Körpers. Verwundbarer. Sterblich. Ezra hatte daraufhin eine Probe des Ghulbluts zur Analyse gegeben und den Wissenschaftlern, die damit betraut worden waren, horrende Summen für ihr Stillschweigen geboten. Ein Ergebnis hatten sie noch nicht, aber vielleicht … irgendwann …   Langsam zog er Nathan wieder näher zu sich. Der wehrte sich zunächst und Ezra war schon kurz davor, ihn loszulassen, als sein Widerstand plötzlich erlahmte. Ezra spürte Wärme in sich aufsteigen. „Nathan“, sagte er sanft. „Ich weiß, dass dir diese Vorstellung Angst macht. Wer wüsste das besser als ich? Immerhin bin ich derjenige, der sich aus Furcht vor dem Tod auf einen Pakt mit dem Teufel eingelassen hat. Zweimal. Aber haben uns die vergangenen Ereignisse nicht gezeigt, dass es keine Garantien gibt? Nicht einmal für Vampire. Und, ganz ehrlich, ich brauche dich. Ich brauche deine Ratschläge, deine Einwürfe und deine unvergleichliche Art, mir den Kopf zurechtzurücken, wenn ich mich mal wieder in ein Problem verrenne. Ich brauche deinen Mut, deinen Stolz und deine Beharrlichkeit, die mich immer wieder aufrichten und mir zeigen, dass das, was ich tue, eine Bedeutung hat. Durch dich habe ich angefangen, mich für etwas einzusetzen. Unter meiner Kontrolle wird in dieser Stadt zukünftig jeder Fall, in dem ein Mensch durch einen Vampir verletzt oder getötet wird, bis ins kleinste Detail untersucht und die Schuldigen für ihre Vergehen bestraft werden. Ich habe mit deiner Hilfe dafür gesorgt, dass diese Stadt ein sichererer Ort wird. Meinst du denn, ich hätte all das geschafft, wenn du nicht an meiner Seite gewesen wärst?“   Nathan wollte den Kopf abwenden, aber Ezra hielt sein Kinn fest und drehte es so hin, dass er ihm in die Augen sehen konnte. „Und darüber hinaus liebe ich dich. Ich kann mir mein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen. Und ich will es auch gar nicht. Du bist ein Teil davon. Ein überaus wichtiger, denn durch dich habe ich erst wieder verstanden, was es überhaupt heißt, am Leben zu sein. Nicht nur zu überleben in einem Wechsel von Tag und Nacht, in der alles und jeder bedeutungslos und austauschbar ist. Du empfindest so eine Freude, Trauer, Leid, Wut und ich … ich darf an jedem dieser Dinge teilhaben. Du bist mein Leben, verstehst du das?“   Er lächelte und fuhr mit dem Daumen über Nathans Wange. „Und außerdem … müsste nicht eigentlich ich Angst haben, dass du mich zu alt für dich findest? Immerhin bin ich derjenige, dessen Geburtsdatum über ein Jahrhundert in der Vergangenheit liegt.“   Ezra sah, dass Nathan versuchte, böse auf ihn zu sein. Er bemühte sich zu schmollen und ihn unter gerunzelten Brauen heraus anzufunkeln, aber es funktionierte nicht. Immer wieder schlich sich ein Lächeln in seine Versuche, sodass er schließlich mit einem Seufzen aufgab. „Du weißt, dass das nicht das Gleiche ist“, sagte er und schaffte es dabei, einigermaßen entrüstet zu klingen. „Schließlich wirst du nicht alt und schrumplig werden.“   Ezra lachte und zog ihn näher heran. „Ich bin mir sicher, dass du auch in schrumpelig noch wahnsinnig sexy aussehen wirst.“   Nathan erwiderte seinen Scherz mit einem Grinsen und endlich, endlich schmiegte er sich wieder in Ezras Arme. Die Geschichte schien beigelegt, bis …   „Denkst du manchmal darüber nach, wie es wohl wäre, wenn Darnelle mich verwandelt hätte?“   Ezra wäre bei dieser Frage beinahe aus dem Takt gekommen. Er hatte bereits geahnt, dass dieses Thema Nathan beschäftigte, denn immer, wenn Nathan ihn gefragt hatte, wie es sich anfühlte, ein Vampir zu sein, war ein merkwürdiger Ausdruck in sein Gesicht getreten. Und genau deswegen wusste Ezra auch, was er antworten musste. „Es hätte für mich keinen Unterschied gemacht.“   Nathan hob den Kopf. In seinem Blick lag Erstaunen und Empörung zugleich. „Was? Aber es wäre vollkommen anders gewesen. Vielleicht wären Aemilius und Darnelle dann noch am Leben. Vielleicht würden wir jetzt gemeinsam die Nacht durchstreifen. Vielleicht hätte ich Marvin etwas angetan und mich aus Verzweiflung darüber selbst getötet. Wie kannst du da sagen, dass es keinen Unterschied macht?“   Ezra lächelte. Er merkte, dass die Wirkung des Alkohols langsam nachließ und Nathan wieder klarer zu denken begann. Sein Metabolismus kam erstaunlich gut mit diesem Gift zurecht.   „Natürlich wären viele Dinge anders gelaufen“, stimmte er zu. „Aber an meinen Gefühlen für dich hätte das nichts geändert. Ich liebe dich nicht, weil du ein Mensch bist. Ich liebe dich, weil du du bist.“ Er sah, dass Nathan weiter entrüstet sein wollte. Dass er sich mit ihm streiten und ihm so vielleicht beweisen wollte, dass sie eben nicht zueinander passten. Aber genauso erkannte er, dass Nathan das eigentlich wollte. Dass er sich danach sehnte, endlich zu vertrauen. Darauf, dass alles gut werden würde. Aber noch war er nicht so weit. „Warum denkst du, dass er es nicht getan hat?“   Ezra schlug die Augen nieder. Diese Frage hatte er sich schon oft gestellt und war nie zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. „Ich weiß es nicht“, gab er daher ehrlich zu. „Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht hat er gedacht, dass du ihm als Mensch weniger gefährlich werden könntest. Vielleicht wollte er sich erst meine Erlaubnis einholen oder mir irgendwelche Bedingungen aufzwingen, um dein Wohlergehen nicht zu gefährden. Oder vielleicht mir die Ehre des ersten Bisses überlassen. Du weißt, dass das unter Vampiren als etwas Besonderes gilt.“   Nathans Herz machte einen Satz und ein leichter Rotschimmer erschien auf seinen Wangen. Sie hatten dieses Ritual bereits vollzogen und allein die Erinnerung daran ließ Ezras Lendengegend leise kribbeln. Es war unvergleichlich gewesen, Nathan das erste Mal zu kosten. Mit ihm zu schlafen. Die Innigkeit ihrer Vereinigung, deren bloßes Echo ausreichte, um Ezras eigenen Puls in die Höhe zu treiben. Sie waren sich so nahe gewesen.   Nathan biss sich auf die Lippen. Der Ausdruck in seinen Augen goss flüssiges Feuer in Ezras Adern und er wusste, dass es seinem Geliebten genauso ging. „Das ist unfair“, beschwerte Nathan sich trotzdem, während er sich näher an Ezra drängte. „Du machst schon wieder dieses Vampir-Ding, das dich so unwahrscheinlich attraktiv erscheinen lässt.“   Ezras Lippen verzogen sich zu einem neckenden Grinsen. „Tja, tut mir leid. Wenn ich so einen appetitlichen Leckerbissen vor mir habe, werden eben meine Instinkte wach. Ich kann gar nichts dagegen tun.“ „Oh doch, das kannst du.“ Ezra atmete tief durch und bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die Voraussetzungen waren heute nicht die besten, aber er hatte inzwischen Einiges an Übung darin, seine Fähigkeiten im Zaum zu halten. Es war das Mindeste, was er tun konnte.   „Soll ich mich denn zurückhalten?“ Wenn Nathan Ja sagte, würde er sich von ihm entfernen. Das hatte er ihm versprochen.   Nathans Herz trommelte gegen seine Rippen. Ezra hörte es, aber er wusste, dass er ihm gerade nicht helfen konnte. Diese Entscheidung würde Nathan selbst fällen müssen. Später würde er die Kontrolle übernehmen, aber nicht, bevor Nathan dem zugestimmt hatte. Allerdings hoffte Ezra, dass er es tun würde. Er hoffte es so sehr. „Nein.“   Nathan hob den Kopf und sah ihn an. In seinem Blick tobte immer noch ein merkwürdiger Sturm aus Reue, Zweifel und Unsicherheit. Aber mit jedem Moment, in dem er Ezra in die Augen sah, verschwand der Tumult und wich etwas, das Ezra haben wollte. Unbedingt. „Nein“, wiederholte Nathan und wagte ein erstes, vorsichtiges Lächeln. Noch immer schlug sein Herz viel zu schnell aus den falschen Gründen. Ezra wollte das ändern und doch zwang er sich, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Das hier war Nathans Kampf und er würde sich nicht einmischen.   Warme Hände legten sich in seinen Nacken und erstaunlich kräftige Arme zogen ihn näher. Er widerstand nicht, sondern folgte der Bewegung, bis er nur noch einen Atemzug weit entfernt von Nathan stand. „Ich will nicht, dass du gehst. Ich wollte es nie. Es war nur …“   „Ich weiß“, flüsterte Ezra und seine Nase streifte Nathans Wange. „Ich werde versuchen, in Zukunft pünktlicher zu sein.“   Nathan lehnte sich an ihn.   „Und ich werde versuchen, in Zukunft weniger nervig zu sein.“ „Du bist nicht nervig.“ „Ach ja? Und was war letzte Woche? Da hast du es selbst gesagt.“ „Aber nur, weil du dich angeblich nicht für einen Film entscheiden konntest, obwohl ich genau wusste, welchen du sehen wolltest.“ „Aber du wolltest den Film nicht sehen.“ „Ich würde mir jeden Film mit dir hundertmal ansehen, wenn ich weiß, dass es dich glücklich macht.“   Für einen Moment sahen sie sich mit gekräuselten Lippen an, dann begannen sie beide zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen, das mehr abschüttelte als nur den Streit aus dieser Nacht. „Komm“, sagte Ezra und hauchte Nathan einen Kuss neben das Ohr. „Lass mich Marvin und Felipe eben noch gratulieren und dann verschwinden wir beide von hier.“   Ein Grinsen erschien auf Nathans Gesicht. „Aber was denn? Die Nacht ist doch noch jung.“   Auch Ezras Mundwinkel wanderten nach oben. „Ja eben. Und ich habe noch jede Menge mit dir vor.“       Nathans Atemzüge wurden schnell gleichmäßiger, während er warm und schwer in Ezras Arm lag. Ezra widerstand der Versuchung, ihn erneut zu berühren, zu küssen und dadurch vielleicht zu riskieren, ihn wieder zu wecken. Stattdessen wartete er, bis er sich sicher sein konnte, dass sein Geliebter fest genug schlief, bevor er ihn sanft auf das Betttuch gleiten ließ und ihn dort mit einem weiteren Laken zudeckte. Erst dann erhob er sich und trat ans Fenster. Draußen zeichneten sich bereits die ersten Vorboten des heranbrechenden Tages ab. Seine Zeit näherte sich damit dem Ende, auch wenn er wusste, dass er nicht komplett auf die Dunkelheit angewiesen war. Es gab selbst für Vampire Möglichkeiten, sich draußen zu bewegen, wenn es hell war. Es gab für so vieles Möglichkeiten, wenn man nur lange genug danach suchte.   Noch einmal sah er zum Bett zurück. Nathans Geruch, ihrer beider Geruch, lag noch in der Luft und tränkte die Atmosphäre mit süßen Erinnerungen. Noch einmal meinte Ezra die kleinen Seufzer zu hören, die Nathan von sich gegeben hatte, als er seinen ganzen Körper mit Küssen bedeckt hatte. Das erstickte Wimmern, das kehlige, abgehackte Stöhnen, das atemlose Keuchen und schließlich das unter nur mühsam zurückgehaltenen Tränen geflüsterte „Ich liebe dich. Es war das erste Mal, dass Nathan es gesagt hatte, und seit diesem Moment erschien es Ezra, als habe sein Herz Flügel bekommen.   Ich will ihn noch einmal.   Ezra merkte, wie er sich bereits wieder zu regen begann. Er würde seinen Geliebten nicht wecken, aber er hoffte auf eine Fortsetzung, wenn dieser ein paar Stunden geruht hatte. Vielleicht ein gemeinsames Frühstück. Nathan hatte ihm erzählt, dass er beim Arzt gewesen war und seine Blutwerte absolut innerhalb der Norm lagen. Es sprach also nichts gegen einen kleinen Snack. Oder gegen noch mehr Sex. Vielleicht sogar beides gleichzeitig. Die Vorstellung erregte Ezra und er wandte schnell den Kopf ab, um nicht doch noch unvorsichtig zu werden. Nathan zu widerstehen kostete ihn viel Beherrschung, aber Ezra wusste, dass es das absolut wert war.   Sein Blick blieb an dem Buch hängen, das auf dem Nachttisch lag. Ezra trat näher und sah, dass es das Gedichtband war, dass Darnelle vorgegeben hatte, aus Nathans Wohnung entwendet zu haben. Eine weitere Lüge, wie sich herausgestellt hatte. Nathan hatte das Buch nie besessen und so hatte Ezra behauptet, dass es ihm gehörte. Seit diesem Tag hatte er es immer einmal mit nach Hause nehmen wollen und doch war es hier geblieben. In Nathans Wohnung,   Einem plötzlichen Impuls folgend griff Ezra nach dem Buch. Seine Finger fuhren prüfend über den roten Einband, bevor er es öffnete und zu der Stelle blätterte, an der die weiße Feder verborgen lag. Entschlossen hob er sie heraus.   Mit der Feder in der Hand trat Ezra ans Fenster und schob es nach oben. Warme Nachtluft geschwängert vom Duft der Straßen, Fahrzeuge, Menschen drang herein. Ein weiterer pulsierender Tag, der nur darauf wartete, sich zu erheben. Ezra wusste, dass er riskierte, von der Sonne überrascht zu werden, aber das hier würde nicht lange dauern.   Hiermit hat es angefangen. Hiermit endet es auch.   Ezra streckte den Arm aus. Der herannahende Tag leckte daran. Er biss und zwickte, aber Ezra ignorierte den Schmerz. Mit einem letzten Blick auf die weiße, geschwungene Form ließ er los. Die Feder fiel. Sie trudelte und taumelte in Richtung Erdboden, bevor ein aufkommender Windstoß sie erfasste und mit sich forttrug. Ohne ihr nachzusehen schloss Ezra die Vorhänge, kehrte zum Bett zurück und legte sich neben Nathan. Dessen Mund stand ein Stück weit offen und leises Schnarchen drang daraus hervor; wie immer, wenn er ein bisschen zu viel getrunken hatte. Ezra lächelte. Irgendwann werde ich mich sicher auch daran gewöhnen. Mit einem letzten tiefen Atemzug schloss er die Augen, legte den Arm um Nathan, schmiegte sich an ihn und lauschte den Geräuschen, die sein Geliebter im Schlaf von sich gab. Vollkommen ungestört lagen sie so da und Ezra wusste, dass die Zeit des Fortlaufens endgültig vorüber war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)