Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 12: Ein Silberstreif ---------------------------- „Du wurdest WAS?“   Shannons Augenbrauen rasten in Richtung Haaransatz. Nathan lächelte schief und bemühte sich gleichzeitig, möglichst elend auszusehen. Eine Herausforderung, die ihm nicht besonders schwerfiel, seit Marvin mit seinem Make-up-Koffer über ihn hergefallen war. Jetzt war er noch blasser als ohnehin schon, seine Augen zierten dunkle Ringe und seine Nase leuchtete kirschrot. Zusammen mit dem Handtuch um seinen Kopf und dem viel zu großen Bademantel, in den gehüllt er auf Marvins Sofa saß, bildete er ein Abbild des Jammers. Man hätte es Schmierentheater nennen können, aber Marvin hatte darauf bestanden, dass in dem Fall der Zweck die Mittel heiligte. „Ich wurde evakuiert“, wiederholte er geduldig. „Ein Wasserrohrbruch. Es wurde alles überschwemmt.“   „Und das heißt?“, schnarrte Shannon unzufrieden. Ihre Lippen bewegten sich und Nathan konnte sich vorstellen, dass sie sich gerade eine Zigarette wünschte. Dringend.   Im Hintergrund der Bildschaltung konnte man Musik hören, die plötzlich lauter wurde. Shannons Blick glitt an ihm vorbei zu jemandem, der offenbar hinter der Kamera stand. Ihr Ton wanderte ohne Abstufungen von frostig zu keifend. „Oh nein, junges Fräulein. Du ziehst dir sofort etwas an, das mehr als 40 % deines Körpers mit Stoff bedeckt. Nein, ich bin nicht spießig. Nein, es ist mir egal, dass alle deine Freundinnen das auch so tragen. Und wage es ja nicht, so mit den Augen zu rollen. Hast du mich gehört? Hey!“   Einem wütenden Aufkreischen folgte etwas das sich verdächtig nach „Ich zieh zu Dad!“ anhörte und lautes Türknallen. Shannon fletschte die Zähne   „Ja, mach das“, rief sie ihrer Tochter hinterher. „Dein Vater und Bethany werden sich bestimmt freuen. Ihr werdet garantiert beste Freundinnen.“   Sie schnaufte und zu dem Verlangen nach einer Zigarette war anscheinend gerade eines nach einem großen Gin Tonic gekommen. Mit viel Gin und wenig Tonic. Auf Ex. Ihr feuriger Blick richtete sich wieder auf Nathan. „Kinder!“, knurrte sie. „Erst sind sie süß und knuddelig, aber wenn sie älter werden, ist es, als hättest du einen Gremlin nach Mitternacht gefüttert. Im nächsten Leben kauf ich mir einen Hund. Den kann ich wenigstens zur Adoption freigeben, wenn er mir auf den Teppich gekackt hat.“   Shannon schnaufte noch einmal, bevor sie sich wieder fing. Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt. „Also gut“, wiederholte sie vollkommen sachlich. „Du wurdest evakuiert. Wegen eines Wasserschadens. Und jetzt?“   Nathan zuckte möglichst leidend mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vorerst kann ich wohl nicht in meine Wohnung zurück, bis alles trockengelegt wurde. Außerdem habe ich mich erkältet, weil ich die halbe Nacht draußen herumstand.“   Er hustete und schniefte und zog sich noch tiefer in seine Bademantelburg zurück. Shannon bleckte die Zähne. „Das heißt, du bist krank?“, fragte sie, als hätte sie gerade Nathan ganz gerne zur Adoption freigegeben. „Ja“, bestätigte er und hustete noch einmal. „Total erkältet. Aber ich kann von zu Hause aus arbeiten, keine Bange“, schob er schnell hinterher, bevor Shannons Miene sich zu sehr verfinsterte. „Den Entwurf für das Buch habe ich fast fertig und Mei kümmert sich um das Layout des Artikels. Es wird keine Verzögerungen geben. Aber wenn du …“ Er zog so laut die Nase hoch, dass Shannon angeekelt das Gesicht verzog. „Aber wenn du darauf bestehst, kann ich natürlich auch ins Büro kommen.“ „Bloß nicht!“, rief seine Chefin und rückte glatt ein Stück vom Bildschirm weg. „Ich hab Dienstag einen Termin beim Scheidungsanwalt. Da muss ich top in Form sein.“   Sie runzelte die Stirn und tippte mit ihren Fingernägeln so energisch auf der gläsernen Tischplatte herum, dass Nathan das Geräusch durch Mark und Bein fuhr.   „Na schön“, meinte sie mit einem Gesichtsausdruck, der jeden Zwei-Meter-Türsteher vor Neid hätte erblassen lassen. „Ich verlasse mich darauf, dass ich beide Entwürfe morgen pünktlich vorliegen habe. Außerdem will ich, dass du rund um die Uhr erreichbar bist. Konferenzschaltung, wenn es notwendig sein sollte. Und dein Gehalt kannst du dir für die Zeit auch abschminken, ist das klar?“   „Vollkommen klar.“ Nathan nickte ergeben, als hätte Shannon ihm gerade einen großen Gefallen getan. Dass Marvin im Hintergrund so tat, als müsse er sich übergeben, war dabei nicht gerade hilfreich. „Ich schicke dir alles noch heute Abend. Da kann nichts schiefgehen.“   „Das hoffe ich für dich“, schnappte sie und beendete ohne weitere Vorwarnung das Gespräch. Nathan starrte blinzelnd auf das Symbol des Providers und die Info, das die Verbindung unterbrochen worden war. „Sie hat es wirklich nicht so mit Verabschiedungen“, murmelte er und sah zu Marvin hoch. Der kochte offenbar innerlich.   „Ist sie weg?“, fragte er. Nathan nickte und klappte den Laptop zu. Selbiges war für seinen Freund offenbar das Startzeichen, in eine eigene Schimpftirade auszubrechen. „Wie kannst du nur für diese Frau arbeiten?“, ereiferte er sich. „Ich hab immer gedacht, du übertreibst, aber sie ist ja tatsächlich ein einziger Alptraum. Kein einziges Wort des Mitleids. Immerhin bist du quasi obdachlos und alles, was sie interessiert, ist, ob du ablieferst?“   Nathan grinste schief, bevor er sich das Handtuch von den vollkommen trockenen Haaren zog. Anschließend schälte er sich aus dem Bademantel, den Marvin aus der hintersten Ecke seines wohl gefüllten Kleiderschrank hervorgekramt hatte. Das Teil aus dickem Plüsch war unglaublich warm und obendrein kanariengelb. Marvin mochte die Farbe stehen, aber Nathan gab sie das Aussehen einer angeschimmelten Ananas. Genau das Richtige für ihren Zweck.   „Na schön“, grollte Marvin und schien dabei voller Tatendrang. „Die erste Bitch hätten wir abgefrühstückt. Stellt sich nur die Frage, was wir mit der zweiten machen?“   Nathan machte ein fragendes Gesicht. „Na, diese Katherine“, erklärte Marvin ungeduldig. „Immerhin hat sie versucht, dich umzubringen. Da müssen wir doch was tun.“   „Und was?“, fragte Nathan. Er griff nach dem Tuch, das sein Freund ihm reichte, um sich die gefakten Krankheitszeichen aus dem Gesicht zu wischen. „Was weiß ich!“, antwortete Marvin aufgebracht. „Auf jeden Fall kannst du doch nicht hier rumsitzen und warten, bis sie irgendwann an deine Tür klopft. Zumal deine Tür gerade auch meine Tür ist, wenn du verstehst, was ich meine. Wir brauchen einen Plan.“   Nathan wusste, dass sein Freund recht hatte. Gleichzeitig war das einfach zu abgefahren. Er sah Marvin zweifelnd an. „Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir hier Stacheldraht und Sprengfallen anbringen? Uns bis an die Zähne bewaffnen?“   Marvins Stirn schlug Wellen.   „Ich bin mir nicht sicher, ob Sprengfallen was nützen würden. Immerhin hörte es sich so an, als wären diese Ghule ziemlich robust. Aber vielleicht treiben wir eine Machete auf, um ihnen den Kopf abzuschlagen. Oder wir basteln uns einen Flammenwerfer. Genug Spraydosen hätte ich da.“   Gegen seinen Willen musste Nathan lachen.   „Du willst mit Haarspray auf jemanden losgehen?“   Marvin machte ein Gesicht, als habe er ihn gerade persönlich beleidigt.   „Hast du dir mal die Warnhinweise auf dem Zeug angeguckt? Wenn du mich fragst, ist das die tödlichste, frei verkäufliche Sache der Welt. Abgesehen von Kombucha Tee, natürlich. Für das Zeug bräuchte man wirklich einen Waffenschein.“   Nathan grinste. Es tat gut, Marvins Aktionismus zuzuhören. Es überspielte die unangenehmen Dinge. Die, die unter der Oberfläche lauerten. Er war überfallen worden. In seiner Wohnung. Würde er in Zukunft fünf zusätzliche Türschlösser anbringen und sich bei jedem unbekannten Geräusch fragen, ob sie wieder da waren? Und würde er überhaupt je wieder zurückkehren können?   Und will ich das überhaupt?   Die Frage ploppte einfach so in seinem Kopf auf, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Noch letzte Nacht hätte er sich vermutlich eher an sein Sofa gekettet, als sein Zuhause „für immer“ zu verlassen. Aber jetzt, da er daran zurückdachte, war da nicht mehr viel, das es zu „seinem“ Zuhause machte. Es war nur noch ein Ort, an dem er nicht mehr sicher war. Vor niemandem.   Außer vielleicht vor einem anderen Vampir.   Ezra hatte immerhin in der Mehrzahl von den blutsaugenden Gesellen gesprochen. Es musste also noch andere geben. Aber wie viele? Woher bekamen sie ihre Nahrung? Und war einer von ihnen derjenige, der die Ghule ausgeschickt hatte, um Nathan zu töten?   Aber warum? War es wirklich Ezras Schuld, dass sie mich angegriffen haben?   Die Erklärung klang einigermaßen plausibel. Die Schlussfolgerung, die sich daran anschloss, gefiel Nathan jedoch überhaupt nicht. Sie lautete nämlich, dass es schlau gewesen wäre, sich möglichst von Ezra fernzuhalten. Gleichzeitig schien er der Einzige zu sein, der Nathan wirklich helfen konnte, auch wenn Marvins Haarspray-Flammenwerfer verlockend klangen.   „Du grübelst schon wieder.“   Marvins Stimme holte Nathan zurück in die Wirklichkeit. Sein Freund hatte es sich in der anderen Sofaecke bequem gemacht und sah ihn fragend an. Nathan lächelte leicht. „Ich hab nur … ich hab darüber nachgedacht, wie es jetzt weitergeht.“   Marvins Mund wurde zu einer amüsierten Schnute. „Also wenn ich raten müsste, kamen in deinen Gedanken weniger sabbernde Untote als vielmehr sexy Vampire vor. Hab ich recht?“   Nathan senkte ertappt den Blick. Natürlich hatte Marvin recht. Aber auch wieder nicht. „Es ist … kompliziert“, sagte er ausweichend. Marvin seufzte. „Wenn ich einen Dollar hätte für jedes Mal, wenn ich diesen Satz gehört habe … Dabei ist das nicht im Geringsten kompliziert. Er ist groß, gut aussehend und er hat dir das Leben gerettet. Wäre er ein Feuerwehrmann, könnte ich an deiner Stelle auch kaum erwarten, dass er mal seinen Schlauch für mich ausrollt.“   Marvin rutschte dichter an Nathan heran. „Das Problem ist, dass der Typ gefährlich ist. Mag ja sein, dass er ein bisschen weniger verrückt ist, als wir dachten. Nicht, dass es das jetzt irgendwie besser macht, aber … Eine Beziehung mit ihm kann dich das Leben kosten. Entweder, weil er dir selber an den Hals geht oder weil das einer seiner tollen Vampirfreunde macht. Die vernaschen dich doch zum Frühstück. Oder als Mitternachtssnack. Je nachdem.“   Nathan verzog das Gesicht.   „Aber Ezra hat gesagt …“   Marvin ließ ihn nicht ausreden. „Ich hab gehört, was er gesagt hat. Du hast es mir ja Wort für Wort wiedergegeben. Aber gerade deswegen. Er hat dich gewarnt. Ein dickes, rotes Stoppschild vor deine Nase gehalten. Ich meine, wer bist du? Ein hormongesteuertes Teenagermädchen, das nicht erkennt, wenn es gerade den Fehler seines Lebens macht? Ich bitte dich, Nathan. Sei realistisch. Die Sache kann nicht gut ausgehen.“   Nathan schwieg. Er wusste, dass Marvin recht hatte. Realität bedeutete, dass er in Gefahr war. Egal, ob Ezra ihm zur Seite stand oder nicht. Und doch wäre ihm wohler gewesen, wenn er hier gewesen wäre. Wenn er ihn hätte … sehen können. Mit ihm sprechen. Ein bisschen von dem zurückhaben, von dem er vor ein paar Tagen noch behauptet hätte, dass er es ums Verrecken nicht in seinem Leben brauchte. Aber die Dinge hatten sich verändert. Er hatte sich verändert. Er konnte nicht mehr so tun, als wäre das alles nicht wahr. Als gäbe es Vampire nicht. Oder Ghule. Oder wusste der Himmel was noch alles für Viecher. Vielleicht war der knausrige Typ aus der Lohnbuchhaltung in Wahrheit ein Goblin. Oder Shannon hatte sich, nachdem sie das Gespräch beendet hatte, zurück in eine mies gelaunte Drachendame verwandelt. Wer wusste das schon?   Er hob den Kopf und sah Marvin an. „Du hast recht. Ich muss realistisch sein. Und realistisch gesehen haben wir gegen diese Ghule überhaupt keine Chance. Schon allein deswegen, weil wir sie nicht erkennen werden. Sie könnten jeder sein. Und was willst du denn machen? Willst du jedem, den du begegnest, erst mal den Puls fühlen? Oder eine Blutprobe verlangen? Ein EKG vielleicht? Nein, Marvin. Wir brauchen Ezra. Er allein kann uns helfen, diese Sache aufzuklären und das Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Ansonsten werden wir niemals wieder ruhig schlafen können.“   Nathan konnte sehen, dass das, was er gesagt hatte Marvin nicht gefiel. Aber er wusste auch, dass er recht hatte. Schließlich seufzte Marvin. „Na schön, ich gebe zu, dass es hilfreich wäre, wenn er … wenn er auf unsere Seite wäre.“   „Das ist er“, versicherte Nathan sofort. Marvin schnaubte. „Und wo ist dein schwarzer Ritter auf dem untoten Pferd dann jetzt?“   Nathan atmete tief aus und sank wieder in sich zusammen. „Ich weiß es nicht“, gab er leise zu. „Uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als zu warten.“   Marvin verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. „Also wenn das deine Strategie ist, gehe ich lieber mal meine Haarspray-Vorräte checken. Nur für alle Fälle.“   Er erhob sich und Nathan sah ihm nach, wie er in Richtung Schlafzimmer verschwand. „Ich hab nur welches mit pinkem Glitter“, hörte man ihn rufen, nachdem mehrere Dosen hell gegeneinander geklirrt hatten. „Meinst du, das geht auch?“   Nathan schüttelte lächelnd den Kopf, während Marvin weiter überlegte, wie man einem rasenden Untoten am besten den Garaus machen konnte.   Aber ein Problem nach dem anderen.   Langsam öffnete Nathan seinen Laptop, der auf dem Couchtisch immer noch leise vor sich hinsurrte. Er öffnete das Dokument mit dem Vorwort und überflog den Text, bis er zu dessen vorläufigen Schluss kam. Dort setzte er den Cursor in eine neue Zeile und schrieb:   „In diesem Buch möchte ich dir einige Rezepte ans Herz legen, die selbst ausprobiert habe. Es braucht dafür nicht viel Geschick und keine unendliche Reihe an teuren, exotischen Zutaten. Nur den Mut, einfach anzufangen. Also lass es uns wagen. Lass uns zusammen kochen.“   Als er den Punkt am Ende setzte, zögerte er. War es das jetzt? Würde dieser Text die Leute dazu bringen, sein Buch lesen zu wollen? Von seiner Großmutter hatte er geschrieben, seinen ersten Kochversuchen bis hin zu der Erkenntnis, dass Kochen mehr beinhalten konnte, als nur Beilagen um ein Stück Fleisch zu drapieren.   Stirnrunzelnd las er sich diesen Teil noch einmal durch und löschte ihn schließlich. Das Vorwort sollte ja nicht zu lang werden und er wollte nicht, dass sich jemand verurteilt fühlte. Er wollte vielmehr, dass das Vorwort sich wie eine ausgestreckte Hand anfühlte. Eine, die man ergreifen konnte, um gemeinsam einen Weg zu gehen.   Du bist verrückt.   Vermutlich würden das Shannon und Robert ebenfalls so sehen. Vielleicht aber auch nicht. Und selbst wenn. Das hier war sein Buch. Seine Worte. Etwas, das er geschrieben hatte. Und wenn es den Leuten nicht gefiel, dann war das eben so. Er würde es nicht ändern, um das zu erreichen. Dieses Mal nicht.   Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck, fügte er den Text in das Exposé ein, schrieb eine kurze Mail an Shannon, fügte die Datei an und rückte auf Senden. Der Computer brauchte eine Weile, bis er die enorme Datenmenge verarbeitet hatte, aber dann wurde Nathan angezeigt, dass der Text erfolgreich auf die Reise geschickt worden war. Ihm war schlecht, sein Herz klopfte wie wild und gleichzeitig wusste er, dass das hier genau das Richtige gewesen war.   Jetzt muss ich nur noch die 73 anderen Baustellen in meinem Leben in den Griff kriegen.   Während er das dachte, glitt sein Blick unwillkürlich zum Fenster. Draußen wurde es bereits dunkel und mit der Dunkelheit kam erneut die Furcht. Ezra hatte gesagt, dass er sich um die Sache mit den Ghulen kümmern würde. Aber wie lange würde das dauern? Wann würde er zurückkommen? Und vor allem: Wo war Ezra gerade?     Das Haus mit den roten Ziegelwänden und dem auffälligen Dacherker residierte ein wenig abseits der Straße. Das es umgebende Weideland, das einst von hunderten von Schafen bevölkert gewesen war, lag zum größten Teil brach oder wurde anderweitig genutzt. Die Erfindung der Kunstfaser hatte die Nachfrage nach Wolle mit den Jahren immer mehr zurückgehen lassen. Aus diesem Grund hatte die Familie, die hier einst gelebt hatte, ihren Besitz schlussendlich verkauft. Ein anonymer Käufer aus dem Ausland hatte ihnen eine unglaubliche Summe geboten und so waren sie weggezogen, hatten das Haus verschlossen und es mitsamt seinem Garten dem Schicksal überlassen, dass der neue Besitzer ihm zugedacht hatte.   Ein Scheinwerferpaar kam die enge Zufahrtsstraße entlang. Der Wagen, zu dem es gehörte, hielt an und ein Mann stieg aus. Langsam ging er auf das Haus zu.   Es war dunkel ringsum, nichts regte sich, nur der Wind in den Bäumen rauschte und irgendwo piepste eine unvorsichtige Maus, bevor sie wieder in den Schatten verschwand. Ezra holte tief Luft. Es schien ihm, als könnte er freier atmen. Der Geruch von Gras und aufblühendem Flieder lag in der Luft. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Zu lange vielleicht. Das Haus war ein wenig verfallen, die Türen und Fensterrahmen benötigten dringend einen neuen Anstrich. Er konnte förmlich die Stimme seiner Mutter hören, wie sie seinen Vater deswegen die Hölle heiß machte, woraufhin er nur ein „Mache ich später“, brummte, bevor er sich wieder in den Stall verzog. Fenster konnte man schließlich warten lassen, die Tiere nicht. Am Ende hätte er wohl Ezra und seinen kleinen Bruder geschickt, um Farbe und Pinsel zu besorgen, und seine Mutter hätte wieder einmal gesagt, wie froh sie doch war, ihre Jungs zu haben.   Und natürlich hätte Emily protestiert, dass sie auch helfen wollte. Aber Mutter hätte sie ins Haus gescheucht, um ihr Nähen, Waschen und Kochen beizubringen. Und Emily hätte es gehasst. Die Erinnerung an seine Schwester ließ ein kleines Lächeln auf Ezras Gesicht erscheinen. Sie hatte nie recht ins Bild gepasst, ebenso wie er. Als sie gestorben war, war er zur Beerdigung gegangen. Weit entfernt von den anderen Trauergästen hatte er gestanden und zugesehen, wie die alte Frau, in die sich das kleine Mädchen in seiner Abwesenheit verwandelt hatte, zu Grabe getragen worden war. Inzwischen kannte niemand mehr seinen Namen und das war gut so.   Mit einem Seufzen wandte er sich ab und ging um das Haus herum. Auf der Rückseite die alte Eiche. Emily war immer am höchsten hinaufgeklettert. So hoch, dass ihre Mutter Angst gehabt hatte, sie könnte hinunterstürzen. Aber Emily hatte nur gelacht. Und sie hatte Ezra zugerufen, dass er zu ihr kommen sollte. Aber er hatte sich nie weiter getraut als bis zur Hälfte des Baums. Irgendwann einmal hatte der Blitz in den Baum eingeschlagen. Ihr Vater hatte den verletzten Riesen dann immer mal fällen wollen, aber die Jahre waren ins Land gegangen, ohne dass etwas passiert war. Inzwischen war die von den Naturgewalten geschlagene Wunde vernarbt, das Holz darunter rissig und grau. Wie ein Mahnmal an ein vergangenes Unglück. Aber der Baum stand immer noch hier. Er war noch da, während die Kinder, die zu seinen Füßen und in seinen Zweigen gespielt hatten, verschwunden waren. Alle bis auf eines.   Aber deswegen bin ich nicht hier.   Nachdem er das Haus gekauft hatte, war er ein paar Mal hierher gekommen. Er hatte in den alten Räumen übernachtet und den Geistern der Vergangenheit gelauscht, bis er schließlich beschlossen hatte, sie hinter sich zu lassen, zusammen mit einem weiteren. Einem, der nicht hierher gehörte und dem er nichtsdestotrotz hier eine Heimat gegeben hatte. Einen Ort, an den er kommen konnte, um sich an sie zu erinnern. Und ein Grab, auch wenn es leer war bis auf eine Kleinigkeit. Ezras Schritte wurden langsamer, als er auf die Stelle zuging, an die er den Stein gesetzt hatte. Ohne Namen, ohne Datum. Nicht viel mehr als eine einfache Steinplatte mit einer Rose darauf. Elisabeth hatte Rosen geliebt. Ihren Duft, ihre Farben und selbst die Dornen, die sie trugen. Sie hatte stets gesagt, dass sie es mochte, dass die Rose sich zu wehren wusste und nicht so einfach zu brechen war. Dass sie stark war und schön, die Königin aller Blumen. Und Ezra hatte gewusst, dass Elisabeth selbst so eine Königin gewesen war. Wild, frei und ebenso unbezähmbar wie der Wind an einem Frühlingstag.   Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Stelle, an der die Platte hätte liegen sollen, war dunkel. Viel dunkler, als sie es hätte sein sollen. Die Erde war aufgewühlt, beiseite geworfen, die Steinplatte selbst lag abseits und war mitten hindurchgebrochen. An ihrer Stelle klaffte ein Loch im Boden. Ezra ließ sich an seinem Rand in das feuchte Gras sinken.   Nein. Nein, das kann nicht sein!   Er streckte seine Hände aus, fuhr mit den Finger, durch die lose Krume. Schmutz und Erde hafteten an seiner Haut und unter seinen Fingernägeln, aber das, was er zu ertasten gehofft hatte, fand er nicht. Immer tiefer, immer schneller grub er in der Hoffnung, dass er vielleicht noch auf etwas stoßen würde. Dass er sich nur geirrt, die Entfernung falsch eingeschätzt hatte. Aber es war vergeblich. Das, was er einst hier begraben hatte, war nicht mehr da. Das samtrote Kästchen mit dem Medaillon und der langen, silbernen Kette war verschwunden.     „Und du denkst, du schaffst das?“   Marvin war bereits angezogen und kurz davor, das Haus zu verlassen, aber seine Sorge um Nathan ließ ihn immer noch zögern. „Natürlich schaffe ich das“, versuchte Nathan seinen Freund zu beruhigen. „Ich werde es mir auf deiner Couch gemütlich machen und mich den ganzen Tag nicht von dort wegbewegen. Versprochen.“   „Auch nicht wenn …“ „Nein, auch dann nicht. „Oder wenn …“ „Mhm-mhm.“ „Aber was ist, wenn …“   Nathan schnaubte. „Meine Güte, Marvin. Du hast doch selbst gesagt, dass du nicht meine Nanny bist. Dann verhalte dich auch nicht so. Du musst zur Arbeit und ich werde schon klarkommen. Ich meine, wer bin ich? Schneewittchen? Und wie groß schätzt du die Chance ein, dass eine alte Hexe hier vorbeikommt und mir vergiftete Äpfel andrehen will?“   Marvin schürzte die Lippen. „Äpfel nicht, aber wenn sie dir mit Okras, Rambutan und Bittermelonen kommt, wirst du vielleicht nicht Nein sagen können. Ich kenne dich doch.“   Nathan lachte und schob Marvin entschlossen in Richtung Ausgang. „Ich verspreche dir, dass ich diese Tür nicht aufmachen werde. Egal, wer davor steht. In Ordnung?“   Marvin schien nicht überzeugt, gab dann aber nach.   „In Ordnung. Aber ruf mich an, wenn sich was wegen deines Buches ergeben hat. Ich will wissen, wie die Verhandlungen laufen. Und melde dich bei Jomar. Immerhin denkt er immer noch, dass ihr übermorgen verabredet seid und wer weiß, was bis dahin passiert.“   Nathans Lächeln geriet in eine leichte Schieflage, aber er versprach es und bugsierte Marvin damit endgültig nach draußen. Danach schloss er ab und legte den Riegel vor. Er war sich zwar nicht sicher, ob das im Fall der Fälle gegen die Ghule helfen würde, aber es gab ihm immerhin eine Illusion von Sicherheit. Anschließend verzog er sich, wie er es Marvin versprochen hatte, auf die Couch um fernzusehen.   Etwa eine halbe Stunde später kündigte ein dumpfes Summen seines Laptops einen Bildanruf an. Schnell überprüfte Nathan noch einmal den Sitz seines Make-ups, bevor er annahm. Shannons Gesicht erschien und sie sah absolut angepisst aus. „Warum hat das so lange gedauert?“, fauchte sie statt einer Begrüßung. Nathan rang sich ein Lächeln ab.   „Ich war im Badezimmer“, log er, ohne rot zu werden. Wobei man das unter der Schicht Talkumpuder auf seinem Gesicht vielleicht gar nicht gesehen hätte. Shannon würdigte seine Entschuldigung keiner Erwiderung, sondern drehte ihren Bildschirm so, dass er auch den Rest der Gesprächsteilnehmer sehen konnte. „Nathan wäre dann da. Wir können anfangen“, bemerkte Shannon spitz, bevor sie wieder auf ihrem Stuhl Platz nahm. Neben ihr saß Robert und machte ein ernstes Gesicht. Nathan rutschte das Herz in die Hose, als er sich räusperte.   „Also Nathan, erst einmal möchte ich dir mein Bedauern aussprechen. Wir haben schon ein Sammelglas aufgestellt und die Kollegen spenden fleißig, damit du deine ruinierten Möbel ersetzen kannst. „Oh, äh …“, machte Nathan verblüfft. „Das wäre aber wirklich nicht notwendig …“ Robert hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.   „Doch, doch, das ist notwendig. Du kannst jetzt alle Hilfe brauchen, die du kriegen kannst und ich möchte, dass du weißt, dass wir uns alle hier als große Familie sehen.“   Er lächelte und Nathan wurde ein wenig warm unter dem großen Schal, den er sich heute um den Hals gebunden hatte. Immerhin hatte er niemanden anlügen wollen. Zumindest nicht so.   Robert hingegen fuhr ungerührt fort. „Da das Ganze aber natürlich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist und du ja auch in Zukunft dein Brot verdienen musst, wollen wir uns nun deinem Entwurf zuwenden.“   Nathans Herz rutschte ihm in die Hose. Wie hatte Robert das Exposé gefallen? Und Shannon? Würde sie ihn fertigmachen? Mei an seinen Bilder und der Seitenaufteilung herumkritteln? Würden sie die ganze Sache abblasen, weil es ihnen mit Nathan als unbekanntem Novum doch zu heikel war?   Robert machte ein ernstes Gesicht. Das machte die Sache nicht wirklich besser.   „Ich muss sagen, dass ich wirklich recht angetan war“, begann er jedoch. Nathan horchte auf. „Die Aufmachung mit den Fotos zu den verschiedenen Arbeitsschritten gefällt mir. Allerdings sollte das Endprodukt präsenter sein. Mei hat deswegen den Vorschlag gemacht, die Einzelfotos als kleinen Streifen am Rand des Rezepts zu platzieren und stattdessen eine ganze Seite für das fertige Gericht zu reservieren. Foodporn, du verstehst? Ich muss die Sache zwar noch mit den Editoren zusammen durchrechnen, aber ich denke wirklich, dass das Konzept aufgehen könnte. Aber was mich wirklich umgehauen hat, war dein Vorwort. Es war so … echt. Als hättest du einen Brief an einen Freund geschrieben.“   Nathan wusste nicht recht, wie er jetzt reagieren sollte. War das jetzt ein Lob oder …?   „Langer Rede, kurzer Sinn: Wir machen es.“   Nathan blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Hatte er sich gerade verhört? „Im Ernst, jetzt?“, rutschte es ihm heraus. Seine Hände begannen zu zittern, sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb und er hatte das Gefühl, gleich einen Luftsprung machen zu müssen. Einzig die Tatsache, dass er ja den armen Kranken spielte und sich obendrein vermutlich vollkommen lächerlich gemacht hätte, hielt ihn davon ab. Sie wollten sein Buch drucken. Sie wollten es D R U C K E N!   Robert grinste und auch Shannon gönnte ihm ein ehrliches Lächeln. Nathan konnte es immer noch nicht glauben. „Natürlich kommt noch jede Menge Arbeit auf uns zu. Wir werden auch noch den Erfolg des Artikels abwarten und wir brauchen bessere Fotos, eine komplette Rezeptliste, wir müssen die ganzen Sachen testkochen lassen … Aber alles in allem: Herzlichen Glückwunsch.“   „Danke!“   Nathan wusste kaum, wo ihm der Kopf stand. Wie im Traum bemühte er sich, der Konferenz zu folgen, in der der komplette Inhalt des Buches durchgekaut und auf Herz und Nieren überprüft wurde. Man entschloss sich, noch ein Glossar für die wichtigsten Zutaten einzuführen und ein Kapitel über grundsätzliche Küchenpraktiken. „Dann brauchen wir das in den Rezepten nicht immer zu wiederholen“, erklärte Robert und von Mei kam gleich der Vorschlag, auch diese Erklärungen mit einer Art Filmstreifen zu unterlegen. So entstand nach und nach ein fertiger Entwurf und Nathan merkte gar nicht, wie die Zeit verging, bis Robert irgendwann zu einer Mittagspause aufrief. „Mal die grauen Zellen lüften“, schlug er vor. „Und etwas essen nach all den schmackhaften Köstlichkeiten, die wir hier die ganze Zeit vor der Nase haben. Nathan sieht außerdem so aus, als müsse er sich dringend mal hinlegen. Er glüht ja regelrecht.“   Nathan, der zwischendurch vollkommen vergessen hatte, dass er ja „krank“ war, hustete demonstrativ. „Ja, genau. Ich bin auch schon ganz heiser. Aber ihr könnt mich jederzeit anrufen, falls irgendwas ist.“ „Machen wir“, versprach Robert noch, bevor Shannon mal wieder die Verbindung kappte, ohne sich zu verabschieden.   Vollkommen fertig, aber gleichzeitig überglücklich lehnte Nathan sich zurück. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er würde wirklich ein Buch veröffentlichen. Sein Name würde darin zu lesen sein, sein Foto auf der Rückseite oder in so einem kleinen Lebenslauf am Ende des Buches.   Ich werde berühmt.   Nun ja, vielleicht nicht gleich berühmt. Aber so ein bisschen. Vielleicht. Hoffentlich.   Nathan wollte sich gerade noch ein wenig in dem Gedanken ergehen, als plötzlich das Telefon klingelte. Er nahm ab und erhielt sogleich einen Anranzer. „Ich sitze hier wie auf heißen Kohlen, weil du dich nicht meldest“, beschwerte sich Marvin vom anderen Ende der Leitung. „Was ist los bei dir? Irgendwelche ungebetenen Gäste oder Neuigkeiten aus dem Verlag?“ „Sie machen es“, wiederholte Nathan Roberts Worte und musste im nächsten Moment den Hörer weit vom Ohr weghalten, weil seine Ohren von Marvins Jubelschrei widerhallten. „Oh man, das ist so klasse“, plapperte sein Freund, nachdem er aufgehört hatte in den höchsten Tönen zu quietschen. „Ich freu mich unheimlich für dich. Das müssen wir feiern. Gleich heute. Ich bring was zu Essen mit.“   Nathan machte ein unbestimmtes Geräusch. „Also wenn du was einkaufst, könnte ich auch …“   „Ach papperlapapp“, unterbrach Marvin ihn. „Für heute hast du genug erreicht. Du musst nicht auch noch kochen. Wie wäre es, wenn ich auf dem Heimweg bei 'Ophir' vorbeigehe? Du liebst das Shakshuka von da.“   Prompt begann Nathans Magen zu knurren. Er hatte bestimmt seit Stunden nichts gegessen. „Okay“, stimmt er zu und fügte lachend hinzu: „Aber nur, wenn du auch Baklava mitbringst. Ich steh auf diesen Süßkram.“   „Was man dir gemeinerweise überhaupt nicht ansieht“, jammerte Marvin, versprach aber trotzdem, alles zu besorgen. Als sie auflegten, fühlte Nathan sich gut. Erstaunlich gut, wenn man bedachte, was in der vorletzten Nacht passiert war.   Aber wir kriegen das hin, beschloss er und ballte unbewusst die Hand zur Faust. Gemeinsam kriegen wir das hin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)