Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 7: Feuer ---------------- Rotterdam, Mai 1940 Ein Krachen ließ Ezra auffahren. Er sprang aus dem Bett und stolperte fast über den Körper, der davor am Boden lag. Ein schmaler, weißer Arm ragte aus dem nachlässig drapierten Betttuch hervor. Ezra stieß ihn zur Seite und eilte zum Fenster. Draußen krachte es erneut. Motorengeräusche am Himmel. Dutzende. Hunderte. Der Boden unter seinen Füßen zitterte. Menschen schrien, Sirenen heulten. Durch die geschlossenen Läden des Hotelzimmers spitzte grelles Licht. Es musste mitten am Tag sein. Im nächsten Moment flog die Tür auf. Gilbert stürzte herein. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein gelbstichiges Haar stand in alle Richtungen ab. Er keuchte. „Herr, wir müssen weg! Sie kommen.“ Mehr musste Ezra nicht wissen. Er eilte zum Stuhl und griff nach seiner Hose. Während er hineinstieg, riss Gilbert den Schrank auf, zerrte einige Dinge heraus und stopfte sie in eine Reisetasche. Keiner von ihnen beachtete die Leiche, die auf dem Fußboden lag. Für Ezra hatte sie ihren Reiz verloren und für den Ghul war sie noch zu frisch. „Der Wagen wartet bereits.“ „Dann los.“ Draußen auf dem Gang rieselte Staub von der Decke. Um diese Zeit waren nicht viele Besucher im Haus. Sie genossen die Schönheit der Stadt. Einer Stadt, die seit drei Tagen belagert wurde, doch davon merkte man hier, so weit im Inneren normalerweise nichts. Bis jetzt. Ein Zimmermädchen mit nur einem Schuh rannte weinend an ihnen vorbei. Ezra kümmerte sich nicht um sie. Er und Gilbert hetzten weiter den Gang entlang. Nach unten, nach unten. In der Halle begegnete ihnen Darnelle. Auch er musste aus dem Schlaf gerissen worden sein. Sein Hemd war nur nachlässig zugeknöpft, sein Jackett fehlte ebenso wie Weste und Krawatte. „Wo ist Elisabeth?“, rief er sofort. „Ist sie nicht bei dir?“ Momente lang starrten sie sich an, dann donnerte es erneut. Die Erschütterung war dieses Mal so stark, dass Ezra Mühe hatte, auf den Füßen zu bleiben. Die Fenster klirrten. Gleich darauf zerbarsten sie unter der Wucht einer erneuten Explosion direkt vor dem Hotel. Scharfkantige Splitter zerschnitten die Luft. Instinktiv warf Ezra sich zu Boden. Über sich hörte er Gilbert röcheln. Als er aufsah, steckte eine unterarmlange Scherbe in der Kehle des Ghuls. „Gilbert! Wo ist Elisabeth?“ Darnelle, der bereits wieder aufgesprungen war, schüttelte den Ghul. Als Antwort bekam er nur ein undeutliches Krächzen. Der Splitter mussten Gilberts Stimmbänder zerschnitten haben. Schwarzes Blut quoll träge wie Teer aus dem Schnitt an seinem Hals. Mit ungelenken Bewegungen griff er danach. Versuchte, das Glas herauszuziehen. Darnelle schlug seine Hand weg. „Elisabeth! Wo ist sie?“, schrie er vollkommen außer sich. Gilbert deutete nach oben. Sofort ließ Darnelle ihn los „Gut, ich hole sie. Ihr wartet hier.“ „Darnelle!“ Ezra rappelte sich auf, aber Darnelle war bereits in Richtung der Treppen verschwunden. Er fluchte. „Gilbert, wir brauchen den Wagen!“ In diesem Moment krachte es wieder. Der Boden bebte. Teile der Halle, in der sie sich befanden, stürzten in sich zusammen. Flammen schossen aus dem entstandenen Loch in der Wand. Ezra sprang zurück, bevor ein großer Betonbrocken ihn unter sich begrub. Er stolperte, fiel. Alles um ihn herum war in Bewegung. Noch mehr Steine stürzten herab. Staub lag überall in der Luft. Brandgeruch stieg ihm in die Nase. Gierig leckte das Feuer nach Möbeln, Teppichen und Tapeten. „Gilbert? Gilbert!“ Dort, wo der Ghul gerade noch gestanden hatte, lag ein riesiger Trümmerhaufen. Sofort begann Ezra, die Steine beiseite zu räumen. Die rauen Kanten schürften seine Hände auf, aber er achtete nicht darauf. Wie ein Wahnsinniger arbeitete er sich durch das das tonnenschwere Gestein. Irgendwann stieß er auf eine Hand. Sie war schwarz, staubbedeckt und leblos. „Verdammt!“ Ezra sah auf. Draußen rannten Menschen um ihr Leben. Am Himmel die deutschen Bomber. Und die Sonne. Er konnte nicht hinaus. Und hier drinnen fraßen sich die Flammen immer schneller ihren Weg. Schon hatten sie die hölzernen Vertäfelungen der Halle erreicht und kletterten in Windeseile daran empor. Alles um ihn herum würde brennen wie Zunder. Ich muss die anderen warnen. Ezra wirbelte herum und stürmte die wie durch ein Wunder noch erhaltene Treppe nach oben. Die Stufen waren übersät mit Steinen, Mauerstücken und Geröll. Staub auf dem roten Samt. Ein aufgesprungener Koffer hatte seinen Inhalt über ein ganzes Stockwerk vergossen. Seide Nachthemden und Spitzenhöschen bildeten eine surreale Kaskade der Eleganz inmitten des Chaos. Ezra stürmte daran vorbei nach oben. Er musste Elisabeth finden. Und Darnelle. Auch der Flur war ein Minenfeld aus Trümmerteilen und herabgefallenem Stuck. Einige Türen standen offen, andere waren geschlossen. Der ganze Trakt wirkte verlassen. Nichts regte sich. „Elisabeth? Darnelle!“ Niemand antwortete ihm. Ezra lauschte, da hörte er es. Eine helle Stimme, leise aber deutlich. „Help! Je moet uns helpen!“ Der Ruf kam aus einem der verschlossenen Zimmer. Ezra sprang hinzu, rüttelte an der Klinke. „Hallo?“ Von drinnen kam prompt eine Antwort. „We kunnen er niet uit. De deur is op slot.“ Ezra überlegte nicht lange. Mit einem kräftigen Ruck hatte er die Tür aufgebrochen. Auf der anderen Seite erwartete ihn ein Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren in einem feinen, weißen Kleid. An ihrer Hand ein Junge, einige Jahre jünger, mit einem Hemd und einer dunklen Latzhose. Seine Wangen waren gerötet und seine Nase lief. Geräuschvoll zog er sie hoch, während er Ezra anstarrte. „Was tut ihr hier?“, fragte Ezra das Mädchen auf Holländisch. Ihre Augen waren groß und dunkel. „Wir haben uns versteckt. Im Schlafzimmer.“ „Und wo sind eure Eltern?“ „Sie sind einkaufen gegangen. Wir sollten hier warten.“ Durch die Kühnheit seiner großen Schwester offenbar mutig geworden, setzte der Junge hinzu: „Und wenn wir brav sind, bekommen wir ein Eis.“ Da war Furcht im Blick des Mädchens. Ihre Unterlippe zitterte. Trotzdem blieb sie tapfer stehen, die Hand ihres Bruders fest umklammert. So fest, dass es wehtun musste. Und Ezra wusste, dass, was immer auch passierte, sie ihn nicht loslassen würde. Mittlerweile war der Flur voller Rauch. Dicke, schwarze Schwaden, die über Boden und Wände krochen und seine Sicht behinderten. In seinem Hals kratzte es und auch die Kinder begannen zu husten. Die Luft wurde immer dünner. Heißer. Stickiger Mit jedem Atemzug atmeten sie mehr des schleichenden Giftes ein. Nicht lange und die Kinder würden ersticken. Sie mussten hier raus. „Ezra!“ Er wirbelte herum. Am anderen Ende des Ganges waren zwei Gestalten erschienen. Eine von ihnen trug ein elegantes Kostüm. Elisabeth. Sie würde wissen, was zu tun war. „Ich bin hier!“, rief er zurück. Sein Blick glitt zu den Kindern. „Es wird alles gut“, versicherte er ihnen. „Meine Freunde sind da. Sie helfen uns.“ „Ich komme zu dir.“ Elisabeth machte Anstalten, über einen umgestürzten Schrank zu klettern. Darnelle wollte sie aufhalten. „Lass ihn. Es ist zu gefährlich. Wir müssen …“ Seine Worte gingen in einem ohrenbetäubenden Beben unter. Ezra fühlte den Boden unter sich schwanken. Die gepeinigte Struktur des Gebäudes bäumte sich auf. Schüttelte sich. Die Wände bekamen Risse. Ezra hörte die Flammen brüllen, als sie neue Nahrung bekamen. Dann explodierte die Welt. Ezra erwachte. Um ihn herum war es still. Keine Bomben, kein Rauch, kein Feuer. Nur die Dunkelheit seines eigenen Schlafzimmers und die Gestalt, die sich undeutlich dagegen abzeichnete. Wie betäubt fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Finger wurden feucht, die Laken klebten an seiner Haut. Er fühlte sich schmutzig. Besudelt. Und leer. „Ein Alptraum?“ Darnelles Stimme war ruhig und gefasst. Ezra schluckte. Seine Kehle war wund. Als hätte er geschrien. „Wie lange stehst du schon dort?“ „Lange genug.“ Darnelle machte einen Schritt nach vorn. Seine Gesichtszüge wurden deutlicher. Er beobachtete Ezra. Es war, als warte er auf etwas. Als Ezra nicht reagierte, schnaubte er amüsiert. „Schon komisch, nicht wahr? Dass ausgerechnet wir beide überlebt haben.“ Ezras Blick wanderte ins Leere. Wie oft hatte er sich bereits gefragt, was wohl passiert wäre, wenn er sich nicht um diese Kinder geschert hätte. Wenn er sie einfach ignoriert hätte. Ob Elisabeth dann noch leben würde? Ob es seine Schuld war, dass sie tot war? Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Teil von mir mit ihr gestorben ist. Hinab gerissen in den Abgrund und verzehrt von den Flammen. Aber ich hatte Glück. Ich wurde ins Wasser geschleudert und Darnelle rette mich vor dem Ertrinken. Wie lange wir dort wohl saßen? Nass, frierend und nur dieses schmale Sims unter der Kanalbrücke, auf dem wir uns aneinander drückten wie Ratten. Ich habe in seinen Armen geweint, in den Ohren immer noch Elisabeths Schreie.Vielleicht kehre ich deswegen immer wieder zu ihm zurück.   Mit einem Kopfschütteln holte Ezra sich zurück in die Gegenwart. Das alles war schon so lange her. Er sollte es langsam vergessen. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“, fragte er und schwang sich aus dem Bett. Dass er dabei vollkommen nackt war, störte ihn nicht im geringsten. Darnelle offenbar auch nicht, aber es brachte ihn auch nicht aus der Ruhe. Mit einem süffisanten Lächeln ließ er seinen Blick über Ezras Körper gleiten. „Du solltest dich vielleicht anziehen, kleiner Bruder. Vater erwartet dich zum Rapport. Es sei denn, du wünschst eine Fortsetzung unsere nächtlichen …“ „Ich komme“, würgte Ezra ihn ab. Alles andere war undenkbar. Nicht nach dieser Nacht und nicht, wenn Aemilius auf sie wartete. Darnelles Grinsen wurde breiter. „Wie du meinst. Ich bin dann unten.“ Als er gegangen war, atmete Ezra erleichtert auf. Manchmal war es nicht einfach, Darnelle gernzuhaben. Sie erwarteten ihn im obersten Wohnzimmer des Penthouses. Aemilius hatte die Fenster geöffnet. Schwere, kalte Regenluft strömte herein. Sie passte zu der Stimmung, in der sich Ezra befand. Die Erinnerungen und der Alptraum wanden sich immer noch um seine Gedanken wie Spinnweben. Wann immer er versuchte, sie zu vertreiben, verhedderte er sich nur noch mehr. Dabei brauchte er jetzt einen klaren Kopf. Unbedingt. „Und?“, blaffte Aemilius, kaum dass er den Raum betreten hatte. „Was gibt es Neues?“ Ezra nahm sich die Zeit, sich zunächst zu der Sitzgruppe zu begeben, auf der Darnelle bereits Platz genommen hatte. Sein Bruder trug vollständige Garderobe, was wohl hieß, dass er vorhatte, später noch auszugehen. Auf das ästhetische Befinden anderer nahm er dabei selten Rücksicht. Ezra straffte sich. „Leider haben meine Nachforschungen bisher nichts ergeben. Der oder die Täter sind untergetaucht wie bereits die letzten Male. Mehr als ein geplündertes Grab können wir wieder nicht vorweisen.“ Aemilius knurrte unzufrieden. „Dieser Unsinn muss aufhören. Wir können nicht erlauben, dass irgendwer eine Horde von Ghulen frei in der Stadt herumlaufen lässt.“ „Wenn es denn überhaupt Ghule sind“, warf Darnelle ein. „Noch hat Ezra ja keinen von ihnen erwischt.“ „Du könntest mir ja helfen“, schoss Ezra zurück. Darnelle schenkte ihm ein träges Grinsen. „Du weißt, dass ich meine Augen und Ohren anderweitig offenhalte. Wenn es tatsächlich Ghule sind, muss es einen Meister geben. Jemand, der sie erschaffen hat. Und alle Vampire dieser Stadt nutzen meine Clubs. Wenn also einer von ihnen es war, werde ich es früher oder später erfahren.“ Ezra presste die Kiefer aufeinander. Er wusste, dass Darnelle recht hatte, aber … „Und wenn es jemand von außerhalb ist?“ Aemilius horchte auf. „Du meinst, jemand von außerhalb der Stadt?“ „Oder von außerhalb des Landes. Die modernen Reiserouten sind schnell.“ Aemilius schnaubte und drehte sich dem Regen zu. „Ich verstehe nur nicht, was der Sinn dahinter sein soll. Diese Aktionen auf den Friedhöfen erregen viel zu viel Aufmerksamkeit. Die Menschen mögen schwächer sein als wir, aber sie sind viele. Würde bekannt, dass wir tatsächlich existieren …“ „... würden sie uns auslöschen.“ Auch Ezra kannte die Gesetze, die zu ihrem Schutz aufgestellt worden waren. „Vielleicht versucht ja auch jemand, neue Vampire zu machen.“ Darnelle sah gelangweilt aus, aber Ezra ahnte, dass das täuschte. Darnelle zu unterschätzen war ein Fehler, den viele nicht zweimal machten. Aemilius sandte ihm einen bösen Blick. „Du weißt, dass das verboten ist. Eine neue Wandlung muss immer von den Mitgliedern des Rates abgesegnet werden. Sollte jemand dagegen verstoßen, würden er und das Ergebnis der Prozedur sofort eliminiert werden. Egal ob es sich dabei um einen Ghul oder einen Vampir handelt.“ Darnelle seufzte. „Ja, ich weiß. Aber offenbar schert sich ja jemand einfach nicht darum, was irgendwo auf einer vergilbten Pergamentrolle in irgendeinem Gewölbe tief unter der Stadt geschrieben steht.“ Darnelles Augen blitzten auf und Ezra wusste, dass er jetzt zu dem Punkt gekommen war, auf den er eigentlich hinauswollte. „Vielleicht wäre es an der Zeit, wenn wir auch anfangen würden, es mit den Regeln nicht mehr ganz so genau zu nehmen. Du kannst das Spiel nicht gewinnen, wenn die Gegenseite ständig mogelt. Es sei denn …“ „Nein!“ Aemilius Gesicht hatte mehr Farbe angenommen als üblich. Sein Schnurrbart sträubte sich. „Ich werde nicht zulassen, dass du die Gesetze brichst.“ Darnelle bleckte die Zähne. „Dann werden wir früher oder später untergehen. Sieh uns doch an. Es ist ein Witz, was aus uns geworden ist. Überall haben sich die Menschen breitgemacht. Sie sind wie eine Krankheit, eine Plage. Unsere Macht schwindet mehr und mehr. Wir sind nichts weiter als weichbäuchige Witzfiguren, die nur noch Menschen beißen, die sich freiwillig dafür anbieten. Wir haben unseren Kampfgeist verloren, unseren Einfluss, unsere Macht. Kein Wunder, dass fremde Vampire hier eindringen, um unseren Platz einzunehmen. Wahrscheinlich müssen sie sich dafür nicht einmal besonders anstrengen. Dein Sitz im Rat wackelt schon lange.“ Aemilius horchte auf. „Wie meinst du das?“ Darnelle schnaubte spöttisch. „Wie ich das meine? Nun, ich meine damit, dass nicht nur ich unzufrieden damit bin, mich mit einem Platz neben der Nahrungskette zu begnügen. Wir Vampire sollten an der Spitze stehen, so wie es immer schon war. Wer nicht kooperiert, wird aus dem Weg geschafft. Hat sogar bei einigen Präsidenten geklappt, wenn ich mich recht erinnere.“ „Und es hat zu einem Krieg geführt. Einem Krieg, den viele von uns mit dem Leben bezahlt haben.“ Darnelle grinste. „Aber einem Krieg, den wir gewonnen haben. Von unseren Gegnern hat keiner überlebt. Es gibt keine Vampirjäger mehr, nur noch alte Geschichten, an die niemand mehr glaubt. Ein bisschen Hokuspokus, ein bisschen Augenwischerei, und schon haben sie uns wieder vergessen. Es ist so einfach, sie zu täuschen. Aber statt den Platz zurückzuerobern, der uns eigentlich zusteht, verstecken wir uns in den Schatten und hoffen, dass uns niemand auf die Schliche kommt. Es ist armselig.“ „Genug!“, donnerte Aemilius. „Du warst nicht dabei. Du weißt nicht, wie es damals war. Also gib dich zufrieden und mach, dass du an die Arbeit kommst. Du hast Gäste, die Hunger haben.“ Darnelle verzog die Lippen zu etwas, das nicht einmal im Ansatz ein Lächeln war. „Aber natürlich, Vater. Wie du wünschst.“ Mit einem spöttischen Blick auf Ezra erhob er sich. „Ich sehe dich nachher, Bruder. Aber warte nicht zu lange. Nicht, dass du dich noch an einem unwilligen Opfer vergreifst. Der Rat könnte dahinter kommen.“ Darnelle verließ den Raum und ließ Ezra und Aemilius allein zurück. Aemilius atmete hörbar aus. „Er ist wie immer um diese Zeit unerträglich. Manchmal wünschte ich, Elisabeth hätte nie …“ Er beendete den Satz nicht, aber Ezra ahnte, was er meinte. „Wir vermissen sie alle“, sagte er deswegen nur. Er wusste, dass Aemilius ihn verstehen würde.   Der ältere Vampir schenkte ihm einen abschätzigen Blick. „Was vorbei ist, ist vorbei“, antwortete er grollend. „Außerdem hat er recht. Ich erwarte, dass du Ergebnisse ablieferst. Die anderen Ratsmitglieder sitzen mir im Nacken. Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, werden sie herkommen und sich der Sache selbst annehmen. Willst du etwa, dass ich schwach aussehe? Meines Amtes enthoben werde? Willst du das?“   Ezra senkte den Kopf.   „Natürlich nicht.“   „Dann mach deinen Job“, fauchte Aemilius. „Wir müssen diesen abtrünnigen Vampir dingfest machen und das wird uns nur gelingen, wenn wir einen der Ghule in die Finger bekommen. Lebend. Nur dann können wir …“ „Die Spur zu seinem Erschaffer zurückverfolgen“, beendete Ezra den Satz. „Ich weiß.“ Der ältere Vampir warf ihm einen scharfen Blick zu. „Dann geh jetzt. Finde einen dieser Ghule und bring ihn mir.“ „Sehr wohl, Vater.“ Die Nacht war immer noch dunkel und regnerisch, als Ezra auf dem Dach gegenüber seiner angestammten Position Stellung bezog. Er war früher dran als sonst und das aus einem Grund. Mit brennenden Augen sah er zu dem Lichtschein hinüber, von dem er wusste, dass es das Schlafzimmerfenster sein musste. Eine ihm wohlbekannte Gestalt bewegte sich in dem hellen Viereck auf und ab. Dann wurde das Licht gelöscht; erst in diesem Raum, danach in den beiden anderen. Einige Minuten später öffnete sich die Haustür. Ezra musste kein Gedankenleser sein, um zu wissen, dass derjenige, der dort unten mit hochgezogenen Schultern durch den Nieselregen eilte, Nathan war. Wenn er gewollt hätte, hätte Ezra jetzt das tun können, von dem er Aemilius versichert hatte, dass er es tun würde, wenn es notwendig wurde. Er hätte ihn töten können. Vielleicht sogar müssen. Nathan wusste inzwischen mehr, als erlaubt war. Allerdings hatte Ezra ihm auch das Versprechen gegeben, dass ihm – zumindest am heutigen Abend – nichts geschehen würde. Es war dumm gewesen, dass er das getan hatte. Gleichzeitig hatte es sich in dem Moment absolut richtig angefühlt. Du bist ihm nicht verpflichtet. Ezra mochte nicht, wie sehr sich seine innere Stimme nach Darnelle anhörte. Aber natürlich hatte sie recht. Wenn es darum ging, Gefahr von sich oder einem anderen Vampir abzuwenden, hatte er das Recht, ja sogar die Pflicht, alles zu tun, was dafür notwendig war. Ein menschliches Opfer stellte dabei kein Hindernis dar, solange er sicherstellte, dass er nicht erwischt wurde. Und das ließ sich eigentlich fast immer bewerkstelligen. Er hatte nicht gelogen, als er Nathan davon erzählt hatte, wie vielfältig die Gelegenheiten waren, einen Menschen verschwinden zu lassen. Aber ich will ihn nicht töten. Sicher, am Anfang war das sein Ziel gewesen. Er hatte diesen Menschen, der unvorsichtigerweise seinen Weg gekreuzt hatte, verhören und dann beseitigen wollen. Doch Nathan hatte sich als zäher erwiesen, als Ezra auf den ersten Blick vermutet hatte. Er hatte ihn sogar angeblafft. Und Ezra war … er war fasziniert gewesen. Natürlich wäre es ohne den häuslichen Schutz ein Leichtes gewesen, Nathan zu befehlen. Ihn tun zu lassen, was immer er wollte. Ezra musste zugeben, dass es ihn ein wenig kalt erwischt hatte, dass seine Fähigkeiten an dieser Stelle so begrenzt gewesen waren. Aber dann … dann hatte er es als Herausforderung gesehen. Ein interessantes Spiel, an dem er wohl mehr Gefallen gefunden hatte, als er hatte zugeben wollen. Dabei ist er nur ein Mensch. Ein Kind im Vergleich zu ihm selbst. Unerfahren, unbekannt, ohne markante Merkmale oder besondere Fähigkeiten. Was also war es, dass Ezra so faszinierte? Was ihn dazu brachte, Nathans Nähe zu suchen, wann immer es möglich war? Immerhin war es für seine Aufgabe nicht notwendig, dass er mit ihm sprach. Es war obsolet, dass er seinen Besuch ankündigte. Es war schlichtweg leichtsinnig, dass er sich in Sichtweite des Fensters aufhielt. Und doch tat er es. Warum? Vielleicht aus demselben Grund, aus dem Nathan das Fenster offen lässt. Ezra hatte wohl gemerkt, dass er nicht ohne Wirkung auf den jungen Mann geblieben war. Und er konnte nicht leugnen, dass der ihm ebenfalls gefiel. Dabei war es nicht nur sein Äußeres, das ihn ansprach. Es war sein Wesen. Die Art, wie er ungeachtet seiner offenkundigen Unterlegenheit immer wieder versuchte, Ezra die Stirn zu bieten. Wie ein trotziger, kleiner Ziegenbock. Und er war nicht dumm. Eine Tatsache, die Ezra außerordentlich imponierte. Die dazu geführt hatte, dass aus dem anfänglichen Spiel mehr geworden war. Mehr, als da eigentlich sein durfte. Du fühlst dich wohl in seiner Nähe. Er konnte inzwischen nicht mehr leugnen, dass es so war. Es fiel ihm schwer, den Finger darauf zu legen, was dieses Gefühl in ihm hervorrief. Wenn er es hätte beschreiben sollen, fiel ihm ein warmer Mantel ein, der sich um seine Schultern legte, ihn einhüllte und ihn beschützte. Was lächerlich war, da Nathan nur den Bruchteil seiner Kraft besaß. Seiner Ausdauer. Seiner Geschicklichkeit. Ein Fingerschnippen von Ezra würde reichen, um ihm das Genick zu brechen. Und genau deswegen musste er sich von ihm fernhalten. Er würde über kurz oder lang zerstören, was er nicht haben konnte. Weil er ein Mensch ist. Nahrung. Futter. Nicht mehr wert als Vieh auf der Weide. Ezra wusste es. Er wusste, dass ihn irgendwann der Drang überkommen würde, Nathan zu beißen. Einfach weil das in seiner Natur lag. Er war ein Raubtier, ein Killer, und daran würde aller guter Wille und alle besten Absichten dieser Welt nichts ändern. Nicht einmal die Sehnsucht, die ihn überkam, wann immer er an ihre merkwürdigen Treffen dachte. Eine brummendes Geräusch riss ihn aus seinen Überlegungen. Ein schwaches Vibrieren, das aus seiner Manteltasche drang. Ezra schnaubte belustigt. Da sieht man es mal. Ich werde nachlässig. Alles nur wegen dieses Menschen. Er zog sein Handy heraus und entsperrte das Display. Darauf war eine Nachricht von einem anonymen Absender. Eine Zahlenkolonne, nicht mehr. Die Koordinaten des nächsten Überfalls. Ohne weitere Verzögerung verließ Ezra das Dach.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)