Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 4: Kinder der Nacht --------------------------- Die Jalousien des Apartments waren bereits heruntergelassen, die Lichter gelöscht und nur der Kamin am anderen Ende des Raums brannte noch. Sein orangeroter Schein brach sich in den schimmernden Marmorböden, beleuchtete die mit ausgesuchten Kunstobjekten dekorierten Wände und fiel schließlich auf die Gestalt, die in dem Sessel ganz nah am Feuer saß. Es war ein Mann jenseits der 50 mit einem grauen Schnurrbart und für sein Alter hellen, wachen Augen. „Du kommst spät“, sagte Aemilius, während er weiter in die Flammen starrte. „Warst du erfolgreich?“ Ezra trat näher. „Wie man es nimmt. Ich habe den Zeugen befragt. Er sagt, er habe nichts gesehen.“ Aemilius verzog den Mund. „Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Ich gehe davon aus, dass du ihn beseitigt hast?“ Ezra hatte gewusst, dass die Frage kommen würde. Seine Finger strichen über den Rücken der weißen Ledergarnitur. „Nein“, gab er zu. „Ich habe ihn verschont. Vorerst.“ „Vorerst?“ Aemilius’ Ton wurde eine Nuance aufmerksamer. „Wie darf ich das verstehen?“ Ezra konnte den Blick des anderen wie Nadelstiche auf sich spüren. „Ich gedenke, die Gegend noch weiter zu beobachten. Vielleicht haben wir ja Glück und er wurde gesehen.“ Für einen Augenblick schwieg Aemilius, dann lachte er. „Ich verstehe. Du willst ihn als Köder benutzen. Das ist clever. Aber wenn er zu einer Gefahr wird …“ „Töte ich ihn.“ Die Worte kamen leicht über Ezras Lippen. „Gut, dann leg dich jetzt schlafen. Darnelle ist bereits in seinen Gemächern.“ „Wie du wünschst, Vater.“ Ezra deutete eine Verbeugung an, bevor er sich umdrehte und sich rasch entfernte. Er wusste, dass Aemilius nur auf ihn gewartet hatte. Er wünschte nur, er wäre mit besseren Neuigkeiten gekommen. Als er am Fuß der Treppe ankam, die ihn in das mittlere Stockwerk des Penthouses brachte, blieb er stehen. Ihm gegenüber an der Wand war über einer Sitzgruppe ein Gemälde angebracht. Lebensgroß und atemberaubend schön. An manchen Tagen, wenn die Lichtverhältnisse günstig waren, erschien es ihm, als könnte Elisabeth sich jeden Moment von der Leinwand lösen und zu ihm in den Raum hinabsteigen. Sie würde ihm die Hand reichen und sie würden wieder miteinander tanzen, lachen und Konversation betreiben. Alles würde wie damals sein. Vor dem Angriff, dem Krieg, dem Feuer. „Schon zurück?“, fragte eine Stimme hinter ihm. Darnelle hatte sich unbemerkt herangeschlichen. Manchmal fragte Ezra sich, wie er das machte. „Wie du siehst“, gab er zur Antwort und wollte sich zu seinem Bruder herumdrehen, doch der presste sich fest gegen seinen Rücken. Sein Atem streifte Ezras Hals. Er schnupperte. „Du riechst nach Mensch“, konstatierte er. „Hast du gut gegessen?“ Ezra schüttelte leicht den Kopf.   „Ich hatte keine Zeit.“ „Oh, armes Baby“, säuselte Darnelle. „Nicht einmal Zeit für einen kleinen Snack? Du weißt, dass meine Clubs dir jederzeit offenstehen.“ Er löste sich von Ezras Rückseite und trat um ihn herum. Seine bloße Brust wurde nur nachlässig von einem seidenen Morgenmantel bedeckt. Das dunkle, florale Muster changierte im diffusen Licht des abgedunkelten Apartments. Darunter trug er lediglich eine Pyjamahose. Als er Ezras Blick bemerkte, lächelte er. „Gefällt es dir? Kam heute Morgen aus Paris an.“ Er drehte sich einmal um die eigene Achse, um Ezra einen besseren Blick zu gönnen. Der nickte beifällig. „Es steht dir. Ja, wirklich.“ „Fand ich auch.“ Immer noch lächelnd kam Darnelle wieder näher. Ezra konnte das Glitzern in seinen Augen erkennen. „Aber nun noch einmal zu dir. Ich kann dich unmöglich hungrig ins Bett gehen lassen. Also, was hältst du von Zimmerservice?“ „Zimmerservice?“ Ezra runzelte die Stirn. „Nein, danke. Ich komm schon zurecht.“ Er wollte sich abwenden, aber Darnelle fing sein Handgelenk ein und zog ihn zu sich heran. „Ich würde mich auch um alles kümmern. Die Auswahl, die Vorbereitung, die Entsorgung. Du brauchst es nur zu sagen. Ich mache es möglich.“ Sein Gesicht hatte einen gierigen, fast schon wölfischen Ausdruck angenommen. Ezra begann zu grinsen. „Machst du dir etwa Sorgen um mich?“ „Immer, Bruderherz. Immer.“ Darnelles spitze Zähne glänzten im Dunkeln. Ezra erinnerte sich daran, wie er sie das erste Mal zu spüren bekommen hatte. Darnelle war wilder, ungestümer und brutaler gewesen als Elisabeth. Eher wie ein Raubtier, denn wie ein Verführer. Auch jetzt blitzte diese Wildheit wieder unter der geschniegelten Fassade hervor. „Es gäbe da natürlich noch eine andere Möglichkeit“, sagte Darnelle fast schon beiläufig und fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers über Ezras Brust. „Du weißt, was ich meine.“ Mit diesen Worten streifte er den Kimono von den Schultern und enthüllte seinen sehnigen Oberkörper, die weißen, makellosen Schultern und den Hals. Der Anblick nahm Ezra gefangen und ließ seinen Mund trocken werden. Er hatte Hunger. „Du weißt, dass wir das nicht dürfen“, versuchte er einzuwenden, aber Darnelle achtete nicht auf seine Worte. Mühelos überwand er auch noch die letzte Distanz zwischen ihnen und war mit einem mal so nah, dass Ezra ihn riechen konnte. Zeder, Moschus und etwas, das er nur als Aquamarin beschreiben konnte, fluteten seine Sinne. Dazwischen Darnelles ganz eigener Geruch. Eine süßliche Note, die an Ezras Verstand kratzte. Er begann zu zittern. „Natürlich weiß ich das“ flüsterte Darnelles Stimme ganz nah an seinem Ohr. „Aber was kümmern uns dumme Gesetzte, die von dummen, alten Vampiren aufgestellt wurden. Wir beide brauchen das doch nicht, Bruder. Wir würden einander nie ernsthaft verletzen oder gar töten. Du weißt das und ich weiß das auch. Also los, bedien dich. Ich bin ganz dein.“ Er neigte den Kopf zur Seite und präsentierte seinen Hals. Ezra konnte hören, wie die Schlagader unter der Haut pulsierte. Unablässig pumpte das Herz den roten Lebenssaft durch die Adern. Bu-bumm, bu-bumm, bu-bumm. Wie eine Ritualtrommel. Ein ferner Sirenengesang, der ihn gefangen nahm und ihn willenlos machte. Er brauchte etwas zu essen. Er brauchte Blut. Jetzt. Jetzt. JETZT! Ohne sich noch länger zurückhalten zu können, biss er zu. Er versenkte seine Zähne in Darnelles Fleisch und konnte ihn stöhnen hören. Sein Unterkörper zuckte Ezra entgegen und unbewusst erwiderte er die Bewegung. Blut sprudelte in seinen Mund. Er schluckte, schmeckte, kostete. War wie im Rausch. Es war das gleiche Gefühl, dass er auch bei einem Menschen hatte, aber noch viel, viel stärker. Vampirblut war wie eine Droge. Pure Kraft, die mit jedem Schluck in seinen Mund schoss und ihn stärker und stärker saugen ließ. Kaum bekam er mit, dass er Darnelle packte und gegen die Wand schleuderte. Ihn festhielt und ihm mehr und mehr seiner Lebensenergie abzapfte. Erst, als Darnelle ihn grob an den Haaren packte und seinen Kopf zurückriss, kam er wieder zur Besinnung. Keuchend ließ er von seinem Bruder ab und stolperte rückwärts. Blut floss Darnelles Hals hinab. Ein rotes Rinnsal, das mit jedem Pulsschlag schwächer wurde. Die Wunden an seinem Hals schlossen sich rasch. Er lachte und fuhr mit dem Finger durch die rote Flüssigkeit. „War es gut?“, fragte er. Ezra konnte sehen, dass seine Beine zitterten. Darnelle war kurz davor zusammenzubrechen. Sofort war er bei ihm. Griff ihm unter die Arme. Stützte ihn. Seine Augen suchten Darnelles Blick. „Es tut mir leid“, murmelte er. „Ich habe mich hinreißen lassen.“ „Keine Sorge, kleiner Bruder. Ich lebe ja noch.“ Er fuhr noch einmal mit der gesamten Hand durch das Blut auf seiner nackten Haut. Die Geste war eindeutig obszön aber auch seltsam erregend. Unwillkürlich rückte Ezra näher heran. Lächelnd hielt Darnelle ihm einen Finger hin. Ezra öffnete den Mund und ließ das blutbesudelte Glied hineingleiten. Sacht begann er zu saugen. Darnelle grinste. Er entzog Ezra den Finger und benetzte ihn erneut. Doch statt ihn Ezra hinzuhalten, bestrich er seine Lippen damit. Auffordernd sah er Ezra an. „Komm und hol es dir, Bruder.“ In Ezras Ohren rauschte es. Er fühlte Darnelles Körper unter seinen Händen. Feste Haut und angespannte Muskeln. Das Pulsieren in seinem eigenen Schritt. Das Blut. Die unmissverständliche Härte, die sich gegen seine drückte. Sie wollten es. Sie wollten es beide. Mit einem tiefen Atemzug lehnte er sich vor und brachte ihre Münder zusammen. Sofort teilten sich Darnelles Lippen und luden ihn ein, tiefer vorzudringen. Blutiger Speichel mischte sich mit reinem. Fahrige Hände begannen, sein Hemd zu öffnen. Einer der Knöpfe verschwand klappernd im Dunkel. Darnelles Zunge glitt über seine Brust, seine Hände öffneten Gürtel und Hose. Glitschige Feuchtigkeit legte sich um Ezras Länge und ließ ihn aufstöhnen. Er brauchte mehr. Mehr! Grollend wirbelte er Darnelle herum und stieß ihn gegen die Wand. Mit der einen Hand hielt er seinen Bruder fest, mit der anderen riss er das letzte Stück Stoff entzwei, das sie beide trennte. Glühende Hitze schob sich zwischen Darnelles entblößte Backen. Sein abgehackter Atem hallte von den Wänden wieder. Willig drängte er sich Ezra entgegen. „Nimm mich“, keuchte er. „Nimm mich jetzt.“ „Aber Aemilius …“ „Wird uns nicht hören. Ich kann sehr leise sein.“ Dunkle Striemen zeichneten die Stellen, an denen er das Blut verschmiert hatte. Der Anblick und der Geruch entfachten Ezras Hunger von Neuem. Nur mit Mühe konnte er sich davon abhalten, seine Fänge noch einmal in den bebenden Körper vor sich zu graben. Er wollte ihn nicht noch mehr verletzen. „Gib mir Zeit, etwas zu holen“, stieß er hervor und wollte sich entfernen, aber Darnelle hielt ihn zurück. „In der Tasche.“   Ezra verstand sofort. Er fand das kleine Päckchen in der Seitentasche des Morgenmantels, riss es auf und verteilte den Inhalt großzügig. Danach trat er wieder hinter Darnelle. Noch einmal drängte er sich an ihn und fuhr mit den Händen seine Seiten entlang. Sanfter und vorsichtiger dieses Mal. Er hatte nicht vergessen, wie geschwächt der andere war. „Wir könnten auch ins Schlafzimmer gehen. Dort kannst du dich ausruhen und ich dich entsprechend … entlohnen.“ Darnelle schüttelte den Kopf. „Ich will, dass sie uns zusieht. Wie damals.“ Er drehte sich leicht zu dem Gemälde, das immer noch milde lächelnd auf sie herabsah. Wie oft hatten Darnelle und er sich unter Elisabeths glühenden Blicken geliebt. Zu zweit, zu dritt, in seltenen Fällen sogar zu viert. Manchmal hatten sie Menschen dazu geholt. Frauen, Männer, Wesen die weder noch waren oder beides in einem. Meist hatten die armen Dinger die Nacht nicht überlebt. Damals war es noch einfach gewesen, die toten Körper danach verschwinden zu lassen. Wann war ihm das egal geworden? „Bitte. Ich brauche es.“ Darnelles Stimme war zu einem heiseren Flüstern herabgesunken. In seinen Augen schimmerte Sehnsucht. Verzweiflung. Schmerz. Ezra zögerte nicht mehr. Behutsam zog er den anderen in seine Arme. Er würde ihm geben, wonach er verlangte. Das und mehr. Viel mehr. Bis in alle Ewigkeit. Marvins Stirn schlug gewaltige Wellen, während er Nathan zuhörte, der ihm noch einmal haarklein die Erlebnisse der letzten Nacht wiedergab. Als er geendet hatte, starrten sie beide auf das kleine, helle Viereck, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Nathan hatte dieses Mal ein Café in einer kleinen Seitenstraße für ihr Treffen ausgesucht. In dem Laden mit den dunklen Holzmöbeln und den cremefarbenen Wänden war es ruhiger und etwas diskreter, auch wenn seine Auswahl sich hier auf Blaubeermuffins und Soja-Latte beschränkte. Allerdings hatte er auch den Eindruck, dass sein Gehirn die Extraportion Zucker gerade gut gebrauchen konnte. Es lief nämlich auf Hochtouren. „Und, was sagst du?“, fragte er aufgeregt. Marvin atmete tief ein und wieder aus. „Normalerweise würde ich ja immer noch sagen, dass du dir das alles nur eingebildet hast, aber …“ Er hob die Hand, bevor Nathan ihn unterbrechen konnte. „Träume hinterlassen normalerweise keine Visitenkarten. Und Halluzinationen auch nicht. Wenn du mir also nicht einen gewaltigen Bären aufgebunden hast …“ „Das würde ich nie tun!“ „… würde ich sagen, du hast ein Problem. Ein ziemlich großes Problem sogar.“ Marvin griff nach der Visitenkarte und nahm sie ganz genau in Augenschein. Er besah sich Vorder- und Rückseite, fuhr mit den Fingern über die Ränder, kratzte vorsichtig an einer Ecke herum und roch schlussendlich am Papier. Erneut legte sich seine Stirn in Falten. „Ich kenne diesen Geruch“, brummte er. „Aber woher?“ Nathan fühlte Wärme aus seinem Kragen nach oben steigen. „Tja also, das ist … mein Waschmittel.“ Marvin guckte verständnislos. „Wieso Waschmittel? Hast du die Karte gewaschen? „Ich hab sie gebügelt.“ Marvin blinzelte. „Wie meinen?“ Nathan seufzte. „Ich sagte, ich habe sie gebügelt. In Ermangelung eines Backofens, in den ich sie stecken konnte, habe ich einfach das Bügeleisen benutzt. Ich wollte sehen, ob vielleicht irgendeine Art Geheimbotschaft darauf geschrieben steht. Und damit sie nicht verbrennt, habe ich ein Geschirrtuch darüber gelegt. Deswegen der Geruch. Ich wollte ja nicht, dass sie in Flammen aufgeht. Und dann habe ich sie gebügelt. Erst mit Wolle/Seide, dann Baumwolle und am Schluss Leinen. Aber es hat alles nichts genützt. Die Karte ist leer geblieben.“ Marvin blinzelte noch einmal. „Du hast was?“ Er wedelte mit der Hand, als Nathan seine Erklärung wiederholen wollte. „Nein, bitte nicht nochmal. Ich hab schon verstanden, dass du nachgesehen hast, ob der geisteskranke Stalker dir eine geheime Botschaft mit unsichtbarer Tinte auf ein Stück sauteures Pergament gekritzelt hat. Aber weißt du eigentlich, wie bescheuert das klingt?“ Nathan zog den Kopf ein. „Sehr?“, fragte er kläglich. „Absolut sehr“, bestätigte Marvin. „Und genau deswegen hätte ich haargenau das Gleiche gemacht. Allerdings hätte ich eine Kerze genommen, dann würde das Ding jetzt wenigstens nach Vanille riechen. Oder ich hätte meine Wohnung abgefackelt. Je nachdem.“ Nathan erlaubte sich ein Grinsen, das von Marvin sofort aufgegriffen wurde. „Na gut, dann keine geheime Botschaft. Aber warum zum Kuckuck hat er sie dir dann gegeben?“ „Ich hab keine Ahnung. Vielleicht sollte ich ihn das nächste Mal fragen.“ „Das nächste Mal?“ Marvin riss die Augen auf. „Sag mir bitte, dass das ein Scherz war. Du wirst doch sicher zur Polizei gehen und das melden. Immerhin hast du jetzt etwas gegen ihn in der Hand. Vielleicht sind auf dem Ding ja sogar Fingerabdrücke drauf.“ „Nachdem ich sie gebügelt habe?“ „Ach Mist, stimmt ja. Das hatte ich vergessen.“ Unzufrieden nuckelte Marvin an seinem Strohhalm. Er hatte wirklich eine ausgeprägte Leidenschaft für die Dinger. Marvin selbst nannte es „oral veranlagt“, was immer das auch hieß. „Das heißt also, du hast keinerlei Beweise für die Existenz von Mr. Unbekannt.“ „Wenn man meine eigene Aussage nicht mitrechnet, nein.“ „Keine Fußabdrücke, Spuren auf dem Fensterglas, eine Zigarettenkippe vielleicht?“ „Alles Fehlanzeige.“ „Mhm.“ Immer noch starrte Marvin die Visitenkarte an, als könnte er das Stück Papier dadurch dazu bringen, ihm ihr Geheimnis zu verraten. Die Karte blieb jedoch störrisch und hielt weiter die Klappe. „Also gut, ich fasse mal zusammen“, sagte Marvin irgendwann in gewichtigem Tonfall. „Erstens: Dieser merkwürdige Typ, der dich neuerdings belagert, kommt immer nur nachts vorbei. Zweitens: Er hat keinerlei Schwierigkeiten damit, völlig ohne Sicherung auf einem gerade mal handtuchbreiten Sims im sechsten Stock herumzuturnen. Drittens: Er verschwindet auch von dort, ohne eine Leiter oder ähnliches zu benutzen. Viertens: Er hat merkwürdige, telepathische Kräfte, die jedoch bei dir nutzlos sind.“ „Moment mal! Ich habe nie gesagt, dass er telepathische Kräfte hat“, unterbrach Nathan seinen Freund empört. „Ich hab nur gesagt, dass es sich merkwürdig angefühlt hat, als er mir befohlen hat zu antworten.“ „Na gut, streichen wir Telepathie und ersetzen es durch Hypnose. Ist das besser?“ Marvins Augenbrauen wanderten fragend nach oben. Nathan starrte ihn böse an. „Jetzt machst du dich über mich lustig.“ „Mache ich gar nicht. Ich versuche, dir zu helfen.“ Nathan stöhnte. Er hatte gerade nicht das Gefühl, dass ihm irgendetwas helfen würde außer einem sehr wirksamen Betäubungsmittel. Eines für Elefanten vielleicht. So würde er eventuell irgendwann wieder ein wenig Schlaf finden. Ein Unterfangen, das ihm letzte Nacht nicht mehr geglückt war. Stattdessen hatte er sich bis in die frühen Morgenstunden den Kopf über Ezra zerbrochen. „Zum Schluss wäre da aber noch der merkwürdigste Punkt auf dieser Liste und zwar der, dass er deine Wohnung nicht betreten hat. Ich meine, wenn er dich ausrauben oder umbringen wollte, sollte ihn ja ein geöffnetes Fenster nicht aufhalten, hab ich recht? Und genau dieser Punkt ist es, der mich zu einem abschließenden Urteil bringt, über das es gar keinen Zweifel geben kann. Dein nächtlicher Besucher ist ein Vampir.“ Dieses Mal war es an Nathan, überrascht zu blinzeln und am Geisteszustand seines Freundes zu zweifeln. Ein Vampir? War das sein Ernst? „Ist das dein Ernst?“, wiederholte er laut. „Mein voller Ernst“, bestätigte Marvin. „Und bevor du mich jetzt für verrückt erklärst, muss ich dir sagen, dass er damit nicht alleine ist. Das Ganze ist ein regelrechter Kult.“ Marvin griff nach seinem Handy, tippte darauf herum und hielt Nathan dann eine Newsseite unter die Nase. Darauf waren Bilder von kostümierten Menschen zu sehen, die sich ganz offensichtlich als Vampire verkleidet hatten. Es gab jede Menge schwarze Kleidung, Lack und Leder, blass geschminkte Gesichter und hier und da etwas Kunstblut für den Effekt. Jedenfalls hoffte Nathan, dass es Kunstblut war. Es sah erstaunlich echt aus. „Siehst du? Vampirismus liegt voll im Trend. Obwohl einige von denen wirklich zu weit gehen. Guck dir das hier mal an.“   Marvin rief einen anderen Artikel auf. 'Vandalen auf dem Friedhof' titelte die Schlagzeile. Es folgte ein reißerischer Bericht über einige Unbekannte, die in der letzten Zeit überall in der Stadt Friedhöfe geschändet hatten. Zum Anfang der Serie hatten sie nur ein oder zwei Gräber geplündert, inzwischen waren es aber oft mehr als ein halbes Dutzend in einer Nacht. Und die Anschläge häuften sich.   „Das ist jedoch nicht alles“, erklärte Marvin weiter. „Inzwischen sind sogar schon Polizisten verschwunden, die nachts auf den Friedhöfen Streife liefen. Guck mal der hier.“   Er reichte Nathan das Handy. Darauf war ein dicker, weißer Mann in Uniform zu sehen. Nathan begann zu lesen.   „Officer Mello, 47, wurde zuletzt am Samstag gegen 23.30 Uhr am nordwestlichen Eingang des Friedhofs gesehen. Sein Kollege Officer Miles Brown sagte aus …“   „Man hat nicht die kleinste Spur von ihm entdeckt“, unterbrach Marvin ihn. „Als hätte irgendetwas ihn durch die Luft weggetragen.“ Nathans Gesichtsausdruck wurde finster. „Wenn du jetzt behauptest, dass es eine riesengroße Fledermaus war, die den Typ gekidnappt hat, verlasse ich sofort das Café und rede nie wieder ein Wort mit dir.“   „Gut“, erwiderte Marvin beleidigt, „dann sage ich es eben nicht. Aber eine gute Theorie ist es trotzdem.“ „Ja genau, und ich bin Batman.“ Mitten in das anschließende Starrduell platzte Kate, ihre Bedienung, und erkundigte sich, ob sie noch irgendwelche Wünsche hätten. Marvin orderte noch einen Cappuccino mit extra Crema, aber Nathan winkte dankend ab. Ihm schwirrte ohnehin schon der Kopf. Während Kate das Gewünschte servierte, nahm Nathan noch einmal Marvins Handy zur Hand. Der Bericht über die geschändeten Gräber überschlugen sich vor haarsträubenden Übertreibungen, Andeutungen auf okkulte Praktiken und derlei Unsinn. Es gab sogar ein Bekennerschreiben unterzeichnet mit 'Kinder der Nacht', die sich angeblich höchstselbst aus den Gräbern erhoben haben wollten, um die Stadt auf der Suche nach Menschenblut zu durchstreifen. Von all dem glaubte Nathan natürlich kein Wort, aber die Tatsache blieb bestehen, dass irgendjemand Leichen auf Friedhöfen ausgegraben hatte. Die Hinterbliebenen hatten Anzeige gegen Unbekannt gestellt, aber Nathan beschlich das ungute Gefühl, dass „Unbekannt“ vielleicht gar nicht so unbekannt war.   Eilig rief er auf einer zweiten Registerkarte eine Liste der Friedhöfe auf, die überfallen worden waren. Der letzte war am vergangenen Wochenende entweiht worden und lag nur wenige Querstraßen entfernt von dem unheimlichen Parkhaus. Nathan wurde kalt.   Das muss noch nichts heißen. Er ist vielleicht wirklich nur einer dieser durchgeknallten Verkleidungskünstler, die nachts den Mond anbeten und das Ketchup direkt aus der Flasche nuckeln. Vollkommen harmlos.   Nathan wusste, dass er sich selbst etwas vormachte. Ezra war einiges, aber mit Sicherheit nicht harmlos. Trotzdem konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass er zu so einer Gräueltat fähig war. Dazu hatte er zu nett gewirkt.   Dabei müsste ich doch am besten wissen, dass man sich auf den äußeren Schein nicht verlassen kann. Ich muss verdammt vorsichtig sein, wenn ich ihm nochmal begegne. Aber ich muss wissen, ob er etwas damit zu tun hat.   Als er aufblickte, sah er in Marvins misstrauisches Gesicht. „Was hast du vor?“, wollte er wissen und nicht einmal der Milchschaum, der an seiner Oberlippe klebte, änderte etwas daran, dass Nathan sich mit dem Rücken gegen die Wand gestellt fühlte. „Was meinst du?“, fragte er trotzdem und versuchte harmlos auszusehen. Marvin schnaubte entrüstet. „Hör auf, mich zu verarschen. Du weißt genau, was ich meine. Du hast schon wieder diesen Gesichtsausdruck. Den, den du immer hast, wenn du irgendwelche Pläne schmiedest.“ „Ich würde nie …“ „Nathan!“ Marvin schien jetzt ernsthaft sauer zu sein. „Zwing mich nicht, dich schon wieder bei deinem vollen Namen zu nennen. Du weißt, was dann los ist.“   Nathan verzog das Gesicht. Natürlich wusste er das. Und er wusste auch, dass er Marvin unmöglich weiter anlügen konnte. Er musste ihm endlich auch den Rest der Geschichte erzählen, so unglaublich der auch klang.   „Also die Sache ist die …“, begann er zögernd. „Ich bin am Samstag in der U-Bahn eingeschlafen und habe meine Haltestelle verpasst. Und weil ich nicht auf die nächste Bahn warten wollte, bin ich zu Fuß gegangen. Durch die Wohngebiete.“   Nathan sah genau, dass Marvin ihn am liebsten deswegen zurechtgewiesen hätte, aber er sagte nichts, daher fuhr Nathan fort.   „Auf dem Weg bin ich an diesem alten Parkhaus vorbeigekommen und habe dort etwas gehört. Zuerst dachte ich, es wäre ein Tier, aber vielleicht …“ „Du meinst, das war dieser Ezra?“ „Das weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass er zumindest irgendwo in der Nähe war. Es würde erklären, warum er meinen Namen wusste. Als ich da rumstand und mir vor Angst fast in die Hosen machte, hab ich versehentlich deine Sprachnachricht abgespielt und …“ „Oh, lieber Gott im Himmel.“ Marvin bekreuzigte sich. „Sag jetzt nicht, dass es meine Schuld ist, dass dieser Irre hinter dir her ist.“ „Nein, natürlich nicht. Aber es könnte sein, dass er dadurch auf mich aufmerksam wurde und mir bis zu mir nach Hause gefolgt ist.“ Den Gedanken, dass Ezra in der Dunkelheit vielleicht doch irgendetwas Ekliges mit einer Leiche angestellt haben könnte, schob er dabei lieber sehr weit von sich weg. Immerhin war das bisher nur eine unbewiesene Theorie. In dubio pro reo. „Mhm.“ Marvins Stirn lag schon wieder in Falten. „Also wenn die Sache so liegt, solltest du wirklich unbedingt zur Polizei gehen. Der Typ ist vielleicht gefährlicher, als wir angenommen hatten.“ „Aber was soll ich denn sagen?“ „Na das, was du mir auch gesagt hast. Die Wahrheit.“ Nathan presste die Lippen zusammen und griff nach der Visitenkarte. Einerseits wusste er, dass Marvin recht hatte. Andererseits würde er sich selbst auch nicht glauben, wenn ihm jemand anders diese völlig abgedrehte Geschichte erzählt hätte. „Oder du stellst ihm eine Falle.“   Marvin grinste verschmitzt, während Nathan ihn nur ungläubig anglotzte.   „Eine Falle?“ „Ja! Du wartest, bis er auftaucht, dann rufst du schnell die Cops an und hältst ihn hin, bis sie kommen und ihn festnehmen können. Der Plan ist einfach genial.“   Nathan musste zugeben, dass sich die Idee nicht ganz so verrückt anhörte, wie er zuerst gedacht hatte. Bis darauf, dass sie natürlich vollkommen verrückt war.   „Wenn sie diesen Stalker auf frischer Tat ertappen, kannst du dir sicher sein, dass er dich in Zukunft in Ruhe lässt. Und wenn nicht, wandert er für mehrere Jahre hinter Gitter und muss zudem ordentlich blechen. Glaub mir, ich hab das letztens im Fernsehen gesehen. So was ist kein Spaß.“   Nathan schwieg. Er wusste, dass bei dieser Sache ungefähr eine Million Dinge schief gehen konnten. Eines davon war, dass er abgestochen auf dem Boden eines dreckigen Parkhauses vor sich hin verbluten konnte. Trotzdem regte sich bei dem Gedanken, Ezra wiederzusehen, ein merkwürdiges Gefühl in seinem Magen. Es war nicht wirklich Vorfreude. Vielmehr glich es dem Augenblick, wenn die Achterbahn am Scheitelpunkt ihrer Anlaufstrecke angekommen war. Man wusste, dass gleich etwas Furchtbares passieren würde, und trotzdem konnte man kaum abwarten, dass es endlich so weit war.   Ich muss mir wirklich ganz dringend einen Therapeuten suchen. Aber wenigstens wusste er jetzt, dass er damit nicht allein war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)