Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Ein schrecklicher Abend ---------------------------------- New York, heute   Das Licht einer Taschenlampe huschte unruhig über die endlosen Reihen der Grabsteine. Officer Ralph Mello, dem sie gehörte, brummte dazu. Das war jetzt schon die vierte Nacht, in der er hier unterwegs war. Angeblich wollten Anwohner etwas bemerkt haben. Bewegungen, Stimmen und sogar einen Schrei. Bisher hatte er jedoch nichts entdecken können, das auch nur den Hauch eines Verdachts erregte. „War vermutlich eine verdammte Katze“, knurrte er und blieb stehen, um in den Tiefen seiner Uniformjacke nach einem Taschentuch zu suchen. Als er es gefunden hatte, schnäuzte er sich geräuschvoll und steckte es dann umständlich wieder ein. Dieser verdammte Heuschnupfen. Als wenn es nicht genug wäre, dass er nachts hier herumschleichen und Verbrechern nachjagen musste, die es gar nicht gab.   Die Ulmen über ihm rauschten im kalten Nachtwind. Die Luft war eisig und auch, wenn er natürlich keine Angst vor Gespenstern hatte, war so ein Friedhof ein verdammt ungemütlicher Ort, um sich nachts dort herumzutreiben. Sein Partner, der auf der andere Seite des Anwesens unterwegs war, saß vermutlich schon längst wieder im warmen Streifenwagen. „Dreckskatze!“, fluchte er noch einmal und machte sich daran, den Heimweg anzutreten, als er etwas entdeckte. Unregelmäßig und dunkel hob es sich gegen die ansonsten ebene Rasenfläche ab. Es sah fast so aus wie …   „Erdhaufen?“   Officer Mello runzelte die Stirn und hielt die Lampe höher. Tatsächlich. Dort zwischen den Grabsteinen hatte jemand ein Loch gebuddelt. Und nicht nur das. Wer immer es gewesen war, hatte auch noch den Sarg, der sich darin befunden hatte, geöffnet und die darin befindliche Leiche … war weg.   Officer Mello riss die buschigen Augenbrauen nach oben.   „Ach du Scheiße!“ Noch einmal leuchtete er in das Loch. Es war wirklich verdammt tief. Und verdammt leer.   „Die ham doch den Arsch offen. Na warte!“   Seine Hand griff zum Funkgerät, um Verstärkung zu rufen, als er plötzlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Sofort ließ er das Funkgerät Funkgerät sein und riss stattdessen seine Waffe aus dem Holster. „Halt, stehenbleiben! Polizei!“   Er zielte in die Richtung, in der er die Bewegung ausgemacht hatte. Im geisterhaften Schein der Taschenlampe konnte er jedoch niemanden erkennen. Um ihn herum war nur Schwärze und Dunkelheit. Der Wind brachte die Bäume zum Rauschen. „Hier ist die Polizei“, rief er noch einmal. „Kommen Sie mit erhobenen Händen raus. Oder wir eröffnen das Feuer.“   Wieder antwortete niemand. Der Friedhof war totenstill bis auf das Rauschen der Bäume. Die Sache gefiel Officer Mello nicht. Sie gefiel ihm ganz und gar nicht. Das Gefühl, dass dort jemand war – jemand, der ihn anstarrte, ihm auflauerte – wurde stärker. Eine eisige Gänsehaut kroch seinen Rücken hinauf. „Stehenbleiben!“   Die Dunkelheit antwortete nicht. Sie zog sich im Gegenteil nur noch enger zusammen. Unsicher machte er einen Schritt rückwärts. Und dann noch einen. „Du hättest nicht herkommen sollen.“   Officer Mello wirbelte herum und schoss. Im Mündungsfeuer konnte er ganz kurz das Gesicht eines Mannes aufleuchten sehen. Er war etwa Anfang 20, mit dunklen, halb langen Haaren und in seinem Mund …   „Oh Scheiße!“   Das Licht erlosch und im nächsten Augenblick fühlte Officer Mello sich gepackt. Seine Waffe wurde ihm aus der Hand geschlagen und noch während sie zu Boden fiel, wurde sein Kopf brutal zur Seite gerissen. Er schrie, als spitze Zähne sich in seinen Hals bohrten und die Schlagader aufrissen. Sein Schrei ging in ein Gurgeln über, als das Blut seine Kehle füllte.   „Du hättest nicht herkommen sollen“, wiederholte die Stimme des Fremden.   Das Letzte, was Officer Mello sah, war der Mond, der langsam über der Stadt aufging. Danach fühlte er gar nichts mehr.         „Wow, guck dir den an!“   Marvins Augen klebten an den halbnackten, sich im Rhythmus der harten Beats bewegenden Körper. Die Tanzfläche des Clubs war gerammelt voll. Nathan mochte sich gar nicht ausmalen, was hier jeden Abend an Umsatz gemacht wurde. Allein der Eintrittspreis hatte ihn einen halben Wochenlohn gekostet. Und jetzt stand er hier und sah einem Haufen schwitzender Kerle beim Tanzen oder was immer das darstellen sollte zu, während er immer wieder an einem Drink nippte, für den er ebenfalls das Doppelte des sonst üblichen Satzes auf den Tisch gelegt hatte. Aber was tat man nicht alles für einen Freund.   „Wen meinst du?“, fragte er daher pflichtschuldig, denn natürlich würde er auch dieses Spiel mitspielen.   „Na, das Sahneschnittchen da. Der mit dem Spitzbart und den Muskeln.“ Marvin schob sich den Strohhalm seines Cocktails zwischen die Lippen. „Also von dem würd ich mich gerne mal flachlegen lassen. Der kann bestimmt die ganze Nacht.“   Nathan prustete in sein Glas. „Und dann heulst du mir wieder die Ohren voll, weil du nicht richtig sitzen kannst.“   Marvin plusterte sich auf wie ein empörter Pfau. „Ich rede ja auch nicht davon, dass der einfach blind drauflos rammeln soll. Mein Körper ist schließlich ein Tempel. Da darf nicht jeder rein.“   „Das solltest du dir vielleicht auf ein T-Shirt drucken lassen“, stichelte Nathan. Marvin streckte ihm die Zunge raus.   „Du bist doof. Als wenn du es nicht wieder mal nötig hättest. Wie lange ist Christian jetzt schon weg? Zwei Monate? Drei? Auf die Dauer brauchst du auch mal wieder was zwischen die Beine.“   Nathans Miene verfinsterte sich, während Marvin sich schmollend wider seinen Betrachtungen widmete. Flackernde Lichter setzten die Tänzer in Szene und die Luft war geschwängert von künstlichem Rauch und dem Geruch nach Moschus, Schweiß und Eau de Cologne. Nathan schüttelte es bei dem Gedanken, aber er wusste, dass er vermutlich früher oder später dort unten landen würde. So wie es immer lief, wenn sie zusammen ausgingen. Schon jetzt wippte Marvin ungeduldig mit dem Fuß und bewegte die Hüften im Takt der Musik.   Mit einem lautlosen Seufzen stieß Nathan seinen Freund an. „Ich hab’s nicht so gemeint.“   Sofort wirbelte Marvin zu ihm herum. Sein Gesicht ein Abbild der Reue. „Ich auch nicht. Das war gemein von mir. Du hattest ganz recht damit, dich von diesem gefühllosen Troll zu trennen. Also was sagst du? Ich hole uns noch was zu trinken und dann stürzen wir uns ins Getümmel, ja?“   Nathan nickte, obwohl er eigentlich dran gewesen wäre, die nächste Runde zu bezahlen. Eine wortlose Entschuldigung, die er dankend annahm.   An der Bar herrschte ein ziemliches Gedränge und Marvin musste lange warten, bis er sich endlich zwischen den fast ausnahmslos größeren Gestalten hindurchgequetscht hatte. Kaum war er jedoch am Tresen angelangt, wurde ein Platz neben ihm frei. Mit einem dramatischen Augenrollen drehte er sich um und grimassierte in Nathans Richtung. Der lachte und gab seinem Freund einen Daumen nach oben.   Das Lächeln gefror jedoch auf seinem Gesicht, als sich drei Typen neben Marvin an die Bar drängten und ihn dabei grob zur Seite stießen. Mit wachsender Unruhe beobachtete Nathan, wie sein Freund einem der drei höchst angesäuert auf die Schulter tippte. Der Typ – ein Hunk mit aufgepumpter Figur, kurzgeschorenem Nacken und ultramaskuliner Ausstrahlung – drehte sich grinsend zu ihm herum. Er musterte Marvin mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten, beugte sich vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Nathan konnte selbst auf die Entfernung sehen, wie sein Freund die Kiefer aufeinanderpresste. Marvin funkelte den Typen an, fauchte ihm etwas ins Gesicht, drehte sich auf dem Absatz herum und rauschte in Richtung der Toiletten davon. „Scheiße!“   Eilig stellte Nathan sein Glas ab und stürzte durch die feiernde Menge hinter Marvin her. Den Protest ignorierend, den ihm der Einsatz von Knien und Ellenbogen dabei einbrachte, gelangte er endlich zu dem Raum mit dem pinken Männlichkeitszeichen an der Tür. Entschlossen stieß er sie auf und stürmte nach drinnen.   Vor den Pissoirs standen einige Typen. Keiner von ihnen war Marvin. „Na, was gefunden, das dir gefällt?“, wollte einer der Pinkelnden wissen und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Nathan antwortete ihm nicht, sondern schlängelte sich weiter in Richtung der Kabinen. Aus einer von ihnen kamen höchst eindeutige Geräusche. Anscheinend waren die Protagonisten kurz davor. „Marvin?“, fragte Nathan mit wenig Hoffnung. Aus der Kabine kam ein Lachen. „Nein, aber wenn er will, kann er gerne der Nächste sein.“   „Äh, danke. Ich glaube, er verzichtet“, gab Nathan zurück und ging weiter den Gang entlang. Wo steckte der Idiot denn bloß?   „Nathan?“, kam es kläglich von irgendwo weiter hinten, „Ich bin hier.“   Nathan hörte, wie die Tür der letzten Kabine entriegelt und dann geöffnet wurde. Drinnen saß Marvin auf der randlosen Schüssel und bemühte sich offenbar, nicht allzu sehr an seinen Augen herumzuwischen. Einen Teil des blauglitzernden Lidschattens hatte er trotzdem bereits verschmiert. Seine Hände zitterten. „So ein Arschloch“, schimpfte er. „So ein verdammtes, weißes, rassistisches Arschloch. Ich hätte ihm in die Eier treten sollen oder sie ihm am besten gleich abreißen. Damit hätte ich der Welt einen Gefallen getan.“   Nathan verzog das Gesicht. „So schlimm?“   Marvin schnaubte.   „Schlimmer. Er hat mich gefragt, ob ich kleine Schokopraline nicht Lust auf ne Füllung hätte. In einem Tonfall, als müsste ich mich noch glücklich schätzen, wenn er sich dazu herablässt, mich zu ficken.“   Nathan stöhnte.   „Was für ein Arsch! Und was hast du ihm geantwortet?“   Marvin schniefte und begann zu grinsen. „Ich hab ihm gesagt, dass ich auf sein Magermilchjoghurt verzichten kann. Und dann bin ich abgehauen. Ich hatte echt Angst, dass er mir eine reinhaut.“   Nathan lachte nur halb erleichtert. Tadelnd sah er seinen Freund an.   „Das hätte wirklich ins Auge gehen können. Du weißt, wie solche Kerle sind.“   Marvin seufzte. „Natürlich weiß ich das. Aber kann ich ihn doch nicht einfach damit durchkommen lassen. Der denkt doch sonst, dass er die Krone der Schöpfung ist und alle Bottoms sich ihm mit dem Arsch zuerst präsentieren müssen, damit er sich den schönsten auswählen kann. Man, ich hasse solche Kerle. Ich hasse sie wirklich.“   In diesem Moment rauschte in einer der Kabinen die Spülung. Die Tür öffnete sich und ein dunkelhaariger, sonnengebräunter Typ kam heraus. Er trug eine enge Jeans und ein schwarzes Tanktop, das mehr von seinem Oberkörper entblößte als verdeckte. Als er sie im Gang stehen sah, lächelte er. „Sorry, ich wollte nicht lauschen, aber ihr wart kaum zu überhören, also …“ Er zögerte kurz und Nathan war sich bewusst, dass er sie abcheckte. Und dass Marvin wie so oft durchfiel. Trotzdem wankte das Lächeln nicht. „Also, wenn ihr wollt … ich bin mit ein paar Freunden da. Alles ganz gechillt. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr euch ja zu uns gesellen.“   Marvin sah Nathan an. Es war offensichtlich, dass ihm der Typ gefiel. Nathan hätte seinen Freund gerne vorgewarnt, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte, ohne unhöflich zu werden. Marvins Gesichtsausdruck wurde dringender. „Klar, warum nicht“, meinte Nathan schließlich und folgte dem Lächler, der sich ihnen als Jomar vorstellte, zu einem Tisch, wo bereits einige andere Männer auf ihn warteten. Der Empfang war herzlich und Nathan merkte, wie seine Bedenken langsam in sich zusammen sanken, als einer von ihnen fast augenblicklich anfing, mit Marvin zu flirten. Der bärtige Riese mit Namen Felipe machte Marvin Komplimente, nannte ihn „Gordito“ und es war offensichtlich, dass er mehr als interessiert war. Marvin wurde glatt zwei Zentimeter größer. Und als Felipe ihn dann noch mit auf die Tanzfläche nahm, war es klar, wo die beiden heute Nacht landen würden. Nathan sah ihnen nach und seufzte halb in seinen Drink. „Was ist mit dir? Möchtest du auch tanzen?“   Jomar war neben Nathan an die Reling getreten. Sein Bein streifte Nathans Hüfte und ein Arm legte sich wie von selbst um Nathans Taille. Nathan spürte die fremde Haut an seiner, den warmen Atem an seinem Hals. „Ich, äh, nein … ich … ich tanze nicht“, versuchte er sich herauszureden. Er begann zu schwitzen. Es war warm in dem Club. Die vielen Menschen, die Scheinwerfer. Mit jeder Minute stieg die Luftfeuchtigkeit. Als hätte jemand die Klimaanlage abgestellt. Nathan fühlte einen Tropfen seine Armbeuge hinabrinnen.   „Ach nein?“, murmelte Jomar. Das dunkle Timbre seiner Stimme brachte Nathans Trommelfell zum Vibrieren. „Ich könnte mir vorstellen, dass du ein ganz passabler Tänzer bist. Lässt du dich gerne führen?“ Er war jetzt so nahe, dass Nathan die vollen Lippen fast schon auf seinen spüren konnte. Den Geschmack von Limonen und Pfirsichen oder was auch immer in Jomars Drink gewesen war, auf seiner Zunge schmecken. Das Salz, den Schweiß, den Geruch von Safran, Ambra und Kardamom. Stark, sinnlich. Ein dunkles Versprechen. Dunkel wir Jomars Augen, die ihn fragend ansahen.   „Möchtest du noch etwas trinken?“   Nathan zögerte. Sein Blick glitt zur Tanzfläche. Im Getümmel entdeckte er Marvin und Felipe, die ungeachtet der Szenerie auf Tuchfühlung gegangen waren. Immer wieder beugte sich Felipe zu Marvin herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Marvins Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es etwas Versautes. Auch die anderen beiden, die mit ihnen am Tisch gestanden hatten und deren Namen Nathan schon wieder entfallen waren, rieben sich im Takt der Musik aneinander. Allein sie zu beobachten fiel vermutlich schon unter Vorspiel. Dabei sah das Ganze trotzdem elegant und nicht in geringster Weise plump aus, wie Nathan neidlos anerkennen musste. „Und? Noch einen Drink?“, wisperte es ganz nah an seinem Ohr. Für einen Moment war Nathan versucht nachzugeben. Wenn er noch ein wenig mehr trank, würde er vielleicht heute Nacht doch noch in Jomars Armen enden. Happy End garantiert. Er war sich sicher, dass Jomar ein aufmerksamer Liebhaber war. Es wäre so leicht, sich wenigstens für eine Nacht zu verlieren. Niemand würde ihn dafür verurteilen. Er konnte Spaß haben. Unverbindlichen Spaß, ernstgemeinten Spaß. Er war ein freier Mann und konnte tun und lassen, was ihm beliebte. Trotzdem wollte das „Ja“ einfach nicht über seine Lippen kommen.   „Ich … ich kann nicht. Tut mir leid.“   Er machte sich von Jomar los, ließ ihn stehen und flüchtete in Richtung Tanzfläche. Wieder kam er nur mit Schwierigkeiten ans Ziel. Als er es endlich geschafft hatte, strahlte Marvin ihn an. Bevor Nathan es verhindern konnte, war ihm sein Freund um den Hals gefallen. „Hey, Nate! Komm, tanz mit uns“, rief er und wippte von rechts nach links wie ein aufgeregter Gummiball. Nathan lächelte etwas gequält und löste Marvins Arme wieder von seinen Schultern. „Tut mir leid, Kumpel, ich muss los. Hab morgen noch einen Haufen Arbeit vor mir. Du kommst zurecht?“ Er warf einen fragenden Blick in Felipes Richtung. Der legte besitzergreifend die Hand auf Marvins Hüfte und zog ihn wieder näher an sich. Marvin grinste und rieb seinen Hintern auf höchst eindeutige Weise an Felipes Schritt. „Klar. Ich verstehe zwar nur die Hälfte von dem, was er sagt, aber es klingt wahnsinnig sexy. Also ja, ich komme zurecht.“   Ein kleines Lächeln schubste Nathans Mundwinkel nach oben.   „Gut. Ich ruf dich an, ja? Essen wir Montag zusammen im Sam’s?“ „Klar, machen wir doch immer.“   Über ihren Köpfen begann die nächste Nummer. Ein langsames Lied. Das Licht wurde gedämpft und Nathan wurde sich einmal mehr bewusst, dass er hier mehr als fehl am Platz war. Schon spürte er, wie sich eine Hand auf seinen Hintern legte. Entschlossen schob er sie weg. Er musste dringend hier raus. „Also gut, ich geh dann mal. Viel Spaß, Jungs! Und immer schön safe bleiben.“   Noch einmal flüchtete Nathan, während Felipe seinen besten Freund bereits wieder in Beschlag nahm. Die beiden würden sicher eine Menge Spaß haben, da war Nathan sich sicher. Er hingegen …   Nur nicht drüber nachdenken, schalt er sich selbst, holte seine Jacke von der Garderobe und bahnte sich den Weg durch die feiernde Meute nach draußen.       „Bitte von den Türen zurücktreten.“   Nathan schreckte hoch. Er schnellte aus seinem Sitz und hechtete in Richtung Ausgang, doch zu spät. Nur Zentimeter vor seiner Nase trafen sich die zwei U-Bahntüren mit einem fast schon höhnischen Zischen. Es gab einen Ruck, der ihn fast das Gleichgewicht kostete, und im nächsten Moment bewegte sich der Bahnsteig vor seinen Augen entgegen der Fahrtrichtung davon.   „Nächster Halt Junction Boulevard“, verkündete eine freundliche Frauenstimme über seinem Kopf.   „Fuck!“ Nathan ballte die Hand zur Faust. Damit hatte er nicht nur eine, sondern gleich zwei Haltestellen verpasst. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Bis zur nächsten Station schienen Stunden zu vergehen.   Endlich hielt der Zug wieder. Nathan war einer der ersten, die den leeren Bahnsteig betraten. Während die wenigen Fahrgäste, die ebenfalls hier ausgestiegen waren, zielstrebig in verschiedene Richtungen davon eilten, trat Nathan zum Fahrplan. Er suchte nach einer passenden Verbindung für die Rückfahrt und fluchte gleich noch einmal. Er hatte die Bahn knapp verpasst und um diese Zeit würde es eine halbe Stunde dauern, bis die nächste kam. Schon merkte er, wie die Kälte unter seine viel zu dünne Jacke zu kriechen begann. Fröstelnd zog er die Schultern hoch und zwängte die Hände in die viel zu kleinen Taschen seiner engen Jeans.   Na gut, dann laufe ich eben. Dabei wird mir schon warm werden.     Bereits auf den letzten Stufen der Treppe wurde Nathan klar, dass das hier eine dumme Idee gewesen war. Die Straßen um ihn herum waren menschenleer und bis zu seiner Wohnung waren es fast 20 Blocks.   Ein Taxi kann ich mir nicht leisten.   Zumindest nicht, wenn er den Rest der Woche nicht nur von Haferflocken und Sojamilch leben wollte.   Vielleicht bin ich schneller, wenn ich durch die Wohngebiete gehe.   Ein Blick auf die App in seinem Handy bestätigte ihm, dass er so mindesten zehn Minuten sparen konnte. Er musste sich nur an die Richtungsanweisungen auf dem Bildschirm halten.   Dann los, versuchte er sich selbst Mut zu machen, bevor er in der Gewirr der Straßen eintauchte. Es würde schon nicht so schlimm werden.     Binnen kürzester Zeit hatte Nathan vollkommen die Orientierung verloren. Wäre da nicht das kleine, leuchtende Display gewesen, er wäre vermutlich tagelang hier herumgeirrt. Namenlose, immer gleich aussehende Fassaden säumten seinen Weg nur ab und an unterbrochen von einem Ein-Dollar-Laden, einem asiatischen Imbiss oder einem Waschsalon. Geparkte Autos rechts und links der Straßen machten klar, dass jemand zu Hause sein musste, doch die meisten Lichter waren bereits erloschen. Es war dunkel und kalt.   Der Wind frischte auf und brachte die Blätter der Bäume am Straßenrand zum Rauschen. Nathan hob den Kopf. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, etwas gehört zu haben. Es schien aus den Schatten der Tiefgarage zu kommen, die rechts des Wegs lag. Das Haus, zu dem sie gehörte, war verlassen. Leere Fensterrahmen starrten auf Nathan herab und ein gelbes Absperrband warnte jeden davor, das unter Sanierung stehende Gebäude zu betreten. Ein Absperrband, das an einer Stelle lose und zerrissen herunterhing. Die zerfetzten Enden bewegten sich leise raschelnd im Wind.   „Was zum …“   Ein erneutes Geräusch ließ Nathan herumfahren. Für einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, dass hinter ihm jemand stand, doch da war niemand. Dafür hörte er wieder etwas. Es klang wie ein Knurren. Oder war es eher ein Fauchen? Nathan war sich nicht sicher, aber was immer das Geräusch verursacht hatte, versteckte sich offenbar in dieser Garage. Und ihm war ziemlich offensichtlich nicht gelegen daran, dass Nathan oder irgendwer anders es störte. Ein Wunsch, den Nathan nur zu gerne erfüllte.   Mit leicht zitternden Fingern hob er sein Handy. Darauf war zu lesen, dass er nur noch zehn Minuten von zu Hause entfernt war. Wenn er schnell ging, waren es vielleicht sogar nur noch acht. Dann konnte er endlich …   Ein Knacken unterbrach Nathans Gedanken. Seine Beine hatten sich schon wieder in Bewegung gesetzt, er war drauf und dran, die Straßenseite zu wechseln, um möglichst viel Abstand zwischen sich und dieses dunkle Loch zu bringen, als dieses trockene Knacken erklang. Ein Geräusch, das Nathan durch Mark und Bein ging. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört. Damals, als er vom Kletterseil gestürzt und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Diesen Moment würde er niemals vergessen. Erst recht nicht, weil ihm das mehrere Wochen mit Gips auf der Bank eingebracht hatte. Eine Bank, die er sich mit Marvin geteilt hatte, der aufgrund eines verstauchten Knöchels ebenfalls vom Sportunterricht befreit worden war. Zusammen hatten sie dort gesessen und Ryan Henderson dabei zugesehen, wie er in viel zu weiten und viel zu kurzen Shorts für den Hochsprung trainiert hatte. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, doch dem voraus war dieser fürchterliche Bruch gegangen, der Nathan einen höchst unerfreulichen Besuch im Krankenhaus und eine Lektion in „Warum es nicht ratsam ist, eine Krankenschwester zu verärgern, die einem gerade einen Gips anlegt“ eingebracht hatte. Dabei hatte Nathan nur wissen wollen, ob der Bart wirklich echt war und ob sie sich morgens genau wie sein Vater rasieren musste.   Angesichts dessen, dass diesem speziellen Knacken jetzt etwas folgte, das Nathan nur als Fressgeräusche deuten konnte, rückte Schwester Agatha auf seiner Liste von möglichen Alptraumquellen einige Plätze nach hinten. Nathans Nackenhaare sträubten sich. Das widerliche Schlürfen und Schmatzen hallte tausendfach von den Parkhauswänden wider.Noch einmal hörte er ein Knacken, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als würde jemand ein Huhn mit bloßen Händen in zwei Teile reißen. Organisch, feucht und bedrohlich. Nathans Magen begann zu rebellieren, aber seine Füße weigerten sich immer noch, sich in Bewegung zu setzen. Es war, als hätte ihn das Grauen am Boden festgenagelt. Selbst seine Gedanken bewegten sich wie durch Teer.   Ich muss hier weg.   Mit größter Anstrengung brachte er sich dazu, den Blick von der geballten Dunkelheit weg auf die andere Straßenseite zu richten. Nur langsam. Ganz langsam weg von hier, dann würde ihm auch nichts passieren. Niemand würde ihn verfolgen, niemand würde ihm wehtun. Alles würde gut werden, so lange er keine hektischen Bewegungen und vor allem keinen Lärm machte.   In diesem Moment ertönte ein heller Glockenschlag.   Nathan schrak zusammen und hätte beinahe sein Handy fallen gelassen. Ein schneller Blick auf das Display verriet ihm, dass er eine Sprachnachricht von Marvin bekommen hatte. Sein Kopf ruckte herum, während er gleichzeitig versuchte, die Nachricht beiseitezuwischen. Er brauchte die Straßenkarte. Er brauchte die Karte ganz dringend.   „Oh mein Gott, NATHAN … !“, schallte Marvins Stimme durch die dunkle Nacht. „Dieser Typ ist der absolute HAMMER. Stell dir vor, er hat doch glatt gefragt, ob ich …“   Nathans Puls überschlug sich. Hektisch hämmerte er mit dem Zeigefinger auf dem Display herum und brachte Marvin abrupt zum Schweigen. Mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen starrte er das verräterische Ding in seiner Hand an. Die Nachricht war nicht einmal halb vorbei. 2 Minuten 14 war sie insgesamt lang. Nathans Blick klammerte sich an die kleine, blaue Zahl neben Marvins lachendem Gesicht. Es half ihm zu ignorieren, dass das Schmatzen und Schlürfen in seinem Rücken verstummt war. Was immer dort in der Dunkelheit lauerte, hatte aufgehört zu fressen.   Irgendetwas krachte. Nathan wusste nicht, was es war oder woher der Laut stammte. Alles was er wusste, war, dass er im nächsten Moment rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren, obwohl er wusste, dass sie es taten. Er spürte jeden verdammten Schritt. Jeden Atemzug. Und jeder von ihnen konnte sein letzter sein.   Ein Auto hupte. Scheinwerfer blendeten auf. Die Motorhaube des aus einer Seitenstraße hervorschießenden Wagens raste auf ihn zu. Nathan wich im letzten Moment aus. Kam aus dem Gleichgewicht. Strauchelte. Stolperte über seine eigenen Füße. Hinter dem Lenkrad sah er das Gesicht des Fahrers, der ihn durch die Scheibe hindurch anschrie. Lautlos wie ein Goldfisch im Glas.   Gehetzt sah Nathan sich um. Straße, Bäume, Fenster, Dächer. Aber da war niemand. Die Straße hinter ihm war leer.   Der Motor des Wagens heulte auf. Ein ausgestreckter Mittelfinger und ein mehr als deutliches „Fuck you!“ wurden in Nathans Richtung geschleudert, bevor der Fahrer Gas gab und mit quietschenden Reifen um die Ecke bog. Nur einem Block später sah Nathan die roten Rücklichter aufflammen. Der Wagen bremste, blinkte und bog erneut ab. Dann war er verschwunden. Stille kehrte zurück, nur unterbrochen von Nathans hektischen Atemzügen und dem Rauschen der in der Ferne vorbeifahrenden Autos. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas hinter ihm her war. Hatte er sich das alles nur eingebildet?   Natürlich hast du das. Wahrscheinlich war es nur ein streunender Hund, der sich über ein paar Abfälle hergemacht hat. Du bist so ein Schisser!   Nathan wusste, dass das die Wahrheit war. Es musste so sein. Was sonst hätte in diesem Parkhaus lauern sollen? Für Monster unter dem Bett war er nun wirklich zu alt. Er wusste, dass die wahren Gefahren dort lauerten, wo man sie nicht erwartete. Im Büro, im Coffeeshop, in der Bibliothek. Da wurden aus harmlosen Mitmenschen plötzlich wild um sich schießende Amokläufer. Die Welt war völlig verrückt geworden.   Geh jetzt!   Mit Gewalt drehte Nathan sich um. Das Gefühl der verlassenen Straße in seinem Rücken, die ihn aus unsichtbaren Augen anstarrte, war ihm nicht geheuer. Trotzdem setzte er wieder und wieder einen Fuß vor den anderen, bis er zur Hauptstraße kam. Hier war mehr los. Autos, Busse. Über seinem Kopf ratterte die U-Bahn.   Ich hätte auf dem Weg bleiben sollen.   Die Erkenntnis kam zu spät. Wie so oft in seinem Leben. Das letzte Mal, als er falsch abgebogen war, war ihm Christian begegnet. Und obwohl er gewusst hatte, dass es zu gut wahr, um wahr zu sein, hatte er sich auf ihn eingelassen. Er, der unscheinbare Typ vom Catering, war dem internationalen Modell Christian Dubois aufgefallen. Er hatte sich so … besonders gefühlt. Auserwählt. Wie Cinderella in einem Märchen.   Dämliches Arschloch.   Nathan rammte den Haustürschlüssel ins Schloss und ließ sich gleich darauf selbst hinein. Der Aufzug mit dem schmiedeeisernen Gitter brauchte ewig, bis er ankam. Immerhin hatte nicht wieder jemand die Tür offen gelassen. Wenn das der Fall war, musste Nathan jedes Mal die sechs Stockwerke zu Fuß nach oben steigen. Etwas, das ihm laut Christian gut getan und sicherlich dafür gesorgt hätte, dass seine Beine sich jetzt nicht wie weichgekochte Spaghetti anfühlten.   Ich sollte wirklich mehr Sport treiben. Der Aufzug fuhr nach oben. Nathan stieg aus und war für einen Moment versucht, das Gitter offenzulassen, aber dann siegte doch die Vernunft und er verschloss es ordnungsgemäß, bevor er den Flur entlang bis zu seiner Wohnung ging.   Drinnen war alles wie immer. Seine Bücher, die Pflanzen, der Schreibtisch mit den tausenden von Notizzetteln und schließlich das gemütliche, senfgelbe Sofa, das dem Raum zusammen mit den dunkelroten Vorhängen etwas Anheimelndes gab. Christian hatte es ihm geschenkt. Ebenso wie das große Doppelbett und die neue Espressomaschine, die fast ein Drittel der Küchenarbeitsfläche einnahm.   Ich werde sie ins Wohnzimmer stellen, beschloss Nathan, während er an dem chromglänzenden Ding vorbei weiter ins Schlafzimmer und von dort ins Bad ging. Auf dem Weg schaltete er überall das Licht an, als könnte die Helligkeit die trüben Gedanken verscheuchen, die ihn heute Abend verfolgten.   Christian hatte recht. Du bist eben doch ein Spinner, dachte er, während er die Kontaktlinsen rausnahm und sie in die Aufbewahrungsschälchen bugsierte. Als er jedoch nach der Zahnschiene greifen wollte, hielt er inne. Eine volle Minute musterte er das Stück durchsichtiges Plastik, dann ließ er es zurück auf den Waschbeckenrand fallen.   Heute Abend nicht, sagte er sich und merkte selbst, wie lächerlich das klang. Trotzdem ließ er die Schiene, wo sie war. Vielleicht würde er sie sogar wegschmeißen. Ja, verdammt, das würde er. Zusammen mit all den anderen Dingen, die Christian bezahlt hatte.   Dann wirst du Montag wohl nackt bei der Arbeit erscheinen müssen. Er kicherte bei dem Gedanken. Seine Chefin würde vermutlich in Ohnmacht fallen und ihn anschließend feuern, aber vielleicht hatte er so ja eine Chance bei Dan aus der Postabteilung.   Immer noch grinsend ging er zurück ins Wohnzimmer. Bei allem Willen zur Rebellion würde er trotzdem nicht anfangen bei Licht zu schlafen. Das ging nun wirklich zu weit.   Nathans Hand tastete nach dem Lichtschalter. Er legte ihn um und sah im selben Moment in Richtung Fenster. Draußen vor der Scheibe stand ein Mann. Nathan begann zu schreien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)