Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Prolog: -------- Flandern, April 1915   Ezra rannte. Seinen Helm hatte er irgendwo auf dem Weg verloren, genau wie den Tornister, die Waffe und seine Hoffnung. Kahle Bäume säumten seinen Weg, doch er beachtete sie nicht. Fort, nur fort von dem Grauen, das er gesehen hatte und nicht wieder vergessen konnte.   Wie ein Geist war es über sie gekommen. Eine riesige, gelbgrüne Rauchwolke begleitet vom Krachen des Artilleriefeuers. An eine Ablenkung hatten sie gedacht. Ein Täuschungsmanöver, das das Annähern der fremden Soldaten verschleiern sollte. Mit dem Gewehr im Anschlag hatten sie gelauert, dass der Feind aus den dicken Schwaden auftauchte und sich dem Kampf stellte. Was wirklich geschehen war, hatte niemand von ihnen erwartet. Ein Stein ließ Ezra stolpern und stürzen. Haltlos rutschten seine Hände über den schlammigen Boden. Ein scharfer Schmerz durchbohrte sein linkes Knie. Fluchend rappelte er sich auf. Der Stoff seiner Uniformhose nass und dunkel. Weiter, nur weiter. Weg von dem Horror, den verzerrten Gesichtern. Blau, rot und schwarz angelaufen. Mit Schaum vor dem Mund, die Augen weit aufgerissen und aus den Höhlen quellend. Stotternd, sabbernd, keuchend und röchelnd. Mit blutig gekratzten Kehlen, als hätten sie versucht sie zu öffnen, bevor sie zu Boden stürzten. Ihre Kameraden über sie hinweg trampelnd auf der Flucht vor dem lautlosen Tod. Die meisten hatten es nicht geschafft.   Ein Waldstück tauchte am Horizont auf. Dort würde er in Sicherheit sein, wenigstens eine Weile lang. Bis er wieder zu Kräften gekommen war. Bis der Sturm sich gelegt hatte. Bis sie nicht mehr nach ihm suchten. Irgendwann. Humpelnd setzte Ezra seinen Weg fort. Im Schlamm blieb ein blutiger Abdruck zurück.     Ein Geräusch ließ Ezra aufhorchen. Finster war es geworden, sodass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Der Wind ließ die Wipfel der Bäume um ihn herum rauschen und knarren. Er überdeckte jedoch nicht das Hufklappern und das Scharren der Kutschenräder, das sich ihm eilig von hinten näherte. Wer immer dort unterwegs war, meinte es nicht gut mit Pferd und Wagen.   Schnell schlug Ezra sich in die Büsche. Es knackte unter seinen Füßen, altes Laub raschelte und Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Endlich fand er einen Baum, der breit genug war, um ihm Deckung zu bieten. Ohne zu zögern bezog er dahinter Stellung, presste sich gegen den Stamm und lauschte.   Die Geräusche kamen näher. Schon konnte er das Stampfen und Schnauben der Pferde hören. Nicht lange, und sie würden in Sichtweite kommen. Vorsichtig lugte er um den Baum herum. Viel erkennen konnte er nicht. Nur eine einzige, trübe Lampe neben dem Kutschbock beleuchtete das Gespann, das von zwei riesigen, schwarzen Kaltblütern gezogen wurde. Als es näher kam, zügelte der Fahrer die Tiere.   „Ho!“   Nur wenige Meter entfernt blieb die Kutsche stehen. Der Kutscher saß nach wie vor auf dem Bock und rührte sich nicht. Da plötzlich ging die Tür auf und Ezra konnte eine Stimme aus dem Inneren hören. „Geh nachsehen“, sagte sie.   Eindeutig eine Frau.   Ezra entspannte sich. Das Gefährt war offenbar nicht auf der Suche nach ihm. Harmlose Reisende, die …   „Bist du sicher?“, fragte ein Mann zurück. Seine Stimme klang jung und ein wenig heiser.   „Ja. Er ist hier. Ich habe es gespürt. Geh!“   Die Stimme duldete keinen Widerspruch. Ezra spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Da war etwas faul. Warum hatten sie ausgerechnet hier angehalten? Wen suchten sie?   Noch einmal wagte er einen Blick zu dem seltsamen Gefährt. Die Tür der Kutsche stand jetzt offen und erlaubte einen Blick in das beleuchtete Innere. Dick mit rotem Samt ausgepolsterte Sitze boten ausreichend Komfort auch für längere Reisen. Goldfunkelnde Ornamente ließen sie kostbar aussehen. Dem tadellosen Zustand nach zu urteilen hatten ihre Besitzer Geld. Viel Geld. Doch was wollten sie hier mitten in der Nacht im Wald?   „Hab ich dich.“   Ezra wirbelte herum, doch er war nicht schnell genug. Eine Hand packte ihn an der Kehle und schleuderte ihn mit dem Rücken gegen den Baum. Zwei leuchtende, blaue Augen funkelten ihn aus der Dunkelheit heraus an.   „Mutter wünscht dich zu sehen.“   Ezra wusste, dass er sich wehren sollte. Ausholen, um sich schlagen, zutreten. Alles, nur nicht zulassen, dass ihn der Fremde wie ein junges Kaninchen am Genick packte und in Richtung des Weges schleifte, wo er mühelos herumgeschleudert und auf die Knie gezwungen wurde. Mit pochendem Herzen und zitternd wie Espenlaub kniete er im Matsch. Eine sanfte Frauenstimme erklang irgendwo über ihm. „Darnelle, lass ihn los. Du siehst doch, dass er Angst hat.“   Die Hand in seinem Nacken wich. Ezra wagte nicht, den Kopf zu heben. „Sieh mich an, Junge.“   Süßer Zwang schob sich unter sein Kinn und hob es an, sodass er jetzt sehen konnte, wer mit ihm sprach. Ezra stockte der Atem. Die Frau war unbeschreiblich schön. Weiße, makellose Haut, tiefschwarze Haare, die sich in glänzenden Strähnen um ihre Schultern legten, und ein roter, voller Mund, der von Süße und Sünde sprach. Ezra konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Erst, als sie zu lächeln begann, löste er seinen Blick und sah ihr in die Augen.   „Woher kommst du, Junge?“   Ezra wagte nicht zu antworten. Er wollte sich eine Geschichte ausdenken, dass er aus einem Dorf in der Nähe sei und sich des Nachts im Wald verlaufen habe oder etwas ähnliches, aber kein Wort kam über seine Lippen. Schließlich schnaubte der Mann in seinem Rücken belustigt. „Vielleicht versteht der arme Teufel unsere Sprache nicht.“   „Ich verstehe sie“, beeilte Ezra sich zu versichern. „Es ist nur …“ Die Worte erstarben in seinem Mund. Der dritte Fahrgast, ein gediegener Herr mit Anzug, grauem Schnurrbart und Zwicker, lehnte sich vor und betrachtete ihn.   „Nicht viel dran“, brummte er. „Kanadier, wie es aussieht. Das erklärt, warum er uns versteht.“ Die Dame – Ezra konnte sie nicht anders nennen – lächelte wieder. Der seidige Stoff ihres Kleides raschelte, als sie den Kopf ein wenig zur Seite lehnte. „Ist das so?“   Ezra nickte. Das Land, so viele Seemeilen weit weg, aus dem er gekommen war, schien plötzlich unwichtig. Der Krieg? Unwichtig. Seine schmerzenden Knie und sein knurrender Magen? Unwichtig. Nur dieses Lächeln, diese warmen, vollen Lippen, nach denen er sich sehnte, sich verzehrte, sie allein waren es wert, dass er weiter atmete. „Darnelle, hilf ihm hoch.“   Sein Begleiter packte ihn erneut und zerrte ihn auf die Füße. Erst jetzt sah Ezra sein Gesicht. Er war ein oder vielleicht zwei Jahre älter als er selbst. Rote, halblange Locken umrahmten ein schmales Gesicht und diese unheimlich blauen Augen, die Ezra schon vorhin in ihren Bann gezogen hatten. Auch sein Häscher lächelte.   „Du freust dich wohl“, wisperte er und trat dabei ganz nahe an Ezra heran. „Kannst es gar nicht erwarten, was? Ich kann hören, wie dein Herz schneller schlägt. Wie es das Blut durch deinen Körper pumpt. Schlag. Für Schlag. Für Schlag.“ Sein Atem strich warm über Ezras Hals. Er spürte die Nähe des anderen Mannes wie eine erdrückende Präsenz. Ein Stöhnen sammelte sich in seiner Kehle. Nur mit Mühe konnte er es zurückhalten.   „Wir nehmen ihn mit“, bestimmte die Dame. Der Mann, den sie Darnelle genannt hatte, knurrte. „Warum die Mühe? Lass es uns gleich hier tun.“   Ezra war geneigt, ihm zuzustimmen. „Nein. Er gefällt mir. Ich möchte ihn mitnehmen. Wer weiß. Vielleicht überrascht er uns ja.“   Darnelle war anzusehen, dass er mit der Entscheidung nicht einverstanden war, aber er fügte sich. Betont freundlich trat er von Ezra zurück und deutete mit einer leichten Verbeugung auf die offene Wagentür. „Bitte nach dir.“   Ezra war klar, dass dies keine Einladung war. Es war ein Befehl, dem er Folge zu leisten hatte. Noch ein letztes Mal bäumte sein freier Wille sich auf. „Und wenn ich nicht einsteige?“, fragte er. Darnelles Lippen zogen sich in die Breite. „Ist es wirklich das, was du möchtest?“   Die drei Passagiere der Kutsche wandten sich Ezra zu. Sie betrachteten ihn, als hätte er wirklich eine Wahl. Als würden sie respektieren, was er antwortete. Ezra schluckte.   „Wohin werdet ihr mich bringen?“ Er wusste, dass keine Förmlichkeit mehr vonnöten war. Sein Schicksal war ohnehin besiegelt. Die Dame in der Kutsche lächelte.   „Wir werden noch eine Weile weiter gen Süden reisen und dann in einem Gasthaus einkehren. Dort kannst du baden, bekommst etwas zu essen und frische Kleidung.“ „Und dann?“   Irgendetwas tief in Ezra wusste, was danach passieren würde, und doch wollte er es hören.   Noch einmal lächelte die Dame. „Dann werden wir speisen“, erwiderte sie und hob ihre Lippen das erste Mal so weit, dass Ezra ihre Zähne sehen konnte. Sie waren weiß, ebenmäßig und absolut perfekt.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)