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Zauberhafte Weihnachten

von

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Überraschungsgeschenk - Part II [Dudley Dursley]


 

Little Whinging, 2013

Dudley Dursley

 

Ausgerechnet kurz vor Weihnachten entdeckt Dudley, dass er die Magie längst nicht so weit hinter sich gelassen hat, wie erhofft, als seine dreijährige Tochter Dinge geschehen lässt, die eigentlich nicht möglich sein sollten.

Also fasst er den Entschluss, Harry um Hilfe zu fragen ...

 

***

 

Dudley überlegte einen ganzen Tag lang, was er seinem Cousin schreiben könnte. Insbesondere, wie er es so kurz fassen konnte, dass es auf die gewöhnliche Weihnachtskarte passen würde. Mit der Tür wollte er nicht ins Haus fallen.

‚Hey, weißt du, was lustig ist? Meine Tochter stellt verrückte Dinge aus dem Nichts an. So wie damals, als du diese Glasscheibe im Zoo hast verschwinden lassen. Kannst du mir nicht sagen, was ich jetzt tun soll?‘

Für diesen Text brauchte er Fingerspitzengefühl und darin war er schon immer denkbar schlecht gewesen. Er hatte es mehr mit simpler Direktheit. So hatte er auch Amelie kennengelernt, die beim Bäcker, bei dem er jeden Tag sein Mittagessen besorgt hatte, einen verzweifelten Räuber festgenommen hatte.

Dudley hatte dem Mann, der mit einer Spielzeugpistole herumgefuchtelt hatte, die Plastikwaffe aus den Händen geschlagen und in der Befragung von Amelie zu dem Vorfall war er offenbar so trocken gewesen, dass er ihr imponiert hatte. Zumindest erzählte sie das, wann immer sich die Gelegenheit bot.

Er hatte ihr seine Telefonnummer für die Akte gegeben und nachdem der Fall vor Gericht abgeschlossen war, hatte sie ihn doch tatsächlich gefragt, ob er mit ihr ausgehen würde. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit war Dudley komplett sprachlos gewesen. Nicht nur, dass ihn noch nie eine Frau um ein Date gebeten hatte, auch ihre Zielstrebigkeit dabei hatte ihn wiederum beeindruckt. Amelie war keine Person, die herumdruckste oder beschämt errötete. Sie wusste, was sie wollte und deshalb hatte er sein Herz an sie verloren.

Während er so vor der leeren Weihnachtskarte saß, wünschte er sich, dass er sie um Rat bitten könnte. Schreiben, das lag ihr. Ihr würden bestimmt die passenden Worte einfallen, um Harry höflich, aber nicht zu forsch, nach einem Treffen zu fragen. Doch bevor er seine Frau in das Elend mit der magischen Welt einweihte, wollte er sicher sein, dass Emma wirklich eine Hexe war.

Seit dem Vorfall mit dem fliegenden Plüschlöwen hatte er seine Tochter genaustens beobachtet, aber keine weitere Magie bemerkt. Trotzdem ließ er sie nur ungern mit Amelie alleine. Er hatte es sogar auf sich genommen, mit der Kleinen zu ihrer Kindertanzgruppe zu gehen, obwohl er es reichlich langweilig fand, einem Haufen Dreijähriger zuzusehen, wie sie unkoordiniert im Kreis hüpften oder unbeholfen mit den Armen wedelten. Aber solange Emma dabei nicht die anderen Kinder zum Schweben brachte, war er gerne dazu bereit, am Rand zu sitzen.

Dudley seufzte und drehte den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern. Er war dankbar dafür, nicht mit einer unpraktischen Feder schreiben zu müssen. Vermutlich würde ihm das antiquierte Schreibgerät nur abbrechen. Ehrlich, er verstand nicht, warum die Zauberer so ... umständlich waren. Ob er Emma wohl mit vernünftigen Stiften ausstatten dürfte, wenn sie schon die Zauberschule besuchen würde?

Schlussendlich entschied er sich dafür, es mit der Wahrheit zu versuchen, bevor seine Gedanken noch weiter abdrifteten. Immerhin schrieben er und Harry sich jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Ganz so übel war ihr Verhältnis nicht mehr oder? Er kritzelte die übrigen Weihnachtsgrüße auf die Karte, bevor er darunter setzte:

 

Ich glaube, meine Tochter hat ebenfalls diese magische Gabe geerbt. Neulich hat sie Gegenstände fliegen gelassen. Du weißt, ich habe keine Ahnung von deiner Welt. Können wir uns vielleicht einmal treffen? Ich würde dir Emma gerne vorstellen.

 

In seiner Ungeduld bezahlte Dudley sogar den Aufpreis für den Eilversand und hoffte, dass Harrys Antwort ihn vor dem Weihnachtsfest erreichen würde. Da waren nämlich seine Eltern eingeladen und zum ersten Mal in seinem ganzen Leben fürchtete er sich ein wenig vor dieser Begegnung. Wenn Emma ausgerechnet in deren Beisein ihre Fähigkeiten demonstrieren würde, wäre Weihnachten gelaufen.

Nein, am liebsten wollte Dudley Amelie vorher einweihen, damit sie zusammen seine Eltern davon ablenken konnten, dass Emma vielleicht doch nicht so normal und entzückend war, wie seine Mutter stets behauptete. Sie war ganz närrisch nach ihrem Enkelkind und neigte dazu, die Kleine zu verhätscheln. Wann immer einer von ihnen nicht hinsah, hatte Emma schon wieder einen Lolli oder andere Süßigkeiten in der Hand. Vor allem Amelie nervte das kolossal.

 

Die kommenden Tage kam Dudley sich vor wie ein Wachhund. Er bat sogar seine Chefin, den Weihnachtsurlaub eine Woche vorzuziehen, damit er Emma daheim im Auge behalten konnte. Auf sonderbare Art erinnerte es ihn daran, wie sein Vater einst freigenommen hatte, um Harrys Einladung nach Hogwarts abzufangen. Verrückt, wie sich die Zeiten änderten.

Amelie schien sich über die neuen Höhen seines familiären Engagements sehr zu freuen und scherzte gar, dass er jetzt wohl bereit wäre für ein zweites Kind. Doch davon wollte Dudley nichts hören; nicht solange Emma jederzeit wieder zaubern konnte.

Er war sich nicht sicher, ob er insgeheim darauf hoffte, dass es noch einmal passieren würde. Einerseits war ihm klar, dass sein Leben deutlich einfacher bleiben würde, wenn seine Tochter auf die reguläre Oberschule gehen würde und irgendeinen durchschnittlichen Beruf erlernen würde. Andererseits hatte es etwas Aufregendes, diese fremde Welt, die seine Eltern ihm immer vorenthalten hatten. Sollte Emma tatsächlich ein Teil der magischen Gesellschaft werden, würde er vielleicht endlich begreifen, was dort vor sich ging.

Zu guter Letzt hatte er allerdings auch Angst. Den Krieg und das monatelange Versteckspiel hatte er nicht vergessen. Die Auroren, wie Harry sie genannt hatte, waren mit seiner Familie von Ort zu Ort gezogen. Nie hatten sie länger als wenige Wochen verweilt, bevor die Lage zu unsicher geworden war.

Insbesondere an Weihnachten, erinnerte Dudley sich, war ihnen keine Zeit geblieben für ein gemütliches Fest. Mehrere Male waren sie gemeinsam mit ihren Beschützern auf diese übelkeiterregende Art und Weise gereist, bei der sich der ganze Körper ins Nichts auflöste und wie durch einen engen Schlauch an den Zielort geschickt wurde. Er hasste das und wollte es nie wieder erleben, egal wie schnell man so an sein Ziel kam. Es war nicht ungefährlich, denn an jenem Weihnachtstag hatte er eine halbe Augenbraue zurückgelassen, die bis heute nicht richtig nachgewachsen war.

Dudley wollte nicht, dass Emma diese Dinge erleben würde. Aber so weit er wusste, war zumindest dieser Verrückte, der seinen Cousin damals gejagt hatte, im Krieg getötet worden und seitdem herrschte wohl Frieden. Wenn Harry sich meldete, würde er ihn in jedem Fall danach fragen.

Zu seiner Enttäuschung passierte die Tage hinüber nichts. Er baute einen zweiten Schneemann mit Emma im Garten, beobachtete sie dabei, wie sie versuchte, Schneebälle zu formen und ihn damit abzuwerfen, und er las ihr unzählige Geschichten aus ihrem Lieblingsweihnachtsbuch vor. Dudley bereute nicht, sich die Zeit genommen zu haben, doch er fragte sich, ob seine Nachricht an Harry nicht etwas übereilt gewesen war.

Die Antwort bekam er schließlich zwei Tage vor Weihnachten, als unerwartet das Telefon klingelte. Dudley rechnete mit vielem, aber nicht mit Harry. Es traf ihn vollkommen unvorbereitet, plötzlich die verzerrte Stimme seines Cousins zu hören.

Harry schlug ihm einen kleinen Laden in London vor, wo sie sich treffen könnten. Nach Little Whinging kommen wollte er nicht und Dudley konnte ihm das nicht einmal vorwerfen. An seiner Stelle wäre er wohl auch froh, weit weg von dem Ort zu sein.

Die Zugfahrt war ein wahres Spektakel für Emma. Sie klebte mit der Nase an der Scheibe und unterhielt das ganze Abteil mit ihren Ausrufen, wann immer sie ein Tier auf einer Weide sah. In London angekommen, war Dudley bereits völlig ausgelaugt, dabei stand ihm das Schlimmste noch bevor.

Der Laden, den sein Cousin ausgesucht hatte, war ein helles Café, das von außen vollkommen gewöhnlich anmutete. Kein komischer Zaubererladen, in dem alle mit Roben herumliefen. Dachte er zumindest. Als er eintrat und einer Bedienung sagte, dass der Tisch auf den Namen Potter reserviert war, führte diese ihn eine Treppe hinauf in ein Hinterzimmer, in dem Dudley zunächst die schwebende Weihnachtsdekoration auffiel.

Emma quietschte vergnügt und zeigte auf den verzauberten Schnee, der von der Decke fiel und sich über den Köpfen der Leute – in Roben! – einfach ins Nichts auflöste. »Papa, guck! Schnee! Will Schneemann bauen!«

Dudley seufzte ergeben und nahm die Kleine auf den Arm. »Em, wir können hier keinen Schneemann bauen«, erklärte er geduldig, während seine Tochter sich auf seinem Arm wand, um all die schwebenden Dekorationen anzusehen, die Dudley mit eisernem Willen ignorierte.

Das hatte sein Cousin doch mit voller Absicht getan! Warum hatten sie nicht einen normalen Laden besuchen können? Oder zumindest einen, wo nichts in der Luft schwebte? Skeptisch wich Dudley einem fliegenden Schlitten aus, der Emma zu einem Jauchzer animierte.

Harry saß bereits an dem Tisch, zu dem die Bedienung ihn führte. Am liebsten wäre Dudley stehengeblieben und hätte seinen Cousin einen Moment bloß angestarrt. Sie hatten sich lange nicht gesehen, mehrere Jahre. Das Erste, was Dudley auffiel, waren die Haare, die immer noch so unordentlich wie früher waren, und die Brille mit den runden Gläsern. Aber er war erwachsen geworden, genauso wie Dudley. Und er hatte seine Tochter dabei, ein kleines Mädchen, das nur wenig älter als Emma erschien. Sie sah ihm mit ihren roten Haaren kaum ähnlich.

Betreten verlangsamten sich Dudleys Schritte, bis Harry ihn schließlich erspähte. Für einen unangenehm langen Moment sahen sie einander einfach stumm an, ehe Dudley ein ungelenkes »Hey« hervorbrachte.

Sein Cousin nickte ihm zu. »Hallo Big D.«

Der alte Spitzname entlockte Dudley ein halb amüsiertes Schnauben. »So hat mich schon lange niemand mehr genannt.«

Harry grinste leicht. »Tja, ich habe das nicht vergessen.« Sein Blick wanderte zu Emma. »Das ist also deine Tochter?«

»Ja. Das ist Emma.« Die Aufmerksamkeit der Kleinen haftete immer noch auf dem fliegenden Weihnachtsschlitten, selbst als Dudley sie auf einem Stuhl absetzte.

»Meine Rückendeckung heißt Lily«, erklärte Harry und deutete auf das rothaarige Mädchen neben ihm, das artig eine Hand hob und Dudley zuwinkte. »Allzu weit sind sie ja nicht auseinander oder? Lily ist jetzt viereinhalb.«

»Emma ist drei.«

»Mh.«

Schweigen stellte sich ein. Nervös sah Dudley auf die Karte hinab, die vor ihm lag. Gab es in diesem Laden überhaupt etwas Gewöhnliches zu essen? Was aßen Zauberer eigentlich? Binnen Sekunden drängten sich ihm zig Fragen auf, über die er nie zuvor nachgedacht hatte.

Doch ein Blick auf die Karte ernüchterte ihn – es gab nichts, was es nicht auch in einem normalen Café gegeben hätte. Er bestellte sich einen schlichten Kaffee und einen Apfelsaft für Emma, dann sah er vorsichtig wieder zu Harry hinüber.

»Also ähm ... wie geht’s dir und deiner Frau?«

»Gut. Wirklich ... gut. Und euch?«

»Auch. Was macht der Job?«

»Kann nicht klagen. Gut zu tun. Und bei dir?«

»Ja, ebenso. Aber jetzt ist Urlaub.«

Der Kaffee kam und Dudley schlang seine großen Hände haltsuchend um die heiße Tasse. Emma tat sich schon deutlich leichter als er, sie erzählte Lily bereits irgendeine Geschichte von fliegenden Löwen – und erinnerte Dudley daran, weshalb er hier war.

»Du glaubst also, dass sie zaubern kann«, kam Harry unverwandt auf das Thema zu sprechen.

»Ja, schon.« Dudley erzählte ihm alles, von den verbogenen und abgebrochenen Löffeln zu dem fliegenden Stofflöwen. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, endete er schließlich matt. »Das war nicht normal.«

»Hmm«, brummte Harry nur und nahm einen Schluck von seinem eigenen Kaffee. »Normal ist ohnehin ein komisches Wort. Was ist schon ‚normal‘? Es wäre auf jeden Fall ein seltener Zufall, wenn Emma diese Gabe hat. Aber nicht undenkbar, immerhin war meine Mutter ebenfalls eine Hexe. Möglich, dass gewisse Gene in der Familie weitergegeben wurden, auch wenn deine Mutter selber nicht zaubern kann.«

»Also ... gibt es einen Test oder so?«

Harry schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt ein magisches Register, das jedes Jahr die Namen der Kinder auflistet, die des Zauberns mächtig sind, damit diese eine Einladung nach Hogwarts bekommen. Die meisten ‚Tests‘ zur Bestimmung der magischen Fähigkeiten sind ausgemachter Humbug. Aber wenn das, was du erzählst, stimmt, dann ...« Er deutete einen Zauberstabschlenker mit der Hand an, »hast du wohl recht und deine Tochter ist eine Hexe.«

Dudley stierte einen Moment in die Tiefen seiner Tasse. »Aber ... was mache ich jetzt? Irgendwas muss man doch tun können!«

»Nun, ja ...« Sein Cousin schnitt eine Grimasse. »Als Muggel kannst du nicht wirklich etwas ausrichten, fürchte ich. Konnten deine Eltern auch nicht.«

Irgendwie hatte er das ja befürchtet, doch trotzdem war die Wahrheit ein harter Schlag. Dudley musterte Emma, die völlig glücklich mit Lily eine Runde ‚Ich sehe was, was du nicht siehst‘ zu spielen schien.

»Wie – wie macht ihr das mit euren Kindern? Ist es einfach ... egal?«

»Nein.« Harry lächelte kaum merklich. »Hin und wieder halten sie uns ordentlich auf Trab. Aber wir haben unsere Wege, manche Dinge wieder ungeschehen zu machen.« Er hob entschuldigend die Schultern.

»Verstehe.« Dudley nahm einen Schluck Kaffee, während seine Gedanken durcheinanderpurzelten. Das war nicht unbedingt, was er sich erhofft hatte. In den letzten Tagen bis zu dem Treffen hatte er wirklich darauf gehofft, dass er zumindest Gewissheit erhalten würde. Oder vielleicht irgendein Mittel, das verhinderte, dass Emma demnächst vor allen Augen etwas fliegen ließ.

Schweigen breitete sich erneut am Tisch aus. Harry sah genauso wie Dudley in seine Kaffeetasse hinab und schien eigenen Gedanken nachzuhängen. Unvermittelt fragte Dudley sich, ob er wohl daran dachte, wie erbost seine Eltern gewesen waren, als Harry die Einladung in diese Zauberschule bekommen hatte. Ein klein hatte er damals Neid empfunden, denn irgendwo war die Vorstellung schon cool, Dinge fliegen zu lassen oder andere zu verzaubern.

»Papaaa«, durchbrach Emma quengelnd seine Überlegungen, »Papaaa, langweilig!« Sie zupfte an seinem Ärmel und sah ihn aus Hundeaugen an.

Harrys Tochter hingegen saß immer noch artig an ihrem Platz, auch wenn die Langeweile ihr ebenso ins Gesicht geschrieben stand.

»Em, jetzt nicht. Du siehst doch, dass Papa sich gerade unterhält. Sei lieb, ja?«

Ihm entging nicht, dass sein Cousin nun noch breiter lächelte. Vermutlich empfand er es als gerechte Ironie des Schicksals, dass Dudley so eine widerspenstige Tochter hatte. Ihm kamen wieder die ganzen Ungerechtigkeiten Harry gegenüber in den Sinn, an die er in den letzten Tagen so oft gedacht hatte. Auch ein weiterer Schluck Kaffee spülte diese bitteren Gedanken nicht fort.

»Papaaa«, schimpfte Emma weiterhin, »das schmeckt nicht!« Sie hatte ihre kleinen Arme vor der Brust gekreuzt und sah böse auf ihren Apfelsaft. »Ich will Kakao!«

Harry grinste inzwischen regelrecht. Kein Wunder, seine Tochter benahm sich vorbildlich.

»Nein Emma, du hattest schon heute Morgen Kakao. Entweder, du trinkst deinen Apfelsaft oder nichts.«

Dudley sah seinen Cousin entschuldigend an. »Verzeih ... sie hat ihren eigenen Kopf. Ich weiß, was du denkst, aber das hat sie auch von ihrer Mutter.«

»Jaaah«, meinte Harry leichthin, »ich glaube auch, sie kommt ganz nach der Mutter.«

Etwas an seinem Tonfall brachte Dudley zum Schmunzeln. »Okay, vermutlich hat sie auch viel von mir. Das mit dem Zaubern anscheinend irgendwie ...«

Er seufzte. Vielleicht war es zumindest an der Zeit für eine Entschuldigung. Doch bevor er etwas sagen konnte, gab Harrys Tochter ein verdächtig schadenfrohes Kichern von sich. Irritiert wanderte Dudleys Blick über den Tisch, nur um festzustellen, dass Emma nicht länger vor ihrem Glas Apfelsaft schmollte, sondern jetzt einen Kakao schlürfte.

Weder er noch Harry sagten etwas. Beide starrten nur das kleine Mädchen an, das völlig ungerührt ihr Glas absetzte, einen richtigen Kakaobart im Gesicht. »Lecker!«, verkündete sie selbstzufrieden.

Harrys Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Oh verflucht, du hast wirklich recht mit dem Zaubern!«

»Was meinst du, warum ich dir geschrieben habe? Ich weiß genauso gut wie du, dass wir beide uns nicht treffen wollten. Eine Karte zu Weihnachten, das war der Deal. Damit sind wir gut gefahren. Wenn es nicht wegen Emma wäre, hätte ich dich nicht um ein Treffen gebeten. Mir fällt das alles hier«, Dudley deutete auf die schwebende Weihnachtsdekoration, »sicher nicht einfach. Es ist einfach ... unglaublich. Mein ganzes Leben lang hat man mir erzählt, dass ich hiervor Angst haben muss! Glaub mir, ich wäre wirklich gerne woanders in diesem Moment.«

Schwer atmend wandte Dudley den Blick zu Emma, die ihn besorgt aus ihren großen Augen ansah. Er lächelte ihr zu und strich ihr über die Locken. Schon strahlte sie wieder und trank einen weiteren Schluck aus ihrem Kakaoglas, das sie eigentlich nicht haben sollte.

Sein Cousin nahm einen langen und tiefen Atemzug. »Hast du denn Angst davor?«

Dudley zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Alles, woran ich denken muss, sind die Monate, in denen wir vor einem irren Zauberer geflohen sind, einmal quer durchs Land. Wer sagt mir, dass so etwas nicht noch einmal passiert? Ja, wahrscheinlich habe ich Angst, dass Emma in so einen Krieg hineingezogen werden könnte.«

»Ich glaube, davor hätte jeder Angst. Aber was ist mit ...«, jetzt war es an Harry, zu der Dekoration zu deuten, »mit diesen Dingen. Harmlosen Zaubereien? Ich meine ... deine Eltern-«

»Schon gut«, unterband Dudley seine Erklärungen. »Nein, davor habe ich keine Angst – mehr.«

Harry nickte erneut. Er sah zu den beiden Kindern, dann wieder zu Dudley. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht wirklich helfen kann. Ich würde es nämlich wirklich gerne tun. Aber ich kann dir nur anbieten, dass ich von meiner Welt erzähle. Was auf euch – Emma – zukommen wird. Wie heißt es noch – Vorbereitung ist die halbe Miete?«

Dankbar nickte Dudley. »Das würde mir sehr helfen. Aber vorher muss ich noch etwas loswerden, denke ich. Also, was die Sache mit meinen Eltern und überhaupt alles angeht ...« Er sah an Harry vorbei auf den fallenden magischen Schnee. »Ich bin dir eine Entschuldigung schuldig. Für ... einfach alles.« Sein Blick wanderte zurück zu seinem Cousin und er sah ihm fest in die Augen. »Es tut mir wirklich leid, wie ich zu dir war. Ich war ein furchtbares Kind und ein noch viel schlimmerer Cousin. Ich kann sicher nicht ungeschehen machen, was ich oder meine Eltern falsch gemacht haben, aber ich will zumindest, dass Emma eine faire Chance hat. Sie kann nichts dafür.«

Hastig sah Dudley wieder fort, zu dem Weihnachtsmannschlitten über ihren Köpfen. Die Worte waren nicht so herausgekommen, wie er sich das erhofft hatte, und nun hing seine gestammelte Entschuldigung in all ihrer Seltsamkeit zwischen ihnen in der Luft wie eine traurige Regenwolke inmitten all des zauberhaften Schnees.

Bedächtig räusperte Harry sich. Er sah Dudley ebenso wenig an. »Danke«, sagte er unerwartet leise. »Du hast recht, das macht es nicht ungeschehen, aber trotzdem ... besser. Ich weiß nicht, ob ich deinen Eltern je vergeben kann, doch du warst auch nur ein Kind. Wir sollten versuchen, es besser zu machen. Mindestens Emma zuliebe.«

Erleichterung, die sich dennoch recht unverdient anfühlte, durchflutete Dudley. Ein aufrichtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Klingt gut. Also, Harry, ich würde wirklich gerne mehr von der magischen Welt erfahren.«

Sie blieben noch Stunden in dem Londoner Café, bis die Sonne sich wieder dem Horizont näherte. Während Harry Dudley in die Geheimnisse seiner Welt einweihte und ausschweifend von dem Zauberinternat Hogwarts erzählte (alleine die Erwähnungen von verbotenen Wäldern, sich bewegenden Treppen und Geistern verursachten bei Dudley einen Schweißausbruch), freundete Emma sich zusehends mit Lily an.

Die beiden Mädchen tauschten einträglich Geschichten aus ihren jeweiligen Kindergärten aus und ihre Väter stellten fest, dass manche Dinge wohl in allen Internaten gleich waren. Auch wenn Dudley insgeheim froh war, dass er auf dem Weg zu den Klassenzimmern nicht hatte fürchten müssen, mit dem Bein in einer Trickstufe hängen zu bleiben. Oder das Passwort für den Gemeinschaftsraum zu vergessen. Das wäre ihm bestimmt passiert.

Hoffentlich kam Emma in der Hinsicht mehr nach ihrer Mutter. Vielleicht würde sie aber auch besser in ein anderes Haus passen. Hufflepuff hörte sich nett an, fand Dudley. In der Nähe der Küchen würde seine Tochter sicher glücklich werden. Letztlich war es ihm jedoch egal, solange sie gut aufgehoben sein würde.

Am Ende des Treffens schwirrte ihm der Kopf von all den unglaublichen Sachen, die Harry ihm erzählt hatte. In manchen Teilen hatte er seine Ängste beruhigt, dafür hatte Dudley jetzt hunderte neue Sorgen, was Emma alles drohen könnte. Er hatte keine Illusionen, die magische Welt war garantiert nicht ungefährlich. Die ganzen Dinge, die offenbar mit Zaubertränken passieren konnten (angeschwollene Gliedmaßen beispielsweise), waren ihm jedenfalls nicht geheuer. Wobei man mit gewissen Laugen im Labor, wo er arbeitete, natürlich genauso vorsichtig umgehen musste. Aber da waren immerhin keine Elfjährigen anwesend ...

Emma schlief auf der Rückfahrt erschöpft ein und so hatte Dudley genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen. Was immer kommen würde – für seine Tochter wollte er nur das Beste. Wehmütig sah er zu ihr hinab, wie sie den Kopf gegen seinen Arm gelehnt hatte und selig träumte. Vermutlich hatte er dieses Weihnachten ein eher unerfreuliches Geschenk für seine Eltern.

 

Am Vorabend des Weihnachtsfestes hatte Dudley immer noch keinen Moment gefunden, um Amelie in sein – und Emmas – Geheimnis einzuweihen. Er hatte es versucht, doch nachdem sie unerwartet aus ihrem Urlaub gerissen worden war, um auf dem Revier auszuhelfen, da es einen bewaffneten Überfall auf eine Tankstelle gegeben hatte, wollte er sie nicht zusätzlich belasten. Also wartete er auf eine neue Chance, die sich nicht ergab.

Inzwischen hatten sie den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer aufgestellt und umgeben von allerhand Pappkartons voller Dekoration diskutierten sie darüber, welche Farbe in diesem Jahr vorherrschen sollte. Dudley gefiel das klassische Rot, denn so war es daheim immer gewesen, Amelie hingegen mochte Blau lieber. Emma entschied schließlich, dass Bunt genau die richtige Kombination war, indem sie wahllos hübsche Anhänger aus den Kartons pflückte und an die untersten Zweige hängte, bis diese sich dem Boden entgegen bogen.

»Ach Em«, schmunzelte Amelie, »ein paar Sachen müssen auch noch für oben übrig bleiben, meinst du nicht?«

»Aber Mama, ich komm‘ da nicht an«, beschwerte Emma sich. »Aber ich will auch schmücken!«

»Ich kann dir helfen und ein paar Sachen an die Zweige ganz oben hängen. Mama ist ja schon groß.«

Emma zog die Augenbrauen kritisch zusammen. »Nein, ich will das machen!«

Amelie seufzte und warf Dudley einen Blick von der Sorte ‚Warum haben wir uns das nur angetan?‘ zu. Amüsiert schüttelte er den Kopf mit einem ‚Ich weiß es doch auch nicht, aber ich liebe sie‘ Ausdruck im Gesicht.

Eine Weile lang stellte sich Emma stur, bis sie sich schließlich von Dudley auf den Arm nehmen ließ, um ein paar Sterne auf die oberen Zweige zu hängen. Nur die goldenen Glaskugeln wollte Amelie ihrer Tochter nicht geben. Immerhin hatte die Kleine so schon genug damit zu kämpfen, die Schlaufen über die Äste voller Tannennadeln zu schieben.

Beleidigt kreuzte Emma mal wieder die Arme vor der Brust und meckerte darüber, dass sie ja auch schon groß sei. Doch Amelie blieb eisern und stellte den ganzen Karton mit den Glaskugeln auf einen hohen Schrank, weiter außer Reichweite ihrer Tochter.

Im Nachhinein hätte Dudley es kommen sehen sollen. Er kannte Emma schließlich zu gut. Aber vielleicht hatte er sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass sie kein normales Kind war. Als die erste Weihnachtsbaumkugel sich hinter Amelies Rücken aus dem Karton erhob, klappte ihm jedenfalls die Kinnlade herunter.

»Ah, Schatz, was hältst du von, ähm ...«, er griff sich hastig einen hässlichen Schneemannanhänger, den seine Mutter irgendwann mal angeschleppt hatte, »dem hier?«

Ganz wie bei ihrer Tochter, zogen sich auch Amelies Augenbrauen kritisch zusammen. »Dud, das ist nicht dein Ernst oder? Das Ding? Das ist potthässlich!«

Wenigstens bemerkte sie so nicht, dass hinter ihr eine Dreierkette aus goldenen Kugeln in Richtung Baum schwebte. Dudley warf einen schnellen Blick zu Emma, die mit grimmigem Ausdruck auf dem Boden zwischen den Kartons saß, ihre Augen unverwandt auf den Baumschmuck gerichtet. Offenbar wusste sie genau, was sie tat.

Er warf den grässlichen Schneemann zurück in den Karton und überlegte fieberhaft, wie er Amelie am besten von der Zauberei ablenkte. Sie musste ja nicht gleich einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie das erste Mal von Emmas Fähigkeiten erfuhr. Es würde hoffentlich einen schonenderen Weg geben, ihr davon zu erzählen.

Doch Amelie war vollauf konzentriert, den Baum zu schmücken. Während Dudley sie halbherzig zu verschiedenen geschmacklosen Dekoobjekten befragte, sah sie immer seltener zu ihm, bis sie genervt stöhnte.

»Dud, was ist denn los mit dir? Kannst du mal aufhören, jedes einzelne schreckliche Ding herauszusuchen, das irgendwer uns mal vor Jahren aufs Auge gedrückt hat? Du weißt doch genau, dass ich die Dinger nicht ausstehen kann!«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. So entging ihr, wie die schwebenden Baumkugeln hinter ihr klirrend gegeneinanderstießen. Trotz aller Bemühungen schien Emmas Magie auch ihre Grenzen zu kennen.

Rasch schüttelte Dudley seine Verwunderung über die Erscheinung ab. »Tut mir leid, Amelie. Ich wollte dich nur an die ganze schöne Deko erinnern, die wir so angesammelt haben. Vielleicht sollten wir mal ausmisten.«

»Ja, den Eindruck habe ich auch.«

Schon wandte sie sich zurück zum Baum, der just in diesem Moment von drei schwebenden Glaskugeln attackiert wurde. Sie riss die Augen auf wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

»Dudley?«, rief sie schrill. »Dud, siehst du das?«

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob er sich dumm stellen sollte. Doch zu spät, denn es war offensichtlich, dass die Kugeln schwebten.

»Sag mir, dass ich nicht spinne«, hauchte Amelie und stolperte ein paar Schritte vom Weihnachtsbaum zurück. Mit zittriger Hand zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und bevor Dudley überhaupt irgendwas erklären konnte, drückte sie den Aufnahmeknopf.

»Ah, Schatz ...«, stammelte er verlegen. »Ich sehe es auch.«

»Sie fliegen Dud! Sie fliegen! Das ist wie die Sache mit den Löffeln!«

Emma am Boden gluckste vergnügt. »Ich kann auch Baum schmücken«, verkündete sie. »Guck Mama!«

»Emma?«, kiekste Amelie noch schriller. »Schätzchen, was machst du da?« Sie hielt weiterhin das Handy hoch und filmte das vorweihnachtliche, magische Chaos.

Bestimmt legte Dudley seiner Frau eine Hand auf die Schulter. »Amelie, es ist in Ordnung.«

»In Ordnung?« Amelies Stimme drang in ungeahnte Höhen vor. »Sie schweben, Dud!«

»Ich weiß. Sie schweben.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ertönte ein Klirren vom Weihnachtsbaum. Anstelle der schwebenden Kugeln gab es nur noch einen Haufen goldener Scherben zu bewundern. Emma hatte sich ihren Eltern zugewandt und sah sie verschreckt an, die Augen voller Tränen.

Genau das, was Dudley nicht gewollt hatte. Er wollte es doch besser machen als seine Eltern!

Amelie war schneller als er. Sie beugte sich zu ihrer Tochter und streichelte ihr besorgt übers Haar. »Em, Schätzchen, alles in Ordnung?«

»Nicht streiten«, schniefte die Kleine.

Rasch schüttelte seine Frau den Kopf. »Nein, alles gut. Mama und Papa streiten nicht.« Sie drückte Emma einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe mich nur erschrocken, Schätzchen.«

In der Zwischenzeit kehrte Dudley die Scherben von Emmas Zaubertrick zusammen. Amelie brachte ihre Tochter hinauf in ihr Zimmer, bevor sie resolut Dudley am Arm packte und hinter sich her in die Abstellkammer zog. Der Raum war der ideale Ort im Haus, um eben doch zu streiten, die Erfahrung hatten sie bereits gemacht. Weit weg von Emmas Zimmer, sodass sie garantiert nichts mitbekommen würde.

Aber Amelie seufzte nur. Sie bedachte Dudley mit einem scharfen Blick, der einer Richterin alle Ehre machte. Er fühlte sich wie auf der Anklagebank (auch wenn er damit keine echte Erfahrung hatte) und seine massige Erscheinung schrumpfte in sich zusammen, bildlich gesprochen.

»Warum haben die Christbaumkugeln plötzlich das Fliegen gelernt?«, war die erste Frage, die seiner Frau über die Lippen kam. Kein allgemeines Wundern, kein Anzweifeln dessen, was sie gesehen hatte. Aber sie hatte ja auch einen Videobeweis. »Sieh mich nicht so an, Dud. Das war jetzt der zweite komische Vorfall in den letzten Tagen. Was ist los mit dir und Emma?«

Konzentriert las Dudley die Aufschriften auf den Rohrreinigern im Regal hinter ihr. Zumindest gab er das vor. Innerlich suchte er jedoch verzweifelt nach Worten, die ihr die Wahrheit schonend beibringen würden. Er versagte kläglich. »Das ist ... eine lange Geschichte?«

»Dann fass sie kurz.«

»Du glaubst mir ja doch nicht.« Unglücklich wanderte sein Blick von den Putzmitteln weiter zur nackten Glühbirne an der Decke, an der eine einsame Spinne ihr Netz webte.

»Ich erwarte schon, dass du mir die Wahrheit erzählst, Dud. Warum sollte ich dir nicht glauben?«

Dudley nahm einen tiefen Atemzug und sah endlich Amelie in die Augen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die Augenbrauen in einem stummen Vorwurf zusammengezogen und wie immer, wenn sie verstimmt war, biss sie sich auf die linke Wangeninnenseite.

All die Kleinigkeiten erinnerten Dudley wieder daran, wieso er Amelie liebte. Sie hatte ihn gelehrt, was dieses Gefühl bedeutete und dass es wahre Ehrlichkeit bedingte. So schwer es ihm fiel, es war an der Zeit, dass sie die Wahrheit erfuhr. Emma war schließlich auch ihre Tochter.

»Magie«, entfuhr es ihm als leiser Seufzer. »Zauberei, Hexerei, Übernatürliches ... nenn es, wie du willst.«

Amelies Augenbrauen näherten sich einander noch weiter an. »Ein Trick, oder was?«

»Nein. Echte, wahre Magie. Ich weiß, was du denkst – so etwas gibt es nicht –, aber so etwas gibt es. Mein Cousin ... ich habe dir nie wirklich von ihm erzählt, weil ... Nun, er ist ein Zauberer. Mit Zauberstab und allem drum und dran.«

»Wie so ein Spinner von der Sorte die auf Kindergeburtstagen auftreten?«, unterbracht Amelie ihn.

»Nein, nicht so einer. Ein echter. Zwar mit komischen Roben, aber auch mit Zaubersprüchen, die Dinge bewegen, Sachen verwandeln oder ... andere verändern.« Er konnte sich gerade noch bremsen, nicht töten zu sagen. Dafür war Amelie auf jeden Fall nicht bereit. Himmel, er ebenso wenig.

»Du sagst, dein Cousin ist ein Zauberer – du also nicht?«

»Nein. Ich bin vollkommen gewöhnlich, so wie du oder meine Eltern. Deshalb habe ich dir nie davon erzählt, denn es spielte keine Rolle für mich oder mein Leben. Nur Emma ...«, er seufzte schwer. »Sie hat Magie im Blut, das habe ich selber erst vor kurzem erkannt. Wie mein Cousin. Meine Tante mütterlicherseits war schließlich auch eine – eine Hexe.«

»Ich wusste nicht einmal, dass du eine weitere Tante hast.«

»Sie ist schon lange tot. Ich habe sie nie kennengelernt.«

»Oh.« Amelie hörte auf, ihre Wangeninnenseite zu bearbeiten, und fuhr sich mit einer Hand durch das braune Haar. »Also – also ist Emma ... eine Hexe? Diese Dinge geschehen, weil sie ... weil sie zaubern kann?«

Dudley hätte erwartete, dass sie ihn auslachen würde, ihm nicht glauben würde, böse werden würde, doch mit dieser geschlagenen Akzeptanz hatte er nicht gerechnet.

»Ja«, gab er zu. »So war es mit Harry – meinem Cousin – auch. In seiner Nähe sind früher die merkwürdigsten Dinge geschehen. Sachen, die eigentlich unmöglich sein sollten. Wie die fliegenden Christbaumkugeln oder die Löffel. Meine Eltern haben immer verboten, dass wir darüber reden ...«

»Und was bedeutet das jetzt?« Nun war es an Amelie, gen Decke zu der einsamen Spinne zu sehen, während das Gedankenkarussell sich drehte. »Passiert das jetzt immer wieder? Müssen wir irgendetwas ... unternehmen?«

»Ja, es wird wieder passieren und dagegen können wir erstmal nichts tun. Es gibt eine Schule, für ... Magiebegabte. Aber erst ab elf Jahren. Mein Cousin hat mir ein wenig davon erzählt bei unserem Treffen. Ich wollte mir erst sicher sein, bevor ich dir etwas erzähle. Immerhin ... ist das nicht einfach zu glauben oder?«

Amelie schüttelte den Kopf und fuhr sich noch einmal durch die Haare. »Es ist unglaublich, Dud. Unglaublich!« Sie starrte die Spinne an. »Ich meine ... ich habe es gesehen. Die Kugeln sind geflogen. Aber ... ich verstehe es nicht. Ich kann ja nicht einmal sauer auf dich sein, obwohl du es wusstest. So richtig sauer wäre ich wahrscheinlich erst, wenn du mir erzählt hättest, dass du auch so ein ... so ein Zauberer bist.«

Dudley grinste verlegen. »Bedauere, mit Superkräften kann ich nicht dienen. Meine größten Zauberfähigkeiten erschöpfen sich darin, einen Teller Pfannkuchen in weniger als einer Minute zu vertilgen. Piers hat die Zeit gestoppt.«

Seine Frau schnaubte, doch sie lächelte. »Irgendwie freut mich das. Auch wenn ich nicht begreifen kann, was jetzt mit Emma geschieht. Aber wenigstens bist du genauso normal wie ich. Wenn die eigenen Kinder einem über den Kopf wachsen, ist das wohl weniger schlimm, als wenn man erfährt, dass der Ehemann ein Doppelleben führt oder so.«

Sie löste den Blick von der Deckenlampe und lächelte ihn versöhnlich an. »Ich habe eine Menge Fragen.«

»Die hatte ich auch. Beziehungsweise habe ich immer noch eine Menge, aber zumindest ein wenig konnte mein Cousin mir erklären, als wir uns in London getroffen haben.« Dudley erinnerte sich an das Foto, das mit Harrys Weihnachtskarte gekommen war. Er zog es aus der Hosentasche, in der es seit jenem schicksalhaften Morgen spazieren trug, und streckte das knittrige Papier in Richtung Amelie. »Hier ... das kam vor ein paar Tagen mit der Post. Ein magisches Foto.«

Sie nahm das Bild und starrte es ausdruckslos an. Ihre Finger fuhren über die flache Aufnahme, auf der die fünf Potters glücklich winkten. Drehten das Papier um, tasteten jede Kante ab, als wäre sie auf der Suche nach einer Erklärung. Amelies Blick hob sich langsam von dem bewegten Bild.

»Verrückt«, flüsterte sie leise. »Als Kind habe ich mir immer gewünscht, dass mein Leben spannender wäre. Ich wollte sein wie die Heldinnen in meinen Lieblingsbüchern. Jetzt habe ich endlich das Glück in der Normalität gefunden und auf einmal ... das hier. Träume ich, Dud?«

Zögerlich legte Dudley seiner Frau einen Arm um die Schultern. Sie fasste das alles so viel besser auf, als er erwartet – oder befürchtet? – hatte. »Nein, Schatz.«

 

An diesem Abend gab es eine Menge zu erzählen. Von verschwundenen Glasscheiben, dem Jungen, der überlebt hatte, und von den Dingen, auf die Dudley kein bisschen stolz war. Selbst von dem Zusammenstoß mit den Dementoren erzählte er Amelie. Damit war sie die erste Person, mit der er je über diesen Vorfall sprach. Auch wenn es Jahre her war, die eisige Kälte in seinem Inneren erinnerte er sehr gut – genauso wie die hässlichen Erlebnisse, die er tief in sich gesehen hatte.

Aber Amelie hatte immer gewusst, dass er kein strahlender Held, kein perfekter Mann war. Auch jetzt akzeptierte sie, dass er über seine Vergangenheit hinausgewachsen war. Viel mehr erzürnten sie die Erzählungen von seinen Eltern, die Magie so stark verabscheuten.

»Das ist grausam«, verkündete sie resolut. »Ich meine, ich wusste immer, dass deine Eltern besonders sind«, an dieser Stelle malte sie Anführungszeichen in die Luft, »aber das ist doch wirklich ... albern! Obwohl, nein, das ist das falsche Wort. Dieser Hass ist vor allem traurig.«

Dudley seufzte und sah auf den inzwischen fertig geschmückten Baum, der in seiner ganzen Pracht erstrahlte. »Wem sagst du das?«, murmelte er leise. »Immerhin habe ich mich dank Emma endlich bei Harry entschuldigen können. Das war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich schäme mich ja schon, dass es überhaupt so lange gedauert hat.«

Amelie betrachtete ihn mit schiefgelegtem Kopf. »Hey, Dud, so meinte ich das doch nicht. Du warst nur ein Kind! Aber ... ich kann das nicht gutheißen, was du von deinen Eltern erzählt hast.« Sie biss sich betreten auf die Unterlippe. »Vor allem nicht, wenn ich daran denke, dass Emma dasselbe Schicksal blühen könnte. Wenn sie morgen Abend auch nur einen dummen Kommentar bringen, dann schwöre ich dir Dud, ich werfe sie eigenhändig aus unserem Haus!«

Er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass sie das durchaus bewerkstelligen konnte. Amelie war stark und selbst vor einem Koloss wie seinem Vater würde sie nicht zurückschrecken. Außer Wutrot anlaufen konnte der eh nichts bewirken.

»Keine Sorge, ich werde auch nicht zulassen, dass sie so Emma gegenüber sind. Du und Emma, ihr bedeutet mir viel mehr. Entweder sie akzeptieren es oder sie verlieren jedes Recht, ihr Enkelkind zu sehen. So einfach ist das.«

Amelie lächelte und küsste ihn auf die Wange. »Hey, vielleicht sollten wir es ihnen als Weihnachtsgeschenk verpacken. Ich meine – es freut sich doch jeder über Geschenke oder?« Ein listiges Lächeln lag auf ihren Lippen.

»Als Geschenk?« Dudley musterte seine Frau fragend. »Wie soll ich mir das vorstellen?«

»Och, ich habe doch dieses entzückende Video von Emma gemacht, die unsere Weihnachtsbaumkugeln verzaubert. Ich meine ... besser kann man es nicht präsentieren. Dieser blöde digitale Bilderrahmen, den wir für deine Eltern gekauft haben, erscheint mir jetzt fast schon wie Schicksal. Was meinst du?«

Einen Moment lang war Dudley sprachlos. »Du meinst ... wir speichern das Video in dem Bilderrahmen?«

»Bingo«, grinste Amelie frech. »Dann haben sie noch eine schöne Überraschung obendrauf, ganz umsonst. Und dann überlegen sie sich hoffentlich, ob sie noch einmal etwas Fieses über Zauberei sagen. Man soll ja mit den alten Leuten nie die Hoffnung aufgeben, dass sie es noch lernen.«

»Hey, irgendwie gefällt mir die Idee. Dann können wir sogar noch eine Schleife drum binden, um das Geständnis hübsch zu verpacken.«

Sie tauschten einen Blick, ehe sie beide in albernes Kichern ausbrachen. Dudley war sicher, dass dieses Überraschungsgeschenk einschlagen würde wie eine Bombe. Aber er gab die Hoffnung nicht auf, dass die Liebe zu ihrem Enkelkind selbst seine Eltern umstimmen konnte. Und wer konnte schon der kleinen Emma mit den Engelslocken widerstehen, die mit ihren winzigen Händen den Baumschmuck durch die Luft dirigierte?



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