Zauberhafte Weihnachten von Coronet ================================================================================ Kapitel 19: Erinnerungsfern [Cho Chang] --------------------------------------- Hongkong, 1995 Cho Chang   Triggerwarnung: Trauerbewältigung   Chos Gefühle spielen verrückt. Da kommt ihr eine Auszeit am anderen Ende der Welt gerade recht, weit ab von all dem typischen Weihnachtstrubel und den schmerzhaften Erinnerungen daheim.   ***   Schon der erste Atemzug war anders. Anstatt der Verheißung auf kalten Schnee und eisige Winde roch es nach warmem Sommerregen. Das Zwitschern von Vögeln lag in der Luft. Alles war ungewohnt, pulsierender, lebendiger – und das tat gut. Wie gut, das würde Cho erst noch begreifen, nachdem sie die an der Seite ihrer Tante aus der Portschlüsselzentrale hinaus trat. Sie klammerte sich an ihren Schrankkoffer, der sonst ihre Schulsachen enthielt, und vor ihr eröffnete sich eine Welt, die ihr selbst ohne Magie die Sprache verschlug. Hongkong war laut, chaotisch und trotz der Vergangenheit kein wenig wie die langweilige britische Kleinstadt, in der sie mit ihren Eltern lebte. Aber für die zwei Wochen Winterferien wäre es nun zumindest auch ihr Zuhause. Zum ersten Mal seit einer langen Zeit dachte Cho nicht an Cedric, als sie ihrer Tante zu deren kleiner Wohnung direkt an der Nathan Road in Mong Kok folgte. Sie fuhren mit dem Muggelbus, einem Doppeldecker, dessen große Fensterscheibe einen beeindruckenden Ausblick auf das Treiben der nicht-magischen Menschen bot. Cho wollte nicht dreinsehen wie eine Touristin – von denen gab es hier reichlich und sie waren allesamt mit klickenden Kameras bewaffnet, die sie unter lauten ‚Ohs‘ und ‚Ahs‘ zückten –, doch es fiel ihr zugegeben schwer. Mehr als einmal saugten sich ihre Augen an Gebäuden oder Gefährten fest. Voller Faszination drückte sie sich an das Glas, damit sie ja nichts verpasste. Es gab einfach zu viel zu sehen. Alles leuchtete, riesige Werbeschilder blinkten von den Häuserwänden und überall drängten sich winzige Läden voller Dinge, die Cho nie zuvor gesehen hatte. Bei ihrem letzten Besuch in Hongkong war sie noch ein Kleinkind gewesen, daher erschien ihr heute jede Ecke neu und aufregend. Beinahe so wie ihr erster Tag in Hogwarts, aber ohne Magie. Die Straßen waren von eng stehenden Häusern gesäumt, die sich höher als alles, was Cho je gesehen hatte, in den Himmel erhoben. Gerüste aus Bambus rankten sich an ihnen empor. Fleißige Muggel, vom Boden aus klein wie Wichtel, arbeiteten daran, die Stadt noch näher an die Wolken zu bringen. Autos drängten sich überall dicht an dicht auf den Straßen und sie fand sich in einem Meer aus Sprachen wieder, das sonst nicht einmal London bot. Auf den ersten Blick sah die Stadt nicht besonders weihnachtlich aus. Natürlich fehlte der Schnee, den Cho für gewöhnlich liebte. Ohne glitzerndes Weiß mangelte es bereits an der wichtigsten Komponente für das Weihnachtsfest. Doch wenn sie ganz genau hinsah, dann gab es auch hier vereinzelte Lichterketten, blinkende Sterne und selbst die Abbilder von Weihnachtsmännern oder Schneeflocken. Der Bus passierte sogar einen kleinen Markt, der entfernt an einen der heimischen Weihnachtsmärkte erinnerte, nur eben bei 26 Grad und ohne warmes Butterbier. In der winzigen Wohnung ihrer Tante angekommen, war dort natürlich kein Platz für einen Weihnachtsbaum – ganz abgesehen davon, dass eine Tanne in diesem feuchtwarmen Klima absurd erschienen wäre –, doch ein paar bunte Kugeln hingen von den Trieben einer großen Zimmerpflanze. Genauso wie Chos Eltern daheim, feierte ihre Tante eben dieses Fest, auch wenn kein Glaube dahinterstand. Für Cho selber war Weihnachten vor allem ein Gefühl. Schnee auf den Ländereien von Hogwarts, warme Abende vor einem knisternden Kaminfeuer, die Freude auf Geschenke und natürlich zwei freie Wochen, in denen sie einmal nicht an den nächsten Aufsatz in Zaubertränke denken musste. Nur im Dezember gab es eine ihrer liebsten Süßigkeiten, Lebkuchen. Sie mochte das Fest und ebenso froh war sie, es in diesem Jahr einigermaßen hinter sich zu lassen. Die Kombination von Weihnachten und der sommerlichen Großstadt, die kein Stück von Besinnlichkeit erfüllt war, gefiel Cho irgendwie. Sie hatte sich vorher nicht lange Gedanken darüber gemacht, als ihre Tante angeboten hatte, die Ferien bei ihr in Hongkong zu verbringen. Hauptsache fort aus Großbritannien. Weg von dem immergleichen Trott, bei dem sie alles an Cedric erinnerte. Was es heißen würde, zwei Wochen am anderen Ende der Welt zu sein, wurde ihr erst nach und nach bewusst. Auch hierher verfolgten die Erinnerungen an Cedric sie. Sie hatte gar nicht erwartet, dass es anders sein würde. Das, was sie mit Cedric verband, würde sie überall hin begleiten. Nur tat es an manchen Orten weniger weh. In Hogwarts erinnerte alles an ihn, jeder Gang, jedes Klassenzimmer und insbesondere das Quidditchfeld. In Hongkong hingegen waren es nur Kleinigkeiten. Die Tüten chinesischer Milchbonbons beispielsweise, die Chos Mutter ihr gelegentlich in die Schule geschickt hatte. Cedric hatte sie ganz besonders gemocht, nachdem sie ein paar davon gegen eine seltene Schokofroschkarte getauscht hatte, obwohl sie zuweilen furchtbar an den Zähnen klebten. Der Wehmut, der Cho nun erfüllte, hatte mehr damit zu tun, dass sie sich wünschte, er könne all das hier selber sehen und erleben. Es hätte ihm bestimmt gefallen. Der Gedanke begleitet sie auch zu einem Quidditchspiel auf einer kleinen Insel im Perldelta, wo die Hongkong Hornets auf die Pekinger Phönixe trafen (und diese vernichtend schlugen). Die sorgsam choreografierte Feuerwerksshow am nachtschwarzen Himmel zur Halbzeit, inklusive feuerspeiender Drachen und brüllender Zouwus, war beinahe noch sehenswerter als das Spiel an sich. Cho standen Tränen in den Augen, als die glühenden Lichter langsam verblassten. Nie wieder würde Cedric Dinge wie diese erleben. Warum musste das Leben so ungerecht sein? Erst letztes Jahr hatten sie beim Weihnachtsball miteinander getanzt und nun stand sie hier, alleine am anderen Ende der Welt. In ihrer ganzen Familie war nie zuvor jemand gestorben. Oder überhaupt irgendwer, den sie kannte, war je gestorben. Die erste Beerdigung, die sie besucht hatte, war seine gewesen. Und egal, wie oft sie auch an Harrys Worte über Cedrics letzte Momente nachdachte, es ergab keinen Sinn für sie, dass er hatte sterben müssen. Sie fand es einfach nur ungerecht, schrecklich ungerecht, dass Cedric nie wieder Quidditchspiele erleben durfte. Dabei hatten sie stundenlang von ihren Lieblingsmannschaften schwärmen können. Wenn sie sich heute, in diesem Stadion voller aufgeregter Leute mit bunten Wimpeln, Cedric vorstellte, dann träumte sie nicht davon, wie er sie wieder küssen würde. Sie wollte einfach nur noch einmal sein Lachen sehen und wissen, dass er glücklich war. Die letzte Erinnerung an den ersten Jungen, den sie je geliebt hatte, sollte nicht sein lebloser Körper im Gras sein. Das waren die Bilder, über die sie sich nicht traute, mit irgendjemandem zu reden. Nicht einmal – oder gerade? – mit Harry, dem zweiten Jungen, der ihr mehr bedeutete, als bloße Freundschaft. Ihr war wohl bewusst, dass ihn dieses Geschehen ebenso verfolgte, wie sie. Vermutlich hatte er jedes Recht dazu, nicht darüber reden zu wollen. Sie wollte gar nicht wissen, wie seine Albträume konkret aussahen. Und doch wünschte sie, dass irgendjemand ihre Gedanken teilen würde. Vielleicht wäre es dann einfacher zu akzeptieren. Ob Harry dieses Quidditchspiel wohl auch gefallen würde? Hatte er überhaupt ein Lieblingsteam? Sie hatte ihn nie etwas Derartiges sagen hören. Vermutlich wusste sie mehr von den Quidditchvorlieben seines besten Freundes als über ihn. Von da aus wanderten ihre Gedanken weiter zu dem eigenartigen Kuss, den sie beide unter einem Mistelzweig geteilt hatten. Was immer sie für den Jungen mit der Blitznarbe empfand, es wurde stets von Schuld niedergedrückt. Weil sie trotzdem wieder an Cedric dachte – das war weder ihm noch Cedric gegenüber fair. Aber was war mit ihr? Wohin wollte sie? Cho hatte keine Antwort für den Strudel in ihren Gedanken, also ließ sie sich treiben.   Nicht nur bei dem Quidditchspiel traf sie die Erinnerung an den Jungen namens Cedric, den sie am Ende doch viel zu kurz gekannt hatte. Auch an der Promenade von Hongkong, gegenüber vom Victoria Harbour, mit Aussicht auf die höchsten Häuser der Stadt und deren Lichtershow, fanden ihre Gedanken den Weg zu Cedric. Manchmal war es die Unwissenheit, was ihm gefallen hätte, die sie noch mehr beschäftigte als die Gewissheit über all das, wovon er geschwärmt hatte. Von welchen Träumen hatte er ihr nie erzählen können, bevor er aus seinem Leben gerissen wurde? Welche Wünsche würden für immer vergessen bleiben? Hätte er ebenso mit offenem Mund hier neben ihr gestanden und die Wolkenkratzer der Muggel angesehen, deren Fassaden in neongrellen Lichtern aufleuchteten? Ihr kam die Erscheinung unglaublich vor, als wäre sie nicht-magisch und würde nun zum ersten Mal Magie erleben. Vielleicht konnten die gewöhnlichen Menschen ja doch auf ihre Art zaubern, überlegte sie. Wie hätte Cedric das erlebt? Sie würde es nie erfahren. Obwohl ihre Tante allerhand mit Cho unternahm, konnte auch sie nicht verhindern, dass Cho sich in diesen Augenblicken unendlich alleine fühlte. Selbst auf dem engen Nachtmarkt unter hunderten fremder Menschen traf es sie mitunter aus heiterem Himmel. Ein Geruch, ein flüchtiger Eindruck und schon schien das Leben um sie herum für den Bruchteil einer Sekunde einzufrieren; nur noch ganz langsam zu laufen, mit ihr als einsamen Mittelpunkt. Innerhalb von wenigen Wimpernschlägen überfielen sie hunderte, gar tausende Gedanken, die ihr plötzlich den Atem nahmen, ihre Brust eng werden ließen und ihre Hände zum Zittern brachten. Aus dem Nichts tropften heiße Tränen auf die gedämpften Teigtaschen, die sie gerade aß. Auf die Fragen, was denn los sei, hatte sie in den seltensten Fällen eine Antwort. Manchmal reichte es aus, dass einer der Umstehenden gelacht hatte wie Cedric. Dann wurde sie schmerzlichst daran erinnert, dass er nie wieder lachen würde. Und gleichzeitig ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken trotzdem immer öfter zu Harry wanderten. Sie fragte sich hunderte nutzlose Sachen – würde er das Essen hier mögen? Würde ihm der Sonnenschein gefallen? – und ihr wurde klar, dass sie erschreckend wenig über Harry Potter, den Jungen, der überlebt hatte, wusste. Sie konnte eine Menge Zauber und Flüche aufzählen, die er ihr in der DA beigebracht hatte, mehr, als sie Finger hatte. Doch was würde er gerne tun, wenn er nicht gerade seinen Kleinkrieg gegen Umbridge führte? Da gab es genug, von dem sie keinen blassen Schimmer hatte. Sie bereute es schon bei Cedric, ihm so viele Fragen nicht gestellt zu haben. Die gleichen Fehler wollte sie nicht wiederholen. Dann wäre es wirklich nicht fair, Harry gegenüber. Er hatte verdient, dass ihm jemand zuhörte.   Cho selber kam kurz vor der Rückkehr nach Großbritannien zu dem Schluss, dass sie Hongkong mochte. Ihr gefielen die dichtbewaldeten Berge im Umland, in denen sich eine kleine internationale magische Kommune angesiedelt hatte, die dort eine rasante Besenrennstrecke unterhielten, auf der sie sämtliche Rekorde brach. Ihr gefiel der nächtliche Drachenmarkt, dessen verzauberte Zelte jede Nacht an einer neuen Stelle in der Stadt aufgebaut wurden und wo es ganz andere Dinge zu sehen und kaufen gab als in der Winkelgasse. Der Ausbruch aus dem Alltag gefiel Cho. Sie bemerkte kaum, dass Weihnachten kam und ging. Sie und ihre Tante besuchten anlässlich des Festes ein elegantes Dim Sum Restaurant und ihre Eltern sowie Marietta schickten ihr jeweils ein kleines Geschenk, aber ansonsten war es ein Tag wie jeder andere auch. Tatsächlich dachte sie erst an das letzte Jahr und den Weihnachtsball, da lag sie längst in ihrem Bett und lauschte den fremdartigen Geräuschen von draußen, an die sie sich nach Tagen noch nicht gewöhnt hatte. Dieses Weihnachten würde vielleicht nie ihr liebstes sein, aber auf seine eigene Art würde sie es doch gut in Erinnerung behalten. Das viele leckere Essen, die unzähligen Ausflüge in eine komplett andere Welt – und ja, sogar das Gedenken an Cedric. Er konnte das alles nicht mehr erleben, aber sie schon. Das Leben lief nur in eine Richtung. Sie hätte sich daheim bei ihren Eltern verstecken können, den Kopf unter dem Kissen und ihren Tränen freien Lauf lassen. Doch sie war weitergegangen, obwohl jeder Schritt schmerzte. Im Halbdunkel des Zimmers blitzte der Pokal auf, den sie vor wenigen Tagen auf der Besenrennstrecke gewonnen hatte. Beste Juniorenfliegerin. Es wäre eine schreckliche Verschwendung, wenn sie dies nicht erlebt hätte. Cho nahm einen tiefen Atemzug und schlich sich ans Fenster, das auf die belebte Nathan Road blickte. Vor dem dunklen Himmel blinkten die riesigen Schilder voller Schriftzeichen, die Läden anpriesen oder Produkte. Autos hupten und überall tobte das Leben. Seufzend presste sie die Stirn gegen das Glas. Vielleicht sollte sie Harry einmal nach seiner Lieblingsquidditchmannschaft fragen. Nein, ganz sicher sogar. Andernfalls würden sie nie weiter voranschreiten. Wenn sie wieder zurück wäre, im schneekalten Hogwarts, nahm sie sich vor, würde sie all ihren Mut zusammennehmen. Cedric würde das schon verstehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)