Zauberhafte Weihnachten von Coronet ================================================================================ Kapitel 15: Magiebegabt [Isobel & Robert McGonagall] ---------------------------------------------------- Caithness, 1939 Isobel & Robert McGonagall   Das erste Weihnachten als richtige Familie sollte eines der schönsten sein – wenn Isobel McGonagall nicht ein wohlgehütetes Geheimnis vor ihrem Mann hätte. Eines, das ausgerechnet ihre wenige Monate alte Tochter nun verraten könnte.   ***   Weihnachten war immer Isobels liebste Zeit des Jahres gewesen. Der Schnee, die besinnlichen Lieder, der Geruch frischgebackener Plätzchen – sie liebte alles an diesen dunklen Tagen im Dezember, die von menschengemachten Lichtern erhellt wurden. Auch als Erwachsene freute sie sich noch darauf, den Tannenbaum zu schmücken; den harzigen Duft der Tannennadeln zu riechen, die das ganze Wohnzimmer erfüllten, oder jeden Advent eine weitere Kerze zu entzünden. Manche Dinge am Weihnachtsfest änderten sich mit dem Älterwerden – die Geschenke wurden kleiner, bis sie eines Tages ganz ausblieben. Anstelle verzauberter Christbaumkugeln, in denen magische Schneeflocken wirbelten, hängte Isobel nur noch normalen Schmuck auf. Die Knallbonbons voller weiße Mäuse und Scherzzauberstäben gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. Doch dafür kamen neue Beschäftigungen hinzu. Eine ihrer liebsten war es, in der Küche zu stehen und den Weihnachtsbraten in stundenlanger Arbeit zu perfektionieren. Eine Weitere, den Geschichten von ihrem Mann Robert zu lauschen, die er aus dem dicken Wälzer voller Muggelweihnachtsmärchen vorlas. Ihre Begeisterung für all diese Erzählungen brachte ihn immer wieder zum Lächeln. Das innere Kind halte sie jung, pflegte er mit einem Schmunzeln zu sagen. Dabei ahnte er nicht, dass alle Märchen, mit denen sie aufgewachsen war, von einer ganz anderen Welt erzählten. Von Magie. Ihr Zauberstab war Isobels bestgehütetes Geheimnis. So sehr sie Robert auch liebte, das war die eine Sache, von der sie ihm nicht erzählen konnte – durfte. Aber ob mit Magie oder ohne, die Geborgenheit des Weihnachtsfestes spendete ihr weiterhin Frieden in einer anderweitig turbulenten Zeit. Langsam und unerbittlich fraß sich der Muggelweltkrieg in ihr Land vor. Im Januar würden weitere Lebensmittelrationierungen eingeführt, das war kurz vor Weihnachten verkündet worden. Noch verschonten die Bomben sie, aber wie lange würde das anhalten? Daran durfte sie gar nicht denken. Lieber besann sie sich auf die Erinnerung, wie sie ihren heutigen Ehemann das erste Mal getroffen hatte, denn diese Gedanken waren deutlich freundlicherer Natur und ebenso untrennbar mit dem schönsten Fest von allen verbunden. Isobel hatte gerade erst ihren Abschluss in Hogwarts hinter sich, als sie in Folge eines Streits mit ihren Eltern in die kleine Dorfkirche gestolpert war auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem niemanden ihre Tränen stören würden. Sie hatte die Wahl gehabt zwischen dem Friedhof, der ihr zu ungemütlich war, und dem schlichten Kirchenschiff. Zu ihrem Glück war außer dem Pastorenanwärter keiner dort gewesen, der ihr bitterliches Schluchzen hätte hören können. Gestört hatten ihre Tränen den jungen Mann nicht, aber er hatte ihr ein Taschentuch und mehr noch, ein offenes Ohr, angeboten. Er hatte ihren Schilderungen von den Eltern, die darauf drängten, dass sie endlich heiraten solle, anstatt sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen, stumm zugehört. Nicht einmal hatte er sie dafür verurteilt, dass sie so wenig Interesse an einer gutsituierten Ehe hatte. Stattdessen hatte er ihr gutzugeredet, dass sie ihren eigenen Weg finden dürfe, unabhängig von den Wünschen ihrer Eltern. Er erzählte selber davon, dass seine Familie nicht verstand, warum er ein Geistlicher werden wollte, wo sie doch gehofft hatten, dass er mit seinen schulischen Leistungen den Absprung aus ihrem Ort schaffen und eine Anstellung in der Großstadt finden würde. Nie zuvor hatte Isobel sich jemand anderem so verbunden gefühlt, obwohl ihrer beider Leben so unterschiedlich waren. Am nächsten Sonntag besuchte sie die Messe, selbst wenn sie sich nicht wirklich als religiös bezeichnet hätte. Doch das brauchte sie gar nicht, denn in den Worten, die der Pastorenanwärter Robert für seine Gemeinde fand, offenbarte sich ihr ein ganz anderer Glaube. An das Gute in den Menschen und die Kraft, die sie einander mit zuhören oder Anteilnahme spenden konnten. Von da an besuchte Isobel öfter die Messe, nur um Roberts Worten zu lauschen. In diesen Momenten vergaß sie all die Sorgen daheim bei ihren Eltern, die Auseinandersetzungen und vergeblichen Versuche, es ihnen recht zu machen. Hier fühlte sie sich geborgen – und irgendwann erkannte sie, dass sie Hals über Kopf einer Schwärmerei für ihn nachhing. Sie suchte seine Nähe, wann immer ihr möglich. Als er sie eines Tages nach der Messe auf einen Spaziergang einlud, schlug ihr Herz Purzelbäume. Von da aus dauerte es nicht lange, bis sie sich an einem kalten Dezembertag unter einem Mistelzweig zum ersten Mal küssten. Bevor das Jahr um war, fiel Robert am Vorabend von Weihnachten vor ihr aufs Knie und bat sie, seine Frau zu werden – auch wenn er sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnere, wie er augenzwinkernd hinzusetzte. Isobel war überglücklich, den Tränen nahe und obwohl sie vor Monaten nicht daran gedacht hatte, bald jemandes Ehefrau zu werden, nahm sie natürlich an. Die Beziehung zu ihren Eltern hingegen zerbrach in dieser Nacht endgültig. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Isobel nie so viel Trauer und Glück gleichzeitig empfunden. Aber sie liebte Robert, also gab es für sie keinen anderen Weg. Ganz gleich, was ihre Eltern in ihrer Wut über ihn als Muggel gesagt hatten, sie würde Robert heiraten. Und das tat sie, noch im frischen Januarschnee, ohne Gäste, dafür mit reichlich Trotz im Herzen. Dieses Jahr würde endlich ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest als richtige Familie sein. Ein freudiger Moment, zumindest hatte Isobel ihn sich so vorgestellt. Wenn da nicht die Sache mit Minerva gewesen wäre. Ihre Tochter hätte das Glück beinahe perfekt gemacht. Sie liebte dieses winzig kleine Mädchen, keine Frage. Von der ersten Sekunde an wollte sie ihr Kind nicht wieder hergeben. Gäbe es nur nicht die eine Sache, von der sie Robert nicht erzählen konnte. Isobel hoffte inständig, dass dieses Weihnachtsfest trotz der Umstände das allerbeste werden würde, von Herzen. Sie wollte, dass ihre kleine Familie rundum glücklich war, immerhin waren sie alles, was ihr blieb, nachdem ihre Eltern sie vor die Tür gesetzt hatten. Also hatte sie nichts unversucht gelassen, damit es funktionierte. Doch anstatt jetzt neben Robert am warmen Kaminfeuer zu sitzen, versteckte sie sich mit ihrer Tochter im Kinderzimmer und weinte, obwohl draußen die schönsten Schneeflocken fielen. Und das alles nur, weil Minerva war wie sie. Sie war so klein, erst Anfang Oktober geboren und trotzdem entwickelten die Dinge in ihrer Nähe bereits ein Eigenleben. Es fing mit einem einzigen Stofftier an, das plötzlich in ihre Krippe flog, doch da hörte es noch lange nicht auf. Isobel hätte schwören können, dass ihre magischen Fähigkeiten mit jeder Stunde seit ihrer Geburt zunahmen. Sie war machtlos gegen diese spontane Magie, egal ob mit oder ohne Zauberstab. Eines Tages würde Robert es herausfinden und wenn sie ganz ehrlich war, dann hatte sie Angst. Er hatte keine Ahnung von der magischen Welt. Für die längste Zeit war das in Ordnung gewesen. Isobel hatte es nicht vermisst, zu zaubern, dafür hatte die Liebe gesorgt. Solange er an ihrer Seite war, brauchte sie die Magie nicht mehr. Zumindest hatte sie das glauben wollen. Es hatte sich als spaßig herausgestellt, Dinge auf die Muggelart zu erledigen. Vielleicht war diese ‚normale‘ Welt sogar besser, als sie gehofft hatte. Doch mit ihrer Schwangerschaft waren alle alten Zweifel wieder erwacht. Da hatte es die Chance gegeben, dass Minerva wie ihr Vater wurde, völlig gewöhnlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Isobel inständig dafür gebetet, dass die Magie sie endgültig verlassen würde. Ihre Bekannten waren nicht müde geworden, davon zu erzählen, dass ihr die schönsten Momente bevorstanden – dabei war alles, was sie empfunden hatte, Sorge gewesen. Was, wenn Minerva ihre Fähigkeiten offenbaren würde? Isobel hatte zumindest damit gerechnet, dass sie ein paar Jahre Zeit haben würde. Selbst wenn es nur drei Jahre wären, in der Zwischenzeit könnte sie bestimmt die passenden Worte finden, um ihrem Ehemann zu erklären, dass Magie durchaus real war. Statt Jahren hatte sie Stunden bekommen. Beim ersten Mal hatte Isobel sich fest eingeredet, dass sie einfach nur übermüdet war. Kein Kind, das wenige Stunden alt war, konnte schon Gegenstände schweben lassen. Ihre Tochter belehrte sie eines besseren. Immer und immer wieder. Also versteckte sie sich mit ihr vor dem Mann, den sie liebte. Denn egal was sie sich einredete, sie war nicht bereit. Wie sollte Robert auch verstehen, was hier mit seinem Kind geschah? Er war ein geradliniger Mann, mit einem festgesteckten Weltbild, in dem für Magie sicherlich kein Platz wäre. Nein, Isobel konnte es einfach nicht. Die Angst band sie mehr noch als das magische Geheimhaltungsabkommen, dem sie verpflichtet war. Sie fürchtete, wie er sie – und seine Tochter – ansehen könnte, wenn er wüsste, was sie vor ihm versteckte. In den letzten Wochen hatte Isobel mehr geweint als in ihrem gesamten bisherigen Leben und trotzdem waren da immer noch neue Tränen, die ihr beim Anblick ihrer Tochter die Wangen herabliefen, so wie jetzt wieder. Die Kleine lag in ihrem Bettchen, während das Mobile über ihr sich rasant drehte, was ihr ein vergnügtes Glucksen entlockte. Minervas Magie war fast schon beiläufig, etwas, das immer wieder unvermittelt zum Vorschein kam, einfach nur, um das kleine Mädchen zu unterhalten. Tags zuvor hatte plötzlich Roberts Dudelsack ein Zimmer weiter von alleine eine beschwingte Melodie gespielt. In ihrer Panik hatte Isobel zum ersten Mal seit Monaten ihren Zauberstab aus dem Versteck geholt und sehr zum Verdruss ihrer Tochter einen Silencio-Zauber auf das Instrument gewirkt. Ihr kleines Mädchen hatte sie aus babyblauen Augen angesehen und mit einer Bewegung ihrer winzigen Finger hatte sie den Zauber gebrochen. Als wären Isobels magische Bemühungen nur ein schlechter Witz. Sicher, sie hatte lange nicht gezaubert, doch war sie so eingerostet, dass ein Baby mehr Macht besaß? Sie verstand einfach nicht, wie Minerva diese Dinge vollbringen konnte. Isobel selber war vier Jahre alt gewesen, als ihre Magie sich das erste Mal gezeigt hatte. Kein bisschen zu früh, kein bisschen zu spät. Robert war ja nicht einmal ein Zauberer, woher nur kamen diese Kräfte? War das vielleicht ihre gerechte Strafe dafür, dass sie ihn über ihre wahre Natur belogen hatte? Sacht schob Isobel ihren Zeigefinger in Minervas kleine Hand, sodass diese ihn fest in ihre Faust schloss. Langsam beruhigte das hektisch kreisende Mobile sich, während Isobel die Aufmerksamkeit ihrer Tochter auf sich lenkte. Fahrig wischte sie sich über die feuchten Wangen und versuchte sich der Kleinen zuliebe an einem Lächeln. In diesem Moment schreckte ein Klopfen an der Tür sie zusammen. »Schatz?«, drang Roberts leise Stimme durch die Tür. »Darf ich bitte reinkommen?« Isobel schluckte und griff hoch zu dem Mobile, bis es sich nicht mehr regte, sondern nur noch verdächtig wackelte. »Natürlich«, entgegnete sie schwach. Sie wusste genau, dass Robert das Ohr gegen die dünne Holztür gepresst hatte und auf jedes Geräusch lauschte. Vermutlich hatte er ihr Weinen längst gehört. Er blieb an der Tür stehen, einen besorgten Ausdruck im Gesicht. »Isobel ...«, hob er sanft an, seine schlanken Finger ineinander verschlungen, »ich mache mir Sorgen. Um dich.« Sie sah, wie seine Augen hinter den Brillengläsern feucht schimmerten. Hastig wandte sie den Blick zurück auf ihre Tochter, die mit ihrem rabenschwarzen Haar ganz eindeutig nach ihrem Vater kam. Warum bloß nicht in der fehlenden Magiebegabung? »Es ist keine Schande, Isobel, wenn du ... Schwierigkeiten damit hast, wie es ist, Mutter zu sein. Wirklich nicht. Aber bitte – rede mit mir darüber. Ich kann dir nicht helfen, wenn ich es nicht verstehen darf.« Eine Weile lang war es bis auf das leise Glucksen von Minerva still im Kinderzimmer. Isobel brannten bereits wieder die Tränen in den Augen, diesmal aufgrund der Ungerechtigkeit, dass Robert so ahnungslos sein musste. Nie in ihrem Leben hatte sie mehr geliebt, als bei dem Anblick ihrer gemeinsamen Tochter und es versetzte ihr einen Stich, dass er dachte, sie würde den Wochenbettdepressionen anheimfallen. »Wir können eine Lösung finden, Bel. Ich verspreche es dir. Ich will doch nur, dass wir alle glücklich sein können. Dass du dich nicht mit Minerva hier versteckst. Ich höre doch dein Schluchzen. Lass mich eine Weile bei ihr bleiben, bitte. Sie ist doch auch meine Tochter und bei Gott, ich liebe sie eben so sehr wie dich.« Stumm fielen die ersten Tränen hinab in Minervas Bettchen. Die vergnügten Geräusche des winzigen Mädchens versiegten, als Isobels Finger anfingen, zu zittern, und sich schließlich ein weiterer hilfloser Schluchzer aus ihrer Kehle befreite. Tränen wallten auch in den großen Augen der Kleinen heran. Rasch hob Isobel sie hoch und presste sie fest an sich, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie ebenfalls in lautstarkes Weinen ausbrach. Hilflos trat Robert an ihre Seite, eine Hand auf ihre Schulter gelegt, mit der anderen strich er seiner Tochter über das kleine Köpfchen. »Isobel, bitte«, flehte er noch einmal. Sie zeigte keine Gegenwehr, als er Minerva behutsam in seine Arme hob, auch wenn sie das Gefühl hatte, dass er ihr den letzten Rettungsanker entzog. Unter einem Tränenschleier musste sie zusehen, wie ihr Mann die Kleine sacht wiegend beruhigte und sie mit einem stolzen Lächeln bedachte, sobald ihre Krokodilstränen versiegten. In jeder seiner Gesten war offenbar, dass Robert ihre Tochter nicht mehr hätte lieben können. »Es tut mir so leid«, flüsterte Isobel erschöpft. Sie meinte so vieles damit – dass sie ihm die Magie verbarg, dass sie stetig weinte, dass sie ihm Minerva entzog. Er würde nichts davon ahnen, aber die Worte kamen von Herzen. »Das muss es nicht«, entgegnete Robert sofort. »Ich würde nur zu gerne verstehen, wie ich dir helfen kann.« Er hatte nur noch Augen für Minerva in seinen Armen, die glucksend nach der Brille auf seiner Nase griff, die sie offenbar sehr amüsierte. Lachend hielt er ihre Finger auf und drückte einen Kuss darauf. Allerdings hatte er die Rechnung ohne ihren sturen und obendrein magischen Willen gemacht. Bevor Isobel noch etwas sagen konnte, hielt Minerva die Brille mit der anderen Hand festumschlungen. Verwirrt – und äußerst kurzsichtig – blinzelte Robert seine Tochter an. Dann schüttelte er den Kopf und entwand ihr das Gestell, ehe er sich wieder Isobel entgegen wandte. Sie stützte sich mit dem Ellenbogen gegen das Kinderbett und wischte erneut die Tränen von ihren Wangen. »Alles ist gut, Robert es ist nur – ich bin nur durcheinander. Ich ... muss an meine Eltern denken und ...« Ihre Worte versiegten. Nicht einmal die Lügen wollten ihr noch von den Lippen gehen. Minerva indes streckte ihre Hand über die Schulter ihres Vaters in Richtung des Regals, auf dem die kleine Stoffkatze saß, die eine Nachbarin ihnen zur Geburt geschenkt hatte. Begierig langten ihre Finger nach dem weit entfernten Tier. Gleich würde es schweben, das wusste Isobel. »Robert, bitte – sieh mich an«, hauchte sie wie ohnmächtig, in der Hoffnung, dass ihm nicht auffallen würde, was Minerva tat. »Gib sie mir, ich kann das.« Aber er war mindestens ebenso stur wie seine Tochter. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Bel. Immerhin bin ich auch ihr Vater oder nicht?« Die Verunsicherung in seinen Worten zog Isobel das Herz zusammen. Nicht eine Sekunde wollte sie, dass er dachte, sie hätte ihn betrogen. »Natürlich bist du das!« Die Finger ihrer Tochter schlossen sich um den geringelten Schwanz der Stoffkatze und sie senkte ihre Lider. Nur Robert bemerkte offenbar nicht, was hinter seinem Rücken geschah, denn er sank vor Isobel in die Hocke. »Schatz, dann rede mit mir. Sag mir, was nicht stimmt. Wir haben uns doch geschworen, dass wir immer füreinander da sein wollen. Dann lass mich auch meinen Teil erfüllen.« Er verlagerte Minerva in seinem Halt und jetzt fiel auch ihm das plötzliche Auftauchen der Stoffkatze auf. Noch verwirrter als zuvor mit der Brille sah auf Katze und Kind hinab. »Woher ...« Suchend wanderte sein Blick zu dem Regal an der anderen Seite des Zimmers. »Isobel ... ich weiß, das klingt wahrscheinlich lächerlich, aber – hat es etwas damit zu tun? Mit ... mit den Dingen, die plötzlich geschehen?« »Welche Dinge?« Sie fragte sich, wie viel Robert trotz ihrer Bemühungen bemerkt hatte. Konnte sie eine andere Erklärung dafür finden? Ihr sonst so wortgewandter Mann biss sich auf die Unterlippe, sah noch einmal auf seine Tochter hinab und richtete den Blick dann wieder eindringlich auf sie. »Mit den Dingen, die Minerva plötzlich in der Hand hält. Mit allem, was sich wie von Geisterhand um sie herum bewegt. Mit ... dem Dudelsack, der plötzlich ein Eigenleben entwickelt. Mein Gott, selbst mit unserer Katze, die in ihrer Nähe völlig verrücktspielt. Das klingt so unfassbar, geradezu absurd aber – sie hatte dieses Stofftier eben noch nicht in der Hand!« Isobels Schultern sackten nach unten. Es war vorbei, endgültig vorbei. Sie hatte es nicht einmal bis zum Weihnachtsfest geschafft, das doch so schön werden sollte. Länger konnte sie Robert einfach nicht belügen. »Ja«, flüsterte sie schlicht. Er drückte Minerva fester an seine Brust. »Aber – wie, Bel? Ich verstehe nicht ...« Vielleicht dachte er – hoffte er? –, dass Isobel auch keine Erklärung hatte. Doch den Gefallen konnte sie ihm nicht tun. »Magie, Robert. Magie.« Ungläubig schnaubte er. »Ich mag vielleicht ein Pastor sein, aber das heißt nicht, dass ich an alles glaube.« »Es ist die Wahrheit, Robert. Es tut mir so leid!« Isobel verknotete ihre Hände so fest ineinander, dass es wehtat. »Ich bin eine Hexe.« Der Ausdruck in seinem Gesicht schwankte zwischen Überraschung, Verwirrung und Angst. »Schatz ...« Was immer er sagen wollte, sie ließ ihn nicht ausreden. Ohne eine Demonstration ihrer Fähigkeiten würde er sie höchstens für verrückt erklären. Sie lief zu dem losen Dielenbrett, das hinter der linken Ecke des himmelblauen Teppichs verborgen lag, hebelte es unter seinen fassungslosen Blicken aus dem Boden und zog den langen schmalen Holzstab hervor, den sie dort versteckt hatte. Ihren Zauberstab. Robert starrte ihn an, als wäre es eine Muggelbombe. Er hielt Minerva immer noch fest an sich gedrückt, aber er wich einen winzigen Schritt vor Isobel zurück. »Schatz?« Isobel senkte den Blick auf ihren Zauberstab, der sie vor Jahren in der Winkelgasse ausgesucht hatte. Stechpalme und Einhornhaar, wie sie sich erinnerte. Mit ihm hatte sie die kühnsten Zaubereien vollbracht, bevor sie diese Welt für eine Zukunft mit Robert aufgegeben hatte. Sie war eine der besten ihres Jahrgangs gewesen, herausragend in Zauberkunst. Ehe sie Robert kennengelernt hatte, waren ihre Träume davon erfüllt, eines Tages vielleicht sogar im Ministerium zu arbeiten. »Ich bin eine Hexe, Robert. Ich ... ich kann zaubern.« »Isobel ...« Zitternd hob sie die Hand mit dem Zauberstab. Der erste Zauberspruch, der ihr einfiel, war auch gleichzeitig der Erste, den sie je gelernt hatte. Wingardium Leviosa. Sie schwang den Stab elegant im Kreis und die Decke aus Minervas Bett erhob sich wie von unsichtbaren Schnüren emporgezogen in die Luft. Das überraschte Keuchen Roberts beendete den Zauber. Unglücklich senkte Isobel die Zauberstabhand und sah zu ihrem Mann hinüber, dessen Augen sich entgeistert geweitet hatten. »Was ...«, murmelte er noch, dann blieb sein Mund offen stehen. »Es tut mir so leid, aber ich konnte es dir nicht sagen, Robert-« »Seit wann?«, unterbrach er sie. »Mein ganzes Leben.« »Und Minerva?« Isobel nickte. »Sie auch.« Tränen perlten über ihre Wangen und klopften leise auf den Holzboden unter ihr. »Ich hatte so gehofft, sie wäre nicht magisch.« »Damit du mich mein ganzes Leben weiter belügen kannst?« Roberts Stimme war harsch, aber heiser. Er ließ sich auf dem Stuhl nieder, den bis eben Isobel in Beschlag genommen hatte, und sah hinab auf Minerva in seinen Armen, die seelenruhig auf dem Ohr der Stoffkatze kaute. »Nein«, beteuerte Isobel, »ich wollte dich nie belügen! Ich wollte die Magie einfach nur vergessen! Ich wollte nie wieder – nie wieder zaubern!« »Aber warum? Was kannst du noch alles tun?« »Es gibt so viele Gründe, so viele Dinge, Robert ... so viele Zauber.« Seine Schultern zitterten leicht. Erst jetzt legte er ihre Tochter bedächtig zurück in ihr Bett, steckte die Decke über ihr fest und wandte sich dann zum Gehen. »Ich werde das nicht vor Minerva klären«, sagte er steif.   Im Wohnzimmer saß Isobel vor einer Tasse Tee, die Robert ihr vermutlich rein aus Gewohnheit aufgekocht hatte. Ihr Zauberstab lag anklagend zwischen ihnen auf dem Esstisch und ebenso schweres Schweigen lastete zwischen den beiden Eheleuten. Sie hatte ihm einiges erzählt, noch mehr gezaubert und vor allem geweint. Verdrießlich sah Isobel nun auf die schwarzen Teeblätter am Boden ihres Bechers, während Robert Löcher in die Luft starrte. »Was wird jetzt mit Minerva passieren?« »Sie wird lernen müssen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren. Es gibt eine Schule, für die magisch Begabten, wenn es so weit ist ...« »Ah.« Robert nickte. Aber seine Knöchel am Henkel der Tasse, die weiß hervortraten, verrieten noch immer, wie aufgewühlt er war. »Mit elf bekommt man den ersten Zauberstab«, strömten die Worte weiter aus Isobel hervor, »bevor man nach Hogwarts kommt. Dort wird man sieben Jahre lang unterrichtet, bis man volljährig ist. Und dann ...« Aufmerksam beobachtete Robert sie. »Dann heiratet man gegen den Willen der Eltern einen Normalsterblichen, versteckt seinen Zauberstab und tut so, als wäre die Welt gewöhnlich?« »Ich wollte im Zaubereiministerium arbeiten. Aber meine Eltern wollten lieber, dass ich einen anderen Zauberer heirate. Eine Familie gründe. Und am Ende ...«, sie unterdrückte ein Schluchzen, »... habe ich mich aber in dich verliebt. Und ich liebe dich immer noch, Robert.« Zum ersten Mal in ihrer Ehe erwiderte Robert die Worte nicht. Er nahm bloß einen Schluck Tee und seufzte. »Warum hast du mir nie die Wahrheit gezeigt? Du wusstest doch, was passieren würde.« »Nein.« Isobel schüttelte den Kopf. »Die Chance war groß, dass Minerva genau wie du ein Muggel – nicht-magisch – werden würde. Ich habe gehofft, dass sie genau so ist wie du. Dann hätte ich die Magie einfach vergessen können. Ich wollte nicht länger Teil von einer Welt sein, die mich dafür verurteilt, wen ich geheiratet habe!« »Du hättest das alles einfach aufgegeben?« »Ja. Das magische Geheimhaltungsabkommen von 1689 verbietet es mir ohnehin, vor nicht-magischen Menschen über die Existenz von Magie zu sprechen. Selbst wenn ich wollte – ich hätte dich nicht einfach einweihen können. Geschweige denn zaubern wie zuvor. Das steht ebenfalls unter Strafe.« »Und jetzt? Du hast es mir doch gerade erzählt!« »Weil du eine Hexe zur Tochter hast, gilt eine Ausnahme. Du hast ja gesehen, was passiert, wenn junge Magiebegabte ihre Macht nicht unter Kontrolle haben. Wir müssen sie beschützen; diese Ausbrüche vor anderen geheimhalten.« Immer noch zittrig nahm Isobel einen tiefen Atemzug. Einerseits war sie erleichtert, dass Robert nun die Wahrheit kannte, andererseits lastete der Vertrauensbruch schwer auf ihren Schultern. Sie sah es in der Art, wie er sie betrachtete, mit dieser steilen Falte zwischen den Augenbrauen. Etwas in ihm war zerbrochen, für immer. »Wie lange weißt du es schon?« »Es fing wenige Stunden nach ihrer Geburt an.« Langsam setzte Robert seine Brille ab und fuhr sich über das Gesicht. Isobel fühlte sich so schuldig, doch sie vollbrachte es nicht, ihm auch nur beschwichtigend eine Hand auf den Arm zu legen. »Isobel ... ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« »Ich weiß. Es tut mir so leid, Robert. So leid.« »Hör auf, das zu wiederholen. Bitte.« Er senkte seine Hände und sah sie aus geröteten Augen an. »Mir ist klar, dass du das nicht wolltest, aber ich erfahre gerade, dass meine ganze Ehe eine Lüge ist. Ich weiß nicht einmal, wer die Frau, die ich geheiratet habe, wirklich ist. Mir tut es leid, aber ...« Ruckartig erhob Robert sich vom Esstisch. »Ich gehe spazieren. Ich brauche frische Luft.« Sie ließ ihn ziehen.   Es war bereits weit nach zehn Uhr am Abend, als Robert endlich zurückkam. Er hatte Schnee in den Haaren und seine Augen waren ebenso gerötet wie seine Wangen. Der Anblick trieb feine Nadeln in Isobels Herz. Sie saß mit Minerva auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatte den ganzen Abend nichts anderes getan, als die Magieausbrüche ihrer Tochter zu beobachten. Selbst ihren Zauberstab hatte sie nicht mehr angerührt. Er lag genauso auf dem Esstisch, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Auch jetzt im Moment schwebte eine rot-goldene Kugel des Weihnachtsbaums hoch über ihren Köpfen durch den Raum wie ein verirrter Schnatz. Die Hauskatze machte das ganz närrisch. Sie flitzte dem federlosen Flugobjekt hinterher, hin und wieder einen Satz machend, um den vermeintlichen Vogel zu erwischen. Robert betrachtete das Geschehen einen Moment lang, ehe er sich vorsichtig neben seine Frau setzte. Isobel entging der Abstand zwischen ihnen nicht. Er vertraute ihr nicht, da konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. Innerhalb weniger Stunden hatte sie sein ganzes Weltbild eingerissen und ihm überdies enthüllt, dass sie Schuld daran trug, dass seine Tochter ein vollkommen ungewöhnliches Leben führen würde. Robert streckte eine winterkalte Hand nach ihrer aus und drückte sie zaghaft. »Es wird Zeit brauchen, Isobel, bis ich mich daran gewöhnt habe. Aber ich liebe euch. Dich und Minerva. Ich will versuchen, es zu verstehen. Ich habe dir geschworen, immer an deiner Seite zu stehen, und das will ich halten.« Sie atmete tief durch. »Danke.« Er legte den Kopf leicht schief. »Ich habe eigentlich nur einen Wunsch ... ich würde gerne mehr von deiner Welt hören. Ich verstehe jetzt, warum du so gerne jeden Abend meinen Geschichten gelauscht hast, aber nun ... würde ich stattdessen gerne deine Geschichten hören. Vielleicht verstehe ich dann besser.« Geradezu erleichtert erlaubte es Isobel sich nach Monaten der Angst, ihm endlich wieder ein Lächeln zu schenken. »Sehr gerne.« Den Karton ganz unten in ihrem Kleiderschrank, noch hinter den selten getragenen Paaren kratzigster Wollsocken, hatte sie selber seit dem unfreiwilligen Auszug bei ihren Eltern nicht mehr geöffnet. Auch für sie war es wie eine Reise in eine ferne Welt, als sie an diesem Abend den Deckel von der Schachtel hob und sich verblassten Bildern gegenübersah. Ihr kamen noch mehr als einmal die Tränen, während sie die Spuren ihres alten Lebens in der magischen Welt vor Robert ausbreitete und ihm mit stockender Stimme von den besten Zaubersüßigkeiten, unglaublichen Sportarten und allerhand zauberhaftem Unsinn berichtete. Aber am Ende war es gut so, besser als wenn sie das ganze Weihnachten versucht hätte, die Magie ihrer kleinen Tochter zu verschleiern. Robert rieb sich in den kommenden Tagen noch öfters verwundert die Augen, sobald Ungeheuerliches vor seiner Nase geschah, doch er lauschte ihren Geschichten auch mit derselben Andacht, die sie seinen Erzählungen entgegengebracht hatte. Ihre Ehe war stärker als die Unterschiede, die sie fast entzweit hätten. Und so sehr es Isobel schmerzte, dass sie die Magie aufgegeben hatte, so sehr liebte sie Robert. Es war weiß Gott – oder Merlin – kein einfacher Weg, der vor ihnen lag, doch sie würden ihn gemeinsam gehen. Minerva zuliebe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)