Pan von Alaiya ================================================================================ Kapitel 4: 1933 – Egon ---------------------- Egon rannte, obwohl die eisige Luft in seinen Lungen brannte. Er wusste nicht genau, wovor er floh, doch er wusste, dass es nicht gut sein würde. Was auch immer die Polizei machen würde, es würde nicht gut für ihn enden. Er sah über seine Schulter. Da waren keine Polizisten hinter ihm. Ihn verfolgte niemand. Wahrscheinlich hatte es ihnen einfach gereicht, das Lokal zu besetzen. Und doch traute Egon sich nicht, stehen zu bleiben. Also rannte er und rannte – immer weiter durch die Berliner Nacht. Ja, eigentlich hätte er wissen müssen, dass es irgendwann so enden würde. Vor dem Gesetz war ein Leben, wie er es führte, weiterhin verboten. Es hatte nie aufgehört verboten zu sein. Nicht, nachdem die Gesetzesänderung vor drei Jahren gescheitert war. Es war also nur eine Frage der Zeit gewesen, dass die Polizei unter neuer Leitung sich umbesinnen würde, dass man ihn und seinesgleichen jagen würde. So wie man sie diese Nacht gejagt hatte. Er wusste nicht, das wievielte Lokal die Matrosenecke gewesen war. Es hatte ja bereits vor zwei Monaten angefangen, als die Polizei das Eldorado besetzt hatte. Sie hätten ahnen sollen, dass es dabei nicht blieb. Es war pures Glück gewesen, dass er entkommen war, bevor sie ihn hatten festnehmen können. Es war töricht gewesen, überhaupt noch ein Lokal zu besuchen. Die Zeit war vorbei. Die Zeit der freien Liebe hatte geendet, spätestens mit dem Preußenputsch. Jetzt würde es wieder sein wie früher. Jetzt müsste er sich verstecken. Jetzt müsste er sich verstecken, sich eine Frau nehmen oder vielleicht auswandern. Doch auswandern wohin? Es gab keinen Ort in Europa – auf der Welt – wo ein Leben, wie er es führen wollte, legal war. Er spürte die Verzweiflung in sich aufkeimen. Noch immer rannte er. Er rannte und die kalte Luft brannte in seiner Lunge. Wie weit war er schon gelaufen? An einer Straßenecke erlaubte er es sich schließlich innezuhalten. Er war für einen einfachen Abend in der Bar gekleidet. Niemand sollte ihn der Szene zuordnen können, wenn er nun aufgegriffen würde. Er durfte ja hier draußen sein. Niemand würde jetzt noch wissen, woher er gekommen war. Genau, es gab keinen Grund weiterzulaufen. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet, der nun in der eisigen Winterluft zu gefrieren schien. Wie kleine Nadeln stach die Luft in seine Haut. Er sollte einfach nach Hause gehen und dann... ja, dann mit seinem versteckten Leben beginnen. Bevor es noch schlimmer würde. Etwas sagte ihm, dass es noch schlimmer werden würde. Eine ungute Vorahnung. Für vielleicht drei oder vier Minuten erlaubte er es sich, an der Straßenecke auszuharren und wieder zu Atem zu kommen. Dann richtete er sich auf, zupfte seine Jacke zurecht und trat seinen Heimweg an – so war zumindest sein Plan. Er war allerdings nicht besonders weit gelaufen, als aus einiger Ferne eine Melodie an seine Ohren drang. Beschwingter Jazz säuselte von irgendwo durch die Luft. Ja, irgendwo wurde noch gefeiert – wahrscheinlich in einer einfachen Bar, einem einfachen Tanzsalon. Er lauschte. Etwas an dieser Musik wirkte so vertraut, so beruhigend. Ganz automatisch richteten sich seine Füße in die Richtung, aus der die Musik kam. Es war, als würde sie ihn rufen. Egon achtete nicht einmal mehr darauf, wo er genau lang lief. Wie ein Schlafwandler folgte er einfach den verführerischen Klängen, die ihn an eine bessere Zeit vor vier Jahren erinnerten. Damals, bevor in New York die Börse kollabiert war. Damals, bevor sich alles in diese ungute Richtung gewandt hatte. Wie von allein trugen seine Füße ihn eine Gasse entlang, ja, ein Gewirr von Gassen. Er hatte nicht gewusst, wie viele Gassen es überhaupt in Schöneberg gab. Es war ein Labyrinth, doch auch wenn es ein Labyrinth war, schien er den Weg genau zu kennen. Er ging gezielt und ohne Zögern durch das Gewirr von Wegen und Hintergässchen. Die Musik wurde lauter, immer lauter, bis er schließlich zu einem kleinen Platz kam. Häuser umringten ihn, doch nur eins davon war ihm zugewandt. Es war ein mehrstöckiges Gebäude, doch während die oberen Stockwerke vollkommen unauffällig waren, so öffnete sich im Erdgeschoss eine große Doppeltür. Der Eingang war jedoch zusätzlich mit roten Samt verhangen. In verzierten Lettern stand der Name des Lokals über dem Eingang: Pan. Die Musik kam eindeutig von hier. Egon konnte sich nicht helfen. Er schob den Vorhang zur Seite und fand einen Ballsaal, so wie es sie früher an vielen Stellen gegeben hatte. Aber größer. Es war ein Lokal, wie er es oft besucht hatte. Hier tanzten Männer mit Männern, Frauen mit Frauen. Leute standen an den Wänden, saßen an der Bar, flirteten gemeinsam, rauchten, tranken. Es war, als wäre die Bedrohung da draußen hier drinnen nicht länger existent. Aber er musste sie warnen. Zwar hatte er nie von dem Lokal gehört, doch hieß das nicht, dass die Polizei es nicht hatte. „Hört mal“, setzte er an, auch wenn seine Stimme komplett von der Musik verschlungen wurde. Tief atmete er durch, ehe er schrie: „Hört mal, alle zusammen! Ihr müsst mir zuhören!“ Einige hörten mit dem Tanz auf und wandten sich ihm zu. Die Musik hörte jedoch nicht auf zu spielen. „Ihr müsst mir zuhören!“, wiederholte Egon, so laut wie es seine Stimme erlaubte. Tatsächlich war es der Spieler des Kontrabass, der nun mit dem Spiel aufhörte und die anderen Musiker dazu anhielt, es ihm gleich zu tun. „Die Polizei führt Durchsuchungen durch! Ihr seid hier nicht sicher! Sie verhaften Leute wie uns!“ Die Leute sahen ihn verständnislos an. Manche tauschten verwirrte Blicke. Andere schüttelten den Kopf. Auch die Musiker sahen einander an, ehe sie wieder zu spielen begannen. „Versteht ihr denn nicht? Sie werden euch verhaften!“, rief Egon. Aber niemand wollte ihm mehr zuhören. Die Menschen hier schienen sich nicht daran zu stören. Sie tanzten, tranken, redeten, lachten, als wäre die Welt da draußen nicht länger real. Egon wusste einfach nicht, was er tun sollte. Am besten, er kümmerte sich um sich selbst. Am besten, er ging nach Hause. Wieso widerstrebte es ihm nur so? Stattdessen trugen seine Füße ihn gänzlich ohne sein Zutun an die Bar, die sich auf der anderen Seite der Tanzfläche befand. Er lehnte sich gegen die Theke und suchte den Blick des kräftigen Mannes, der hier arbeitete. Nun sah dieser ihn mit seltsam glänzenden Augen an. „Hören Sie“, flehte Egon, „die Polizei nimmt Lokale wie dieses hier hoch! Sie sind hier nicht sicher! Die Leute hier werden verhaftet werden und dann ...“ Ja, er wusste noch immer nicht was dann. Der Mann hinter der Theke schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Sie werden uns hier nicht finden. Die Polizei kann diesen Ort nicht betreten.“ „Was? Aber natürlich können sie ... Ich meine …“ Was meinte er eigentlich? Der kräftige Mann nahm eine Flasche aus dem Regal hinter sich und begann, einen Cocktail zu mischen. „Du bist hier sicher, Egon. Du musst nicht länger fliehen. Du kannst einfach hier bleiben. Feiern. Tanzen. Was dir beliebt.“ Er füllte den Cocktail in ein flaches Glas und schob es ihm zu. „Entspann dich.“ Fassungslos starrte Egon auf den Cocktail vor sich. Das konnte nicht sein, oder? Vielleicht aber doch. Eine seltsame Sicherheit wollte in sein Bewusstsein dringen. Ja. Hier war er sicher. Die Polizei würde nicht hierher kommen. Er konnte einfach hierbleiben, trinken, feiern, tanzen und niemand würde ihn holen. Er wäre hier sicher. Für immer. Seine Hand zitterte, als er sie nach dem Glas ausstreckte. Ein Teil seines Bewusstseins wehrte sich noch immer gegen die Erkenntnis und doch war sie so unumstößlich, wie seine Angst zuvor. Er wäre hier sicher. Er könnte hier bleiben. Er würde hier bleiben. Hosted by Animexx e.V. 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