Pan von Alaiya ================================================================================ Kapitel 1: 1919 – Ilse ---------------------- Die Straße lag leer und verlassen vor Ilse. Um kurz vor eins in der Nacht war selbst in Berlin-Schöneberg nicht mehr so viel los. Die meisten waren nach Hause gegangen, lagen bereits in ihren Betten und schliefen sich für den nächsten Tag aus. Ilses Füße taten so unglaublich weh. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, doch es machte den Schmerz nur bedingt besser. Über neun Stunden hatte sie gearbeitet, weil eine Gruppe junger Männer einfach nicht hatte gehen wollen. Sie hatten an ihrem Tisch gegessen und Runde um Runde neues Bier bestellt. Wenigstens konnte sie jetzt nach Hause. Sie erlaubte sich, herzhaft zu gähnen. Hier war ohnehin niemand, der sie sehen konnte. Gerade wollte sie einfach nur aus ihrer Uniform heraus, wollte sich in ihr Bett legen und endlich schlafen. Der nächste Tag würde wieder genau so anstrengend werden. Sie hatte erneut die Spätschicht und damit einen Feierabend, der komplett von den Launen der Kunden abhing. Zum Glück musste sie nicht mehr weit laufen, ehe sie heimkommen würde. Dann aber – sie war gerade an einer Ecke der Barbossastraße – klang Musik an ihre Ohren. Es war eine beschwingte Musik, die die Lust in ihr weckte zu tanzen. Aber das war albern. Sie war viel zu müde, um tanzen zu gehen, davon abgesehen, dass sie kaum dafür gekleidet war. Welche Bar oder Ballhalle wohl um diese Zeit noch aufhatte? Nun, wahrscheinlich gab es ein paar. Selbst unter der Woche gab es in Schöneberg doch genügend Orte, an denen man die Nacht durch tanzen konnte. Manchmal wünschte Ilse sich, sie hätte den Mut, sich in solche Etablissements zu trauen. Aber sie war immer die ruhige, graue Maus gewesen, die nie ausgegangen war. Sie hatte lieber Bücher gelesen und ihrer Mutter im Haushalt geholfen. Warum sie überhaupt nach Berlin gekommen war, konnte sie schwer sagen. Dennoch klang die Musik, die an ihre Ohren klang, seltsam beschwörend. Es war, als wolle sie Ilse direkt einladen, als wäre sie für Ilse allein bestimmt. Da war ein schnelles Trompetenspiel, unterstützt von irgendeinem Streichinstrument. Sie wollte direkt mittanzen. Dabei taten ihre Füße doch so unglaublich weh. Trotzdem konnte Ilse ihre Neugierde nicht unterdrücken. Immerhin war sie diesen Weg schon so oft gelaufen und hatte an dieser Ecke noch nie Musik gehört. Hatte vielleicht ein neuer Tanzclub aufgemacht? Ja, sie sollte wirklich nach Hause gehen. Stattdessen aber ging sie zurück und lauschte, um der Musik zu folgen. Sie schien Ilse wirklich zu sich zu rufen. Ja, aus der angrenzenden Straße schien sie zu kommen. Da, zwischen den zwei Häusern hindurch, schwebte die Musik auf unsichtbaren Flügeln durch die Luft. Ilse folgte ihr, folgte den lauter werdenden Tönen durch eine Gasse. Dabei kam sie nicht umhin sich zu fragen, wer in so einer hinteren Gasse einen Musiksalon verstecken würde und das, ohne ein Schild an der größeren Straße zu befestigen. Dann aber kam sie auf einen kleinen Platz, an den nur ein großes Gebäude grenzte. Es war ein mehrstöckiges Gebäude, das vielleicht in den oberen Stockwerken noch Wohnungen oder Lagerräume beherbergte. In seinem Erdgeschoss jedoch standen zwei große Schwingtüren offen, deren Durchgänge von schweren Samtvorhängen bedeckt wurde. Über den Schwingtüren waren große, goldene Lettern angebracht, die von Lampen angestrahlt wurden. „Pan“ stand dort. Mittlerweile hatte die Band im Inneren ein neues Stück zu spielen begonnen. Dieses mal eine sanftere Melodie, die jedoch nicht weniger betörend war. Die Schuhe noch immer in der linken Hand, streckte sie ihre rechte nach dem Vorhang auf und schob ihn zur Seite. Sie trat ein in das Pan und fand sich kurz darauf in einem großen Ballsaal. Nein, es war mehr als nur ein Ballsaal. Da war eine Bar, die die komplette Länge einer Wand ausmachte. Auch waren da Tische in einer Ecke, allesamt durch niedrige Wände voneinander getrennt. Der Ballsaal und auch die Bar waren gefüllt mit Menschen, die kein Zeichen von Müdigkeit zeigten. Tatsächlich spürte auch Ilse die Müdigkeit aus ihren Knochen schwinden. Selbst die Schmerzen ihrer Füße schienen nachzulassen. Sie war einfach fasziniert von dem Bild, was sich hier zeigte. All die tanzenden und feiernden Menschen. Einige in feiner Kleidung, andere jedoch weniger fein gekleidet. Dann aber fiel ihr etwas anderes auf. Die Erkenntnis jagte ihr die Röte in das Gesicht, doch waren die tanzenden Paare nicht Mann und Frau, sondern Mann und Mann, Frau und Frau, und Menschen, deren Geschlechter sie kaum richtig zuordnen konnte. Natürlich hatte sie von dieser Art von Etablissement gehört, doch her getraut hätte sie sich nicht. Wieso also hatte sie das Gefühl, dass sie nun bleiben wollte? Dass sie sich setzen wollte? Dass sie tanzen wollte? Sie fühlte sich an ihre Jugend erinnert und an Hilde mit dem strahlend roten Haar und dem besonnenen Lächeln. Ilse hatte damals so viele verwirrte Gefühle gehabt, doch darüber gesprochen hatte sie nie. Sie hatte es ihren Eltern nicht antun wollen, hatte auch nicht riskieren wollen, was ihr Vater vielleicht tat, wenn er von diesen Gefühlen erfuhr. Und jetzt stand sie hier in diesem Ballsaal, der wohl fraglos eines dieser Etablissements war. Da bemerkte sie eine junge Frau, die einen Moment früher noch mit ihrer Partnerin auf der Tanzfläche getanzt hatte. Ihr Haar war kurz und lag kunstvoll geformt an ihrem Kopf an. Auch hatte es einen rötlichen Glanz. „Willkommen!“, rief sie Ilse lachend zu. Auch ihre Partnerin lächelte Ilse entgegen. „Willkommen!“ Ilse wusste, dass sie eigentlich gehen sollte. Was würden die Leute nur denken, wenn sie wussten, dass sie in so ein Etablissement gegangen war. Dann aber wiederum hatte die Band gerade einen neuen Song angestimmt und vielleicht wäre es für einen Abend – nun, eine Nacht – auch einmal ganz schön, an einer Bar bedient zu werden. Vielleicht war sie zu schlecht gekleidet, doch einige andere hier waren auch in Arbeitskleidung erschienen. So würde sich wohl niemand an ihr stören. Ja, ein Getränk konnte sie riskieren. Wenngleich ihrer Sache noch immer nicht sicher, zog Ilse sich die Schuhe wieder an und wagte dann den Weg an der Wand entlang. Sie wollte niemanden im Weg herumstehen. Den Weg zur Bar fand sie recht schnell, setzte sich auf einen der Barhocker und rückte etwas unsicher auf diesem hin und her. „Willkommen!“, grüßte sie der recht kräftig gebaute, bärtige Mann hinter dem Tresen. Er grinste sie an. „Sind Sie das erste Mal hier, Fräulein Ilse?“ Es kam ihr gar nicht seltsam vor, dass dieser Mann ihren Namen kannte. Sie senkte bloß den Blick und nickte unsicher. „Ich weiß genau, was ich Ihnen bringen kann.“ Schon holte der Mann eine Flasche Absinth aus dem Regal hinter sich und begann, etwas zusammen zu mischen. Ilse traute sich nicht, ihn anzusehen, beäugte derweil nur den hölzernen Tresen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hier herein zu kommen. Sie würde nur einen Drink trinken und dann verschwinden. Da rutschte jemand auf den Barhocker neben sie. Es war die Frau, die sie bereits am Eingang willkommen geheißen hatte. Sie trug ein enganliegendes, silbern glitzerndes Kleid. „Dein Name ist Ilse?“, fragte sie. Ilse sah sie unsicher an. „Woher weißt du das?“ „Ich habe es ihn sagen gehört“, erwiderte die Frau nur leichthin. Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Mein Name ist Magda.“ Ilse sah zu dem Mann, dann zu Magda. Unsicher ergriff sie ihre Hand. „F-freut mich“, brachte sie hervor. Dabei kam sie nicht umhin wahrzunehmen, wie hübsch Magda war mit den kleinen Grübchen, die sich bei jedem Lächeln auf ihren Wangen bildeten. Dabei war dies wirklich nichts, was sie denken sollte. „Hier bitte“, sagte der Mann hinter der Bar und stellte ihr ein Cocktailglas mit einem grünlich schimmernden Cocktail hin. „Danke.“ Ilse presste ihre Lippen zusammen. Jetzt musste sie das wohl trinken. „Du musst das unbedingt probieren. Die Cocktails hier sind wirklich großartig“, sagte Magda. Also führte Ilse das Glas an ihre Lippen und trank einen Schluck. Fast augenblicklich spürte sie einen Teil ihrer Anspannung von sich abfallen. In diesem Ballsaal würde sie niemand verurteilen, das wusste sie auf einmal. Ja, sie war hier willkommen. Sie war wirklich hierher gerufen worden. „Du bist das erste Mal hier?“, fragte Magda. Ilse nickte. „Du nicht?“ „Ich? Ach, ich bin eigentlich immer hier.“ Dabei lächelte sie so breit, dass sich ihre Grübchen tief in ihre Wangen gruben. Ilse konnte sich nicht helfen. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Ja, vielleicht war es das richtige gewesen, hierher zu kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)