Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 6: Superdupernatural - 2 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 2 - Superdupernatural ~ „Ich habe vor einer Weile bei jemanden wegen der Spieluhr angefragt“, erklärt Damast auf dem Weg aus dem Keller nach oben, „Vielleicht kann er uns sagen, was sie gespielt hat und wann sie gebaut wurde. Da er sich bisher nicht gemeldet hat, statten wir ihm einen Besuch ab.“ Er nimmt auf der Treppe zwei Stufen gleichzeitig und ich habe Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Es wundert mich nicht, dass er einen Kerl für Spieluhren aus dem Hut zaubert, allerdings ist mir vollkommen unklar, was uns das bringen soll. Doch ich hake nicht weiter nach, denn ich bin froh über jede Ablenkung. Als wir das großräumige Büroabteil der Morddezernatskollegen durchqueren, ist der Platz von Barres und Marks leer. Ich verlangsame mein Tempo unvermittelt. „Hey! Ich komme gleich nach. Warte am Auto auf mich.“ Den letzten Teil murmele ich mehr zu mir selbst, werfe ihm aber einen kontrollierenden Blick zu. Damast hebt lediglich seinen Arm, ohne sich umzudrehen. Ich observiere für einen Moment die anwesenden Kollegen, doch niemand scheint mich zu bemerken oder nimmt mich zur Kenntnis. Also mache ich einen kleinen Schwenker zu dem Schreibtisch des adrett gekleideten Kollegen Barres und stelle mit Freude fest, dass Manuels Akte noch am selben Ort platziert ist. Ich stibitze sie heraus, fotografiere unauffällig, während ich schnell die Seiten durchblättere und folge Damast zügig zum Auto. Ich brauche eine Weile, bis ich ihn und den Metallkasten auf vier Rädern wiederfinde. Der schlaksige Kerl lehnt am Kofferraum und telefoniert. Ich öffne die Beifahrertür, ohne darauf zu warten, dass er mich bittet, merke, wie mir sofort der lehmige Geruch von feuchtem Schlamm in die Nase steigt. Mit wachsender Gänsehaut blicke ich nach hinten auf den Rücksitz. Das Auto ist noch nicht gereinigt und die Polster sind voller Spuren, die unsere verschmutzte Kleidung zurückgelassen hat. Ich denke unweigerlich an Izan und mein Brustkorb verengt sich. Die Unfähigkeit, aktiv etwas für den Jungen zu tun, lässt mich in Taubheit versinken. Und ich hasse es! Ich verfalle, sobald ich mich anschnalle, ins Grübeln und sehe nur kurz auf, als Damast endlich einsteigt und den Motor startet. Wenn ich schon Izan nicht helfen kann, muss ich es schaffen, Manuel zu retten. Irgendwie. Doch im Moment hemmen mich die bürokratischen Strukturen, denn ich weiß nicht, was ich tun kann, ohne, dass es mir selbst die Beine stellt. Aus Frustration schalte ich das Radio an. Es laufen die Nachrichten. Am Boscop-Pfad, einem bei Spaziergängern beliebter Waldabschnitt im Geiger-Distrikt wurde durch einen Jogger ein Grab entdeckt. Doch die weiteren Ausführungen des Sprechers gehen im Geräuschpegel meines einsteigenden Kollegen unter. Die Fahrt ist nur von kurzer Dauer und verhilft mir zu keinen nützlichen Problemlösungen. Wir durchqueren zwei Bezirksgrenzen und halten im südlichen Teil der Stadt. Eine der gehobenen Gegenden. Damast parkt in einer Seitengasse. Die Feuerschutzwand einer der Gebäude ist mit einem künstlerischen Graffiti verziert. Es zeigt einen farbenprächtigen Feen-Wald. Satte Grüntöne, tiefes Blau und federleichte Strukturen im hauchzarten Schimmer. Eine großartige Arbeit, das sieht selbst ein Laie wie ich. Ich starre zu einer spärlich bekleideten Elfe mit langen glänzenden Flügeln, die auf einem Stein mit drei braunen Augen sitzt. Eine kurze Reflektion lässt es wirken als würde er blinzeln und plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher, welche Augenfarbe es wirklich ist. Sie schimmert blau. Damast wirft mir einen auffordernden Blick zu, ehe er aussteigt, den ich mit gespieltem Zorn erwidere. Damast schüttelt nur den Kopf und ein weiteres Mal an diesem Tage folge ich ihm wie ein stupider Anfänger. Es gefällt mir nicht. Wir bleiben vor einem Geschäft mit Fassadenvertäfelungen stehen, in die kleine handbemalte Fliesen eingearbeitet sind. Sie sind dunkelrot und stechen dadurch deutlich hervor. Wir betrachten beide das ‚Geschlossen‘-Schild des Antiquariats. Ich sehe mich nach einem Geschäftsnamen oder einem Schild um, doch finden kann ich nichts. „Ist heute Montag?“, fragt Damast, schaut nach links und rechts, als gäbe es irgendwo die Straßen hinunter einen Anhaltspunkt für den Wochentag. Es sollte mich überraschen, dass er es nicht weiß, doch es passt ins Bild. „Mittwoch“, erkläre ich. Unsere beiden Augenpaare wandern gleichzeitig zurück zur Tafel mit den Öffnungszeiten. Das Geschäft wäre seit zwei Stunden geöffnet. Theoretisch. Ich spähe in den Laden hinein und kann erwartenderweise nichts erkennen außer Unmengen an rechteckigen Silhouetten und fluktuierenden Schatten. Ein älteres Paar mit Dackel spaziert an uns vorbei und beäugt uns wie Verdächtige eines vorstehenden Raubes. Auch mein Kollege wirft ihnen einen auffällig langen Blick zu und sein Gesichtsausdruck wirkt für einen Sekundenbruchteil vollkommen abwesend. Seine Augen scheinen getrübt. Er blinzelt und es ist verschwunden. In mir breitet sich das Gefühl aus, irgendwas verpasst zu haben. Es ist wie ein Kitzeln in den Zehen. „Kaffee?“, fragt der andere Polizist unbeschwert nach einer schnell getippten Handynachricht. Seine Frage bestätigend wackele ich mit den Gliedern und folge seinem Blick die Straße runter zu einem der unzähligen Coffeeshops, die sich wie bunte Perlenketten aneinanderreihen. In diesem Viertel verweilen überwiegend Menschen, die ihren täglichen Kalorienbedarf in Kaffee umsetzen und ein dementsprechend hohes Entgelt tilgen können. Wir befinden uns in einem der vielen Künstlerviertel, die direkt an den Regierungsdistrikt anschließen und überwiegend durch Touristen frequentiert werden. Die Häuser hier sind mehrheitlich Eigentumswohnungen, in deren Erdgeschossen viele kleine Galerien und Klimbim-Läden integriert sind. Alles ist modernisiert und oft nur wenige Monate im Jahr bewohnt, die restliche Zeit stehen die Wohnungen leer oder werden temporär an Touristen vermietet. Damast fordert mich auf, zu bestellen, nachdem er selbst einen Kamillentee ordert. Tee in einem Coffeeshop. Dann noch Kamille? Die Option, Damast zu verleugnen, steht mir nicht offen, da ich will, dass er für mein Getränk bezahlt, also reagiere ich mit einem fremdschämenden Grinsen auf den ungläubigen Gesichtsausdruck des Baristas. „Einen großen Americano, bitte. Erklärst du mir, wie dein Experte eigentlich herausbekommen will, welche Musik die Spieluhr spielte? Ich dachte, der Mechanismus ist defekt?“, erkundige ich mich. Die Frage nach dem Grund dieses Schrittes stelle ich gar nicht erst. Ich schiele zum Barista, der den frischgemahlenen Kaffee in den Siebträger gibt. „Spielwerk“, ertönt es neben mir. „Was?“ „Das Musikdingsinnere nennt man Spielwerk.“ Ich schenke ihm einen unverhohlenen Blick voller Gereiztheit und Entrüstung. Es prallt an ihm ab, wie schon zuvor. „Wie auch immer. Wie will er ohne das Spielwerk herausbekommen, was es gespielt hat?“ Das röchelnde Geräusch der Maschine verstummt und der Barista lässt den schwarzen Lebenssaft in einen To-Go-Becher fließen. Der Duft der frisch gerösteten Bohnen weht mir entgegen und ich inhaliere tief. Ich greife nach dem dampfenden Becher, der vor mir abgestellt wird und warte darauf, dass Damast bezahlt und ebenfalls sein Getränk nimmt. „Muss ich dir wirklich erklären, wie diese Dinger funktionieren?“, sagt er abfällig. „Bekämst du es hin, ohne wie ein aufgeblasenes Professorenarschloch zu klingen?“, erkundige ich ebenso despektierlich. „Touché. Glaub mir einfach, dass man das noch erkennt. Außerdem gibt es das Notizbuch von de Lucia. Darin sind Noten skizziert. Es ist anzunehmen, dass diese mit der Spieluhr im Zusammenhang stehen.“ Ich erinnere mich daran, sie ebenfalls gesehen zu haben, bin aber nicht sicher, dass man daraus ein gesamtes Musikstück ableiten kann. Allerdings habe ich von musikalischen Dingen kaum Ahnung. Wir lassen uns an einen der auf dem Bürgersteig stehenden Tische nieder. „Anzunehmen? Du denkst also, der Totengeist hat ihm diese zugeflüstert, sozusagen?“, fasse ich seine weithergeholte Äußerung für mich zusammen. „Sozusagen“, echot er, nicht weniger sarkastisch. „Und was bringt uns das?“ „Mir bringt es eine lückenlose Aufklärung darüber, wo der Dibbuk herkam und wann er möglicherweise entstanden ist, was im Übrigen auch für den Rebbe interessant ist. Solche antiken Stücke haben oftmals eine lange und düstere Familiengeschichte. Sie bringen regelmäßig Unheil und Unruhe in die Gemeinden“, palavert er generös, „Du kannst es ja als Beschäftigungstherapie abhaken.“ „Du frustrierst mich“, entgegne ich knurrend und gebe ihm die alleinige Schuld, dass meine sonst hochgelobte Kollegenetikette flöten geht. „Du bist nervtötend.“ „Du kannst mich mal. Was genau heißt das jetzt?“ „Wahnsinnig nervtötend“, wiederholt der Blasebalg an Ungereimtheiten, ohne an Pfeffer zu verlieren, „Okay, gut. Ich habe mir gestern deinen Zeitungsartikel genauer durchgelesen und fand ein paar interessante Anmerkungen. Daraufhin habe ich die Todesanzeigen der letzten Wochen durchsucht und fand den Namen der Besitzerin des Nachlasses. Also bin ich danach noch zum Friedhof zurückgefahren...“ „Gestern Abend? Schläfst du irgendwann auch mal?“, frage ich, lehne mich vor und nehme einen Schluck des Kaffees. „Ich konnte nicht schlafen. Kann ich fortfahren?“ Ich mache nur eine kurze, wedelnde Handbewegung und presse die Lippen aufeinander. „Die alte Dame, deren Nachlass auf dem Flohmarkt veräußert wurde, ist dort begraben. Sie gehörte einer namenhaften, alten jüdischen Familie an, hatte aber keinen Nachfahren. Das dortige Gebetshaus hat ein kleines Archiv, in dem ich ein paar Aufzeichnungen zu ihr und ihrer Familie finden konnte“, erklärt Damast weiter, lehnt sich zurück und legt seine langen, schlanken Beine auf einen der unbenutzten Stühle ab, „Ich vermute, dass der Totengeist in direkter Verbindung zu ihrer Familie stand. Ein Bruder, ein Onkel. Ein Neffe oder ein Cousin. Dritten, vierten, fünften Grades.“ Er denkt kurz darüber nach, was es noch für männliche Verwandtschaftsmöglichkeiten geben könnte. „Keine Ahnung, wer es genau war. Es ist nicht mehr nachvollziehbar. Für gewöhnlich vermeiden es Familien, derartige Vorkommnisse auszubreiten, daher wird es sicher auch keine direkten Aufzeichnungen über den Dibbuk geben. Ich konnte aber Vermerke auf mehrere, unvorhergesehene Todesfälle innerhalb der Familie finden, was ein hinreichender Hinweis ist, dass irgendwas nicht ganz koscher war.“ Er nimmt einen Schluck von seiner gelblichen Plörre und fährt fort. „Und bevor du fragst, der Ursprungsmythos besagt, dass diese Totengeister entstehen, wenn der Tote keine Erlösung findet und sie zuvor ein unerfülltes Leben geführt haben. Problematisch ist natürlich, dass Unerfüllt immer sehr subjektiv ist.“ „Wohl wahr“, bekräftige ich und benetze meine Lippen mit der vorzüglichen Bitternis des Americanos. „Wahrscheinlich wurde schon früher versucht, dem Dibbuk habhaft zu werden und ihn auszutreiben, was letztendlich auch geklappt hat, wie die Reste der Versiegelung an der Spieluhr zeigen.“ „Der Totengeist war also nicht gut drauf, als er wieder rausgelassen wurde. Und Izan ist wegen der Nachfahrin zu dem Friedhof?“, frage ich und habe das Gefühl, dass nur noch mehr Fragezeichen in meinem Kopf aufploppen. Als Damast grübelnd seinen Kopf hin und herwiegt, nicke ich auffordernd. „Der Dibbuk, ja, nehme ich an. Es kann alles Mögliche dazu geführt haben, dass er entstand. Eine Familienfehde. Hass. Unrecht. Mord. Hunger. Sonstige Sünden. Vielleicht wollte er sich an seiner Nachfahrin rächen oder er suchte das letzte Bisschen Verbindung auf, welches irdisch für ihn bestand. Sie sind nicht gut erforscht. Außer Frage steht jedoch, dass Dibbuks besonders häufig ... Jüngere in Besitz nehmen, was erklärt, weshalb er sich hauptsächlich an Izan hängte und nicht an de Lucia oder Bakow. Aus ihnen zog er nur Energie, um sich zu kräftigen und manipulierte ihr Verstand, was sie langsam wahnsinnig werden ließ.“ Ich frage gar nicht erst, wo er diese Informationen her hat. Zugegebenermaßen fühlt es sich auch noch immer an, als würde er mir einen schlechten Horrorroman zusammenfassen. Obwohl ich das dringende Bedürfnis verspüre, es zu verstehen, erhält sich die Sperre in meinem Kopf aufrecht. Darüber zu sprechen, als wäre es ein Fall wie jeder andere, macht mich fertig. „Was heißt das genau? Warum gerade Izan, doch nicht nur weil er jung ist?“, bohre ich nach und sympathisiere mit der Wärme des Kaffees. „Er hatte die Spieluhr zuerst in der Hand, meine ich. Laut etlicher Aufzeichnungen heißt es, dass sie sich üblicherweise jüngerer Frauen bemächtigen, da diese leichter zu lenken sind und mit besonders zweifelhafter Lebensweise aufwarten. Damals jedenfalls, das bedingt sich durch die vorherrschenden, moralischen Ansichten und mittelalterlichen Auffassungen. Keuschheit und derartiges. So steht es zu mindestens in den Überlieferungen, das ist nicht meine Meinung.“ „Zweifelhafter Lebensweise“, wiederhole ich mit Skepsis, „Totengeister sind also sexistisch. Gut, aber wieso dann Izan? Auf dem Markt sind bestimmt massenweise junge Frauen rumgelaufen.“ Damast zuckt mit den Schultern und für einen Moment befürchte ich, dass er seine Ausführungen enden lässt. „Also?“, bohre ich nach. „Was weiß ich. Ich würde sagen, sie sind altmodisch und ihrer Zeit angepasst. Möglicherweise verheimlicht der Kleine mehr, als du wahrhaben willst und das hat den Dibbuk angezogen“, kommentiert er schlicht. Ich höre die Andeutung heraus und weigere mich, zu verstehen, worauf er hinauswill. „Er ist noch ein Kind“, schmettere ich den implizierten Vorwurf ab und nehme Izan automatisch in Schutz. Die Lippen meines Gegenübers verziehen sich zu einem bestimmten Lächeln, dessen Bedeutung ich nicht vollumfänglich erlesen kann. Doch das, was ich im selben Moment in seinen Augen erkenne, gefällt mir nicht. Ich habe es schon bei einigen Polizisten gesehen, allerdings waren deren Gemüter durch die jahrelange Polizeiarbeit getrübt. Sie hatten Dinge erblickt, die man nicht sehen möchte, die man nie sehen sollte. Menschliche Abgründe, die jedes Mal wieder ein Stück ihres Glaubens mitrissen, welches sie nie wieder fanden oder neubilden konnten. Wahrscheinlich hat es bei Damast eine ähnliche Bedeutung. Nur, dass er unglaublichere Dinge gesehen hat. Dinge eines anderen Ursprungs, welchen er mir nicht zu erklären vermag. Vermutlich nicht mal beschreiben kann, da ich mir nicht sicher bin, ob ich es verstehen würde. Ich weiß auch nicht, ob ich die Bedeutung von dem, was unlängst stattgefunden hat, vollends begreife. Was ist, wenn er mir erklärte, dass das, was er weiß, meine gesamte Welt zum Einstürzen bringt. Dass das, was er weiß, alles verändert? Der Gedanke rüttelt etwas in mir wach, was die tiefsten und kindlichsten Ängste in mir anspricht. Die verblassten Erinnerungen wispernder Winde, von der Präsenz in der Dunkelheit und dem eigenartigen Geräusch, welches nur das kindliche Gemüt wahrzunehmen schien, werden wieder real. Was, wenn es nie Einbildung war? Wenn das, was die Fantasie malte, in bunten Tönen und facettenreichen Farben, nie nur ein Traum gewesen ist? Wäre ich bereit, es zu akzeptieren? Wäre es damit vereinbar, woran ich stets glaubte? Ich schüttele die Gedanken fort, doch zurück bleibt dieses verzehrende Loch der Ungewissheit in meinem Inneren. „Und was hatte dieses Ding damit zu tun, was mich fast zerquetscht hat?“ „Den Golem, meinst du? Das…der… das war eine Verkettung ungünstiger Umstände, würde ich sagen. Eine ziemlich fatale Verkettung.“ Vikar Damast lacht unnatürlich auf und weicht meinem Blick frenetisch aus. Ich ahne, dass er mir etwas verschweigt. Ehe einer von uns fortfahren kann, werden wir durch laute Musik unterbrochen und schauen uns perplex an. `We get it on most every night´, dudelt es und Damast scheint überhaupt nicht zu bemerken, dass das Geräusch aus seiner Hosentasche kommt. ´When that moon is big and bright. Its a supernatural delight. Everybodys dancing in the moonlight´. Es dauert erschreckend lange, bis er es begreift und das musizierende Gerät herausklaubt. „Bin den Klingelton noch nicht gewohnt“, entschuldigt er sich. Ich sehe dabei zu, wie er argwöhnisch das Display begutachtet und den Anruf wegdrückt. Reste von getrocknetem Schlamm sind an der Rückseite des Handys zu erkennen und unwillkürlich beginnen meine Zehen zu kribbeln, sodass ich sie mehrfach strecke und spreize, bis ich mir sicher bin, dass sie noch da sind. Noch gestern hat es Taylor Swift gespielt. Ein einfacher Tanz im Mondlicht ohne Golem wäre mir lieber gewesen. Das rede ich mir ein, während jede Faser meines Körpers eilig das Gegenteil behauptet. „Gibt es Neuigkeiten?“, frage ich, beobachte, wie er mit dem Daumen mehrmals über das Display streicht und seinen Kopf schüttelt. „Nein, war nur der Monsterbuschfunk. Sie planen beim nächsten Vollmond eine Opferung. Die Jungfrau haben sie schon“, erwidert er salopp und grinst, als ich mich irritiert, aber alarmiert vorlehne. Meine Reaktion ringt ihm ein sarkastisches Wow ab, was mich als absolut leichtgläubig schilt. Ich hätte es ihm kaum leichter machen können. Doch was viel wichtiger ist, diesmal wird die Erregung in meinen Gliedern nicht durch die Furcht geschürt, sondern durch einen Funken Faszination und Aufregung. Ich bin überrascht. „Das ist nicht hilfreich und du hast viel zu viel Spaß daran, mich aufzuziehen“, meckere ich und wende mich ab. Damast lacht lediglich auf. Diesmal ist es ein echtes Lachen. Es ist frustrierend. Ich habe so viele Fragen, doch irgendwas hält mich davon ab, sie zu stellen. Zufriedenstellende Antworten könnte ich sicher nicht erwarten. „Wieso machst du eigentlich dieses Gesicht?“, fragt Damast einen Augenblick später und zerrt sich umständlich die Jacke von den Schultern, weil es wärmer ist als erwartet. Das Innenfutter ist an vielen Stellen eingerissen und aufgeraut. Ein paar Sonnenstrahlen kämpfen sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Mein Kollege zupft sich den Kragen seines Pullovers zurecht und lugt konzentriert in die ovale Öffnung, als würde er etwas anderes darin vermuten als sich selbst. Mein Gesichtsausdruck ist vollkommen normal. Damasts Augenbraue hebt sich, nachdem er das Zuppeln an seinen Klamotten beendet und mich abwartend anschaut. Wieder durchfährt mich dieser winzige, elektrisierte Schauer, der dafür sorgt, dass sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichten. Es fühlt sich an, wie ein Kitzeln ohne Ursache. Diesmal gesellen sich auch die Haare auf meinen Beinen dazu und machen das Erlebnis besonders eigenartig. Da ist etwas in seinem Blick. Etwas Tiefes. Als würde er weiter in andere hineinblicken können als andere oder gar durch sie hindurch. Ich kann es nicht definieren, also ergebe ich mich diesem schwelenden Gefühl. „Von welcher Art Gesicht sprichst du genau? Ich habe viele, weißt du?“, patze ich ihm zu und setze ein leises, knirschendes Geräusch hinterher. Damast lässt sich Zeit, um darüber nachzudenken und nach seiner Erklärung weiß ich auch warum. „Du siehst aus, als hätte sich…hm… ein Chihuahua in deinem Arsch verbissen und du versuchst im Handstand ihn anzuknurren“, eröffnet er mir diese Umschreibung, die er einzig meinem Gesicht entnehmen kann. Einer Mischung aus Ernst und Clownerie. Ich stiere meinen dunkelgelockten Gegenüber an und zweifele an seinem Verstand. Im Handstand? Chihuahua? „Bitte was?“, entgegne ich unaufgeregt. Ich will keine Wiederholung hören. „Du hast gefragt. Also, was ist los? Was beschäftigt dich? Der Dibbuk ist nicht der Grund.“ Mit einem resignierten Seufzer lehne ich mich zurück und inspiziere den angetrockneten Fleck, der sich über einen weiten Teil der Tischkante zieht. Er ist gräulich grün und eigentlich will ich nicht länger darüber nachdenken, was das gewesen sein könnte, also fange ich an zu reden. „Ein alter Schulfreund von mir sitzt seit ein paar Tagen in Untersuchungshaft. Ihm wird Totschlag, möglicherweise auch Mord vorgeworfen.“ „Und er beteuerte dir seine Unschuld?“, erkundigt sich der andere Detective ohne den erwarteten Sarkasmus, was mich überrascht. „Selbstverständlich!“, erwidere ich mit klarer Überzeugung, was mir selbst Angst macht. Doch vielleicht ist es nur das Überspielen der Tatsache, dass ich im Grunde nicht wirklich weiß, ob er dazu in der Lage wäre oder nicht. Zugegeben, ich habe meinen Schulfreund seit Jahren nicht gesehen. Kennt man jemanden jemals wirklich? Ich wage es zu bezweifeln, denn das lehrten mich bisher viele Vorkommnisse meines Lebens. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es gibt ein paar Beweise, die auf ihn als Täter hindeuten.“ „Beweise, nicht nur Indizien?“ Ich nicke. „Was lässt dich zweifeln, abgesehen von der persönlichen Verbindung?“ „Er hat kein hinreichendes Motiv“, sage ich, ohne zu zögern, „Das Opfer war ein polizeibekannter Drogendealer, mit einer offenkundigen Palette an Vorstrafen wie Körperverletzung, Schmuggel und versuchten Mord. Seine Lebensumstände waren dementsprechend konfliktbehaftet. Manuel ist Sportlehrer an einer Mittelschule…“ „Steroide?“, wirft mein Kollege ein. „...mit dem Schwerpunkt Gymnastik. Nein!“, beende ich meinen angefangenen Satz mit einer Stimme voll deutlicher Ablehnung. „Nichtsteroidale Antirheumatika?“, schlägt Damast unbeirrt vor. Es ist als wäre er ein kriminologisches Apothekenhandbuch, mit nervtötender Siri-Funktion. „Ach bitte, nicht das schon wieder“, schmettere ich hastig ab und erinnere mich gut an Plattitüden, die er mir schon beim de Lucia-Fall zukommen ließ, „Er ist der letzte, der irgendwas an chemischen Substanzen einnimmt. Im Gegenteil sogar, er fährt eine besonders strenge Anti-Drogenpolitik an der Schule und initiiert regelmäßig Aufklärungsveranstaltungen für den gesamten Schulbezirk. Er verweigert Ibuprofen und jede Form der Gewalt“, erkläre ich mit Inbrunst. Die Erinnerung an die letzten Gespräche und die kurze Recherche zu meinem ehemaligen Schulkameraden, um mich auf den neusten Stand zu bringen, trugen etliche Früchte und hinterließen in meinem Schuldbewusstsein einen nervös blinkenden Fleck in der Größe von Kanada. „Damit hast du doch dein Motiv. Er hatte die Schnauze voll und hat es selbst in die Hand genommen. Frustrationen, weil Verbrechen nicht gestoppt werden können, sind auch ein deutliches und häufig vorkommendes Motiv der zunehmend medialen Neuzeit. Soziale Medien machen es zudem möglich, fast jeden rund um die Uhr zu lokalisieren und auszuspähen. Selbst Drogendealer nutzen Social-Media.“ Nicht unwahr, aber nicht das, was ich hören will. Darüber hinaus bin ich mir nicht sicher, ob Manuel weiß, wie er mit sozialen Medien umzugehen hat. Aber wirklich einschätzen kann ich es nicht. „Das ist absolut ungenügend...“, äußere ich und sinke weiter in den unbequemen Stuhl hinein, weil ich ebenso merke, dass es mir an ausreichend Objektivität fehlt. Ich will nicht, dass er es war und damit behindere ich jede Form rationaler Gedankengänge. „Aber nicht unmöglich. Wer ermittelt in dem Fall?“, fragt Damast und klingt, wie die Ruhe selbst. Ich hasse es. „Die Detectives Barres und Marks aus deinem Revier. Aber Ermitteln ist das nicht, eher zurücklehnen und geschehen lassen. Ich war vorhin bei ihnen und habe versucht, ein paar Informationen zu erhalten. Sie haben abgeblockt. Natürlich! Außerdem haben sie die Akte im Grunde bereits geschlossen. Denn DNA lügt nicht.“ Das zu wiederholen, entfesselt die Frustrationen von Neuem. Ich nehme einen Schluck des kalten, herben Kaffees und verziehe dennoch keine Miene. Es ist nicht die einzige Bitternis, die mir im Kopf umhergeht. „Barres hat gesagt, ihn interessiert es nicht, dass Manuel kein erkennbares Motiv hat.“ Ich sehe, wie Damasts Gesicht knittert und er sich nach vorn lehnt. Seinen Ellenbogen platziert er auf dem Tisch. Seine Lippen reiben sich übereinander, doch das, was ihm durch den Kopf zu gehen scheint, spricht er nicht aus. Stattdessen greift auch er nach dem Pappbecher mit Tee, trinkt aber nichts davon, sondern verformt den knubbeligen Rand zu einem abstrakten Hokusai-Motiv. „Tja, wenn nicht irgendwo ein böser Zwilling rumläuft, dann wird es schwierig, bestehende DNA-Beweise zu widerlegen. Allen voran, wenn sie ihn eindeutig mit dem Tatort und dem Toten in Verbindung bringen“, steuert Damast bei und entlockt mir ein mildes Seufzen. Böser Zwilling. Mit leichtem Entsetzen stelle ich fest, dass ich ernsthaft über die Möglichkeit nachdenke. Nicht nur im biologischen Sinn. Das wäre verrückt. Unglaublich und allem voran undenkbar. Aber vielleicht… „Was, wenn es nur sowas wie Übertragung war?“, schlage ich vor, nachdem ich meine ausufernden Gedanken zurück an ihre Grenzen zwinge und eine logische Erklärung suche. Immerhin ist auch eine indirekte Übertragung von genetischem Material möglich. Im Grunde hinterlassen wir tagtäglich überall, wo wir gehen und wandeln, unsere DNA. Wir verlieren Haare, Hautschuppen und sonstige Körperflüssigkeiten. „Nur eine Verunreinigung, meinst du? Vielleicht ist es ein zweites Heilbronner Phantom, wie in den 90er Jahren.“ „Wie wahrscheinlich wäre das?“, frage ich mich eher selbst. Damals stellte sich heraus, dass mehrere Fälle verschiedener Delikte irrtümlich durch identische DNA-Funde miteinander in Verbindung gebracht wurden, weil bereits in der Produktionskette der verwendeten Wattestäbchen eine Verunreinigung stattfand. Das Phantom stellte sich als eine Verpackungsmitarbeiterin heraus, die nicht unschuldiger hätte sein können. „Nun gut, wie wahrscheinlich ist es, dass er es nicht gewesen ist?“, gibt Damast eiskalt Retour. „In Prozent?“, erwidere ich trotzig. „Ich mag Tortendiagramme.“ „Delikat“, spotte ich und klinge säuerlich, „Es gilt immer noch die Unschuldsvermutung. So lange, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Bis dahin versuche ich, was ich kann, um seine Unschuld zu beweisen. Ich habe morgen einen Termin im Bezirksgefängnis, um ihn zu sprechen. Ich will ihm irgendwie helfen oder wenigstens besser verstehen können, was passiert ist.“ Ehe Damast etwas Unnützes einwerfen kann, meldet sich sein Handy. Es piept mehrmals energisch auf. Er zieht es mit dem Zeigefinger über den Tisch in sein Blickfeld, liest die Nachrichten und steht auf, ohne mir die Inhalte näherzubringen. Das Telefon lässt er in der Tasche verschwinden und zieht sich im Gehen die Jacke über. Der Teebecher bleibt an Ort und Stelle stehen, während er sich schnellen Schrittes entfernt. Ich greife seufzend danach, um unsere beiden Behältnisse in den Mülleimer zu verfrachten. Danach folge ich dem hochgewachsenen Detective, bis ich ihn mit verschränkten Armen vor dem Antiquitätenladen vorfinde. Das Schild des Ladens beschreibt uns weiterhin den geschlossenen Zustand und in Damasts Gesicht kann ich eine deutliche Verärgerung ausmachen. Neben der Tafel ist ein brauner Umschlag befestigt, auf dem mit Großbuchstaben sein Name steht. Seufzend reißt er diesen ab und begutachtet ihn zähneknirschend von vorn und hinten. Nach einem affektiven Raunen schlägt er zwei Mal mit der flachen Hand gegen das Fenster des Ladens und ich zucke bestürzt zusammen. „Was machst du da? Hör auf.“ Ich bin nicht scharf auf eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch. „Ey Aran… ist das dein Ernst?“, ruft Damast aufgebracht und ignoriert mich komplett. Er wiederholt den Schlag gegen das Glas, sodass die Scheibe vibriert und für einen Moment geht im hinteren Bereich des Geschäfts ein Licht an und wieder aus. Wer auch immer dieser Aran ist, er ist da und scheint nicht gewillt, mit uns oder eher Damast sprechen zu wollen. Mich beschleichen gewisse Sympathien. „Ein Freund von dir?“, frage ich spöttelnd. Als er einen weiteren Versuch startet, halte ich ihn ab und packe dabei sein eingeschientes Handgelenk. Ich entschuldige mich prompt. „Nennen wir es ein gegenseitig nutzbringendes Informationskonsortium“, beschreibt er die Verbindung zum Antiquar und ich hebe fragend die Augenbraue. „Klar doch. Tja, dann scheinst du wohl deinen Anteil nicht vollumfänglich zu erbringen“, mutmaße ich großspurig und mit mehr Schalk im Nacken als wahrem Wissen. „Doch natürlich, aber er benimmt sich lieber wie eine Primadonna“, ächzt er. Sicher hat er seinen Grund und wie ich Damast bisher kennengelernt habe, sind es Gründe. Dennoch zeichnet sich ein eher ungewöhnliches Bild in meinem Kopf. Auch der Name Aran lässt sich für mich nicht zuordnen. „Will ich wissen, wieso?“ „Ich wüsste es ja selbst gern.“ Nebulös. „Egal, wir haben, was wir brauchen. Wir gehen zurück“, befiehlt er und wedelt den Umschlag in meinem Blickfeld umher. Ich folge ihm zum Auto. An der Front bleibt er stehen, lehnt sich gegen die Motorhaube und reißt die Laschen auf. Der Umschlag enthalten Ausdrucke eines Fotos mit den hingekritzelten Noten aus dem Notizbuch. Es sind weitere Noten ergänzt sowie ein Text in einer Sprache, die ich nicht kenne. Damast holt das Originalbuch hervor, welches noch immer mit den seltsamen Papieren umwickelt ist, die mich schon beim letzten Mal stirnrunzelnd zurückließen. Er blättert es unbeirrt durch, bis er die entsprechende Seite findet und legt sie direkt neben die Fotokopie. Damasts Blick wandert über die Notizen, dann greift er nach den übrigen Blättern und geht sie nacheinander durch. Sie zeigen vollständige Kopien von Notenblättern eines Musikstücks. „Das ist ein chassidisches Sabbatlied.“ „Ist das etwas Ungewöhnliches?“, frage ich und positioniere mich neben ihn, bette meinen Hintern, ebenso wie er, gegen die schmutzige Motorhaube. Ich kann nichts davon lesen, denn es ist offenkundig hebräisch. „Eher herkömmlich. Frühes 19. Jahrhundert.“ Wieder regt sich sein Telefon. Er ignoriert es im ersten Moment und mir wird gerade schmerzhaft bewusst, dass sich die ganze Zeit über mein Handy kein einziges Mal geregt hat. „Ist ganz eingängig, aber nichts mit höherer Bedeutung. Herkömmlich eben“, fährt mein Kollegen fort. Er klingt etwas enttäuscht. „Was mehr oder weniger bedeutet, dass es uns nichts bringt“, bekunde ich und versuche, dabei nicht allzu selbstgefällig zu klingen. Damast schnaubt und schürzt die Lippen, ohne mich anzusehen. Ich gestehe mir ein, dass subtil nicht meine Stärke ist. „Wieso hast du eigentlich keinen Partner?“, fragt der Detective mich aus dem Nichts heraus. „Wieso hast du keinen?“, gebe ich die Frage wenig eloquent zurück. „Wurde gefressen.“ „Nicht witzig.“ Damast grinst breit, entblößt grade, natürliche Zähne und stößt sich von der Motorhaube ab. Er wirft die Arme in die Höhe, verschränkt seine Hände und streckt sich der Länge nach nach oben, was auch seine Kleidung hochzieht. Damast trägt einen Gürtel mit Comic- Gürtelschnalle, die mir wegen seines langen Pullovers vorher nicht aufgefallen ist. „Ich fahr dich zurück zum Revier.“ „Meins oder deins?“ „Mal sehen.“ Zurück an meinem eigenen Schreibtisch werde ich von einem enorm großen Stapel Akten empfangen, die heute Morgen dort nicht lagen. Glaube ich zu mindestens. Gleichwohl gestehe ich mir ein, dass ich nicht sehr aufmerksam war. Ich schiebe die ersten drei Hefter mit nur zwei Fingern auseinander, als wären sie radioaktiv, durchblättere ein paar Seiten und habe direkt danach wieder vergessen, was dort stand. Verdammt. Ich hasse es, nicht bei der Sache zu sein und ich befürchte, dass es langsam auch meinen Kollegen auffällt. Wie aufs Stichwort werde ich vom Chief Supervisor ins Büro beordert und muss mich prompt für meine lange Abwesenheit rechtfertigen. Er weiß, dass ich Kontakt zum 17. Revier gesucht habe. Er will einen Statusbericht zum Bakow-Fall und ich kämpfe mit jedem Wort. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich weiß nicht, was ich sagen kann und darf. Letztendlich rudere ich herum, wie ein Skiffpaddler im Achter, verweise auf die Aufnahmen der Tankstelle und die wenige Hinweise, die wir haben. So schwer es mir auch fällt, hierbei zu Lügen. Danach bearbeite ich stundenlang brav die abgelegten Akten und Formulare, sichte Befunde und vervollständige die digitalen Aufzeichnungen. Der Großteil der Fälle ist danach abgeschlossen und wandert ins Archiv. Nur drei der Fälle landen auf dem Ungelöst-Stapel, die eine erneute und umfassendere Untersuchung nach sich ziehen werden. Hier fehlen uns Zeugen und hinreichende Spuren. Die Datenbankabgleiche fielen negativ aus und bei zwei der Toten konnten nicht einmal Angehörige oder Bekanntschaften ausgemacht werden. Sie liegen als Unbekannt in der Gerichtsmedizin. Nach einem extrem verspäteten Mittagessen und zwei Tassen Kaffee nehme ich mir Manuels Fall vor. Ich öffne die Fotos in meinem Handy und scrolle sie langsam durch. Die wichtigsten Fakten des Tatortbefundberichts notiere ich mir auf einen Block. Die Schüsse wurden gegen 01:28 Uhr gemeldet. Die Zeit kringele ich ein. Die eintreffenden Beamten fanden einen einzelnen männlichen Körper ohne Vitalzeichen vor. Auf dem Rücken liegend. Blutend. Die Augen geöffnet. Die Sanitäter stellten um 1:51 Uhr offiziell den Tod fest. Der Bericht des Gerichtsmediziners fehlt, sodass ich keine bestätigte Todesursache habe. Vielleicht sollte ich Dr. Warik ansprechen? Vielleicht kann er mir ein paar unverfängliche Auskünfte geben. Nein, ich will ihn nicht in das Desaster mitreinziehen. Ich schüttele den Kopf und scrolle zu der Liste der Gegenstände, die bei dem Opfer C-Dots gefunden wurden. Eine schwarze Bauchtasche mit einigen Geldscheinen, aber keine nennenswerte Summe. Ungewöhnlich für einen Drogendealer. Vielleicht wurde er kurz zuvor abgeschöpft. Zwei Packungen Zigaretten, eine davon ungeöffnet, waren in der Tasche. Ein Führerschein mit falschen Namen. Kein Ausweis. 6 g Marihuana zum Eigengebrauch. Obwohl die Polizei schnell vor Ort war, wurden keine größeren Mengen von sonstigen Drogen gefunden, was dafürspricht, dass der eigentliche Verkauf der Ware anders abgewickelt wird. Sonst hätte man Lager im Gebüsch oder sonstigen Verstecken gefunden. Er trug eine Waffe bei sich. Eine Glock 17. Kaliber 9 mm. Im Magazin fehlten zwei Kugeln und augenscheinlich wurde er mit dieser Waffe erschossen. Seiner eigenen Waffe. Das heißt, dass der Täter niemand war, bei dem er für sich eine Gefahr vermutete, sonst hätte er sie vorher gezogen. Der Sportlehrer einer Mittelschule wäre so jemand. Hätte Manuel sie ihm wirklich abnehmen können? Wäre er so nah an ihn herangekommen? Ich suche nach dem ballistischen Bericht der abgeschossenen Kugeln, doch der fehlt. Wie erwartet ist die Akte nicht vollständig gewesen, als ich sie heimlich fotografierte. Entweder wird schlampige Arbeit gemacht oder die Detectives aus dem 17. Revier haben sie absichtlich lückenhaft gehalten. Es frustriert mich ungemein und auch der objektive Sachverhalt darin. Vieles weist auf Manuel hin. Selbst die Aussage seiner Frau, so, wie es Barres bereits erwähnte. Sie gab an, dass er in dem besagten Zeitraum zwischen 1 Uhr und 2 Uhr morgens nicht im Haus gewesen ist. Sie wisse nicht, wo er war, denn sie hatte geschlafen und erwachte lediglich, als er zurück ins Bett stieg. Daran änderten auch ihre Beteuerungen, dass er ein guter Mann ist, nichts. Er hat kein Alibi. Dazu noch die DNA. Sie wurden an der Bauchtasche sichergestellt, die bei der Leiche gefunden wurde. Die schwarze Tasche wurde eindeutig dem Toten zugeschrieben und sie war am Verschluss zerrissen. Es zeichnet sich ein klarer Verlauf ab. Das Aufeinandertreffen. Ein möglicher Streit. Handgreiflichkeiten. Schüsse. Was ich nicht sehe, ist der Vorsatz. Immerhin hat Manuel keine Waffe mitgebracht. Die Tötung erfolgte im Affekt. Doch wieso gibt es keine verwertbaren Aufnahmen. Es geht aus dem lückenhaften Bericht nicht hervor. Ein Protokoll gibt es auch nicht. Manuels Aussage fehlt weitestgehend. Ich gebe auf. „Manuel, worin hast du dich da nur reingeritten?“ Es ist der schleichende Zweifel, der sich ein Loch durch meinen Magen frisst und überall Narben zurücklässt. Hoffentlich kann mir Manuel morgen mehr sagen. Irgendwas erklären. Irgendwas, was ihn entlastet. Fingerabdrücke auf der Tatwaffe. Irgendwas, was vielleicht auf einen anderen Täter hinweist. Ich brauche seine Aussage und die komplette Fallakte. „Verflixt“, fluche ich murmelnd in die Innenfläche meiner Hand hinein und führe meinen einsilbigen Monolog fort. Meine Kollegin hört es dennoch und schaut stirnrunzelnd über einen Berg Papiere zu mir rüber. Ich winke ihr mit einem übertriebenen Lächeln zu und senke den Kopf. Ich schiebe noch eine Weile die Akten auf meinem Schreibtisch von der einen zur anderen Ecke, teste meine Kugelschreiber auf ihre Funktionsfähigkeit und wünsche meiner Kollegin einen schönen Feierabend, als sie gehen 7 Uhr das Revier verlässt. Meine Hände wandern zurück zur Tastatur und ich tippe Damasts Namen ins Suchfeld. Seine Akte ploppt auf und ich sehe mich verstohlen um. Es ist niemand mehr da, also werfe ich einen Blick hinein. Vikar. S. Damast. 32 Jahre alt. Ledig. Keine Verwarnung oder negativen Einträge. Aber auch keine positiven Vermerke oder Belobigungen. Er wurde vor sechs Jahren Detective und ist seither dem 17. Revier zugeordnet. Ich versuche, nicht zu tief hineinzulesen. Die vermerkte Wohnadresse verweist mich in den Hobrecht-Distrikt. Es war früher das Industrieviertel der Stadt und bekam im 19. Jahrhundert als erster Stadtteil einen funktionierenden Abwasserkreislauf. Einer meiner ersten Fälle führte mich in diesen Teil der Stadt und in genau dieses ehemalige alte Klärwerk. Es ist noch heute Industriestandort, aber mittlerweile wurden viele der alten Fabrikgebäude dem Erdboden gleich gemacht und durch Eigentumswohnungen ersetzt oder sie wurden teuer saniert. Gentrifizierung in Reinform. Auch dort habe ich nach meiner Versetzung nach Wohnungen gesucht, bin aber nicht fündig geworden oder konnte die Preise nicht mit meinem Gehalt vereinbaren. Den glanzlosen, ruhevollen Charme zeigt das Viertel in jeder Gasse und selbst im dämmrigen Licht des Tagesendes. Vom Revier hierher durchquerte ich zwei Distrikte und gefühlt drei Welten. Unruhig werfe ich einen Blick auf die Uhr. Fünf Minuten sind vergangen, seit ich das Auto vor Damasts Wohnhaus geparkt habe. Viele der Fenster des Hauses sind erleuchtet, was größtenteils an der spätabendlichen Uhrzeit liegt. Meine Mutter würde mich warnend darauf hinweisen, wie unhöflich es ist, zu solch einer Stunde unangekündigt bei jemanden aufzutauchen. Doch Damast geht einfach nicht an sein Handy. Vielleicht gehört er zu der Sorte Mensch, die es abschalten, sobald sie über die Schwelle treten. Vielleicht aber hat er sich in ein hautenges Superheldenkostüm gezwängt und wetzt durch die Stadt, jagt Dämonen und Geister. Oder Tauben. Um Himmelswillen. Ich muss dringend damit aufhören. Es ist auch ohne meine ausschweifenden Fantasien eine zunehmende Anstrengung. Das Alles kann nur ein lebendiger Albtraum sein, aus dem ich morgenfrüh hoffentlich erwache. Ohne länger darüber zu philosophieren, wie unangebracht ich mich verhalte, steige ich aus und habe direkt jemanden, der mir die Tür öffnet. Eine dunkelgekleidete Frau mit kinnlangen, braunen Haaren kommt mir entgegen, als ich versuche, auf dem Klingeldisplay Damasts Wohnung zu verorten. Sie hält die Tür mit ihren schweren Boots offen und lächelt mich zuckersüß an. „Suchst du jemand bestimmten?“, fragt sie mit einem unüberhörbaren Flirten. „Ich suche die Klingel für Damast“, sage ich, deute auf die kaum beschrifteten Namensfelder und greife bereits nach meinem Ausweis, falls meine Neugier Argwohn weckt. Macht es nicht. „Ganz oben. Fünfte Etage“, antwortet sie schlicht und ohne zu zögern. Ich halte in meiner Bewegung inne und nicke. Sie lächelt noch breiter und lässt ihre vollgeschminkten, dunklen Lider flattern, nachdem ich ihr danke und meinerseits die Tür zurückhalte. An den Briefkästen entdecke ich endlich den gesuchten Namen. Doch dieser hätte mir wenig bei der Lokalisierung der Wohnung geholfen. Immerhin bin ich im richtigen Haus. Aus der Briefkastenöffnung ragt ein Stapel buntgemischter Flyer und ich frage mich, wann ihn mein Kollege das letzte Mal geleert hat. Ich greife mir ein paar der Menüblätter und blättere sie durch, während ich nach dem Treppenaufgang suche. Einen Gutscheinzettel für ein indisches Restaurant stecke ich mir in die Hosentasche. Ich hätte große Lust auf frisches Bhatura, aber es ist der falsche Zeitpunkt für Gelüste. Das Gebäude strahlt ein schlichtes Industrieflair aus, wirkt gebraucht und bewohnt. Die Zugänge der Wohnungen verstecken sich in dunklen Fluren, mit mehr Ecken und Winkel als mir als Polizist lieb sind. Alles, was ich nicht sofort einsehen kann, ist eine potenzielle Gefahrenquelle oder ein Versteck. Im Positiven, wie im Negativen. Keines der Stockwerke hat einen identischen Aufbau und das verwirrt mich in jeder Etage etwas mehr. Ich werde aus dem Aufbau dieses Gebäudes nicht schlau. Irgendwann endet der Treppenaufgang, fast abrupt. Doch ich bin mir sicher, dass ich noch nicht oben angekommen bin. Keines der Klingelschilder zeigt den gesuchten Namen, also folge ich den unruhigen Flur, bis ich bei einem weiteren Aufgang ankomme. Die Treppe, die in die obere Etage führt, ist an einer Seite offen und an der anderen Außenseite durch eine große Fensterfront mit weiß betünchtem Glas verziert. Stellen mit abgeplatzter Farbe und abgekratzten Bereichen lassen das auffällig helle Mondlicht der Nacht hindurch, welches den Flur in einen kühlen, fast furchtvollen Schein taucht. Vielleicht war dies ursprünglich ein altes Lagerhaus oder eine Fabrikhalle. Oben angekommen bleibe ich am letzten Treppenabsatz stehen. Neben der Fußmatte, die an der Wand lehnt, zeichnet sich ein dunkler, rußiger Fleck ab. Ich hebe argwöhnisch die Augenbraue, ehe ich zunächst an der Tür klopfe. Einmal. Zweimal. Nichts ist zu hören. Ich ziehe mein Handy hervor, wähle Damasts Nummer und lehne mich zur Tür. Das Ohr direkt am Holz. Gleich darauf vernehme ich das auffällige Lied, welches er aktuell als Klingelton hat. Ich lege wieder auf und drücke diesmal die Klingel. Wieder nichts. Es ist die pure Ungeduld, die die wenigen Sekunden in meinen Kopf wie Kaugummi zieht, obwohl es kaum ein Flattern ist. Sie lässt mich erneut die Klingel betätigen. Zweimal in einem noch kürzeren Abstand als zuvor. Ich höre ein verhaltenes Poltern und die Tür springt auf. Aber ausschließlich einen Spaltbreit. Vikar Damasts dunkler Haarschopf taucht als Erstes auf, dann schiebt er etwas mit dem Fuß zur Seite, öffnet die Tür weiter und schaut mich an. „Du.“ Damast klingt so neutral, wie die Schweiz und so begeistert, wie ein Coulrophobiker im Zirkus. Nichtsdestotrotz flackert sein Blick über meine Erscheinung, von oben nach unten, als wollte er sicher gehen, dass ich keine Einbildung bin. Ich entgegne seinem Blick mit einem Stirnrunzeln. „Ja, ich“, bestätige ich ungefragt, „Kann ich reinkommen?“ „Ähm… eigentlich…“ Er stoppt seine ohnehin schon zögerliche Antwort nach diesem ausweichenden Nichts gänzlich. Sein Kopf verschwindet aus dem geschmälerten Sichtfeld. Als er zu mir zurückblickt, sieht er kaum entscheidungsfreudiger aus. „Gib mir fünf Minuten.“ Schon schließt sich die Öffnung vollends vor meiner Nase. „Wirklich? So verhalten sich Serienmörder… und Jugendliche, die beim Pornos gucken erwischt werden“, kommentiere ich halblaut. „Ich bin nicht deine Mutter.“ Den letzten Teil rufe ich laut. Mir ist egal, ob er es hört, oder nicht. Mir ist ebenso egal, ob er in einem Saustall wohnt. Meine Wohnung sieht nach wie vor aus, wie eine Baustelle und ich bereue mit jedem Tag mehr, dass ich die Möblierung abgelehnt habe, die mir angeboten wurde. Trotzdem habe ich den anderen Detective in meine vier-Wände gelassen, ohne mich derartig aufzuführen. Es dauert sieben Minuten, bis er erneut öffnet und mich keineswegs enthusiastischer in die Wohnung lässt. Dafür spare ich mir das Danke. Im Eingangsbereich umschiffe ich einen hingeworfenen Haufen Schuhe. Darunter sind auch zwei Paare dunkle Halbschuhe, die komplett mit Schlamm benetzt sind. Ich starre sie einen Augenblick lang mit exponentiell schwitzenden Schläfen an. Der Rhythmus meines Herzes erliegt der Unbeständigkeit, ohne, dass ich es beeinflussen kann. Der Geschmack von Schlamm auf meinen Lippen sitzt fest und jedes Mal wieder habe ich das Gefühl, dass ich den Sand zwischen meinen Zähnen knirschen höre. Es verebbt erst, als sich mein Herzschlag stabilisiert und setzt sich mit der nächsten Flut von Erinnerungen fort. Ich schaffe es erst aus dem Erinnerungszirkel an den Golem auszubrechen, nachdem mich Damast kurzerhand anweist, meine Schuhe anzulassen. Erst jetzt klaubt er ein paar rumliegende Klamotten auf, wirft sie hinter die Couch. Ich frage mich, was er in der Abwesenheit getan hat, wenn es nicht Aufräumen gewesen ist. Mit einem Blick auf seine Hände fällt mir auf, dass die Haut dort ungewöhnlich dunkel wirkt, was auch an den Lichtverhältnissen liegen kann. Das war aber heute Morgen nicht so. Noch dazu hat er die Schiene wieder abgelegt. Damast wirft weitere Kleidungsstücke hinter die Couch und erst als ich in der Mitte des Zimmers stehe, erkenne ich, dass direkt dahinter sein Bett steht. Der Hauptraum der Wohnung ist großzügig geschnitten und die weite Fensterfront des Flurs setzt sich an einer Seite fort. Auch hier sind etliche der kleinen Scheiben mit einer Farbe abgedeckt, sodass das hineinscheinende Mondlicht mehrfach unterbrochen wird. Das Muster, welches dadurch auf dem Boden entsteht, wirkt wie ein unvollständiges Mosaik und lässt die Atmosphäre des Raums tanzen. Der Bewohner räuspert sich und ich beende ertappt das neugierige Umherschauen. „Was war das hier mal?“, frage ich zur Ablenkung und deute nach oben, zur Seite und zurück. „Ein altes Brauereigebäude samt Glasmanufaktur. Erwartest du jetzt eine Lektion in Stadtgeschichte von mir?“, berichtet er energielos, ohne mein Fingerzeig zu beachten oder in sonst irgendeiner Weise zu sympathisieren. Was kaum einer weiß, ist, dass ich als Jugendlicher eine Weile in der Stadt gelebt habe. Nicht, dass mir das irgendwelche Vorteile bringt. Alles ist so schnell im Wandel, dass ich es vermutlich schon nach ein paar Monaten nicht mehr wiedererkannt hätte. Schon gar nicht nach Jahren. Damast sieht mich an und ich spüre, wie sich seine wachsamen Augen tief in mich hineinarbeiten. Es fühlt sich an, wie ein Kratzen in meinem Inneren und mir wird klar, dass ich es nicht zum ersten Mal bemerke. „Beim nächsten Mal. Jetzt würde mir ein Glas Wasser reichen“, tische ich ihm unverblümt meine Absicht auf und lächele. ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)