Spiegel von KiraNear ================================================================================ Kapitel 1: Spiegel ------------------ „Dir wird nicht gefallen, was du zu sehen bekommen wirst“, hast du zu mir gesagt. Deine Worte gehen mir durch den Kopf, als ich durch die Straßen wandere, einen Fuß vor den anderen setze. Als ich den kalten Asphalt an meinen nackten Füßen spüre und den kühlen Wind, der mir um die Ohren weht. Der Tag war längst der Nacht gewichen, nur vereinzelte Straßenlaternen erleuchten den Pfad, der vor mir liegt. Die Schuhe in meiner Hand klappern bei jeder Bewegung, die hohen Absätze stoßen bei jedem Schritt, den ich mache, aneinander. Außer mir ist niemand auf der Straße, ich bin ganz allein unterwegs. Keine anderen Fußgänger, die mit ihrem Hund ein letztes Mal für heute Gassi gehen; keine Kinder auf dem Weg nach Hause; keine Ehepaare bei einem entspannenden Spaziergang. Nicht einmal ein Auto kommt mir entgegen oder überholt mich, weil ich so langsam laufe. Völlige Stille umgibt mich, nur das Zirpen einzelner Insekten und das Geräusch nachtaktiver Vögel erreichten mein Ohr. Ich sehe mich um, doch ich sehe niemanden. Das ist gut. Die Welt fühlt sich leer an. Leer und friedlich. Mein Blick wandert in den Himmel, hinauf zu den Sternen und den unendlichen Weiten, die diesen Planeten umgeben. Mal mehr, mal weniger hell funkeln sie aus dem All herab und ich kann nicht anders, als bei diesem Anblick zu lächeln. Ein seltsames Gefühl der Freiheit breitet sich in meiner Brust aus, ich atme tief ein, um diesen Moment verinnerlichen zu können. Doch so recht will es mir nicht gelingen.   „Dir wird nicht gefallen, was du zu sehen bekommen wirst. Es wird dich verletzen“, hattest du mir mitgeteilt und mich mit traurigen Augen angesehen. Ich konnte den Ausdruck in deinen Augen nicht deuten, ihren Grund nicht feststellen, ihren Sinn nicht verstehen. Dabei hast du fast zu weinen angefangen. Aber ich wollte nicht auf dich hören. Ich fühlte mich sicher, ich fühlte mich stark. Ich fühlte mich bereit, es zur Not mit der ganzen Welt aufnehmen zu können. Du hast mich gehen lassen und ich wusste, du hattest kein gutes Gefühl dabei, doch ich habe es nicht geteilt, nicht gespürt. Wollte nicht auf dich hören. Die Schuhe in meiner Hand klackern bei jedem meiner Schritte, und das Kleid umspielt meine Beine. Angetrieben von einem leichten Wind, umweht es mich. Als ich es mir von dir ausgeliehen hatte, war es weiß; doch nun ist es das nicht mehr. Es hatte einen schönen Schnitt, leichte Blumenverzierungen am unteren Ende und eine kleine Kette, die dem Kleid eine gewisse Eleganz verliehen hat. All dies hat das Kleid nun nicht mehr. Der Riss an meinem Bein ist tief, die Verzierungen ausgefranst und die Kette hatte jemand abgerissen. Ich nehme den Blick vom Himmel, vom All herab und versuche mich zu orientieren. Wo bin ich? Wo liegt mein Weg? Es dauert, bis ich einen vertrauten Fleck finde, an dem ich mich festhalten konnte. Und so gehe ich, mit meinen nackten Füßen und meinem kaputten Kleid, Straße um Straße durch die Nacht, immer mit einem gewissen Ziel im Kopf. Und noch immer bin ich allein.   „Dir wird nicht gefallen, was du zu sehen bekommen wirst. Es wird dich verletzen. Es ist nicht so, wie bei dir zuhause, sondern ganz anders. Und das könnte dir schaden“, hattest du mich gewarnt, meinen Arm festgehalten und mich mit traurigem Blick angesehen. Heute Mittag hatte ich dich nicht verstanden. Jetzt weiß ich, was du mir damit sagen wolltest. Du wolltest mich nicht gehen lassen, am liebsten wäre es dir gewesen, wäre ich bei dir geblieben. Doch ich wollte nicht auf dich hören. „Nein, es wird schon alles gutgehen, du wirst schon sehen“, hatte ich gemeint und du hast nur genickt. Doch du hast es nicht so gemeint. Als ich mir dein Kleid geborgt und deine Schuhe genommen hatte, als du mir mein Gesicht geschminkt und meine Haare gemacht hast; du hattest immer eine Möglichkeit gesucht, mich zum Bleiben zu überzeugen, doch du hast nichts gefunden. Du wusstest, was mich erwarten könnte und du hattest leider Recht damit. Am Anfang war es schön, doch das Ende dagegen sehr, sehr hässlich. Die Schuhe in meiner Hand schlagen bei jedem meiner Schritte gegeneinander, die hohen Absätze daran machen ein kleines, klackendes Geräusch dabei. Mein zerrissenes, von dir geliehenes Kleid umweht mich sachte und ich spüre, wie mir weitere Tränen über die Wangen liefen. Das Make-up ist längst verschmiert, weswegen ich froh bin, keiner weiteren Menschenseele hier draußen zu begegnen. Mein Anblick muss schlimm sein, aber so fühle ich mich auch. Als ich dein Zuhause erreiche, bin ich erleichtert. Ich spüre das Gras deines Vorgartens unter meinen Füßen, dann die kalten Steine, die den Weg zu deiner Haustür markieren. Und sehe dein erschrockenes Gesicht, als du mich ins Haus hineinlässt.   „Es tut mir leid, dass dir das widerfahren ist“, sagst du und ich kann die Aufrichtigkeit in deiner Stimme hören, es tut gut, wieder jemand ehrlichen vor mir zu haben. Ich nicke, die Worte fallen mir schwer. Vorsichtig wischst du mir die Tränen und damit auch Teile meines zerstörten Make-ups von meinem Gesicht. Dein Tuch geht über meine Wangen, meine Augen, bis du mir das komplette Gesicht sachte reinigst. Dann führst du mich in dein Zimmer, dort, wo alles angefangen hat. Natürlich hat sich in den letzten Stunden nichts daran geändert, es ist alles noch da. Dein gemütliches Bett, dein ordentlicher Schreibtisch, die vielen Poster an den Wänden und der lebensgroße Spiegel, in welchem du dich tagein, tagaus bewunderst. Wir beide wissen, dass du mich gewarnt hast und wir beide wissen auch, dass ich es ignoriert habe. Es sind unausgesprochene Worte, die im Raum hängen, aber du gibst ihnen keine Gestalt, indem du sie aussprichst. Und dafür bin ich dir sehr dankbar. Ich stelle mich vor den Spiegel. Erst jetzt kann ich das ganze Ausmaß der Katastrophe sehen. Mein Anblick gefällt mir nicht. Schnell blicke ich zu dir zurück. Dort ist alles noch in Ordnung. Deine Haare sind nicht zerzaust, deine Augen sind nicht verweint und deine Kleidung nicht zerrissen. Ich beneide dich für einen kurzen Augenblick. „Danke, dass ich diese Erfahrung machen durfte. Aber du hast recht. Diese Welt hier ist nichts für mich. Es hat schon seine Gründe, warum jede von uns auf der Seite lebt, aus der sie stammt“, sage ich und sehe, wie du auf mich zukommst. Mich in deine Arme, in eine warme, angenehme Umarmung nimmst. Ich erwidere das, doch die Heimweh wird immer größer. Darum lasse ich wieder los. „Ich würde mich freuen, wenn wir uns irgendwann wieder so sehen könnten“, sagst du. „Ja, das wäre wirklich schön“, erwidere ich und wir beide wissen, dass es wohl nie wieder dazu kommen wird. „Lebe wohl“, sage ich und gehe auf den Spiegel zu. Du lächelst mich an. „Du wirst nie weit von mir weg sein“, ist dein letzter Satz, den ich noch hören kann, bevor ich wieder im Spiegel verschwinde. In meiner Welt, in der alles anders, alles friedlich und alles harmlos ist. So gerne ich dich habe, aber deine Welt ist mir zu düster, zu grausam und zu gefährlich. Ich wünschte, ich hätte auf dich gehört. Aber das habe ich nicht. Und die Quittung dafür war teuer, unschön und bitter.   Ich sehe, wie du vor dem Spiegel stehst, deine Haarspange zurechtrückst und dir Sorgen um den kleinen Pickel machst, der sich langsam auf deinem Gesicht bildet. Wie du verschiedene Oberteile anprobierst, dir dein tägliches Make-up auf dein Gesicht machst und mich anlächelst. Und gleichzeitig dich selbst. Es macht mir nichts aus, deine Gesten mitzumachen, dich zu kopieren und alles zu tun, was du tust. Solange ich hier bin, ist für mich alles in Ordnung. Hier bin ich sicher, hier ist es gut. Hier möchte ich für immer bleiben, an deiner Seite, immer ein kleiner Teil deines Lebens und doch sicher, in einer Welt, die mir nicht wehtut. Hier möchte ich bleiben und immer für dich da sein. Jetzt und für alle Zeiten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)