Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 1: One Fish, Two Fish -----------------------------       Menschen kommen und gehen wie Wellen. Nur die wenigsten in diesem unerschöpflichen auf und ab wirst du wahrnehmen und genauso wenig werden sie dich sehen oder sich an dich erinnern. Einige legen tausende Kilometer zurück, ehe sie auf Land treffen, ziehen dann unbemerkt wie Geister an dir vorüber, ohne Notiz von dir zu nehmen und tauchen ab, noch ehe du Zeit hattest, einen Blick mit ihnen zu wechseln. Viele sind so harmlos, dass sie nicht einmal ein Papierschiff umwerfen könnten, rollen sanft über dich hinweg, packen dich vorsichtig und heben dich einen Moment dem Himmel entgegen, nur um dich dann kurz danach achtlos hinter sich zu lassen und am Horizont zu verschwinden. Andere sind so stark, dass sie mit Leichtigkeit haushohe Schiffe zum Kentern bringen. Sie reißen dich von den Füßen, verschlingen dich gierig mit schäumenden Klauen und lassen keine Spur deiner Existenz an der Oberfläche zurück. Die beiden Kuhlen im Sand, wo gerade noch deine Füße standen, werden von der nächsten Welle überdeckt und bald wird nicht einmal mehr das noch von dir übrig sein.   Bewegungslos sinkst du in dem Ozean aus Menschen dem undurchdringlichen Schwarz entgegen, ohne eine Ahnung zu haben, welche Turbulenzen über dir herrschen oder was dich unter dir erwartet. Du reckst dein Gesicht dem trüber werdenden Licht von oben entgegen, das wie ein schimmernder Vorhang im Takt der Gezeiten tanzt, bis dich auch der letzte Lichtstrahl nicht mehr erreicht. Deine Instinkte musst du abstreifen wie zu klein gewordene Schuhe, sobald das Wasser über dir zusammenschlägt und sich der Himmel in ein Kaleidoskop aus farbigen Fragmenten verwandelt, die stetig ineinander fließen und wieder auseinander driften. Keine einzige Welle kann dir mehr was anhaben. Du vergisst, was oben war und was noch sein wird. Sämtliche Muskeln müssen sich entspannen, auch wenn dein Kopf dir etwas anderes einzutrichtern versucht. Du musst stärker sein, als dein Kopf. Stärker als jede Zelle deines Körpers, der dich innerlich vor Angst schreiend zurück an die Wasseroberfläche zwingen will. Dein Brustkorb scheint unter dem Druck platzen zu wollen, dein Mund ist kurz davor, sich endlich zu öffnen und diesen einen tiefen Luftzug zu nehmen. Nur einen einzigen – er wäre dein sicherer Tod. Hab Vertrauen. Du willst ja nicht sterben, richtig? Die Panik vergeht und an ihre Stelle tritt Euphorie. Deine restlichen Sinne passen sich deiner kargen Umgebung an und alles, was du noch bist, ist unwichtig. Umarmt von Myriaden Molekülen gleitest du schwerelos dahin wie ein Astronaut. Winzige Sterne aus Luft tänzeln über dir in die Höhe und ein endloses Universum in Mitternachtsblau umschlingt dich sacht. Du denkst an diese eine Welle, die dich mit sich gerissen hat in diese neue, dunkle und stille Welt, und du bist froh, dass diese Welle unter all den Milliarden Menschen ausgerechnet dich ausgewählt hat. Der letzte Flecken Licht über dir wird kleiner und kleiner, bis nur noch absolute Dunkelheit herrscht.     Mit einem verhaltenen Seufzen klappte der Deckel der Box zu. Das Innere der unscheinbaren Kiste versank wieder im gewohnten lichtlosen Schwarz, in dem sie, was wusste er wie lange schon, vor sich hingeträumt hatte, ehe er vor wenigen Minuten den Deckel mit dem aufgedruckten Kreuz angehoben und einen ersten zögernden Lichtstrahl hineingelassen hatte. Wie lange hatte die Kiste wohl schon unbemerkt unter dem Beifahrersitz seines Dienstwagens gelegen, wo er sie vor wenigen Sekunden wieder enttäuscht hinbefördert hatte? Wer sie dort versteckt hatte, war klar. Aber warum? Und was sollte diese Anweisung, sich um den Inhalt zu kümmern? Die Antwort darauf würde ihm der Verantwortliche in dieser Welt jedenfalls schuldig bleiben, was Alvaro, wenn er ehrlich war, bedauerte. Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen. Für alle. Das zerdrückte Zigarettenpäckchen bekam noch ein paar Dellen mehr, als er es aus der Mittelkonsole fischte und sich eines der Tabakröllchen zwischen die Lippen klemmte. Das Glühen des aufflammenden Feuerzeugs spiegelte sich ein seinen abwesenden Augen wider, die auf irgendeinen Punkt in der Ferne gerichtet waren, wo sich graue Wolken zu Ungetümen auftürmten. Der scharfe Geruch verbrennenden Tabaks füllte den Innenraum des Wagens und trübte ein wenig den Blick nach draußen. Der erste Zug aus der Zigarette kratzte in seiner Kehle, aus der ein verhaltenes Husten drang.   Wie ein Entdecker hatte er sich gefühlt, als er mit immer stärker werdendem Kribbeln im Bauch die Kiste angestarrt und darüber nachgedacht hatte, welche Folgen das Öffnen haben würde. Schließlich war es eine Art Vermächtnis von seinem Chef. Auch wenn er noch nicht wusste, was er damit anfangen sollte, war es etwas mehr als persönliches. Eine geschlagene dreiviertel Stunde hatte sich Alvaro den Kopf darüber zerbrochen und sich ausgemalt, was wohl so wichtiges in der Box war, dass sein Boss so ein Gewese darum gemacht hatte. Jetzt fiel es ihm schwer, die Enttäuschung über seine Entdeckung in Anführungszeichen zurückzuhalten. Schaut her, was der große Columbus entdeckt hat. Einen Taschenkalender, und- Unwirsch drückte er die halbgerauchte Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus, wobei ein paar alte Zigarettenstummel in die Mittelkonsole fielen. Er hatte definitiv zu viel geraucht für heute. Seine Brust fühlte sich eng und schwer an wie bis oben hin mit Wasser gefüllt. Der Griff der Handbremse bohrte sich in seine Rippen, als er sich wieder zum Beifahrersitz hinüber beugte und das unspektakuläre Teil zum zweiten Mal an diesem Tag darunter hervorzog.   Der Deckel flog auf und der letzte Staub, der die Kiste mit einer feinen Schicht bedeckt hatte, wirbelte im bedrohlichen orange-grauen Unlicht des aufziehenden Gewitters umher – ja, ja, er könnte ruhig öfter staubsaugen, Botschaft angekommen. Kein Wunder, dass man ausgerechnet sein Auto dazu auserkoren hatte, etwas zu verstecken... Ratlos sah Alvaro auf den Inhalt seiner Schatzkiste hinab. Einen, nein, zwei zerfledderte Taschenkalender, einen Schlüssel, ein paar Münzen- "Und ein verdammtes Schiebe-Puzzle!", erklärte er seinem gebannt lauschenden, fiktiven Publikum. Nichts, was man normalerweise in einem Erste-Hilfe-Kasten vermuten würde. Selbst wenn er die Box vorher gefunden hätte, hätte er sich nichts dabei gedacht und sie vielleicht höchstens in den Kofferraum gelegt. Nur Leute, die Knöpfe in Keksdosen sammelten, kamen auch auf die absurde Idee, Krimskrams in Erste-Hilfe-Kästen zu verstauen. Aber sein Boss? "Fehlt ja nur noch ein ausgelaufener Kugelschreiber...", schloss Alvaro seinen Monolog vorwurfsvoll ab. Er nahm das etwa Handtellergroße Puzzlespiel aus der Kiste und betrachtete es sich von alle Seiten. Das Magische Quadrat war das einzige in der Kiste, das wenigstens ein bisschen den Eindruck erweckte, interessant zu sein. Das aufgeklebte Motiv war an den Kanten bereits so stark abgewetzt, dass sich Alvaro erneut fragte, wie lange diese Box schon im Auto lag. Klar war, jemand musste das kleine Spielzeug heiß und innig geliebt und ziemlich viel Zeit damit totgeschlagen haben. Und mit jemand meinte er garantiert nicht seinen Chef.   Gedankenverloren schob Alvaro eines der wirren Plättchen an die leere Stelle und betrachtete sich sein Werk, das sich nicht viel verändert hatte. Alles war so dermaßen heillos verschoben, dass man nicht einmal eine Ahnung davon bekam, was das ursprüngliche Motiv darstellen sollte. Einen winzigen Moment dachte er darüber nach, die 24 Plättchen aus dem Rahmen zu brechen und ohne diese Begrenzung neu zusammenzusetzen. Das dünne Plastikplättchen knirschte leise, als er es vorsichtig aus dem Rahmen zu biegen versuchte. Noch ein paar Millimeter und das widerspenstige Ding – zerbrach. Das scharf schallende Geräusch, mit dem das Plastikquadrat in mehrere Einzelteile zersplitterte, ließ Alvaro erschrocken zusammenzucken. In der gebannten Ruhe seines Wagens hatte es wie ein Schuss geklungen. Atemlos lauschte er nun in Stille, die lediglich von seinem in den Ohren dröhnenden Puls übertönt wurde, der sich nur langsam wieder auf Normalgeschwindigkeit begab. Gott, so langsam verlor er den Verstand. Alvaro stieß die Luft durch die Nase aus und grinste hilflos sein fahles Spiegelbild vor sich in der Windschutzscheibe an. In den Wolken zuckten entfernte Blitze und ein dichter grauer Vorhang aus Regen schob sich vor den Horizont, der dahinter zu zerfließen schien. Das Puzzle mit den nun 28 Teilen flog samt Splittern raschelnd in seine Behausung zurück. Und gerade als er den Kasten wieder an seinen Platz verfrachten wollte, wo er von ihm aus auch die nächsten tausend Jahre bleiben konnte, flammte das Display seines Smartphones im Takt des eingehenden Anrufs auf.   "Ja?", meldete sich Alvaro möglichst neutral. "Sie haben uns vergessen!", entgegnete ihm eine etwas pikiert klingende Stimme grußlos, die den gespielt vorwurfsvollen Ton allerdings nicht lange durchhielt und bei der letzten Silbe in einem Kichern endete. Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Shit. "Du machst ihm Angst", flötete es prompt aus dem Hintergrund. Wo Ding 1 war, war Ding 2 nicht weit... Alvaro verdrehte die Augen. Die erste Stimme, die zur Tochter seines Chefs gehörte, befahl ihrem nervigen, dazwischen quatschenden Bruder, seine Klappe zu halten, so lange sie am Telefonieren war, was der sich natürlich nicht einfach so bieten ließ. Ein kurzes Gerangel kam auf, doch irgendwann hatte Ding 1 ihren Bruder wieder unter Kontrolle, der jetzt etwas weiter entfernt vor sich hin jammerte. "Könnten wir bitte-bitte-bitte noch in der Stadt anhalten?" Eine kleine Pause entstand, in der Ding 1 wohl wieder einfiel, was hier die wirklich wichtige Frage war. "Wo sind Sie denn?" Alvaro lachte tonlos auf. Er war versucht, dem ungeduldigen Stimmchen die Wahrheit zu sagen. "Euer Daddy hat mir eine Kiste mit Müll hinterlassen, die er vergessen hat, zur Tonne zu bringen, und was ich jetzt für ihn erledigen soll." Okay, so herzlos war er jetzt auch wieder nicht. "Ich bin gleich da", beschränkte sich Alvaro auf das Nötigste und legte auf, ohne auf die Bestätigung vom anderen Ende zu warten. Er startete seinen Wagen und machte sich auf den Weg zu seinem eigentlichen Job, der – Überraschung! – nicht daraus bestand, den Müll von seinem Chef zu entsorgen, sondern dessen Brut durch die Gegend zu kutschieren, was im Großen und Ganzen allerdings auch keinen Unterschied machte.     Während Ding 1 und Ding 2 unter ohrenbetäubendem Lärm durch den Eingangsbereich der Villa stürmten, um den Rest ihrer scheinbar unerschöpflichen Energie im Garten auszulassen, steuerte Alvaro seelenruhig auf den Wintergarten zu, der am gegenüberliegenden Ende der großen Halle lag. Kein Wunder, dass man ihm immer die Gören aufdrückte, damit er sie möglichst weit von zu Hause weg brachte. Mittlerweile hatte er vollstes Verständnis für die Eltern von Hänsel und Gretel... "Guten Abend", begrüßte Alvaro die bleiche Frau mit den schmalen Schultern, die in dem Rattansessel, in dem sie saß, wie eine zu große Puppe wirkte. Dass sie hier unten in dem sonnendurchfluteten Raum mit den unzähligen Pflanzen saß, war immerhin ein riesiger Fortschritt seit dem unschönen Tod ihres Mannes. Davor war sie kaum aus ihrem Schlafzimmer gekommen. Seit der Beerdigung vor zwei Wochen hatte er sie nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ihre ohnehin schon spärliche Kommunikation hatte sich in dieser Zeit auf kurze Anrufe und überbrachte Nachrichten beschränkt. "Ich mache für heute Feierabend", erklärte Alvaro und wich den traurigen Blicken aus, die bei seinen Worten kurz über ihn strichen, um sich dann wieder auf die tobenden Kinder im Garten zu konzentrieren, die gerade den Gartenschlauch entdeckt hatten, den einer der Gärtner vergessen hatte. Ein Schwall Wasser traf prasselnd auf die deckenhohen Fenster, begleitet von fröhlichem Kinderlachen. In weniger als einer Stunde war Regen gemeldet, aber wer war er schon, dass er hier den Lehrer für die Gören spielen würde... "Ja, machen Sie Feierabend, Alvaro, den haben Sie sich verdient." Das Lächeln, das dem Satz folgte, war kaum zu erkennen. Ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln, mehr war es nicht, und so schnell verschwunden, wie eine Windböe. "Wir waren in der Autowaschanlage", schrie Ding 2 durch die offenstehende Tür, die vom Wintergarten aus auf die Terrasse führte. "Und wir durften sogar im Auto sitzen bleiben!" Weil er dann für sieben Minuten seine Ruhe gehabt hatte, fügte Alvaro in Gedanken hinzu. Er sah zur Frau seines Chefs hinüber, die sich eine dünne Decke über die angezogenen Beine gelegt hatte. Es war Mitte Juli – alles andere als kalt, sollte man meinen. "Sie haben sicher noch Hunger, oder?" Die Frage war so leise, dass Alvaro sie bei dem Krach, den die Kinder im Garten veranstalteten, beinahe überhört hätte. "Nein, danke, wir haben unterwegs gegessen." Wieder erschien für einen Sekundenbruchteil dieses minimale Lächeln. "Sie sind zu nachsichtig mit den Beiden." "Es hatte sich angeboten." Sie hatte seine Anwesenheit bereits wieder ausgeblendet. Alvaro räusperte sich leise. "Wenn Sie mich noch brauchen-" "Nein, nein, gehen Sie nur und ruhen Sie sich aus. Ich brauche Sie erst morgen früh wieder." "Gute Nacht." Alvaro wandte sich um und verließ mit langen Schritten den Wintergarten, ehe wieder diese furchtbar traurigen Blicke über ihn strichen. Unter dem Arm trug er die Kiste aus dem Auto, in deren Inneren das zerbrochene Magische Quadrat im Takt seiner eiligen Schritte raschelte.   Kapitel 2: Red Fish, Blue Fish ------------------------------       Das Gewitter war jetzt über dem Haus. Geisterhaft leuchtende Blitze tauchten aus dem tiefgrauen Wolkenmeer auf und wanden sich wie elektrisierte Schlangen in langen Zickzacklinien über den immer dunkler werdenden Himmel. Grollender Donner folgte ihnen und vermischte sich mit dem Poltern der Kiste, deren neuer Platz nun auf dem Wohnzimmertisch seines kleinen Apartments im Angestelltenbereich der Villa war. Er musste das Rätsel dieser Kiste lösen, anders würde er wahrscheinlich nie wieder ruhig schlafen können. Mit vom Duschen nassen Haaren und einem eiskalten Bier in der Hand, ließ sich Alvaro wenig später auf einen der beiden Sessel fallen, die den Wohnzimmertisch seitlich einrahmten. Das kondensierte Wasser auf der Flasche perlte an dem Glas hinab und verteilte sich in seiner Handfläche, die das Getränk festhielt, ohne dass er einen Schluck davon nahm. Geistesabwesend sah er auf den Erste-Hilfe-Kasten vor sich, als würde der ihm gleich antworten. Heute morgen waren urplötzlich wieder die letzten Worte seines Chefs aus den Tiefen seiner Erinnerung aufgetaucht, die durch die Hektik nach dessen Tod irgendwo unter Pflichtgefühl und all den Dingen, die schnellstmöglich wieder so laufen mussten, wie zuvor, verschwunden waren. Die verdammte Kiste – im Wagen. Kümmer dich darum! Und dann war er in seinem Privatwagen weggefahren und nicht mehr zurück gekommen. Nicht mehr lebend, jedenfalls. Nie im Leben wäre ihm von alleine der Erste-Hilfe-Kasten unter dem Beifahrersitz aufgefallen. Und wenn, hätte er ihn höchstens in den Kofferraum geworfen, wahrscheinlich sogar ohne dabei zu registrieren, dass dort bereits einer lag.   Die aufsteigenden Kohlesäurebläschen knisterten leise, als Alvaro einen ersten Schluck aus der Flasche nahm. Ohne die Blicke von der Kiste zu lassen, zündete er sich eine Zigarette an. Okay, gut, irgendwann würde er damit anfangen müssen, oder nicht? Warum nicht jetzt! Er stellte das Bier beiseite. Die Zigarette im Mundwinkel, zog er die Kiste zu sich hinüber. Ein letztes Mal strich er mit beiden Händen vorsichtig über den Deckel, als erwarte er, dass der sich mit einem Knall öffnen und ihm ein Springteufel ins Gesicht lachen würde. Unfug. Also, noch mal von vorne. Ein Schlüssel. Er drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Schmucklos. Nicht mal ein Metallring war vorhanden, um weitere Schlüssel oder einen Anhänger daran zu befestigen. Vielleicht ein Haustürschlüssel. Oder – Alvaro lachte kurz auf. Oder von einem Bankfach. Postfach? Egal, der Schlüssel brachte ihn im Moment nicht weiter. Das Magische Quadrat war jetzt kaputt. Und mit großer Sicherheit auch eine Niete. Die Münzen konnte er ebenfalls abschreiben. Die beiden Kalender waren interessant. Langsam blätterte Alvaro durch die Seiten des Kalenders vom letzten Jahr und ließ seine Blicke über jede Zeile gleiten. In regelmäßigen Abständen waren in der sorgfältigen Handschrift seines Chefs lange Zahlenreihen vermerkt. Immer mittwochs und alle zwei Wochen noch zusätzlich freitags. Von Januar bis Dezember. Sonst nichts. Keine Namen, nichts. Nur diese Zahlenreihen. Mittwochs und freitags. Geldbeträge eventuell, was auch nicht verwunderlich wäre. Sein Chef hatte mehrere Geschäfte laufen. Die einzigen Ausnahmen an den Zahlenreihen war, dass freitags noch wechselnde Abkürzungen hinter der letzten Nummer standen. Was sollte diese Schnitzeljagd? Alvaro rieb sich mit den Händen die Schläfen, hinter denen es heftig pochte. Das alles war so untypisch für seinen Chef, der zwar nur wenig geredet hatte, aber immer so viel, dass unmissverständlich klar war, was Sache war. Warum jetzt diese Spielchen? Er warf den Kalender zurück in die Kiste. Das Bier in der Hand lehnte er sich im Sessel zurück und starrte an die Decke über sich. Unbeweglich, die im Kreis rennenden Gedanken in seinem Kopf sortierend. Der Donner rollte wie ein Güterzug über das Haus und die Blitze warfen tanzende Schatten an die Wände. Der Wind trieb den Regen in immer heftiger werdenden Böen gegen das Wohnzimmerfenster und nach zehn Minuten regnete es so stark, dass die Rinne am Dach überzulaufen begann und das monotone Plätschern des Wassers auf der Fensterbank bald wie das ohrenbetäubende Dröhnen der Niagarafälle klang.   Er musste kurz eingeschlafen sein, denn als Alvaro die Augen wieder öffnete, war das Gewitter endlich weitergezogen. Der heftige Regenschauer hatte nachgelassen und prasselte nur noch leicht gegen die Fenster. Er streckte die Arme, gähnte und erinnerte sich wieder an sein eigentliches Vorhaben. Seufzend nahm er den aktuellen Kalender und schlug ihn auf, mit wenig Hoffnung, etwas besonders aussagekräftiges darin zu finden. Und er behielt recht. Auch dort das gleiche. Zahlenreihen unter Zahlenreihen und manchmal diese seltsamen Abkürzungen. Mit dem Unterschied, dass dieser Kalender nur bis Mitte Juni beschrieben sein konnte. Und danach - kam nichts mehr. Alvaro hielt inne und sah bewegungslos auf den Kalender in seiner Hand hinunter, als ihm dieser letzte Gedanke bewusst wurde. Nie wieder würde er einen Anruf von seinem Chef erhalten, er solle ihn bitte so schnell wie möglich irgendwohin fahren, nur um dann ewig im Wagen vor immer gleich aussehenden chrom- und glasverseuchten Geschäftshäusern warten zu müssen, bis sein Boss entweder mit siegessicherem Grinsen oder mit einer tiefen Falte zwischen seinen Augenbrauen zurückkam, die Tür aufriss und sich auf die Rückbank sinken ließ. Alvaro hatte ihm nie Fragen gestellt. Erst recht keinen nervigen Smalltalk. Kein "Wie war Ihr Tag?" oder "Möchten Sie noch etwas trinken gehen, bevor ich Sie nach Hause bringe?" Es wäre ihm niemals eingefallen, seinen Boss auf diese vertrauliche Art anzusprechen. Er war kein Taxifahrer, sondern Chauffeur eines Mannes, der sich im Laufe seines leider nicht besonders langen Lebens ein stattliches Unternehmen aufgebaut hatte, in dem jedes Rädchen reibungslos ineinander griff. Stattdessen hatte er gelernt, die Mimik und Gestik seines Vorgesetzten zu lesen und war im Laufe der Zeit richtig gut darin geworden, so dass er ohne Fragen zu stellen, wusste, was sein Chef von ihm wollte, wenn er auf der Rückbank saß und gleich nach dem Einsteigen seine Aktentasche öffnete und die Papiere darin durchzusehen begann. Wortlos schlug er dann die Richtung zur Hauptgeschäftsstelle ein und fuhr danach auf direktem Weg nach Hause, denn er würde erst wieder am nächsten Morgen vor dem Bürogebäude stehen müssen, um seinen Chef, der die Nacht durcharbeiten würde, dort abzuholen und zum nächsten Termin zu bringen. Aber offensichtlich hatte er etwas übersehen. Etwas wichtiges, sonst säße er jetzt nicht hier in seinem spartanisch eingerichteten Wohnzimmer und hätte eine Kiste mit Dingen vor sich, die anscheinend bedeutend genug waren, um sich darum kümmern zu sollen – was auch immer damit gemeint war. Alvaro schlug die zweite Juni-Seite auf. Sie war leer. Er war gerade im Begriff, den Kalender frustriert zurück in die Kiste zu werfen, als er doch kurz innehielt. Das Papier fühlte sich dicker an als normal und er blätterte noch zwei Seiten um. In der Wochenzeile, in der sein Chef bereits unter der Erde lag, war ein gelber Notizzettel zwischen die Doppelseite geheftet. Darauf stand in Großbuchstaben und doppelt unterstrichen ein einziges Wort: ENTSORGEN!!!   Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, während Alvaro die Blicke nicht mehr von diesem einen Wort lösen konnte, das aus heiterem Himmel inmitten dieses Gewirrs aus Zahlen thronte. In dem Augenblick, als er es gelesen hatte, hatte er die Stimme seines Chefs im Ohr gehabt. Ruhig, aber bestimmt, ohne auch nur ansatzweise zu zittern. Entsorgen! Keine Fragen stellen. Weder davor, noch danach. Sein antrainiertes Gespür, auf seine Umgebung und seine Mitmenschen zu achten, das nach dem Tod seines Chefs in ein tiefes Koma gefallen war, erwachte endlich und versetzte Alvaro augenblicklich in einen Zustand, in dem er handelte, ohne dass sich seine Gedanken wieder im Kreis zu drehen begannen. Die übliche Spannung kehrte in seinen Körper zurück und kroch in jeden Muskel. Der Regen, der leicht an die Fensterscheiben klopfte, verlor an Relevanz und wurde zum Hintergrundrauschen. Hatte er wirklich angefangen an seinem Chef zu zweifeln? Alvaro lachte bitter auf. Das schal gewordene Bier auf dem Tisch hinterließ eine feuchte Spur, als Alvaro die Flasche zur Seite schob, um Platz für den Inhalt der Kiste zu machen, den er nun sorgfältig nebeneinander auf der Tischplatte ausbreitete. Er musste alles als eins betrachten, nicht einzeln. Es musste einen Zusammenhang geben und den musste er finden, damit nicht ausgerechnet der letzte Auftrag, den er von seinem Chef bekommen hatte, zum ersten Fehlschlag seiner Karriere zu werden. Flink huschten seine Blicke zwischen den Gegenständen vor ihm hin und her, während sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete. Münzen. Schlüssel. Magisches Quadrat. Kalender mit Anweisung. Alvaro streckte die Hand aus und ordnete die Dinge neu. Magisches Quadrat. Münzen. Schlüssel. Kalender mit Anweisung. Noch mal neu ordnen!, befahl ihm sein Kopf und seine Hände gehorchten. Schlüssel. Kalender mit- Seine Finger streiften die gelbe Haftnotiz. Entsorgen, nicht 'wegwerfen' stand darauf. Entsorgen meinte sicher nicht, die Sachen in den Müll zu werfen, das hätte sein Chef alleine geschafft. Entsorgen war spezifischer. Er riss den Zettel von seinem Platz und sah verblüfft auf den Eintrag, der darunter verborgen gewesen war. Dieses Mal konnte er die Ziffern und Abkürzungen sogar einigermaßen identifizieren, weil sie zu seinem alltäglichen Job gehörten, obwohl ein paar Zahlen beim befestigen des Zettels verwischt worden waren. Es waren GPS-Koordinaten und wenn er sich nicht gewaltig täuschte, gehörten sie zu dem Punkt, an dem er seinen Auftrag erledigen sollte. Alvaro jubelte innerlich auf. Die Flasche auf dem Wohnzimmertisch kam ins Schwanken, als er im Aufspringen mit dem Knie gegen den Tisch stieß. Mit einer blitzschnellen Handbewegung fing er das umkippende Getränk auf, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen überschwappte, und griff nach seinem Smartphone, das daneben lag. Es dauerte eine Weile, weil er ein paar der verwischten Zahlen raten musste, doch endlich spuckte die Suchmaschine die Wegbeschreibung einer Adresse aus. Es lag etwas weiter weg, als der Radius, in dem sein Chef sich gewöhnlich aufhielt, aber das würde er bald selbst herausfinden. Und dann würde er auch wissen, was er dort mit der Kiste anstellen sollte.     Das einzige, was Alvaro ein paar Tage später wusste, war, dass er an diesem Ort, zu dem ihn die Koordinaten hingeführt hatten, garantiert nichts mit dem Magischen Quadrat aus der Kiste anfangen konnte. Und dazu musste man auch kein Genie sein. Aber er hatte ein paar Fragen... Den Kopf in den Nacken gelegt sah er staunend zu dem blinkenden Gebilde über sich, das an der Fassade des etwas zu knallig gestrichenen Hauses angebracht war. Ein wirklich, wirklich riesiger nackter Busen blinkte abwechselnd in Neongelb, Pink und Blau, und genau darüber, wobei die mittleren Buchstaben in das Dekolleté flossen, stand "The Gorge", die Schlucht. Scheinbar hatte er die Koordinaten doch falsch geraten. Oder er war hier richtig. Eins von beidem. Und er würde es nur wissen, wenn er es überprüfte. Möglichst gefasst schritt Alvaro auf die offenstehende Tür des Hauses zu, aus der laute Musik und Stimmengewirr schallte. Seine Hand tastete ein letztes Mal nach dem Schlüssel, den er als einziges aus der Kiste mitgenommen hatte, und nach dem Holster, das sich gut verborgen unter seinem Sakko befand.           Kapitel 3: Black Fish, Blue Fish --------------------------------     Kurz bevor Alvaro die Bar betrat, trat der leise Zweifel, der auf der gesamten zweistündigen Fahrt hierher in der hintersten Ecke seines Kopfes von Schatten verborgen wie ein unruhiger Panther auf und ab geschlichen war, ins grell blendende Neonlicht dieser unwirklichen Umgebung. Wollte er wirklich wissen, was ihn hier erwartete? Er könnte sich jetzt einfach umdrehen und zum Auto zurückgehen. Was konnte im schlimmsten Fall passieren? Offensichtlich war er der einzige, der von dieser Kiste wusste. Der Einzige, der noch lebte, und er würde darüber sicher kein Wort mehr verlieren. Seine Blicke schweiften über die Fassade, auf der sich alle möglichen schrillen Neonlichter der Bars und Restaurants, die es umgaben, vereinten. Die hohen schmucklosen Fenster waren mit Sichtschutzfolie abgeklebt und ließen nicht die kleinste Ahnung dessen nach außen, was dahinter womöglich gerade vor sich ging. Dieses Gebäude war sein eigenes kleines, in sich ruhendes Universum und wollte vielleicht nicht gestört werden. Und wenn sein Chef, aus welchen Gründen auch immer, etwas mit diesem Ort zu schaffen gehabt hatte, dann war das vorbei und zusammen mit ihm jedes einzelne Geheimnis darum für immer verstummt. Es war nicht nötig, dass er sich zu einer Figur in einem Spiel machen ließ, dessen Ende ohnehin keinen Gewinn versprach und alle doch nur verlieren konnten. Schlafende Hunde und so... Gut, er würde seine eigentliche Arbeit nie mehr wieder so locker und unbelastet leisten können, wie die letzten Jahre. Aber war das nicht schon seit dem Auftauchen der Kiste und der Anweisung so? Ganz egal, ob er sich jetzt dieser Herausforderung eines gelben Notizzettels noch stellte, oder nicht? Nur dass es nicht mehr um ihn alleine ging. Jedes Mal, wenn er die Kinder zu irgendeiner noch so trivialen Schulveranstaltung fahren musste, würde wieder dieser Zweifel umher schleichen und ihm die Erinnerung an diese Neonschilder zurückbringen. Egal, wo er sich befand und was er tat. Jetzt, wo er wusste, wo ihn dieses verdammte "Kümmer dich darum" hingeführt hatte, "Entsorgen", kam es unbewusst über Alvaros Lippen. Es war keine Frage mehr, es war ein Beschluss. Er wollte Ruhe. Den letzten Auftrag erledigen und dann einfach nur noch Ruhe haben.     So gefasst wie möglich schlenderte Alvaro auf die Rezeption zu, die in dem hellerleuchteten Foyer lag, das sich unerwartet normal gab. Im Hinterkopf jedoch war er auf der Hut. Der sicher nicht billige Marmorboden in dem hellerleuchteten Eingangsbereich und die Deckenhohen und in Goldrahmen gefassten Spiegel konnten nicht von dem eigentlichen Zweck dieses Gebäudes ablenken und auch nicht von dessen jahrzehntelanger Vernachlässigung. Er kannte mindestens dreißig Hotels, die so aufgemacht waren wie dieses hier, aber wenn man genauer hinsah, fielen einem unweigerlich der abbröckelnde Putz in den Zimmerecken und das abgewetzte Polster der Sitzgruppen auf. Leder, das garantiert einmal sehr viel Geld gekostet hatte und um dessen Pflege sich niemand mehr kümmerte, spannte sich rissig über die Sitzflächen der hochbeinigen Barhocker an der Seite des Empfangs. Sie wirkten deplatziert. Genau wie die an den Sonnenseiten ausgeblichenen Kunstpflanzen, die in riesigen Kübeln den Eingangsbereich von einer Art Wartezone abteilten. Aus den angrenzenden Räumen schallten laute Musik und Gelächter. Gläser klirrten und unter der Tür kroch ein zarter Schleier Kunstnebel nach draußen. Auf den zweiten und dritten Blick war es hier drinnen genau so, wie das Äußere des Gebäudes es vermuten ließ. Preislich vielleicht teuer, aber im Grunde ohne viel Wert.     Der Mann an der Rezeption sah mit dem gleichen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, mit dem er gerade noch in dem Heft geblättert hatte, das vor ihm auf einem Haufen unordentlich gestapelter Papiere lag. Alvaro dachte einen Moment darüber nach, welche wichtigen Papiere sich in so einer Bar anhäufen konnten, dass die Bewältigung scheinbar nicht mehr zu schaffen war, und warum zur Hölle sie so offen und für jeden hier zugänglich herumlagen. Immerhin passte der Typ, der dahinter saß, auf eine verschrobene Art und Weise perfekt hierher mit seinem ungebügelten Hemd, das vermutlich den Eindruck erwecken sollte, dass man Wert auf Kleidung legte. "Ja?", hakte der Mann vom Empfang jetzt betont langsam nach, als sein Gegenüber auch nach zwanzig Sekunden, nachdem er an die Theke getreten war, keinen Ton von sich gegeben hatte und stattdessen seine Blicke sorgsam über jeden Besucher gleiten ließ, der irgendwo saß oder stand. "Also, wenn Sie undercover hier sind, sollten Sie sich vielleicht nicht ganz so auffällig umsehen, Mann", witzelte der Typ und das erste Mal sah Alvaro zu ihm hin. "Ich... bin nicht-", begann er und wurde gleich wieder unterbrochen. "Das war mir schon klar. Womit kann ich dienen, der Herr?" Der Papierstapel raschelte leise unter dem Gewicht des Ellenbogens, der darauf abgestützt wurde. Blicke, die viel zu viel Interesse heuchelten, waren nun starr auf Alvaro gerichtet. Alvaro räusperte sich und versuchte seine gerade aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Er griff in die Innentasche seines Sakkos, um den Schlüssel dort herauszunehmen und hatte stattdessen den kalten Griff seiner Waffe in der Hand. Als hätte er sich daran verbrannt, zuckte Alvaro zusammen und schob schnell wieder den Jackenstoff über das Holster. Sein Herz schlug ihm mittlerweile bis zum Hals, aber der Mann vor ihm hatte entweder nichts davon mitbekommen oder er war verdammt gut darin, so zu tun, als hätte er nichts mitbekommen. Und wenn es hier einen stillen Alarm gab, würde er es in circa fünf Minuten wissen... Mit eiskalten Fingern fischte Alvaro erneut nach dem Schlüssel; dieses Mal auf der richtigen Seite seines Sakkos. "Ich suche ein Zimmer", presste Alvaro zwischen den Zähnen hervor. Dieser idiotische Schlüssel hatte sich im Innenfutter der Tasche verhakt. "Schön, welche Leistung?" Die unerträgliche Musik und der Geruch nach zu viel Parfum bescherten Alvaro langsam Kopfschmerzen. Er hätte sich besser vorbereiten sollen... "Ich möchte hier nicht übernachten." "Was für eine Überraschung, aber das tut hier fast niemand", kam prompt die lakonische Antwort. "Welcher Service soll es sein?" Nacheinander wurde mehrere Sachen aufgezählt, bei denen Alvaro unweigerlich einen Schritt zurück trat. Der Typ machte sich doch über ihn lustig, dachte er und wich den Blicken aus, die ihn amüsiert musterten, während weiter munter ein Service nach dem anderen aufgezählt wurde, bei denen Alvaro irgendwann die Vorstellungskraft ausging. Stumm legte Alvaro den Schlüssel aus der Kiste auf den Tresen. "Ich suche das Schloss zu diesem Schlüssel." Endlich klang seine Stimme so gefasst, wie das beim Betreten dieses Ortes geplant gewesen war. Das Grinsen seines Gegenübers wurde eine Spur breiter, als er auf den silbern glänzenden Schlüssel hinabsah. "Oh", er zog das Oh unnötig in die Länge, wie Alvaro fand. "Privater Service", setzte er fast andächtig hinzu und nickte verstehend. "Das denke ich nicht", widersprach Alvaro möglichst nachdrücklich. "Ich soll dort etwas abholen." Er glaubte selbst nicht, was er da gerade sagte. "Was auch immer." Der Mann von der Rezeption hatte aufgehört zu grinsen. Er betrachtete sich Alvaro genauer, als müsste er sich jedes Detail an ihm einprägen. "Warum sind Sie dann nicht gleich ums Haus herumgegangen?" "Ums Haus herum?" Alvaros Gedanken rasten. Er konnte sich an keinen anderen Eingang erinnern. "Das wusste ich nicht. Ich bin heute das erste mal hier." "Selbstverständlich. Jeder ist immer das erste Mal hier. Egal wie oft." Das gespielte Grinsen kehrte auf das Gesicht des Mannes zurück, aber etwas in seinem Blick hatte sich verändert. Immer erwischte er die Anfänger auf seiner Schicht. "Also", setzte er zu einer gnädigen Erklärung an. "Die Appartements gehören zum Hinterhaus. Wieder zur Tür raus, die kleine Gasse runter und dort durch das Tor. Schönen Abend!" Alvaro verkniff sich die bissige Antwort. Wortlos nahm er den Schlüssel und machte sich daran, dieses Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. "Oh, und die Nummer des Appartements steht auf dem Schlüssel", rief man Alvaro nach, bevor er aus der Tür verschwand. "Hoffentlich gibt es keinen Ärger wegen des verlorenen Anhängers."     Das stockdunkle Appartement atmete tief aus, als sich die Eingangstür dazu öffnete und sich die alte Luft mit der neuen mischte, die hineinströmte. Augenblicklich schlug Alvaro die Mischung aus sicher wochenlang abgestandener Luft und Staub aus der Dunkelheit entgegen und ließ ihn kurz den Atem anhalten. Der modrige Geruch war überwältigend. Seine Hand tastete an der Wand neben der Tür nach dem Lichtschalter. Sekunden später flammte die Lampe an der Decke grell auf und Alvaro musste kurz den Blick von der plötzlichen Helligkeit abwenden, die seine Augen blendete, ehe er mit vorsichtigen Schritten die fremde Wohnung betreten konnte. "Hallo", rief Alvaro in die Stille, die sich vor ihm wie dichter Nebel ausbreitete. Bevor er aufgeschlossen hatte, hatte er sicherheitshalber ein paar Mal gegen die dunkelgrün lackierte Haustür geklopft. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn noch vorsichtiger werden lassen, als er ohnehin schon war, und erst nachdem sich auch nach dem dritten Klopfen nichts in der Wohnung geregt hatte, hatte er den Schlüssel mit einem mulmigen Gefühl im Magen ins Schloss gesteckt. Was er jetzt absolut nicht gebrauchen konnte, waren noch ein paar seltsame Gestalten mehr, als die, die er auf dem Weg hierher schon gesehen hatte. Die Lampe im Wohnzimmer flammte auf und tauchte den Raum in angenehmeres weiches Licht, als es beim Flur der Fall gewesen war. Ein schneller Rundblick sagte Alvaro, dass er wirklich alleine war. Das Appartement bestand lediglich aus einem einzigen Raum mit offener Küche, und dem Staubschleier auf den billigen Möbeln nach zu urteilen, war es schon eine ganze Weile her, dass jemand hier gelebt hatte. Was, bei allen guten Geistern, hatte sein Chef hier verloren gehabt, an diesem – diesem profanen Ort? Es ergab einfach keinen Sinn. Nichts. Er machte ein paar Schritte und fand sich kurz darauf wieder am Anfang. So langsam begann er die Kiste und alles, was seither passiert war, zu hassen. Mit jedem gefundenen Puzzlestück, das er platzierte, entstand irgendwo anders eine neue Lücke. Immerhin konnte er sich jetzt denken, was mit Entsorgen gemeint war. Alvaro nahm ein gerahmtes Foto aus einem der Regale und wischte den Staubschleier vom Glas. Die winzigen Partikel tanzten im Licht der Deckenlampe auf und ließen sich vor Alvaros auf dem Foto festgetackerten, entsetzten Blicken wieder nieder. Er fühlte sich, als würde ihm der geschmacklose Polyesterteppich unter den Füßen weggezogen. Nur entfernt registrierte er den ohrenbetäubenden Knall, mit dem die Haustür hinter ihm ins Schloss krachte.     Später konnte er noch nicht einmal mehr genau sagen, wie lange er das Foto angestarrt hatte, aber als er die Wohnungstür hinter sich zuwarf, hatte er sich gewünscht, dass das alles nicht wahr war, auch wenn ihm sein Verstand etwas anderes sagte. Das fröhliche Lächeln der blonden Frau vom Foto ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ein Mädchen im Vorschulalter hatte sich an ihre Seite gedrückt, während sie auf dem Arm einen höchstens zwei Jahre alten Jungen hielt. Und alle drei hatten auf die gleiche Art gelächelt. Der Klassiker! Das hier wurde langsam zum Albtraum, dachte Alvaro und zählte mit fahrigen Fingern die Münzen in seiner Handfläche zusammen. Sein Geldbeutel lag im Auto. Natürlich nur, wenn er Glück hatte und das Auto nicht aufgebrochen worden war. Die Kühltruhe in dem 24-Stunden-Kiosk, das er nicht weit von dem Appartement entfernt gefunden hatte, surrte leise im Takt des Deckenventilators, der einen steten Strom eiskalter Luft in Alvaros verschwitzten Nacken blies. Mit einem verhaltenen Zischen öffnete sich die automatische Eingangstür. "Hey, lange nicht mehr gesehen!" So gut es ging trat Alvaro in dem engen Labyrinth aus Regalen zur Seite und ließ die junge Frau vorbei, die gerade den Kiosk betreten hatte. Ein gut gelauntes "Danke", folgte, während sie sich an Alvaro vorüber schlängelte. Flink angelte sie ein Fertiggericht aus der Kühltruhe und schnappte sich auf dem Weg zur Kasse noch zwei Dosen Bier. "Wow, ein Festmahl. Gibt es was zu feiern?" Der Scanner an der Kasse piepte und die beiden Frauen lachten. "Alles wie immer." Es klang etwas betreten, fast wie eine Entschuldigung. "Immer noch besser, als der Hotdog, den ich auf dem Weg zur Arbeit hatte. Du glaubst ja nicht, was-" Alvaro wandte sich von der Szene ab. Er legte das Sandwich, das er eben erst aus der Kühltheke genommen hatte, wieder zurück. Er hatte keinen Appetit mehr. Die Tatsache, dass sein Chef wohl eine Affäre mit offensichtlich zwei daraus resultierenden Kindern gehabt hatte, war ihm auf den Magen geschlagen. Er tat es der jungen Frau gleich, die noch immer mit der Bedienung an der Kasse redete, und nahm sich ein kaltes Bier, ehe er zur Kasse ging. Noch während der Staub sich wieder langsam gelegt hatte, hatte er versucht, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kindern und seinem Chef zu finden, was relativ witzlos war. Dafür war das Foto nicht nahe genug aufgenommen worden. Aber ehrlich, musste er das so genau wissen? Mittlerweile passte alles viel zu gut zueinander. "Vorsichtig öffnen." "Bitte?" Alvaro hob den Blick. Vor ihm stand die junge Frau mit dem Fertiggericht und dem Bier. Sie nickte zur Dose in Alvaros Hand. "Vorsichtig öffnen", wiederholte sie und versuchte das Grinsen zu unterdrücken. "Wenn Jill die Regale einräumt, lässt sie meistens was fallen." "Sehr witzig, Jules..." Die Frau hinter der Kasse verdrehte die Augen. "Hör auf, unseren einzigen anständigen Kunden zu vergraulen!" "Gern geschehen. Bis morgen."     "Ich bin wieder zurück! Sorry, hat leider etwas gedauert." Ohne das Licht in dem Vorraum anzuschalten tappte Jules im Dunkeln zur Küchentheke. Mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin umrundete sie dabei den kleinen Beistelltisch, der neben dem Sofa stand. "Wo bist du denn?", rief sie in das anhaltende Schweigen. Ihre Einkäufe fielen polternd auf die Arbeitsfläche. Eine der Dosen rollte über den Rand und krachte zu Boden. "Ich habe doch gesagt, es tut mir leid." Das Licht ging an und Jules sah erschrocken auf den staubfreien Flecken im Regal, wo normalerweise der Bilderrahmen stand. Ein eiskalter Schauer überlief sie. Suchend blickte sie sich um und lachte dann erleichtert auf. Sie nahm den Bilderrahmen, der mitten auf dem Sofa gelegen hatte und drückte ihn liebevoll an sich. "Gott sei Dank, ich dachte schon, dir sei etwas passiert." Sie hielt das Foto vor sich und neigte lauschend ihren Kopf. "Wie meinst du das, es war jemand hier?" Jules schwieg und ließ noch einmal ihre Blicke durch die Wohnung wandern. Alles wirkte wie immer. Mit der Ausnahme, dass es so still war, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. "Weißt du was, wir essen jetzt zuerst und dann unterhalten wir uns weiter." Sie gab dem Foto in dem Bilderrahmen einen schnellen Kuss und stellte es auf der Küchentheke ab.     Kapitel 4: 10.984 m -------------------       "Hast du euren Besuch noch getroffen?", wurde Jules am gleichen Abend im The Gorge begrüßt, als sie hinter den Empfangstresen trat. "Besuch? Ich habe niemanden gesehen." Seelenruhig verstaute sie ihren Rucksack in einem Fach und steckte sich dann ihr Namensschild an die strahlend weiße Bluse. "War es etwas wichtiges?" "Keine Ahnung, er wirkte etwas neben der Spur. Faselte was davon, dass er etwas bei euch abholen sollte. Total schräger Typ." "Dann war's wohl nichts wichtiges, sonst wüsste ich es ja." Sie warf ihrem Nebenmann ihr strahlendstes Lächeln zu, der es mit einem hilflosen Grinsen erwiderte. "Soll ich ihn nächstes Mal rauswerfen lassen?" "Ach was!" Jules legte den Kopf schief, wobei ihre dunklen Haare, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte, wie ein Pendel hin und herschwangen. "Nate", sie tippte dem jungen Mann energisch auf die Brusttasche. Ihr Gesicht war ein einziger Vorwurf. "Wo ist dein Namensschild? Und warum ist dein Hemd nicht gebügelt?" Vergeblich wehrte Nate die flinken Hände ab, die damit begonnen hatten, an seiner Kleidung herumzuzupfen. "Jules", unterbrach er das Gerede der jungen Frau über anständige Arbeitskleidung und seine Position als jemand, der die Kunden begrüßen und dafür zu sorgen hatte, dass sie sich von Anfang an wohlfühlten, und versuchte sie erfolglos dazu zu bringen, ihn anzusehen. "Jules!" Endlich sah sie ihn an. "Was denn? Kein Grund, mich so anzuschreien", murmelte die junge Frau und ließ die Hände von ihrem Arbeitskollegen. Ihre Wangen überzog ein leichtes Rot. "Der Typ war wirklich schräg." "Na und? Sind das nicht alle hier?" Nate stieß einen langen Atemzug aus. "Ja, sind sie, aber der war sozusagen der Gottvater aller schrägen Typen, verstehst du? Er war bewaffnet, Jules-" "Oh, erzähl mir etwas neues, Nate." Jules lachte heiter auf. Sie streckte ihre Hand aus und zeigte auf die Tür direkt neben dem Empfang. "Wir gehen einmal durch und finden sicher fünfundzwanzig Typen, die bewaffnet sind." "Er hatte einen Schlüssel von eurer Wohnung", spielte Nate seinen letzten Trumpf aus. Es wirkte. Jules Wangen wurden bleich. Ihre Blicke wanderten zögerlich zum Eingang der Bar und wieder zurück zu ihrem Kollegen. "Einen Schlüssel?" Ihre Stimme klang nun unsicher. "Du solltest es Gabe sagen", fügte Nate versöhnlich hinzu. Jules nickte stumm. Nate hatte Recht, sie sollte es Gabe sagen, sobald er nach Hause kam. "Wenn du möchtest, kannst du bei mir bleiben, bis er zurück ist." "Auf gar keinen Fall", schlug sie müde lächelnd das freundschaftliche Angebot ihres Kollegen aus. Sie wusste, wie er es gemeint hatte, aber was sie ganz und gar nicht gebrauchen konnte, war noch ein Typ in ihrem Leben, der ihr sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumte. Sie konnte ihre eigenen Vorkehrungen treffen.     Dass er sich unwohl fühlte, wenn er morgens seine Arbeit begann, war untertrieben. Es war so untertrieben, wie zu behaupten, dass der Marianengraben mit seinen fast elftausend Metern ein Tümpel sei. Sobald er seinen Wohnbereich verließ und im Haupthaus darauf wartete, dass man ihm den Plan für den heutigen Tag mitteilte, dachte er an die andere Familie, die sich zwei Stunden von hier entfernt eine Ein-Zimmer-Wohnung teilen musste. Hier gab es zwei Zimmer pro Kind, mit so viel Spielzeug, dass die beiden einen ganzen Monat durch spielen könnten, ohne dabei jedes Teil in die Hand zu bekommen. Die andere Wohnung hatte nicht einmal den Eindruck hinterlassen, dass dort überhaupt Kinder wohnten. Alles, was er an Spielzeug gesehen hatte, war ein Plüschpanda, der wie ein ziemlich trauriger Panda mit dem Gesicht nach unten vor der Badezimmertür gelegen hatte. Wie hatte es sein Chef hinnehmen können, dass ein Teil von ihm in so ärmlichen Verhältnissen gelebt hatte, während den undankbaren Gören hier jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde? Selbst seine Hausangestellten lebten nicht so unwürdig. Am Geld konnte es nicht gelegen haben. Davon hätte er locker noch zwei weitere Familien in anständigen Häusern ernähren können. Apropos Gören. Alvaro sah auf die Uhr an seinem Handgelenk hinab. In zehn Minuten würden die beiden vom Fechttraining zurück sein. Danach hatte er Feierabend und eigentlich noch genug Zeit, sich um die andere Wohnung zu kümmern. Wenn seine Vermutung zutraf, war das Appartement schon länger unbewohnt. Vielleicht hatte sein Boss ja doch noch einen Funken Verantwortung besessen und seine Zweitfamilie an einen anderen Ort bringen lassen? Vielleicht ja sogar mit angenehmerer Nachbarschaft?     In der Wohnung hatte sich tatsächlich nichts verändert, als wäre nicht schon eine Woche seit seinem letzten Besuch hier vergangen. Der Bilderrahmen mit dem Familienfoto lag noch genau dort auf dem Sofa, wo er es hingelegt hatte. Wäre zwischenzeitlich jemand hier gewesen, hätte man dieses geliebte Erinnerungsstück sicher nicht so achtlos auf dem Polstermöbel liegen lassen. Was wohl aus der Frau und den Kindern geworden war? Hoffentlich hatten sie es jetzt besser als in dieser Konservenbüchse. Wenn sein Boss schlau gewesen war, dann hatte er sie weit weg von hier bringen lassen. Die Türklingel summte. Alvaro öffnete und sah sich einem Bären von Mann gegenüber, der mit verschränkten Armen dastand und auf Alvaro, der alles andere als klein gewachsen war, herabsah. "Move it! - Ihr freundliches Umzugsunternehmen", brummelte der Mann düster. Sein Vollbart war so dicht, dass man keine einzige Lippenbewegung erkennen konnte. "Dann toben Sie sich mal aus", Alvaro trat zur Seite und ließ den Bären samt seiner Kollegen in die Wohnung. Bald hatte Familie Bär nach einiger Diskussion einen Plan entwickelt, wie die Einrichtung am besten aus der Wohnung zu bringen war. "Es kann alles raus", wies Alvaro die Männer noch einmal an, von denen zwei die Wohnung verließen, um kurz darauf mit gefalteten Kartons, Gurten und Transportgeräten zurückzukommen.   Die Wohnung war bereits zu einem Drittel ausgeräumt, als von draußen plötzlich empörtes Geschrei zu hören war. Irgendeine Diskussion, die in immer lauter werdendem Geschimpfe gipfelte, kam auf. Alvaro seufzte. So etwas hatte er irgendwie schon erwartet und in seine Planung mit einbezogen. Er trat vor die Tür, bereit, den Ärger zu regeln. "Keine Sorge, alle Schäden werden bezahlt", rief er in Richtung Möbelpacker, die im Halbkreis um die gerade erst rausgetragenen Möbel standen und auf jemanden vor ihnen einredeten, der ihnen den Weg versperrte. Jemand löste sich aus der gestikulierenden Gruppe heraus und schoss wie ein Blitz auf Alvaro zu. "Sind Sie für den Scheiß hier verantwortlich?", fuhr ihn der junge Mann an, der sich vor ihm aufgebaut hatte, und wütend auf die Möbel deutete, die sich auf dem überdachten Gang stapelten, der über Treppen hinab zum Hinterhof führte. "Ich schätze schon", entgegnete Alvaro gelassen und ignorierte geflissentlich die feindseligen Blicke, die ihn durchbohrten. "Wo ist das Problem?", hakte er geduldig nach. Sein Gegenüber schnappte nach Luft. Seine Haare waren völlig nass, als käme er direkt aus dem Regen, was an diesem sonnigen Tag mehr als unwahrscheinlich war. Jetzt fielen Alvaro die Schwimmflossen auf, die der junge Mann in einer Hand hielt und damit ausholte. Alvaros linke Hand zuckte, um dem Irren vor sich im Notfall die Flossen wegzunehmen. "Die verdammte Miete ist verdammt noch mal bezahlt! Im Voraus schon!" Die Flossen flogen nur knapp an Alvaro vorbei in die offenstehende Haustür und krachten im Flur hinter ihm gegen irgendetwas, das gut hörbar zerbrach. Was dem Unbekannten eine weitere Zornesfalte bescherte. Gelassen schnippte Alvaro die gerauchte Zigarette an seinem Gegenüber vorbei in den Innenhof. Anscheinend hatte er doch nicht alles miteinberechnet, als er die Wohnung zum Entrümpeln freigegeben hatte. "Ich bin nicht wegen der Miete hier." "Ach so, dann fährt man eben einfach mal so irgendwo vorbei und räumt eine Wohnung aus, in der noch Menschen leben." Die Stimme des angeblichen Mieters wurden mit jedem Wort lauter. "Schon mal was von Hausfriedensbruch gehört?" "Die Wohnung sah nicht gerade bewohnt aus." Alvaro spürte, wie in ihm langsam Wut emporkroch. Nicht unbedingt auf sein zorniges Gegenüber, der gerade einem der Möbelpacker, der nichts von der Diskussion mitbekommen hatte, einen Karton aus der Hand riss. Er war einfach nur wütend auf die Umstände, die ihn schon wieder in die falsche Richtung geführt hatten. Langsam hatte er es satt. Die anderen Mieter des Komplexes, die aufgescheucht vom Geschrei vor ihren Wohnungen standen und dem Treiben um sie herum misstrauisch zusahen, machten ihm dabei fast genauso viele Sorgen. Einige sahen nicht unbedingt aus, als wäre man gerne in deren Gesellschaft. Das konnte er nicht auch noch gebrauchen... "Die Wohnung ist also noch vermietet?" Der junge Mann mit den nassen Haaren ließ seinen Rucksack neben den Schwimmflossen und dem zerbrochenen Spiegel zu Boden fallen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Alvaro ungläubig an, als wäre der von allen guten Geistern verlassen. "Offensichtlich schon!" "Schön." Alvaro zuckte mit den Schultern. Er pfiff in Richtung der Möbelpacker, die sich zu ihm umdrehten. "Alles wieder zurück bringen." Er wandte sich dem jungen Mann zu und betrachtete ihn eine Weile stumm. "Wie lange wohnst du schon hier?" Überrascht von dieser Frage, runzelte der Angesprochene die Stirn. "So lange ich mich erinnern kann, warum?" Er hatte aufgehört, die Möbelpacker mit giftigen Blicken zu durchbohren, und betrachtete sich das erste Mal den Fremden vor sich, der noch mit sich zu ringen schien. Alvaro straffte die Schultern und nahm einen sorgsamen Atemzug. Er spürte, wie verspannt er die ganze Zeit über gewesen war, als sich die Muskulatur, angefangen bei seinem Nacken hinab zu seinem Brustkorb langsam lockerte. "Dann habe ich eine schlechte Nachricht."       Kapitel 5: Einschäumen - Auswaschen - Wiederholen -------------------------------------------------   Ohne auf Alvaros vorhergegangene Bemerkung wegen der schlechten Nachricht zu reagieren, ließ ihn der junge Mann stehen und rannte den nun vor sich hin fluchenden Möbelpackern hinterher, die ihrem neuen Auftrag folgten und die Möbel und Kisten, die sie gerade erst mühsam aus der Wohnung transportiert hatten, wieder in eben jene zurückbrachten und vollkommen unbeeindruckt von den bösen Blicken, die ihr Tun dabei begleiteten, einfach an Ort und Stelle stehen ließen, bis der kleine Flur völlig überfüllt war. "Der Scheiß kann hier nicht stehen bleiben!", giftete er die Männer an, die kommentarlos an ihm vorüber gingen.   "Die Fahrt und die angefangenen Stunden werden trotzdem in Rechnung gestellt!", rief der vollbärtige Riese Alvaro zu, ehe er sich mit einem verabschiedenden Tippen gegen sein Basecap mitsamt seiner Mannschaft aus dem Staub machte. Bevor der junge Mann mit den nassen Haaren wieder schimpfend hinter den Möbelpackern herrennen konnte, hatte ihn Alvaro am Arm gepackt. Das erste Mal stand dieser nun so ruhig, dass Alvaro Gelegenheit hatte, eine Ähnlichkeit zwischen dem jungen Mann vor sich und dem Jungen auf dem Kinderbild - und auch unbewusst zu seinem Chef – herzustellen. Was ihm absolut nicht gelang, dafür war alles zu viel und zu schnell auf ihn eingestürzt. Aus der kleinen Kiste, die er scheinbar entsorgen sollte, war ein massives Gebirge geworden und ein Teil davon stand ihm gegenüber und starrte ihn wutentbrannt an.   Alvaro ließ den jungen Mann los, der sofort auf Distanz zu ihm ging als hätte Alvaro eine ansteckende Krankheit. Er räusperte sich leise. "Die schlechte Nachricht", begann er seinen unfreiwillig unterbrochenen Monolog zum zweiten Mal. Und wurde erneut unterbrochen. "Abgesehen von Einbruch und Diebstahl?" Alvaro seufzte. Er suchte nach seinem Zigarettenpäckchen und zündete sich in aller Seelenruhe eine an. "Sagt dir der Name LaRue etwas?", fragte Alvaro nach einer Weile, nachdem er sein Gegenüber etwas zappeln gelassen hatte, bis er sich sicher war, eine Antwort zu bekommen. Gabe horchte auf, riss sich aber gleich darauf wieder zusammen. "Nie gehört", entgegnete er tonlos und erwiderte regungslos die Blicke des Fremden, dessen Mund sich zu einem hauchdünnen Lächeln verzog, das so schnell wieder verschwand, wie der Rauch, der zwischen den Lippen hervorquoll. "Ok", erwiderte Alvaro knapp. Er hatte seine Antwort. Auch wenn die Worte gelogen waren, hatte das kurze erschrockene Blinzeln seine Frage mehr als ausreichend beantwortet. Er wandte sich ab und ging davon.   Mit offenem Mund sah Gabe dem Fremden nach, der zuerst aus dem Nichts hier aufgetaucht und seine Wohnung in ein heilloses Chaos verwandelt hatte, um dann eiskalt davonzuspazieren als ginge ihn nichts davon mehr was an. "Was ist mit den Sachen?", schrie Gabe Alvaro nach, der ohne Eile die Metallstufen zum Innenhof hinab ging. Gabe rannte zum Geländer und beugte sich so weit darüber, dass er den anderen friedlich davon schlendern sehen konnte. "Das kann hier nicht so stehen bleiben, verdammt noch mal!" "Nicht mein Problem. Ich bin nicht dein Inneneinrichter", antwortete Alvaro ohne stehenzubleiben und verließ das Grundstück durch die Hofeinfahrt. "Arschloch!", rief Gabe der bläulichen Rauchwolke nach, die alles war, was von Alvaro übrig geblieben war. Er sah zu dem Berg aus Kisten und Möbeln, die den Eingang zu seiner Wohnung verstopften. "Verfluchte Scheiße", fauchte Gabe und gab einer der Kisten, die ihm am nächsten standen, einen heftigen Tritt.     Nichtsahnend betrat Jules die Wohnung und stieß direkt im Flur gegen einen Stapel Kartons, der durch den Aufprall bedrohlich ins Wanken kam. Gabe stand im Türrahmen, die Arme vor sich verschränkt sah er stumm seiner Schwester dabei zu, wie diese mit der Stabilität des Kartonstapels kämpfte, bis alles wieder sicher stand. "Hi", begrüßte Jules ihren Bruder verlegen lächelnd, während sie sich Jacke und Schuhe auszog und sich vorsichtig in dem Labyrinth einen Weg um ihn und die Möbel herum bahnte, die kreuz und quer in der winzigen Wohnung verteilt standen. "Hättest du nicht mal Staub wischen können, wenn du schon hier wohnst?" "Ich hatte keine Zeit, du weißt was für Betrieb im Moment ist." Völlig gelassen räumte die junge Frau ihre Einkäufe in den Kühlschrank. "So schlimm ist es doch noch gar nicht...", versuchte sie ihren Bruder zu besänftigen, der nun seufzte.   Gabe, der Jules in die offene Küche gefolgt war, nahm sich eine Flasche Wasser aus der Einkaufstüte. Es zischte, als er sie öffnete. Nachdenklich sah er den winzigen Kohlesäurebläschen zu, die darin aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten. "Ich war drei Wochen weg und als ich heute nach Hause komme, ist die Wohnung ausgeräumt!" "Ausgeräumt?" Das erste Mal hob Jules den Kopf. Gabe klang ernster als sonst. Ihre Blicke huschten über die chaotisch angeordneten Möbel. "Ich dachte, du stellst um." Er musste ein paar Mal tief ein und ausatmen, bevor er in der Lage war, seiner Schwester eine einigermaßen gefasste Antwort zu geben. "Damit warte ich normalerweise immer, bis ich meine Tasche ausgepackt habe, aber egal, gibt es wenigstens irgendwas Essbares hier?" Jules bedrücktes Gesicht hellte sich augenblicklich auf. "In der Mikrowelle steht Lasagne", antwortete sie fröhlich. Einen Moment hatte sie sich Sorgen um ihren Bruder gemacht. "Besser als nichts." Gabe öffnete die Tür der Mikrowelle und nahm den rechteckigen Karton heraus. Das Willst du auch davon? an seine Schwester schon auf den Lippen, verschlug es ihm beim Anblick der Lasagne die Sprache. Wo normalerweise goldgelber Käse eine cremige Béchamelsauce krönen sollte, bedeckte ein dichter grüner Schimmelrasen die Oberfläche des Gerichts, an dessen Seiten die darunter gärende Tomatensauce Blasen schlug. Der Pappkarton mit der Lasagne polterte auf die Arbeitsfläche. Mit offenem Mund sah Gabe der schimmeligen Staubwolke zu, die sich über der verdorbenen Pasta erhob. Der saure Geruch, der von dem Nudelgericht ausging war überwältigend abstoßend und es kostete ihn seine gesamte Beherrschung, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Beinahe hätte er davon gegessen... "Vorsicht! Verbrenn dich nicht." Mit vor Entsetzen geweiteten Augen sah Gabe, wie seine Schwester einen Pfannenwender aus der Schublade nahm und offensichtlich vorhatte, die glibberige Lasagne, die halb aus dem Karton gerutscht war, wieder in eben jenen zurück zu befördern.   "Verbrenn dich nicht?", wiederholte er heiser. "Jules", er hielt ihre Hand fest, bevor sie die zum Himmel stinkende Mischung aus Sauce, Nudeln und Schimmel erreichen konnte. "Jules, komm mal her." Jules ging um die Kücheninsel herum, bis sie ihrem Bruder gegenüber stand, der aus irgendeinem Grund ziemlich besorgt aussah. "Wie lange stand die Lasagne denn schon in der Mikrowelle?" Seine Hand fuhr sachte über die nun bleichen Wangen seiner Schwester. "Noch nicht so lange", murmelte Jules mit beschämt gesenktem Blick. "Am gleichen Abend, als ich-" Sie suchte ihre Erinnerungen nach dem richtigen Zeitpunkt ab, doch da war nichts mehr. Als hätte es die Lasagne gar nicht gegeben. "Seit drei Wochen also", beendete Gabe die Erklärung. Zum Glück hatte sie nicht den Backofen benutzt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den vergessen hätte. "So lange auch wieder nicht", hauchte Jules bedrückt. "Vielleicht eine Woche - aber keine Zwei!" Also ob es das besser machen würde, dachte Gabe. Seine erste Wut wich Mitleid. "Weißt du noch, was wir wegen des Essens abgemacht hatten?" "Nichts selber kochen. Liefern lassen oder etwas Kaltes essen." "Richtig. Hör zu, Jules, das ist wichtig." Er nahm ihre Hände in seine und wartete, bis seine Schwester ihn ansah. Ihre reumütig ausweichenden Blicke hafteten nun konzentriert an denen ihres Bruders. Seine Stimme nahm einen neutralen Tonfall an und er betonte jedes Wort. "Benutz' nicht mehr die Mikrowelle oder sonst ein elektrisches Gerät, so lange ich nicht bei dir bin. Verstanden?" Jules nickte artig. "Wenn du etwas dringend brauchst, sag Nate Bescheid." Jules nickte erneut, ohne eine Miene zu verziehen. Die zarte Berührung an ihrer Stirn wischte schließlich die schweren Wolken beiseite, die ihren Kopf umgeben hatten. Sie fühlte, wie sie langsam wieder an die Oberfläche auftauchte und normal atmen konnte. "Komm, wir gehen was essen", bot Gabe Jules an, deren Blicke nun wieder klarer waren und die Gedanken geordneter schienen. Mit einem schnellen Ruck, ehe ihn der Ekel wieder übermannte, beförderte Gabe die verdorbene Lasagne in den Mülleimer und wischte die Arbeitsplatte ab.   Geduldig sah Gabe seiner Schwester zu, die nun fröhlich etwas vor sich hin murmelnd wieder ihre Jacke und Schuhe anzog und dann freudig gebannt im Flur auf ihn wartete. Er hatte nur einen kurzen Blick auf das ordentlich gemachtes Bett werfen müssen, um zu wissen, dass sie es drei Wochen nicht benutzt hatte. Alles war noch genauso, wie er es hinterlassen hatte. Keine einzige Falte zierte das Kopfkissen oder die Bettdecke. Die extra Decke, die er mitten auf dem Bett platziert hatte, war noch so zusammengelegt, wie er sie hingelegt hatte. Er musste nicht lange raten, dass sie sich schon wieder auf das kleine Sofa gequetscht hatte, statt in dem Bett zu schlafen, das er ihr überlassen hatte, als sie hier eingezogen waren. Und über das, was sie gegessen oder getrunken hatte, durfte er gar nicht erst nachdenken. Er hatte die Sachen gesehen, die sie in den Kühlschrank geräumt hatte, der jetzt schon ungewohnterweise aus allen Nähten platzte. Sie hatte eingekauft und weggeräumt und eingekauft und weggeräumt, ohne viel verbraucht zu haben. Scheinbar konnte er sie doch nicht mehr so lange alleine lassen. Er brauchte einen neuen Plan.     Nate hob den Kopf und lachte auf. Er konnte nicht glauben, wer da vor ihm in der Halle des The Gorge stand und ihn mit feindseligen Blicken durchbohrte. "Guten Abend, der Herr, was kann ich für Sie tun?", säuselte Nate mit vor Liebenswürdigkeit triefender Stimme und ergötzte sich an dem Anblick seines Gegenübers, bei dem sich nun eine zornige Falte zwischen den Augenbrauen bildete. "Haben Sie reserviert? Oder kann ich Ihnen unser heutiges Angebot-" "Verarsch mich nicht", unterbrach Alvaro Nate grummelnd und trat einen Schritt näher an die Theke heran. Seine Hand zuckte schon, die den breit grinsenden Kerl vor sich nur zu gerne am Kragen gepackt und einmal gut durchgeschüttelt hätte, bis ihm das verdammte Grinsen aus dem Gesicht gefallen wäre. Doch Alvaro riss sich zusammen, so schwer es ihm auch fiel. Er brauchte Informationen und die bekam er nur hier. Kapitel 6: Schall und Rauch ---------------------------     Alvaro stand nun direkt an der Theke. "Ich war letztens wegen des Appartements hier", begann er seine Mission, auch wenn ihm der belustigte Gesichtsausdruck seines Gegenübers wenig Hoffnung auf Erfolg machte. "Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich kann mich nicht daran erinnern, Sie hier einmal gesehen zu haben." Nate konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. Und wie er sich an den Typen erinnern konnte, der beim letzten Mal so neben der Spur gewesen war, dass er kaum ein vernünftiges Wort hervorgebracht hatte. Hier kamen nicht viele Menschen im 1000$-Anzug rein, auch wenn er heute etwas legerer gekleidet war, und wenn es dann mal einer tat, dann vergaß er ihn garantiert nie mehr. "Wie kann ich Ihnen denn helfen?" "Ich habe was im Appartement vergessen." "Hatten Sie nicht einen Schlüssel?", hakte Nate interessiert nach, bei dem auf wundersame Weise das Gedächtnis zurückgekehrt war. Trotz aller Witzeleien konnte der Typ ruhig wissen, dass er hier nicht zur Zierde hinter der Theke stand. "Genau den habe ich ja im Appartement vergessen!" In Alvaros Ohren klang das völlig legitim. In denen seines Gegenübers wohl nicht, der sich auf eine längere Diskussion zu freuen schien. "Ich brauche die Nummer des Mieters." "Da könnte ja jeder hier antanzen und irgendwas wissen wollen." Nate wedelte mit einer Hand vor sich in der Luft, als wolle er unsichtbare Fliegen vertreiben. "Was weiß ich schon über Sie? Sie könnten ein Auftragsmörder sein und dann?" "Dann würde ich mit dir anfangen! Also los, anrufen!" "Sieht das hier wie eine Telefonzentrale aus?" Nate kostete seine Überlegenheit bis zum letzten Wort aus, während die Ader am Hals seines Gegenübers immer deutlicher hervortrat. "Wen soll ich denn überhaupt anrufen? Name?" Alvaro spürte, wie ihm der Geduldsfaden Faser für Faser riss. "Den Namen weiß ich nicht, aber spielt der eine Rolle?" "Finde ich schon. Woher soll ich denn sonst wissen, wen Sie meinen?" Nate sprach nun mit gedämpfter Stimme, als wäre es das Geheimnis des Jahrhunderts, das er Alvaro gerade offenbarte. "Nicht jeder Mieter hat was mit der Bar zu tun..." Alvaros Hand schoss wie eine Schlange beim Angriff nach vorne. Schneller als Nate überhaupt blinzeln oder zurückweichen konnte, hatte er diesen am Kragen seines ungebügelten Hemdes gepackt und ihn näher zu sich gezogen. "Dann gehe ich jetzt runter und trete die Tür ein und danach komme ich wieder hoch und trete dir die Visage ein!" "Ok, ok", presste Nate atemlos hervor. "Ganz schön mutig, dafür dass Sie hier heute mal unbewaffnet erscheinen." "Darauf würde ich mich nicht verlassen...", raunte Alvaro und verstärkte seinen Griff, bis Nates zittrige Hand endlich nach dem Telefonhörer griff. "Wie war die Nummer des Appartements?"     Das kühle blaue Leuchten des im Takt des Anrufs aufblinkenden Displays durchbrach die wohltuende Dunkelheit, in der Gabe seit Jules' Weggehen saß und nachgedacht hatte. Die nahezu vollkommene Schwärze hatte etwas tröstliches. Alles, was außerhalb seines eigenen Körpers existierte, versank in undurchdringlicher Lichtlosigkeit. Und umgekehrt kam nichts von Außen zu ihm durch. Alles prallte an dem schweren Vorhang ab, den er selbst um sich herum gezogen hatte, ehe es ihn erreichen konnte. Nur das Handy hatte er völlig vergessen. Reglos sah Gabe zu dem rechteckigen Störenfried und wägte ab, ob es sich lohnte, sich seinen Abend von Nate und dessen Unsinn versauen zu lassen. Kurz bevor die Mailbox den Anrufer endgültig abfangen konnte, ging er dran. "Was?", bellte er ungehalten in das Mikrofon. "Könntest du mal in die Bar kommen?" "Ist was mit Jules?" "Nein", kam es zögerlich zurück. Nate sah zu Alvaro, der dessen Blicke mit unbeweglicher Miene erwiderte und nur darauf wartete, dass Nate etwas falsches sagte. "Hier ist jemand für dich." Gabes langer Seufzer ließ Nate nichts gutes ahnen. "Schick ihn weg, ich erwarte niemanden." "Aber-", setzte Nate nervös an, als der Anruf auch schon wieder unterbrochen wurde. Er schluckte, um seinen trockenen Hals zu befeuchten. Seine Kehle schmerzte noch immer von dem Griff, mit dem dieser Irre ihn gepackt hatte. Der Kraft nach zu urteilen, die man ihm äußerlich nicht mal ansah, musste der irgendeine dubiose Ausbildung genossen haben. Vermutlich war er wirklich ein Auftragskiller... In Zeitlupe legte Nate den Hörer zurück auf das Telefon. "Er ist nicht zuhause", erklärte er dem Verrückten unnötigerweise, obwohl dessen leichtes Schmunzeln bereits Bestätigung genug war, dass er nichts anderes als eine Lüge erwartet hatte. "Scheint so", stimmte Alvaro Nate betont gelassen zu, der ihn mit argwöhnischen Blicken bedachte, bis Alvaro das The Gorge endgültig verlassen hatte.   Gabe wartete, bis das leichte Vibrieren seines Handys das Ausschalten bestätigte, und ließ es neben sich auf das Sofa fallen. Seine Hand griff wieder nach dem metallenen Gegenstand, der auf dem niedrigen Wohnzimmertisch lag und den er schon sicher zwanzig Mal hochgenommen und wieder hingelegt hatte. Zwischen Daumen und Zeigefinger haltend betrachtete er sich den Schlüssel von allen Seiten, doch egal welche er sich ansah, es blieb gleich furchtbar. Die eingestanzten Zahlen schimmerten im Zwielicht und prompt schlug sein Magen wieder Salto. Er hatte den Schlüssel im Türschloss steckend gefunden - an dem Tag, als der Typ mit der Umzugsfirma die Wohnung ausgeräumt hatte. Und er war es; es war seiner. Der Anhänger fehlte, aber die Nummer stimmte. Gabe selbst hatte den Schlüssel weggegeben und dass er nun hier war, war kein gutes Zeichen.     Für den Fall, dass diese Knalltüte aus dem The Gorge tatsächlich gedacht hatte, dass sich Alvaro nach dieser offensichtlichen, fast schon beleidigend offensichtlichen Lüge in sein Auto setzen und seelenruhig nach Hause fahren würde, hatte er sich getäuscht. Er könnte einfach wieder auf dem gleichen Weg zum Appartement gehen, doch offenbar war man - vermutlich wegen Alvaros letzter Aktion hier - sensibler gegenüber unerwünschten Besuchern geworden und hatte das Hoftor abgeschlossen, das leider der einzige Zugang zu den Wohnungen war. Ihm blieb also nur, hier am oberen Drittel der Gasse zu warten und auf sein Glück zu vertrauen, dass der junge Mann das Appartement verließ, oder - falls dieser Wicht vom Empfang wirklich nicht gelogen haben sollte - es betrat. Ohne den Eingang des Hoftors aus den Augen zu lassen, zündete sich Alvaro eine Zigarette an. Er hatte alles im Blick, ohne selbst allzu verdächtig zu wirken. Und wenn ihm doch jemand zu neugierig auf die Pelle rücken wollte, konnte er die kleine Gasse hinunter dem 24h-Kiosk einen schnellen Besuch abstatten. Alvaro lehnte sich mit dem Rücken gegen die noch sonnenwarme graffitiübersäte Mauer und sah dem Rauch zu, der über ihm in den dunklen Abendhimmel stieg. Die übertrieben hellen Neonlichter der Bar überdeckten mit ihrem grellen Leuchten sämtliche Sterne. Als ob man diesen hässlichen Bau sonst übersehen könnte... "Hey, ich kenne Sie!" Alvaro zuckte kurz zusammen. Gott, er war wirklich mies im unauffälligen Beschatten. Er nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und sah vor sich, wo ihn eine junge Frau so herzlich anstrahlte, als ob sie sich wirklich kennen würden.   "Entschuldigung, ich glaube das ist ein Irrtum." Verlegen versuchte Alvaro nicht zu deutlich das Gesicht der jungen Frau mit seinen Erinnerungen abzugleichen. Ergebnislos. "Wir haben uns hier schon mal gesehen!" Ihr Pferdeschwanz wippte im Takt ihres eifrigen Nickens. Alvaros Mund verzog sich zu einem minimalen Lächeln. Er schnippte die Asche von seiner Zigarette. "Ich bin das erste Mal hier." Das plötzliche laute Lachen der jungen Frau schallte durch die schmale Gasse. "Wir haben uns unten im Kiosk getroffen. Vor knapp zwei Wochen." Sie hatte die Arme voller Tüten mit Snacks und ein paar Getränkedosen, von denen nun eine zu Boden fiel. "Ich weiß es wirklich nicht mehr." Alvaro hob die Dose auf, bevor sie die Gasse runter rollen konnte, und wartete geduldig, bis seine Gesprächspartnerin ihre Einkäufe in ihrer Umhängetasche verstaut hatte. Sie bot Alvaro eine Tüte gerösteter Erdnüsse an, der dankend ablehnte. "Sie haben sich zuerst ein Sandwich aus der Kühlung genommen und es dann wieder weggelegt und nur eine Dose Bier gekauft." Alvaro starrte sie mit offenem Mund an. "Das war auch besser so." Belustigt sah sie Alvaro von oben bis unten an, der hin und hergerissen war, ob er das Gespräch sofort beenden oder schauen sollte, wohin es führte. "Die Sandwichs sind alles, aber nicht lecker. Von Konsistenz und Geschmack her wie ungewürzter Schwamm", erklärte sie und konnte sich das angeekelte Schütteln nicht verkneifen. Alvaro lachte leise. "Ich hoffe, Sie haben die Dose vorsichtig geöffnet", fuhr sie fort. Die Tüte Erdnüsse raschelte leise, als sie sich ein paar der Nüsse in die Handfläche schüttete. Langsam entspannte sich Alvaro. Die junge Frau war sicher keine Gefahr für ihn oder sein Vorhaben. Und sie merkte sich Details, die ihm in manchen Situationen einfach entgingen, weil sein Kopf auf andere Sachen geschult war, musste er sich eingestehen. "Wegen Jill", begann sie ihre Erklärung zur Dose. "Weil sie sie öfter mal beim Einräumen fallen lässt", ergänzte Alvaro amüsiert, was ihm ein anerkennendes Lächeln der junge Frau brachte. "Jules", stellte sie sich ihm nun vor und wartete gebannt darauf, dass er ihr seinen Namen auch verriet. Alvaro zögerte. Er ließ den Rest seiner Zigarette zu Boden fallen und zermalmte das glimmende Röllchen unter seiner Schuhsohle. Er hasste solche alltäglichen Situationen, die ihn im Endeffekt doch dazu zwangen Entscheidungen danach zu treffen, welches Ergebnis seinen momentanen Zwecken diente.   "Alvaro", antwortete er nach einer Weile. Was sollte sein Name schon über ihn verraten. Sie nahm es beiläufig nickend hin und kramte in ihrer vollgestopften Umhängetasche herum, bis sie zwei Getränkepäckchen daraus hervorzog und Alvaro eines davon anbot. Belustigt lehnte er das Angebot ab. "Und was machst du hier?" Jules nahm einen Schluck von ihrem Getränk. "Neu hier in der Gegend?" "Ich suche jemanden." Alles oder nichts. Entweder es machte ihn erst Recht verdächtig oder er bekam endlich mal eine Information, die ihn weiterbrachte. So gefasst wie möglich erwiderte Alvaro Jules neugierige Blicke. "Hoffentlich nicht Nate", platzte es aus Jules hervor. "Hat er was angestellt? War er wieder unfreundlich?" "Nate?" Der Name sagte ihm nichts. "Vom Empfang in der Bar", Jules nickte zum The Gorge. Alvaro lachte innerlich auf. Bei dem Typen stimmte zwar einiges nicht, aber immerhin brachte er mit seinem Gequatsche nicht irgendwelche Leute in Gefahr. Auch wenn das hieß, dass Alvaro immer noch ohne Antworten war. "Nein, nicht ihn." Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wie das Schiebepuzzle aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Nur das hier durfte er nicht genauso zerbrechen wie das Magische Quadrat. "Ich suche eine Frau mit ihren beiden Kindern, die hier mal gewohnt haben - oder vielleicht noch hier wohnen." Jules sah an ihm vorbei in die Ferne. Ihre nachdenklichen Blicke schweiften über die Häuserkette mit den quadratischen Lichtflecken in den Fassaden, hinter denen Schatten der Bewohner hin und her huschten. "Ich kann mich an keine Frau mit Kindern erinnern", murmelte Jules irgendwann so leise, dass Alvaro Mühe hatte, sie zu verstehen. Ihre Augen ruhten nun wieder auf ihm. Sie wirkte erschrocken über diese Tatsache, als wäre es eine wichtige Information, die sie verloren hatte. "Das hier ist auch nicht unbedingt die richtige Gegend, um seine Kinder großzuziehen", entschuldigte sie sich für den Zustand dieses verkommenen Viertels, als läge es in ihrer Verantwortung. Alvaro bekam Mitleid mit dem plötzlichen Stimmungswandel, den Jules durchlief. "Nicht schlimm", beteuerte er und schickte seinen Worten ein aufmunterndes Lächeln hinterher, das wirkungslos an ihren nun traurigen Augen abprallte. Sie senkte den Kopf und betrachtete konzentriert den Boden vor sich, wo Tabakkrümel und ein zerdrückter Filter lagen - die Reste von Alvaros Zigarette. Gerade als Alvaro noch einmal seinen letzten Satz bekräftigen wollte, hob Jules den Kopf. "Aber ich kenne jemanden, der es vielleicht weiß", rief sie nun eifrig und durchwühlte erneut ihre riesige Umhängetasche, um dieses Mal ein Handy daraus hervorzukramen. Ihre Finger wischten flink über das Display, bis sie die richtige Nummer hatte, die sie suchte. Gespannt lauschte sie dem ausgehenden Anruf und legte gleich darauf seufzend auf. "Er hat sein Handy schon wieder ausgeschaltet", schimpfte sie und starrte wütend auf das Display. Sie packte das Gerät in ihre Tasche mit dem scheinbar endlosen Stauraum und deutete in Richtung des Hoftors. "Komm, ich bringe dich zu ihm", rief sie eifrig und wartete, bis Alvaro endlich verstand, was sie von ihm wollte und ihr die schmale Gasse hinab folgte.   "Er ist zuhause, keine Sorge. Ich habe ihn gerade noch gesehen." Jules schloss das abgesperrte Hoftor auf und nickte in den Hinterhof, an den sich Alvaro noch mehr als gut erinnern konnte. "Appartement Nr. 17", erklärte sie Alvaro, dem beinahe ein 'Ich weiß' herausgerutscht wäre. Er konnte sein Glück kaum fassen. "Ich muss zur Arbeit, aber du findest den Weg auch ohne mich." Jules schob ihn durch das Tor. "Sag Gabe, dass dich Jules schickt, ok?" "Klar, mache ich." Alvaro hätte am liebsten laut gelacht. Hinter ihm wurde das Hoftor wieder abgesperrt und er hörte Jules' eilige Schritte, die sich die Gasse hinauf entfernten.   Mit breitem Grinsen sah Alvaro zu den Appartements hinauf.     Kapitel 7: El Ahorcado - Der Gehenkte -------------------------------------       Das energische Klopfen an der Haustür mit der glänzenden Nr. 17 schallte wie dröhnende Hammerschläge durch den überdachten Gang des wie verlassen wirkenden Appartementkomplex. Alvaro wusste, dass dem nicht so war. Hinter Jalousien und Gardinen starrten ihn ängstliche Augenpaare an; abwartend, ob er als nächstes bei ihnen auftauchen würde. Dieser elendige Mist ging ihm auf die Nerven. Er ging nicht mehr weg, bevor er nicht endlich das losgeworden war, weswegen er schon zum dritten Mal hierher gekommen war. Keinen einzigen verfluchten Kilometer entfernte er sich mehr von hier und wenn es sein musste, trat er die Tür tatsächlich ein. Scheiß auf die Nachbarn!   Alvaros Faust donnerte erneut gegen das Holz. Seinen ganzen seit Wochen aufgestauten Frust schien er in den grünen Lack hinein prügeln zu wollen. In Gedanken ging er schon durch, wo die Schwachstelle der Haustür war, damit er dort als erstes zutreten konnte, als es in dem Appartement plötzlich lebendig wurde. "Wer ist da?", hörte er eine bekannte Stimme mit lauerndem Unterton fragen, die beim letzten Treffen noch weitaus zorniger geklungen hatte. Alvaro triumphierte innerlich. "Das Arschloch vom letzten Mal." Lachen antwortete ihm. Verächtliches Lachen, das durch das grünlackierte Holz kroch und Alvaros Beherrschung innerhalb weniger Sekundenbruchteilen aufzufressen vorhatte. "Geht es ein bisschen präziser?", verlangte die Stimme hinter der Tür. "Die Arschlochdichte ist hier ziemlich hoch." "Das Arschloch, das deine Wohnung ausgeräumt hat." Alvaro hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sich die Tür nun so schnell vor ihm öffnen würde, wie sie es gerade tat. Es war nicht einmal abgesperrt oder eine Kette vorgelegt. Hätte er doch bloß sofort zugetreten, dann wäre das jetzt alles schon längst vorbei.   "Dass du dich noch mal hierher traust", spie ihm sein Gegenüber entgegen. Gabes wütende Blicke fixierten Alvaros belustigtes Lächeln. "Was willst du?" "Jules schickt mich", erklärte Alvaro so harmlos wie es ihm der letzte Rest seiner Beherrschung gerade noch so erlaubte. Einzig die Genugtuung, die ihm sein nun erbleichendes Gegenüber bescherte, ließ Alvaro ruhig bleiben. "Wie kommst du auf Jules?" Gabe spürte, wie ihm jedes einzelne Wort im Hals stecken blieb, bis es in seiner Kehle schmerzte, und er es nur mit Mühe schaffte, diesen Satz hervorzubringen. "Deine Schwester war so nett, mir das Hoftor aufzusperren." Er hatte ins Schwarze getroffen, das bestätigte ihm die prompt auflodernde Wut in Gabes Augen. Alvaro ließ den jungen Mann vor sich keine Sekunde aus den Augen. Eine falsche Bewegung und er würde hier zusammengefaltet auf dem Boden liegen. Gabe schien das zu ahnen und unterdrückte den ersten Impuls, den Fremden vor sich anzuschreien, was zur Hölle er mit Jules zu tun hatte. Unter Alvaros argwöhnischen Blicken griff er langsam in seine Hosentasche und zog sein Handy daraus hervor. Die Begrüßungsmelodie erklang und gleich darauf wurden Gabes Wangen noch um ein paar Nuancen bleicher, als er den verpassten Anruf seiner Schwester sah. "Jules geht es gut", lenkte Alvaro gnädig ein. "Sie wollte zur Arbeit." Gabe beachtete ihn überhaupt nicht. Er tippte eine Nachricht in sein Telefon und starrte dann wartend auf das Display. Anscheinend hatte er Antwort bekommen, denn gleich darauf sah er wieder zu Alvaro. "Sehe ich echt wie ein Killer aus?", murmelte Alvaro mehr zu sich selbst. Zuerst der Vogel in der Bar und jetzt der hier... Wie jedes Mal, wenn er nicht wusste, wohin mit seinen Händen, griff Alvaro nach dem Zigarettenpäckchen in seiner Jacke. Gabe steckte sein Telefon wieder ein. Eine Rauchwolke waberte auf ihn zu. "Ich will dir nur endlich etwas ausrichten und dann bin ich auch schon wieder weg." Alvaro steckte das Zigarettenpäckchen samt Feuerzeug ein. Sein schweigendes Gegenüber mit den finsteren Blicken schien noch nicht ganz überzeugt. "Keine Spielereien mehr, keine Witze, ok?" "Dann sag, was du mir ausrichten sollst." "Nicht hier draußen." Gabe dachte einen Moment nach. Stumm studierte er Alvaros Mimik, als läge darin die Lösung zu seinen Zweifeln. Seine Hand, die krampfhaft den Türgriff innen umklammerte, lockerte sich und die Tür schwang auf. Alvaro schnippte die Zigarette in den Innenhof und folgte seinem widerwilligen Gastegeber in dessen Wohnung.     "Also, was willst du hier - schon wieder?" Alvaro sah sich schnell in der bereits bekannten Wohnung um. Alle Kisten waren wieder ausgepackt und alle Möbel an ihrem Platz. Sogar das Kinderbild stand wieder im - dieses Mal sogar staubfreien! - Regal. Seine Blicke blieben an Gabe hängen, der mit verschränkten Armen vor ihm stand und auf die Antwort wartete. "Eigentlich dachte ich, dass mein Auftrag ist, die Wohnung hier auszuräumen, aber damit lag ich wohl falsch." Gabes tonloses Lachen erklang. "Oh ja, daran erinnere ich mich..." Der Fremde, von dem er noch nicht mal den Namen wusste, schien laut seinem kurz abwesend wirkenden Gesichtsausdruck gerade seine Gedanken zu ordnen und auszusortieren, welche Worte er wählen sollte. Das gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht. "Thomas LaRue", sagte Alvaro ohne Umschweife schließlich das, womit er alles auf den Punkt brachte, zu dem er hinwollte. Und er bekam die erwartete Reaktion.   Der Name traf Gabe wie ein Faustschlag in den Magen. Seine Hand fuhr in seine Hosentasche und ergriff das kühle Metall des Schlüssels darin. "Hat- hat er was mit der schlechten Nachricht zu tun, die du letztens erwähnt hast?" "Ja", erwiderte Alvaro knapp. Warum sollte er es noch länger hinauszögern? Die Zinken des Schlüssels bohrten sich tief in Gabes Handfläche. Sein Hals wurde wieder eng und er fühlte, wie er langsam die Kontrolle über seinen Körper verlor. Er wandte sich von Alvaro ab und ging wie ein Schlafwandler zur Couch, wo er sich im Zeitlupentempo hinsetzte. Alvaro folgte ihm ein paar Schritte. "Und was-", Gabe hielt inne. Wenn er die Frage aussprach, gab es kein Zurück mehr. "Und was ist passiert?" "Ein Unfall." Klang das überzeugend? Alvaro hoffte es. Eisern erwiderte er Gabes schockierte Blicke. "Ein tödlicher Unfall." Hätte er die Frage doch nicht gestellt. Hätte er die Tür doch nicht geöffnet. Jetzt wusste er den Grund, weshalb Thomas nicht bei der Premiere dabei gewesen war - das erste Mal überhaupt. Ihm war das alles suspekt. Ein Unfall? Gabe ging in Erinnerung sämtliche Nachrichten der letzten Wochen durch. Davon hätte er doch erfahren müssen. Früher. Nicht erst durch diesen Typen hier, von dem er noch nicht mal wusste, in welcher Beziehung er zu Thomas stand. "Ich arbeite für ihn", beantwortete Alvaro die ungestellte Frage. "Warum Gegenwart, wenn er ja angeblich tot ist?" Alvaro seufzte unhörbar. "Weil ich noch für ihn arbeite - für seine Familie." Er wusste noch nicht einmal, ob Gabe seine Erklärung registriert hatte. Er hatte das Gesicht wieder von Alvaro weggedreht und sah reglos vor sich hin.   "Warum dachtest du, dass du die Wohnung hier ausräumen sollst?" Gabe sprach so leise, dass Alvaro noch ein paar Schritte näher kam. "Hat er dir das vorher aufgetragen?" "Indirekt." Gabes bleiches Gesicht wandte sich Alvaro zu. Seine dunklen Augen schimmerten. "Wie meinst du das? Hat er dir den Schlüssel gegeben und gesagt, du sollst herkommen und alles ausräumen oder nicht?" Alvaro zögerte. "Ich habe eine Kiste bekommen und darin befanden sich der Schlüssel und die Adresse." "Das klingt alles irgendwie-", Gabe unterbrach sich selbst und dachte ein paar Augenblicke nach. Ein hilfloses Lachen kroch seine Kehle hinauf und hing dort fest. Er sah zu dem Mann, der behauptete, für Thomas zu arbeiten, und der auf einmal nicht mehr den Eindruck machte, als glaube er selbst noch das, was er da gesagt hatte. "Abenteuerlich", half Alvaro Gabe auf die Sprünge. "Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts." Endlich brach das Lachen aus Gabe heraus, das seinen Hals wie ein Korken verstopft hatte. "Du kommst allen Ernstes hierher, mehrmals, weil du eine Kiste mit meinem Schlüssel und meiner Adresse darin gefunden hast? Aber - vorausgesetzt du belügst mich nicht - direkte Anweisungen hattest du auch keine, sonst hättest du ja nicht fälschlicherweise meine Wohnung ausgeräumt. Was also willst du hier? Wo ist diese Kiste?" Das erste Mal, seit dieser Zirkus angefangen hatte, fühlte sich Alvaro hilflos. Was sollte er Gabe jetzt antworten, dem bei seinem letzten Satz die Stimme gebrochen war? Dass er selbst mehr Fragen als Antworten hatte? Dass er keine Ahnung hatte, was er mit den ganzen Infos über das Doppelleben seines Chefs anfangen sollte? Fast schon erleichtert registrierte Alvaro das Vibrieren in seiner Jackentasche. "Ja?", meldete er sich bei dem Anrufer.   Schweigend sah Gabe Alvaro nach, der sich von ihm abgewandt hatte und mit nun gesenkter Stimme telefonierte. "Ich muss wieder los", erklärte Alvaro Gabe gleich darauf knapp, nachdem er den Anruf beendet und das Telefon eingesteckt hatte. "Damit wäre jetzt alles geklärt. Also -" "Moment!" Gabe war von seinem Sitzplatz aufgesprungen und kritzelte hektisch ein paar Zahlen auf einen Zettel, den er Alvaro in die Hand drückte. Er musste wichtig für Thomas gewesen sein, wenn er immerhin ein paar Mal hierher gekommen war, nur um ihm zu sagen, dass dieser tot war. Er hätte nach der Aktion mit der ausgeräumten Wohnung nicht wieder herkommen müssen. Gabe hätte nie erfahren, warum Thomas sich nicht mehr meldete und alles wäre irgendwann wieder normal weitergelaufen. Irgendetwas stimmte nicht und die einzige Hilfe dabei, das herauszufinden, war dieser Fremde. "Ruf mich an, wenn du was Neues weißt. Oder-", Gabe wartete, bis sein Gegenüber den Zettel eingesteckt hatte. "Oder wenn du mal die Kiste dabei hast. Ich würde sie gerne sehen." "Klar", bestätigte Alvaro die Forderung, obwohl er im gleichen Moment wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass er hier jemals mit diesem dämlichen Erste-Hilfe-Kasten aufkreuzen würde. Bis jetzt hatte er nur Ärger damit gehabt. Zuhause flog der Kasten in den Müll, wo er hingehörte... Alvaro öffnete die Haustür, aber noch ehe er hinaus konnte, wurde er am Arm festgehalten. Unwirsch drehte er sich zu Gabe herum. "Bitte!" Gabes eindringliche Blicke bohrten sich in Alvaros Augen. Alvaro fluchte innerlich. Diese Dreckskiste und alles, was damit zu tun hatte, war schlimmer als die Pest. "Von mir aus kannst du die verdammte Kiste haben. Unter der Bedingung, dass ich dann meine Ruhe habe." "Abgemacht!"     "Jules kommt mit mir mit", erklärte Gabe Nate schroff, der ihm mit fragend gerunzelter Stirn dabei zusah, wie Gabe die Tasche seiner Schwester aus ihrem Fach nahm und dabei kurz ins Straucheln kam, als das Gewicht ihn nach unten zog. "Was zur Hölle hast du hier alles drin?" Jules sah zu Nate hin, der mit den Achseln zuckte und ihre Blicke ebenso ratlos erwiderte. "Ich habe Spätschicht, Gabe. Was soll das?" "Du hast jetzt Feierabend", verkündete Gabe der jungen Frau in einem so bestimmenden Tonfall, der keinen Einspruch akzeptierte. Er schwang sich die Tasche, in der die unzähligen Snacktüten raschelten, über die Schulter und nickte dann zum Ausgang des The Gorge. "Nate schafft den Rest der Schicht auch alleine."   "Was hast du dir dabei gedacht, diesen Typen in die Anlage zu lassen?", fuhr Gabe Jules draußen an. "Alvaro?" Jules versuchte, mit ihrem verärgerten Bruder Schritt zu halten, der ungehalten die Gasse hinab stürmte. "Konntest du ihm helfen?" "Helfen?" Gabe blieb abrupt stehen. Mit offenem Mund starrte er seine Schwester an, die unbeeindruckt an ihm vorüber in ihre Tasche griff und eine Dose Limonade herausnahm. "Bei was helfen?" "Er war auf der Suche nach einer Frau und ihren Kindern. Zuerst dachte ich-" "Warte mal kurz", unterbrach Gabe den einsetzenden Redefluss seiner Schwester. "Welche Frau und welche Kinder?" Jules senkte die Blicke und sortierte ihre Gedanken. Sie kam bis zu dem Zeitpunkt, als sie Gabes Nummer gewählt hatte. "Das hat er nicht gesagt. Er war nur auf der Suche nach ihnen und ich hab an dich-" "Schon gut." Gabe seufzte schwer. Er sperrte das Hoftor auf und wartete, bis Jules ihm hinein folgte. Er brachte es nicht übers Herz, seiner Schwester zu sagen, dass sie einfach eiskalt ausgetrickst worden war. Aber dass das nicht das Schlimmste war, was er erfahren hatte, konnte er ihr erst Recht nicht erklären.     Dass er Krankenhäuser hasste war noch milde ausgedrückt. Dabei ging es nicht einmal speziell um die ganzen Leute mit ihren unsäglichen Krankheiten, über die er lieber nicht weiter nachdachte, sondern einfach nur darum, wie hoffnungslos die Stimmung in ihnen schien, ganz so als erwarte niemand wirklich, tatsächlich geheilt zu werden. Geschlagene zehn Minuten stand Alvaro schon vor der Tür, die ihn in das Zimmer des Mannes brachte, den LaRue einmal Den Gehenkten genannt hatte, weil er mit dem, was er tat, immer an der Schwelle zwischen Leben und Tod stand. Mit dem Kopf in der Schlinge würde er noch laut über seine Henker lachen. Angeblich war nicht mehr viel menschliches an ihm. Alvaro hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen und das war an jenem Tag, an dessen Ende er den Leichnam seines Chefs hatte identifizieren müssen. Moreno tauchte immer nur dann auf, wenn es brannte. Und genauso schnell verschwand er danach auch wieder. LaRue hatte ihm dabei anvertraut, dass er sich seinem Wohnhaus niemals nähern dürfte. Warum, hatte er nicht gesagt. Nur dass sich Alvaro darüber keine Gedanken machen müsste, weil er selbst über jeden Schritt und jeden Atemzug, den Moreno tat, informiert werden würde. Und genauso war es heute gewesen.   Alvaro trat an das Bett heran, in dem der Mann lag, der schon wieder nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war. Dass Moreno den Anschlag überleben würde, war ein Wunder. Dass er noch wusste, wer er war, erst recht. Zwischen unzähligen Kabeln und Schläuchen war das erste, was ihm auffiel, der dicke Verband, der an seiner linken Hand begann und bis zum Schultergelenk hinauf reichte. Sein grau-bleiches Gesicht war mit kleinen Schnitten übersät, die bereits am abheilen waren. Und dieses Gesicht drehte sich nun langsam zu Alvaro herum. Die müden Augen wurden klarer, als er erkannte, wer da auf ihn hinab sah. "Hey, Junge." Morenos Stimme klang schleppend, als wüsste sein Mund nicht mehr, wie man Worte formte. Die seltsame Vertrautheit mit der er angesprochen wurde ignorierend, beschränkte sich Alvaro darauf, kurz zu nicken. "Schaut das nicht toll aus?" Moreno hob seinen bandagierten Arm an. "Die mussten mir die Hand wieder annähen", erklärte er, als ginge es darum, einem Pfadfinder den Aufbau eines Zeltes beizubringen. "Zwei Finger sind verschwunden", fügte er stolz hinzu. "Haben sicher Kojoten gefressen." Morenos blechernes Lachen erklang. Der war ja total zugedröhnt, dachte Alvaro. "Spektakulär." "Weißt du was über die Ermittlungen?" Morenos Blicke versuchten vergeblich Alvaro zu fokussieren. Nach einer Weile ließ er es sein und sah stattdessen wieder auf seine verbundene Hand hinab. "Nicht mehr, als letzte Woche. Warum?" "Die haben mich die ganze Zeit damit genervt. Weißt du, ich liege hier und pisse wochenlang in einen Plastiksack, der neben dem Bett hängt, und die wollen wissen, wie die Täter aussahen..." Moreno wirkte kurz wie weggetreten und Alvaro erwartete, dass er eingeschlafen war. "Haben mir den Arm durchlöchert", murmelte Moreno schläfrig. "Einfach so-" "Ich komme später noch mal vorbei." "Warte!", fuhr Moreno Alvaro an. "LaRue hat was gesagt. Was über dich." Alvaro überlief es eiskalt. "Was denn?" "Dein Auftrag. In deinem Auto, hat er gesagt." Morenos umherwandernde Blicke fixierten nun Alvaro. "Die verdammte Kiste."   Und ob sich Alvaro erinnerte. Er hatte vor der Hauptgeschäftsstelle auf LaRue gewartet, der aus der Tiefgarage gekommen war und ihm das mit der Kiste gesagt hatte. Bis zum Zeitpunkt der Todesnachricht hatte sich Alvaro deswegen kaum Gedanken gemacht, weil LaRue öfter mal zum Auto ging, um noch ein paar Papiere zu suchen. Allerdings war er danach direkt zu Moreno in den Wagen eingestiegen und nicht mehr zurückgekommen. "Ich habe die Kiste gefunden. Die war ein Blindgänger." Alvaro zuckte mit den Schultern. "Die Wohnung ist noch bewohnt." "Welche Wohnung?" Moreno blinzelte irritiert. "Hinter dem The Gorge. Mann, der Typ ist vielleicht ausgerastet, als wir die Wohnung leergeräumt haben." Alvaro lachte leise in Erinnerung an Gabe, der wie ein tollwütiger Hund zwischen Alvaro und den Möbelpackern hin und her gerast war. Moreno stimmte in das Lachen ein. "Dein Auftrag war doch nicht die Wohnung zu räumen. Du solltest den Bewohner aus dem Weg schaffen!" Alvaro verstummte. Ratlos sah er Moreno an, dem vor Lachen die Tränen die Wangen hinabliefen.       Kapitel 8: Hydra ----------------     "Ich fasse es nicht - du hast wirklich die Wohnung ausgeräumt?" Moreno hielt sich mit seiner gesunden Hand die schmerzenden Rippen fest, während ein Lachkrampf nach dem anderen seinen bleichen dürren Körper schüttelte. Er wirkte nun ganz und gar nicht mehr wie im Delirium, sondern so klar wie ein unbewölkter Winterhimmel. "Sag nicht, du hast danach auch noch gefegt." Alvaro spürte, wie ihn Morenos Worte und das wiehernde Lachen, das sogar die an ihm angeschlossenen Geräte übertönte, langsam aber sicher die Selbstbeherrschung kostete und sich Wut in seinem Magen wie Lava breit machte. So gefasst wie möglich sah er den Mann mit dem nun geröteten Gesicht im Krankenbett an. "Dafür hatte LaRue andere Leute." "Nein, dafür hatte er dich." Moreno wischte sich die Lachtränen aus dem Gesicht. Er musste ein paar Mal durchatmen, bevor er Alvaro wieder ansehen konnte, ohne dass er erneut zu lachen begann. "Er hat dich nur zu lange verschont und dann war es zu spät." Alvaros Wangenknochen schmerzten, so fest biss er die Zähne aufeinander. Wie lange es wohl dauern würde, Moreno zum Schweigen zu bringen? Um die Geräte abzustellen, war es ja leider zu spät, aber vielleicht konnte er ihn damit erschlagen? "Du hast keine Ahnung, was LaRue wirklich mit dir vorhatte, richtig?" Morenos Hand suchte nach dem Haltegriff, der über ihm am Bett schwebte. Ächzend zog er sich in eine aufrechte Position, ohne dabei Alvaro aus seinen kleinen knopfartigen Augen zu lassen. Seine Stimme klang nun nicht mehr erheitert, sondern hatte einen lauernd listigen Tonfall angenommen, der Alvaro aufhorchen ließ. "Du solltest in Zukunft meine Arbeit machen, Junge." Jetzt hatte Alvaro die endgültige Bestätigung dafür, dass Moreno wahnsinnig geworden war. Der Blutverlust, die Medikamente, das Trauma - alles hatte eben seinen Preis. Ein mitleidiges Schmunzeln huschte über Alvaros Lippen, das Moreno augenblicklich bemerkte und mit einem verächtlichen Lächeln seinerseits quittierte.   "Was dachtest du denn, wozu er dich hat? Zum Autofahren und Babysitten? Wie viele bewaffnete Chauffeure kennst du denn?" Moreno sah Alvaro einige Augenblicke schweigend an. Er hatte sich diese Worte Silbe für Silbe sorgfältig zurecht gelegt, seit er aus dem Koma aufgewacht war und wieder wusste, wie er hieß und wer ihm diese Riesenscheiße eingebrockt hatte. "Was meinst du, warum jemand so junges wie du so schnell einen begehrten Job wie diesen bekommt, für den es hunderte Bewerber gegeben hat?" Alvaros aufeinander gepresste Lippen wurden einen Ticken schmaler. "Genau deswegen. Du stellst keine unnötigen Fragen." Morenos Worte trieften vor Spott, während das Grinsen wieder auf sein narbenübersätes Gesicht zurückkehrte. Das raubtierartige Grinsen entblößte zwei Reihen Zähne, die sich nun teilten und den schwarzen Schlund dahinter präsentierten, aus dem ein gehässiger Satz nach dem anderen kam. Wie lange hatte er auf diese Gelegenheit gewartet! "Du warst der Einzige, der die Klappe gehalten hat. Von Anfang an - egal, was LaRue von dir verlangt hat. Und er hat dich oft genug getestet, das kannst du mir glauben." Etwas an Morenos Blicken hatte sich verändert, aber er war noch lange nicht fertig mit seiner Predigt, die Alvaro stumm mit zu Fäusten geballten Händen über sich ergehen ließ. "Du benutzt deinen Kopf, aber nicht deinen Mund und wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann hör jetzt bloß nicht damit auf, sonst gibt es bald einen Nachfolger für dich." Morenos Worte klangen nun wieder verwaschen. Die bleierne Müdigkeit lähmte seinen Körper und er ließ sich wieder zurück auf die Matratze sinken. Gerade als Alvaro dachte, Morenos Monolog sei endlich vorüber und er könne gehen, fiel diesem wohl noch ein wichtiges Detail ein. Seine halb geschlossenen Augenlider flatterten noch ein letztes Mal auf und seine verächtlichen Blicke musterten Alvaro von oben bis unten. "Eigentlich hättest du an dem Tag bei LaRue im Auto sitzen sollen - was mit mir passiert ist, war eigentlich für dich gedacht. Alles." Scheinbar hatte Moreno endgültig sämtliche Energie für heute aufgebraucht, denn seine immer ruhiger werdende Stimme wechselte bald darauf in regelmäßige Atemgeräusche.   Wie gelähmt stand Alvaro an der offenen Fahrertür seines Wagens und sah die Front des Krankenhauses hinauf, aus dem er gerade regelrecht geflohen war. Stock um Stock die Treppe runter, anstelle des Fahrstuhls. Das Adrenalin, das seinen Körper geflutet hatte, hatte ihn in Windeseile aus dem Gebäude getrieben, kaum dass sich die Tür zu Morenos Krankenzimmer hinter ihm geschlossen hatte. Bis zum Parkplatz davor hatte seine Selbstkontrolle gereicht, die er sich bei Moreno bewahrt hatte. Aber den Triumph hätte er ihm nicht auch noch gegönnt, zu sehen, dass sein ganzer Körper zitterte, nachdem ihm Morenos Worte bewusst geworden waren. Dafür hatte er dich! Ein Frösteln durchlief Alvaros Körper, den er nur noch Stellenweise spüren konnte. Das erste Mal, seit er diesen Job hatte, konnte er nicht fahren. Er wusste, wenn er es versuchte, würde er irgendwo dagegen fahren. Vorausgesetzt er schaffte es überhaupt, den Wagen zu starten. Moreno log. Er konnte sich nicht vorstellen, dass LaRue ihn dafür ausgewählt hatte, Leute, die ihm nicht in den Kram passten, zu- Alvaros Augen verfinsterten sich bei diesem Gedanken. Auf keinen Fall hätte es LaRue überhaupt in Erwägung gezogen, dass Alvaro Menschen- Ein heftiger Krampf in seiner Brust zwang Alvaro in die Knie. Kalter Schweiß brach aus sämtlichen Poren seines Körpers hervor. Er konnte diesen Gedanken nicht mal beenden, so abwegig war das alles. Niemals hatte sein Chef so etwas wie Moreno in ihm gesehen. Nicht LaRue.     Dankbar versank Alvaro wieder in dem Sicherheit vorgaukelnden Strudel seiner Arbeit. Moreno konnte im Krankenhaus versauern, er würde keinen Schritt mehr dort hinein setzen oder sonst wie in Kontakt mit diesem Psychopathen treten. Die Anrufe über dessen aktuellen Gesundheitsstatus reichten. Mehr musste er nicht wissen. Mehr wollte er nicht mehr wissen. Die konstanten Gedanken, die er sich seit dem Besuch dort machte, ließen sich ohnehin nicht abstellen. Er fühlte sich jetzt nicht mehr nur schlecht, weil er in den finalen Momenten seines Chefs nicht anwesend war oder es von vorneherein nicht verhindern konnte, wie es sein Job verlangte, er fühlte sich sogar noch schlechter. Wäre er anstelle von Moreno dabei gewesen, hätte alles vielleicht ein anderes Ende nehmen können. Immerhin sollte der ja sowieso ausgetauscht werden. Und das sicher nicht grundlos. Die schiefen Töne diverser Musikinstrumente jagten einen Schauder über Alvaros Nacken. Er sah zur geschlossenen Tür vor sich und bedauerte die armen Musiklehrer dahinter, die sich tagtäglich die größte Mühe gaben, Menschen wie Ding 1 und Ding 2 ein paar nicht ganz so gequält klingende Noten aus den Instrumenten zu entlocken. Moreno war sicher zwanzig Jahre älter als er selbst. LaRue musste sich was dabei gedacht haben, wenn er schon vorgehabt hatte, Moreno zu ersetzen. Weshalb hatte er also nicht auf seinen sonst unfehlbar arbeitenden Instinkt gehört und Alvaro fahren lassen?   Alvaro sah aus dem hohen bleiverglasten Fenster der Musikschule zur Straße darunter, wo sich der Feierabendverkehr wie ein nicht enden wollender Lindwurm aus Blech durch das ausgeklügelte Ampelsystem schob. Tonleiter rauf, Tonleiter runter. Tonleiter rauf, Tonleiter runter. So ging das zwei Mal die Woche. Alvaro kam sich vor wie in einem Trickfilm. Und trotzdem war das hier viel besser als das, was ihn außerhalb seines Gedankenkarussells erwartete. Er wusste, dass LaRue mehr Menschen beschäftigte, als er, Alvaro, jemals kennenlernen würde. Ein gutes Drittel davon im Außendienst, wie er es mal genannt hatte. Darunter Menschen wie Moreno und solche, die Moreno nicht aus den Augen ließen. Für Letztere war Alvaro mehr als dankbar. Es ersparte ihm die Arbeit, sich selbst darum kümmern zu müssen. Tonleiter rauf, Tonleiter runter. Tonleiter zur Hälfte rauf, ein paar Stufen vergessen und nach unten gepoltert. Einmal war man der Jäger und ein anderes Mal der Gejagte. Und wenn man nicht aufpasste, war man die Leiche.   Alvaro schaute auf sein Handy hinab. Er tippte den zuletzt gespeicherten Kontakt in der Telefonliste an, den er simpel als Nr. 17 eingetragen hatte, und wartete darauf, was sein erster Impuls sein würde. Aus irgendeinem Grund hing alles mit einer kleinen, nicht mal mehr vollzähligen Familie zusammen, die zwei Stunden von hier entfernt in einem billigen Appartement wohnte und so gar keinen Berührungspunkt mit der Familie hier zu haben schien. Das letzte ihm bekannte Detail davon hatte er unter "erledigt" abheften können, als er Jules traf. Sie und ihr Bruder schieden als uneheliche Kinder seines Chefs aus. Das passte vom Alter her an keiner Ecke. Aber was genau hatte LaRue von ihm erwartet? Entsorgen? Was? Die Möbel definitiv nicht. Die Menschen garantiert auch nicht, da war sich Alvaro auch nach Morenos Betäubungsmittelgeschwängertem Monolog über seine von LaRue geplante Zukunft immer noch sicher. Wäre dieser Notizzettel im Kalender doch nicht gewesen - Alvaro sah auf. Der Zettel! Er passte nicht zu LaRues letzten Worten: Kümmer dich darum! Das gerade erlöschende Display leuchtete wieder auf, als Alvaros Daumen den grünen Hörer berührte. Während er darauf wartete, dass sein Anruf angenommen wurde, dachte er darüber nach, ob LaRue etwa darauf vertraut hatte, dass Alvaro Mitleid bekam? Mitleid mit einer Mutter und ihren Kindern.     Nichts ergab einen Sinn. Oder kaum etwas. Thomas war tot, das hatte ihm dieser Typ bestätigt und Gabe blieb nichts übrig, als ihm das zu glauben. Den Unfall aber kaufte er ihm nicht ab. Die Tür zur Umkleide öffnete sich leise seufzend und obwohl er heute Abend völlig alleine im Gebäude war, schloss Gabe sie sorgfältig hinter sich. Ein Rahmen aus Glühlampen erhellte den Spiegel in seiner Mitte, der übersät mit bunten Notizzetteln und kleinen Glücksbringern war, die im Laufe der Zeit immer mehr Raum auf der spiegelnden Oberfläche eingenommen hatten. Gabes Schlüsselbund flog auf die Tischplatte vor dem Spiegel und traf eine durchsichtige Schatulle, die durch die Wucht einen kleinen Satz machte. Eine handvoll künstlicher Edelsteine sprang funkelnd über den Tisch und kullerte über seinen Rand zu Boden, wo sie ihm Dunkeln verschwanden. Stundenlang hatte er Nachrichtenartikel über Unfälle im in Frage kommenden Zeitraum nachgelesen. Keiner davon hatte den Namen LaRue auch nur ansatzweise erwähnt, was man eigentlich erwarten sollte, wenn ein Geschäftsmann auf welche Art und Weise auch immer verstarb. Gabes Jeans flogen auf den Stapel seiner bereits abgelegten Kleidung, die über der Lehne eines Drehstuhls hingen. Das letzte Mal, als er hier war, hatte er noch keine Ahnung davon gehabt, dass Thomas tot sein sollte. Er hatte sich nur darüber gewundert, dass er nicht zur Premiere erschienen war, was in den letzten knapp zwei Jahren noch nie vorgekommen war. Aber das war es auch schon gewesen. Er hatte es auf kurzfristige Terminprobleme geschoben, die Thomas davon abhielten, sich zu melden. Er hatte die Show durchgezogen und war im Glauben daran, dass er sich schon melden würde, wenn es passte, nach zwei Wochen wieder nach Hause gefahren - wo ihn dann sein entrümpeltes Appartement, seine völlig depersonalisierte Schwester und zum Abschluss auch noch die Nachricht von Thomas' Tod erwartet hatte... Gabe legte die Schwimmflossen zurück in den Schrank zu seinem restlichen Equipment und schloss die Tür dazu. Ihm war nicht danach, möglichst harmonisch durch das Wasser zu gleiten. Er wollte einfach nur darin versinken. Möglichst tief und möglichst ungestört. Der Klingelton seines Telefons machte ihm den ersten Strich durch die Rechnung. Aus dem Augenwinkel nahm er die unbekannte Nummer wahr und war kurz davor, den Anruf abzuweisen, als ihm wieder einfiel, wem er sie gegeben hatte.   "Hast du kurz Zeit?", meldete sich Alvaro ohne unnötige Worte an eine Begrüßung zu verschwenden. Gabe dachte an die zehntausende Liter Wasser, die auf ihn warteten. "Eigentlich nicht..." "Bist du zuhause?", setzte Alvaro ungeachtet des Einwands nach. "Wir müssten uns unterhalten." "So redselig? Hast du keine Freunde?" Gabe konnte sich die etwas spöttische Frage nicht verkneifen. Er wusste, selbst wenn er ablehnte, würde Alvaro eben einfach so auftauchen. Das wäre ja nicht das erste Mal. "Ist es dringend? Ich bin auf Arbeit und es wird ziemlich spät." "Ja", war die knappe Antwort. Alvaro schwieg einige Sekunden lang. Ihm war klar, dass Gabe versuchte ihn abzuwimmeln. Dann hatte er einen Geistesblitz. "Ich bringe die Kiste mit." "Na dann komm eben her", seufzte Gabe und ärgerte sich kurz über sich selbst. Manchmal war er zu leicht zu ködern. "Kennst du das Hydra?" "Noch nie gehört." Geduldig wartete Alvaro auf die Adresse und legte dann direkt auf. Als ob er immer auf dem Sprung war, dachte Gabe halb amüsiert und halb perplex.     Ein weiteres Puzzleteil aus Zahlen- und Buchstaben des Taschenkalenders wären damit nun auch geklärt, dachte Alvaro, als er später vor der Adresse stand, die Gabe ihm am Telefon genannt hatte. Dieses Mal waren es keine GPS-Daten, sondern ungeordnete Hausnummern und Straßenkürzel, die ihn zu diesem Gebäude geführt hatten. Das Beste aber an dem Gebäude war, dass das Hydra ein normaler Club zu sein schien und nicht wieder irgendeine zwielichtige Bar, wie das The Gorge, wie Alvaro erleichtert feststellte. Allerdings war das Schild über dem Eingang unbeleuchtet, die Türen abgeschlossen und dahinter alles dunkel, wie er nach einem schnellen Rundgang feststellte. Alvaro nahm sein Handy, wählte Gabes Nummer und hoffte, dass das nicht irgendein dämliches Ablenkungsmanöver war, auf das er hereingefallen war. "Komm zum Seiteneingang", wies ihn Gabe an, was Alvaro auch tat, aber nicht ohne vorher die mit Mülltonnen zugestellte unbeleuchtete Gasse genauestens abzuchecken. Auf Überraschungen konnte er verzichten. Es dauerte einige Minuten, dann öffnete sich die mit Plakaten irgendwelcher Barkonzerte zugekleisterte Tür. Im Halbdunkel stand Gabe da, der bis auf eine etwa knielange Neopren-Hose nichts trug. "Ich habe keine Badehose dabei", witzelte Alvaro etwas hilflos auf die spärliche Bekleidung seines Gegenübers hin, der zur Seite trat und seinen Besucher eintreten ließ. "Dann schwimmst du eben ohne. Mache ich auch manchmal." Gabes breites Grinsen traf auf Alvaros überrumpelten Gesichtsausdruck, der Gabe schließlich zum Lachen brachte. Jetzt bedauerte er seine Entscheidung doch nicht mehr, Alvaro eingeladen zu haben, auch wenn er lieber alleine gewesen wäre. Alleine mit allem, was er zuhause vor Jules nicht erwähnen wollte.   "Wann öffnet der Club denn?" Alvaro folgte Gabe einen dunklen Flur entlang, der lediglich von der grünen Notbeleuchtung erhellt wurde. "Heute gar nicht", war die prompte Antwort. "Hast du nicht gesagt, du bist auf Arbeit?" Alvaro sah sich um. Sie gingen durch eine kleine sorgfältig aufgeräumte Küche. Das Edelstahl der Geräte glänzte im Licht der Bar, das durch die Durchreiche zur Theke hereinfiel. Die Schwingtür, die Gabe nun öffnete, schabte über den Boden und gleich darauf standen sie hinter dem Tresen. "Bin ich ja auch", bestätigte Gabe. Er ging um den Tresen herum und wartete dort auf Alvaro, der ihm vorsichtig folgte. "Warum warst du so schnell hier?" "Ich hatte in der Nähe zu tun." Alvaro machte keinen Hehl daraus, dass er keine Lust hatte, seinen gesamten Tagesablauf mit einem immer noch relativ Fremden auszudiskutieren. "Du bist irgendwie immer irgendwo in der Nähe." Gabe sah Alvaro herausfordernd an. Die vergangenen Ereignisse hatten ihn unweigerlich noch vorsichtiger werden lassen, als er es davor schon gewesen war. "Hast du keine Freizeit?" "Mehr als mir lieb ist", war die kurzangebundene Erwiderung. Alvaro ließ Gabe stehen und ging ein paar Schritte weiter in den düsteren Raum hinein. Es sah aus, wie man es in so ziemlich jedem anderen Club auch erwarten konnte. Diverse Theken an den Wänden, eine riesige Tanzfläche in der Mitte und dazwischen immer wieder Sitzgruppen. Bis auf irgendwelche Lichteffekte, die eine Wand am Rand der Tanzfläche zum schimmern brachte, nichts besonderes. Er konnte jedenfalls nichts entdecken, was zu Gabes Kleidung und seiner Behauptung, hier zu arbeiten, passen würde.   Alvaro wandte sich zu Gabe um, der gerade eine Nische neben dem Tresen betrat. Kurz darauf flammten Lichter auf und Gabe kehrte vor den Tresen zurück. "Du hast nicht so viel Ahnung von den Geschäften deines Chefs, was?", zog Gabe Alvaro auf, der sich jetzt erstaunt umsah. "Muss ich auch nicht. Ich bin nur der Fahrer", murmelte der. Du bist mehr als der Fahrer!, hörte er Moreno lachen. Beeindruckt bestaunte Alvaro die Verwandlung des Clubs, dem erst durch die Beleuchtung Leben eingehaucht worden war. Seine Blicke schweiften über die Deckenhohen Regale hinter der Theke, in denen unzählige Flaschen in allen möglichen Formen aufgereiht waren. Am oberen Ende der Regale waren mehrere Bullaugen in die Wand eingelassen, hinter deren dicken Gläsern man das Wasser sehen konnte. Die Bullaugen selbst wirkten wie original von einem Schiff, aber bei genauerem Hinsehen erkannte man, dass sie nur auf alt getrimmt waren - so wie der Rest des Clubs auch, der übersät war mit Schiffstauen, welche die verschiedenen Bereiche voneinander abgrenzten, Steuerrädern und Netzen an der Decke, in denen getrocknete Fische und Seesterne hingen. "Ist schon witzig, dass wir so was wie Kollegen sind, auch wenn es nicht so aussieht...", unterbrach Gabe Alvaros Versuch, das Gesehene einzuordnen. "Ja, wirklich witzig." Alvaro dachte an das, von dem Moreno behauptet hatte, dass es sein eigentlicher Auftrag wäre und wie leicht er den jetzt umsetzen könnte. Langsam ging er auf die schimmernde Wand zu, die gar keine richtige Wand war. Sie war aus Glas oder so etwas ähnlichem und dahinter war eine unfassbar große Menge an Wasser. "Ist das echt?" Alvaro sah fragend zu Gabe, der noch an seinem Platz neben der Theke stand und lächelnd zu ihm hinüber sah. "Wenn du was trinken möchtest, nimm dir was aus der Bar." Alvaro schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Glaswand zu. Ein verdammtes Aquarium, dachte er und folgte der gewölbten Wand weiter auf die Tanzfläche. "Du kannst hier unten warten", hörte er Gabes belustigte Stimme hinter sich. "Wir sehen uns gleich wieder."         Kapitel 9: Deadweight ---------------------     Was für ein Unterschied zum The Gorge, das sich den Leuten mit seiner übertrieben grellen Geschmacklosigkeit quasi aufdrängte, dachte Alvaro, nachdem Gabe die Treppe in die obere Etage hinauf verschwunden war und ihn in der Bar alleine gelassen hatte. Jetzt, wo es hell war, wirkte die Umgebung regelrecht gemütlich. Hier war nichts schmutzig oder abgenutzt. Die Einrichtung, die das Innere eines alten Schiffs imitierte, war zwar auf alt getrimmt mitsamt rissigen Segeltüchern, die einen Teil der Wände bespannten und wurmstichigen Holzplanken als Tresenumrandung, aber alles war aufeinander abgestimmt und gut gepflegt. Es war offensichtlich ein Club, in dem sich Menschen zum Feiern trafen, anstatt die eigene Sinnlosigkeit mit anderer Leute Bedürftigkeit zu maskieren.   Gemächlich schlenderte Alvaro weiter an der verglasten Wand entlang und blieb dann direkt davor stehen. Sein halbtransparentes Spiegelbild in der klaren Oberfläche riss die Augen auf, als er den Fischschwarm sah, der direkt vor ihm an der Scheibe entlang glitt. Kleine, silbrig schimmernde Augen streiften mit ihren starren Pupillen den Mann vor dem Glas, der sich nun etwas zu ihnen vorbeugte und sich fasziniert den Lebensraum ihres kleinen Universums betrachtete. Es sah aus, als würde man einen Blick direkt in den Ozean werfen, ohne dabei nass zu werden. Nachgebaute Korallenriffe, auf denen vermutlich echte Pflanzen wuchsen, säumten die hohen Wände des zylindrischen Aquariums, dessen oberer Teil von hier unten nicht zu sehen war. Die Beleuchtung über dem Tank warf lange schillernde Vorhänge aus Lichtstrahlen auf den Boden, wo sie auf den Bug samt barbusiger Galionsfigur eines künstlichen Schiffswracks trafen, das aus dem Sand ragte. Und wie es sich für ein gesunkenes Schiff gehörte, wiegte sich direkt daneben die gerissene Kette eines rostigen Ankers gemächlich in der Wasserströmung und diente ein paar Muscheln und Seepocken als Sitzplatz. Überall huschten Fische durch die langblättrigen Pflanzen, kamen kurz neugierig näher und verschwanden sofort wieder zwischen Schnüren aus Luftblasen, die wie Perlenketten nach oben stiegen. Alvaro konnte nicht einmal sagen, was von den Pflanzen und Steinen alles künstlich war und was echt, so harmonisch wirkte es in seiner Gesamtheit. Seine Blicke folgten der ausgestreckten Hand der Galionsfigur nach oben und er versuchte abzuschätzen, wie hoch das Aquarium wohl war und was darüber lag. Wahrscheinlich ein Einstieg zum Füttern der Fische und für Wartungsarbeiten. Und dann fragte er sich, wer dieses monströse Wasserbecken säuberte und konnte sich das kalte Schaudern nicht verkneifen, das seinen Rücken hochkroch. Er hasste Wasser; es machte ihm Angst - erst recht, wenn es so tief war wie hier.   Alvaro sah auf seine Uhr. Gabe war schon eine ganze Zeit lang weg, ohne dass er auch nur die geringste Spur von ihm entdecken konnte. Das monotone Plätschern des Aquariums ermüdete ihn langsam und Alvaro folgte den Lichtleisten, die in den Boden eingelassen waren, zu einer Sitzgruppe in der Nähe des Wasserbeckens, wo er erleichtert Platz nahm. Das erste Mal für heute. Die Arme im Nacken verschränkt, sah Alvaro den Fischen vor sich zu, die unbekümmert ihrem Fischdasein nachgingen und sich offensichtlich nicht darum scherten, was außerhalb ihrer gläsernen Barriere vor sich ging. Eine Bar mit Aquarium - oder eher ein Aquarium mit Bar. Auf welche Ideen LaRue wohl noch so gekommen war? Und warum hatte er ein Geheimnis daraus gemacht, dachte Alvaro bitter. Welchen Grund gab es, dass er ihn nicht in dieses eigentlich harmlose Geschäft eingeweiht hatte? Warum hatte er nie hier im Auto auf seinen Chef warten müssen? Dann hatte er eben keine Ahnung von allen Geschäften, die LaRue betrieben hatte. Dafür hatte er ja jetzt mehr damit zu tun, als ihm lieb war... Die Kiste mit den Münzen und dem anderen Kram tauchte kurz in Alvaros Erinnerung auf. Eigentlich könnte er sie auch schnell aus dem Auto holen.     Mit geschlossenen Augen saß Gabe auf dem gefliesten Beckenrand des Aquariums, dessen Einstieg sich wie von Alvaro richtig angenommen, im Obergeschoss befand. Seine Beine hingen im angenehm warmen Wasser und trotzdem gelang es ihm nicht, abzuschalten. Verbissen versuchte er, sich auf seine Atmung und Herzschlag zu konzentrieren, die beide heute ihrem eigenen störrischen Takt folgten. Seine Brust fühlte sich wie eingeschnürt an, als läge er unter einem wahnsinnig schweren Stein. Sämtliche Rippen sträubten sich gegen jeden einzelnen Atemzug, den er nahm und langsam wurde aus dem anfänglichen Frust Wut. Gabes Augen öffneten sich und seine Blicke fielen auf die drei Münzen, die neben ihm auf dem Beckenrand lagen. Sie waren der Stein, unter dem er gerade um jeden Atemzug kämpfte. Es war ihr Gewicht, das ihm am Hals hing und vor dem er plötzlich eine undefinierbare Angst hatte - das erste Mal überhaupt, wenn er ehrlich war. Einen Moment dachte Gabe darüber nach, das Training abzubrechen, aber was änderte das auf lange Sicht schon? Irgendwann saß er wieder hier und wenn er heute aufgab, dann beim nächsten Mal wieder und wieder und wieder und dann war alles weg, was sie zusammen aufgebaut hatten. Er nahm die Münzen in die Hand und betrachtete sie sich einen Moment lang, dachte an die Bedeutung, die sie hatten. Daran, weshalb er sie seit zwei Jahren zu jedem Training mitnahm. Eine nach der anderen warf er sie vor sich ins Wasser, hörte das Plätschern der Wasseroberfläche und sah ihnen dabei zu, wie sie glänzend zu Boden tänzelten. Jetzt gab es kein Zurück mehr.   Gabe reckte die Arme über seinen Kopf und atmete tief ein. Er spürte, wie sich jeder Muskel in seinem Oberkörper entspannte und sein Brustkorb sich mit jedem Atemzug weitete. Nach und nach wurden die Gedanken an Thomas von den imaginären Wellen weggetragen, die aufeinander folgend auf Gabe zurollten. Mit jedem Einatmen kam eine neue Welle auf ihn zu, schwappte schäumend um seine Beine und nahm beim Ausatmen Thomas Stück für Stück mit hinaus aufs offene Meer, als wäre sein Körper nichts anderes als eine Anhäufung von zig Milliarden Sandkörnern, die immer mehr ihre Form verloren, bis nichts mehr von ihm übrig war. Mit der letzten Welle, die von Gabe wegrollte, verschwanden Thomas' Fußabdrücke endgültig von seinem imaginären Strand. Er nahm einen letzten tiefen Atemzug und ließ sich ins Wasser sinken. Kerzengerade sank Gabe Richtung Boden, vorbei an den künstlichen Riffen und den im Wasser tanzenden Pflanzen. Er spürte den zunehmenden Wasserdruck wie eine Umarmung, die seinen ganzen Körper einschloss und fühlte sich endlich geborgen.     Die Bewegung in seinem Augenwinkel ließ Alvaro aufschrecken. Augenblicklich war er wieder hellwach. Sein Herz raste, aber seine Gedanken war kristallklar. Vorsichtig sah er sich um und registrierte, dass sich die Wasserpflanzen nun heftiger bewegten, als die ganze Zeit. Der Fischschwarm, der träge vor der Scheibe hin und her glitt, teilte sich und in dem nun entstandenen Spalier aus Fischkörpern sank Gabe wie ein Stein nach unten. Alvaro durchfuhr es eiskalt. Was in Gottes Namen sollte das? Panik machte sich in ihm breit, der, von dem Anblick völlig überfordert, Gabe zusah, wie er mit geschlossenen Augen vor ihm zu Boden sank. In einem Tank mit schätzungsweise zwanzig- oder dreißigtausend Litern Wasser darin. Als Gabe etwa auf Alvaros Höhe war, öffnete er endlich die Augen und winkte fröhlich seinem schockierten Gegenüber auf der trockenen Seite zu. Kurz bevor er den Boden erreichte, glitt er ruhig zur Seite weg und folgte dem Fischschwarm, der sich wieder neu geordnet hatte.   Alvaros entgeisterte Blicke folgten Gabe, der gemächlich wie ein Fisch durch das Becken schwamm. Kurz darauf hatte ihn das neblig milchige Blau des Hintergrunds verschluckt. So dicht es ging trat Alvaro an die Glaswand heran und suchte das Wasser nach Gabe ab. Ihm war immer noch absolut schleierhaft, was Gabe da tat. Bis er ihn aus den Augen verloren hatte, hatte es ausgesehen, als suchte er den Boden ab. Alvaro reckte den Hals und versuchte, etwas auf dem Boden zu erkennen, aber die gewölbte Glaswand und das sich in ständiger Bewegung befindende Wasser ließen keine klaren Konturen zu. Alles war verschwommen und änderte sich kontinuierlich mit der Strömung. Wie lange konnte Gabe eigentlich die Luft anhalten?   Gabe hatte Alvaro völlig vergessen. Er versuchte, an nichts unnötiges zu denken und genoss die Eigenbewegung des Wassers, das ihn umgab und trug. Er fühlte sich wie in einem Kokon, in dem er abgeschirmt von allem, was draußen geschah, in seiner eigenen Welt vor sich hin glitt. Nichts und niemand konnte ihn hier drin erreichen. Erst recht keine schlechten Nachrichten... Zwei Münzen hatte er bereits gefunden und die dritte lag nicht weit von ihm weg in einer Gruppe Seetang. Flink sammelte er sie im Vorbeischwimmen ein und machte sich wie sonst auch auf die Suche nach der Vierten, als ihm einfiel, dass es keine weiteren Münzen mehr gab. Es würden für immer nur noch seine drei Münzen bleiben, weil die übrigen mit Thomas verschwunden waren und nie wieder irgendwo am Grund eines Gewässers auf ihn warten würden, bis er kam und sie einsammelte. Gabe fühlte, wie etwas seine Brust umklammerte. Eiskalt stieg es seinen Oberkörper empor, bis zu seinem Hals und weiter, bis es seinen Kopf erreicht hatte. Nie wieder lagen alle Münzen zusammen am Grund. Und absolut nie wieder würde er das anerkennende Lachen hören, wenn er sie alle an die Oberfläche brachte. Am liebsten würde er nur noch schreien und nie wieder damit aufhören. Gabe unterdrückte das Gefühl in seinem Hals, als würde ihm die Kehle zugedrückt, doch ausgerechnet heute funktionierte nichts. Sein Körper wehrte sich gegen alles, was er tat. Seine Hand öffnete sich und die Münzen taumelten wieder zu Boden. Gabe griff noch danach, doch der sich aufbauende Druck in seiner Brust wurde immer unerträglicher. Er musste auftauchen.   Endlich hatte er Gabe wieder entdeckt! Kopfschüttelnd sah Alvaro ihm zu, wie er fast bewegungslos zwischen den Fischen dahinglitt, immer mal wieder zu Boden tauchte und eine Kurve nach der anderen zog. Aber irgendwas an seinen Bewegungen wirkte nun plötzlich seltsam. Abgehackter und nicht mehr ganz so harmonisch wie davor. Statt ruhig dahinzugleiten, richtete sich Gabe im Wasser auf. Seine Hände suchten nach etwas und kurz darauf brach ein Schwall Luftblasen aus seinem Mund hervor. Alvaro rannte los, die Treppe hinauf, die Gabe vorhin genommen hatte. Irgendwo musste der Einstieg zum Becken sein!     Wie vermutet fand Alvaro den Einstieg im Obergeschoss. Er sah aus wie der Beckenrand eines Swimming Pools mitsamt Metalltreppe, die ein Stück weit ins Wasser führte. Vorsichtig trat Alvaro an den kniehohen Rand heran und sah ins Wasser hinab. Nervös wartete er auf eine Spur von Gabe und dachte fieberhaft darüber nach, was er im schlimmsten Fall tun sollte: wenn Gabe überhaupt nicht mehr auftauchte. Alvaro unterdrückte die aufkommende Panik, die kurz davor war, seine Gedanken zu benebeln, und ging zur Metalltreppe. Er sah auf die sich Kaleidoskopartig verändernde Wasseroberfläche hinab und zählte die Sekunden. Wie lange dauerte es, bis man aus dieser Tiefe aufgetaucht war? Zehn Sekunden? Zwanzig? Was, wenn Gabe am Boden lag? Einen Moment dachte Alvaro daran, ins Wasser zu springen, als er einen Schatten im Wasser sah, der sich der Oberfläche näherte. Er hoffte, dass es kein verdammter Fisch war, doch dann erkannte er zu seiner Erleichterung Gabes Haarfarbe. Alvaro kniete sich auf den gekachelten Rand. Mit einer Hand hielt er sich am Geländer der Metalltreppe fest und beugte sich so weit vor, wie er konnte. Seine freie Hand schoss nach vorne ins Wasser, bis er Gabes Arm zu fassen bekam und mit einem kräftigen Ruck zog er ihn nach oben.   Gabe hustete und spuckte Wasser, aber er lebte. Alvaro konnte es kaum fassen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Hand zitterte unkontrolliert, aber er hielt Gabe weiter fest, damit dieser nicht wieder untertauchen konnte. Geduldig wartete Alvaro, bis Gabes Hustenanfall etwas nachließ und er einigermaßen normal atmete. Er half ihm, sich aus dem Wasser zu ziehen und erst als Gabe sicher auf dem Beckenrand saß, ließ er ihn wieder los. Gabes Herzschlag hämmerte heftig gegen seinen Brustkorb, während der Krampf in seiner Kehle andauerte. Sein Kopf fühlte sich an als würde er gleich platzen und jeder Gedanke, den er zu erfassen versuchte, rann aus ihm heraus wie Sand aus einer zerbrochenen Sanduhr. Einzig Alvaros eiskalte zitternde Hand, die seinen Unterarm umklammerte und ihn gleich darauf losließ, schaffte es durch seinen Panikmodus hindurch. Alvaros Schulter berührte Gabes Schulter, als er sich erschöpft neben ihm auf dem Beckenrand niederließ, weil ihn seine eigenen wackeligen Beine nicht mehr trugen. Er sprach kein einziges Wort. Alvaro wusste, wenn er jetzt den Mund öffnete, käme sowieso kein einziger klarer Laut heraus. Sein rasender Atem war alles, was das Schweigen zwischen ihnen durchbrach.   Endlich löste sich der Krampf in Gabes Hals und er tat seinen ersten richtigen Atemzug, was Alvaro augenblicklich erleichtert registrierte. Er sah auf, als er spürte wie kurz darauf Gabes Körper neben ihm von heftigen Kontraktionen geschüttelt wurde. Automatisch griff Alvaro nach seinem Handy, um einen Krankenwagen zu rufen, als er merkte, dass Gabe weinte. Er schob sein Telefon zurück in seine Jackentasche und blieb einfach ruhig neben Gabe sitzen, der das Gesicht in seinen Händen vergraben hatte und verzweifelt schluchzte. Bedrückt sah Alvaro auf seine eigenen Hände hinab. Jedes einzelne aufkommende Schluchzen neben ihm legte sich wie eine Bleischicht auf seine Schultern und ließ ihn einfach hilflos dasitzen, ohne dass er sich rühren konnte. Er wusste es nicht genau, aber er ahnte es, wie knapp es gewesen sein musste, dass Gabe jetzt hier lebend neben ihm saß. Und egal, was Moreno behauptet hatte, es gab keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass LaRue gedacht haben könnte, Gabe stelle in irgendeiner Form eine Gefahr dar und müsste aus dem Weg geschafft werden. Lieber würde er bis an sein Lebensende irgendwelche Kinder durch die Gegend zum Fechttraining und Musikunterricht fahren, als auch nur ein einziges Mal seine Hände mit fremdem Blut zu beschmutzen.     Kapitel 10: Einfach schwimmen -----------------------------   Mit noch immer weichen Knien betrat Alvaro hinter Gabe die Umkleide, die sich im gleichen Flur wie der Einstieg des Wassertanks befand. Er warf seine nasse Jacke über die Rückenlehne eines Drehstuhls und nahm dann auf dem Stuhl Platz. Langsam ließ der Schock über das eben Geschehene nach und sein Kopf begann vorsichtig damit, das Chaos zu ordnen. Die Geschwindigkeit, mit der alles abgelaufen war, hatte ihm kaum Zeit gelassen, das, was passierte, tatsächlich zu realisieren. Er hatte einfach nur reagiert - und scheinbar richtig, denn sie beide lebten. Seine Ausbilder wären zufrieden. Aber Alvaro war es nicht. Er dachte wieder an die Hilflosigkeit, die ihn gelähmt hatte, als Gabe zu weinen anfing. Sein erster Reflex, etwas zu sagen oder ihm - was wusste er schon? - die Hand auf die Schulter zu legen, hatte sein im Standby-Modus laufender Kopf gar nicht erst weiter als bis zu diesem wenige Sekundenbruchteile dauernden Gedanken kommen lassen. Was einerseits wohl besser war. Es ersparte ihm die Peinlichkeit, sich im Nachhinein zu eventuell gesagtem oder getanem Unsinn erklären zu müssen. Stattdessen hatte er einfach nur still neben Gabe gesessen und gewartet, bis das Schluchzen immer leiser geworden und dann irgendwann ganz verstummt war. Was am Anfang wie Stunden gewirkt hatte, hatte in Wirklichkeit nicht einmal zwanzig Minuten gedauert. Zwanzig Minuten, in denen so viel geschehen war. Ein Beinahetod, ein verzweifelter Rettungsversuch und dann dieser erschütternde Ausbruch von vermutlich wochenlang unterdrückter Trauer. Auf so etwas war er in seiner Ausbildung nicht vorbereitet worden...   Alvaro sah auf. Was er sagen wollte, blieb ihm jedoch im Hals stecken. Gabe hatte entweder vergessen, dass Alvaro anwesend war, oder es war ihm einfach egal. Er stand mitten im Raum, hatte die Neopren-Shorts ausgezogen und damit begonnen, sich abzutrocken. Höflich wandte sich Alvaro von Gabe ab und betrachtete sich nun die Dinge, die der Schminktisch, vor dem er saß, zu bieten hatte. Dort herrschte das gleiche Chaos, wie in seinem Kopf. Nur bunter. Überall lagen künstliche Edelsteine verteilt, deren Zweck ihm völlig schleierhaft war, offene Dosen mit glänzendem Puder, neben denen irgendwelche puscheligen Dinger lagen, und sicher hundert Lippenstifte in allen möglichen Farben. Einzig die bunten Notizzettel, die den Spiegel einrahmten, waren ihm auf den ersten Blick vertraut. Aber auf denen hier standen keine kryptischen Nachrichten wie "Entsorgen!". Auf einem hatte jemand den Abdruck eines Kussmundes aus Lippenstift hinterlassen und auf einem anderen stand in schnörkeliger Schrift "Einfach schwimmen".   Alvaro fiel der Augenblick wieder ein, als er sich fragte, was er tun sollte, wenn Gabe nicht mehr auftauchte. Er hob den Blick und sah im Spiegel zu Gabe, der sich weiter stumm abtrocknete und wirkte, als sei er am anderen Ende der Welt. Er sah so traurig aus, dass sich Alvaros Hals wieder zuschnürte, wie in dem Moment, als ihm seine Machtlosigkeit bewusst wurde, als er am Rand des Wassertanks auf die zigtausende Liter Wasser unter sich geblickt und gebetet hatte, dass Gabe es nach oben schaffte. Im schlimmsten Fall wäre Gabe direkt vor seinen Augen ertrunken und Alvaro hätte rein gar nichts dagegen tun können. Selbst jetzt, weit weg vom Wasser und der gefährlichen Situation an sich, kroch wieder diese Angst in seinen Magen. Er sollte irgendjemanden beiseite schaffen? Lächerlich! Mit einem hatte Moreno allerdings recht gehabt. Er hatte alles für LaRue getan, ohne es weiter zu hinterfragen. Und er würde es auch weiter für den Rest von dessen Familie tun. Und das gleiche würde er für diese neue Familie hier tun, auch wenn er das zum Zeitpunkt von LaRues Tod noch nicht wissen konnte. Er hatte es sich geschworen, als er alleine neben LaRues Leichnam in der Pathologie gestanden und sich dessen seltsam friedliches Gesicht angesehen hatte, das wirkte, als wäre sämtlicher Kummer, der jemals auf ihm gelastet hatte, wie welkes Laub von ihm abgefallen. Es war das erste Mal, dass er einen Toten gesehen hatte und wie in Trance hatte er die Hand nach ihm ausgestreckt und die eiskalte, starre Haut berührt, die sich unerwartet zart angefühlt hatte. Und genau diesen Moment spürte er seit diesem Zeitpunkt immer wieder aufs neue unter seinen Fingerspitzen, sobald er auch nur daran dachte. Kühle, wachsbleiche Haut, die noch ein paar Stunden davor voller Leben gewesen war. Keinem einzigen Menschen könnte er jemals antun, was mit LaRue passiert war.   "Ich kann nicht schwimmen." Gabe hörte auf, sich abzutrocknen. Er hob den Kopf und begegnete im Spiegel Alvaros Blicken. Er bemerkte sofort die Veränderung in dessen Gesicht, so winzig sie auch war. Eine Art Erleichterung hatte die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen geglättet. Als hätte er in diesem Moment die Tür aufgestoßen, die er so eisern zugehalten hatte, und hätte der Welt einen kleinen Blick in sein Universum gewährt. "Echt nicht?" Gabes Stimme klang heiser. Eine direkte Nachwirkung aus der erzwungenen Anspannung, während des Auftauchens nicht aus Versehen einzuatmen, und seinem Weinkrampf direkt danach. Verlegen schüttelte Alvaro den Kopf. Er drehte sich nun ganz zu Gabe herum und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, was er aus Gründen, die Gabe nicht kannte, dann aber doch nicht tat. "Soll ich es dir zeigen? Ich kann es normalerweise ganz gut..." Gabes Mundwinkel bogen sich zu einem etwas bitteren Lächeln. "Bitte nicht", lehnte Alvaro Gabes Angebot entschieden ab. "Alles, was tiefer als die Badewanne ist, macht mir Angst." "Dann fangen wir eben mit der Badewanne an." Gabe konnte nicht anders, als über Alvaros fassungsloses Gesicht zu schmunzeln, der sich wohl vorzustellen versuchte, wie das ablaufen sollte. Beinahe hättest du Alvaro zum Zuschauer deines Ertrinkens gemacht und hättest ihn dann mit dieser Bürde bis an sein Lebensende zurückgelassen, meldete sich Gabes schlechtes Gewissen und das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Er wusste noch nicht einmal, warum er heute entgegen aller Vernunft alleine ins Wasser gegangen war. Alvaros Anwesenheit war ja nicht mal eingeplant gewesen. Einen Augenblick hatte er sich unter Wasser sicher gefühlt und gedacht, dass es ewig so bleiben sollte. Am liebsten wäre er gar nicht mehr aufgetaucht, sondern einfach dort unten geblieben, wo ihm der Wasserdruck Geborgenheit vorgegaukelt hatte, und wo die Münzen jetzt wieder im Sand lagen. Zum Glück hatte er heute keine Gewichte getragen. Und zum Glück gab es die Sicherheitsleine, ohne die er ewig zum Auftauchen gebraucht hätte. Und zu seinem größten Glück, war Alvaro dagewesen. "Tut mir leid", stieß Gabe bedrückt hervor. Alvaro sah ihn irritiert an. "Was? Dass ich nicht schwimmen kann?" "Ja, das auch", lachte Gabe über Alvaros unfreiwillige Ahnungslosigkeit. Er warf das Handtuch weg, das er die ganze Zeit vor sich gehalten hatte, und sah Alvaro erwartungsvoll an, der sich peinlich berührt abwandte. Ein paar unangenehm schweigsame Sekunden vergingen, in denen Gabe sich keinen Millimeter rührte, wie Alvaros schneller Blick aus seinem Augenwinkel ihm bestätigte. "Meine Kleider", erklang Gabes amüsierte Stimme irgendwann. "Kleider?" Alvaros Stimme versagte. Was zur Hölle meinte er? "Unter deiner Jacke auf der Stuhllehne", erlöste Gabe schließlich sein Gegenüber aus dessen Kaninchen-sitzt-vor-Schlange-Paralyse.     "Du hast ja wirklich gewartet", begrüßte Gabe wenig später Alvaro gut gelaunt, der auf der obersten Stufe der Metalltreppe neben dem Seiteneingang saß und rauchte. Er sperrte die Tür ab und setzte sich dann neben Alvaro, der eine viertel Stunde zuvor mit einem hektischen Ich warte draußen aus der Umkleide verschwunden war. Er hätte eher damit gerechnet, dass sich Alvaro, so aufgelöst wie er war, ins Auto setzen und wegfahren würde, aber scheinbar hatte sich Mr. Super-korrekt wieder im Griff. "Ich kann übrigens nicht Autofahren." Gabe sah zu Alvaro hinüber, der nun leicht lächelte, ohne den Blick von den Bergen alter Kartons zu lassen, die sich an der Fassade des Gebäudes gegenüber stapelten. Eine Rauchwolke stieg vor Alvaro auf. Er drehte den Kopf, bis er Gabe gerade so sehen konnte, der gebannt auf Alvaros Reaktion wartete. Seine Haare waren nass und das Wasser tropfte auf seine Schultern hinab, ohne dass es Gabe zu stören schien. Genau wie an dem Tag, als er ihn das erste mal vor dem Appartement mit der Nummer 17 gesehen hatte und sich keinen Reim darauf machen konnte, warum Gabe bei strahlendem Sonnenschein nasse Haare hatte. Jetzt wusste er es. Alvaro warf seine Zigarette weg. Ihre rotglühende Spitze versank in der Dunkelheit vor der Treppe. "Soll ich es dir zeigen? Ich kann es normalerweise ganz gut", witzelte er im gleichen Tonfall wie Gabe in der Umkleide. Gabe lachte. "Ich denke nicht, dass deine Versicherung davon begeistert wäre..." "Wahrscheinlich nicht." Alvaro suchte in seiner Jacke nach den Autoschlüsseln. "Soll ich dich ins Krankenhaus fahren? Nur um sicher zu sein?" "Ist nicht nötig", lehnte Gabe das Angebot bestimmt ab. Er erhob sich und wartete, dass Alvaro ebenfalls aufstand. "Ich habe ja kein Wasser eingeatmet." "Das sah aber anders aus", wandte Alvaro skeptisch ein. "Ich weiß." Gabe bemühte sich zu lächeln. "Aber glaub mir, den Unterschied würdest du erkennen..."   Der Motor von Alvaros Wagen verstummte. Anstatt vor dem The Gorge, das wie immer die halbe Straße erleuchtete, hatte er vor dem ruhigeren Kiosk geparkt, in dem sich Jules tagtäglich mit allen möglichen Snacks eindeckte. Gabe saß nachdenklich neben ihm, ohne Anstalten zu machen, aussteigen zu wollen, und Alvaro beschloss, zu warten, bis er so weit war. "Machst du das regelmäßig?" Gabe nickte stumm, ohne aufzuschauen. "Immer alleine?" Gabe lachte tonlos auf. "Nein, so dumm war ich heute das erste Mal." "Dumm wirkte das nicht", murmelte Alvaro vor sich hin. "Eher geplant." Er betrachtete sich Gabe, der wieder schweigend neben ihm saß und mit den Gedanken ganz woanders war. Aber er lag wohl richtig. "Warum gibt es keine Zeitungsartikel zu dem Unfall? Keine Todesanzeige?" Alvaro seufzte unhörbar. Gabes traurige Blicke strichen über sein Gesicht und wieder zurück zur Frontscheibe hinaus. "Seine Familie wollte das so." Das war nur die halbe Wahrheit und Gabe durchschaute es direkt, wie Alvaro an dessen Mimik bemerkte. "War jemand bei ihm? Was war davor?" Gabe hatte sich auf seinem Sitz zu Alvaro umgewandt. "Ist er einfach weggefahren, hatte den Unfall und das war's? Ich arbeite für ihn und habe nichts davon gewusst, bis du es mir gesagt hast." Alvaro dachte wieder an die Tiefgarage und das Kümmer dich darum. Er verstand, dass Gabe Fragen hatte, aber die hatte er selbst auch. Mehr als genug. Sollte er Gabe etwa von Moreno erzählen? Ganz sicher nicht. "Warum wohnt ihr eigentlich noch hier in dieser lausigen Bude?", lenkte Alvaro schnell ein, bevor Gabe ihn noch weiter mit Fragen löchern konnte, die er nicht beantworten konnte oder wollte. "Wenn du für LaRue gearbeitet hast, wirst du dir ja was anderes leisten können, als das hier." Gabes Augenbrauen zogen sich düster zusammen. Man merkte, wie er nach den richtigen Worten suchte. "Wegen Jules", sagte Gabe schließlich. Seine Blicke gingen wieder nach draußen auf die Straße, wo trotz der späten Uhrzeit geschäftiger Betrieb wie am helllichten Tag herrschte. "Sie will hier nicht weg, weil sie Angst hat, den Zeitpunkt zu verpassen, wenn unsere Mutter nach Hause kommt." Er lachte bitter. Seine Hand suchte nach dem Türgriff. Er stieß die Tür auf und stieg aus. "Vielleicht solltet ihr es doch mal versuchen", rief Alvaro Gabe nach, der sich ein letztes Mal zu ihm hinabbeugte. "Danke, ich werde es Jules ausrichten", erwiderte Gabe spöttisch. Er schlug die Tür zu und verschwand dann die Gasse zu den Appartements hinauf. Alvaro wartete, bis sich das Hoftor mit lautem Knall hinter Gabe schloss. Dann fiel ihm die Kiste wieder ein, die er extra wegen Gabe wieder in den Wagen geworfen und dann durch den ganzen Zirkus doch prompt vergessen hatte. Dann eben beim nächsten Mal, dachte Alvaro. Er startete den Wagen und fuhr los. Kapitel 11: El Loco y La Muerte -------------------------------     Reglos stand Gabe in ihrem winzigen Flur und blickte auf den leeren Fleck vor sich an der Wand über der wackligen Kommode, wo bis vor wenigen Wochen noch ein Spiegel gehangen hatte. Kurz zuvor hatte er ein letztes Mal die Haustür geöffnet und nach draußen gesehen, nur um absolut sicher zu sein, dass Alvaro endlich verschwunden war. Was er auch war. Erst danach war er dieses lauernde Gefühl losgeworden, das ihm praktisch im Nacken gesessen hatte, aber eben dieses Gefühl hatte sich nicht vollständig abschütteln lassen, sonst würde er jetzt nicht hier stehen mit dem Kopf voller Gedanken, die langsam überzulaufen begannen. Seine Hand ruhte noch immer still auf seinem Schlüsselbund, den er auf die Kommode gelegt hatte, welche die letzte unfreiwillige Umzugs-Aktion mit einem weiteren gelockerten Fuß mehr schlecht als recht überstanden hatte. Viel mehr war seit seiner Ankunft zuhause nicht geschehen. Er hatte gehofft, nach Hause zu kommen und alleine zu sein, ohne Jules, damit ihm wenigstens etwas Zeit blieb, um sein Vorhaben noch mal durchzugehen und alle Möglichkeiten abzuwägen, damit sie zustimmte, doch der Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer in den Flur fiel, hatte diese Hoffnung zunichte gemacht. Stumm verfluchte er Alvaro, dass er ihm diese Idee in den Kopf gesetzt hatte, hier alles hinter sich zu lassen und auszuziehen, was gar nicht mal so neu war und eigentlich, vernünftig betrachtet, schon viel früher hätte in Angriff genommen werden sollen. Dieses Mal sogar endgültig. Und trotzdem wusste Gabe jetzt nicht, wie er das Jules nach dem Desaster mit dem ersten Versuch, noch einmal beibringen konnte, ohne dass es genauso endete wie damals. Ein Schatten schob sich zwischen Wohnzimmer und Flur und verdunkelte den räumlichen Übergang zwischen ihrem früher mal vor Leben sprühenden Wohnraum zur kalten Welt draußen.   Ohne ein Wort zu sagen, stand Jules im Türrahmen und sah zu ihrem Bruder hinüber, der wie in der Bewegung eingefroren vor der Kommode stand und abwesend die Wand vor sich betrachtete. Seine Haare schimmerten im Halbdunkel. "Warst du schwimmen?" "Nein, im Hydra." Er hörte, wie Jules die Luft erschrocken einsog und ein heiseres 'Heute? Aber-' stammelte, das es kaum aus ihrem Mund heraus schaffte und sich irgendwo auf der kurzen Strecke zwischen ihnen beiden im Flur verlor. "Alvaro war bei mir." "Oh", setzte Jules nun mit nicht weniger Erstaunen hinzu, als bei seinem Geständnis, im geschlossenen Club trainiert zu haben. Ein letztes Mal betrachtete sich Gabe das Stück Wand vor sich, auf der die ausgeblichene Tapete immer poröser wurde und sich langsam an den Kanten zu lösen begann. Irgendwann würde eine der Bahnen vermutlich wie ein verdorrtes Blatt von der Wand segeln und selbst dann würde Jules sie eher irgendwie wieder befestigen wollen, als eine neue Tapete zu akzeptieren. Es passte zum Rest der Wohnung, in der sich seit ihre Mutter hier nicht mehr lebte, nichts mehr verändert hatte. Oder aus Jules' Sicht sich nichts mehr verändern durfte, ohne dass es eine ewige Krise nach sich zog. Gabe fühlte, wie sein sorgsam aufgebautes Konstrukt aus Sorge zu seiner Schwester und seinem eigenen Wohlbefinden in sich zusammenfiel. Er hatte es satt, auf dem Schlafsofa zu liegen und nicht einschlafen zu können, weil es zu klein und unbequem war und ihm ein Holzbalken in den Rücken drückte! Und er hatte es satt, hier nirgendwo auch nur ein winziges bisschen Privatsphäre zu haben! Alles hatte er hier satt! Erst recht diese deprimierende Einrichtung, die ihm selbst immer mehr aufs Gemüt schlug. "Jules, wir müssen reden." Das erste Mal seit er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, kam wieder Bewegung in Gabes Körper. Er nahm die Hand von seinem Schlüsselbund und wandte sich seiner Schwester zu, die ihn teils erwartungsvoll und teils erschrocken ansah.   Jules folgte Gabe bis zur Kücheninsel, wo er seinen Rucksack ablegte und sich etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank nahm. Er zögerte einen Moment. Vermutlich, weil ihm die ganzen, heute neu hinzugekommenen Dosen auffielen. Jules beschloss, darüber kein Wort zu verlieren und lieber zu warten, ob es ihr Bruder von selbst ansprach. Doch der tat, als sei nichts besonderes und trank ein paar Schlucke Orangensaft. Gabe war heute seltsam. Jules beobachtete sorgsam jede noch so kleine Regung in dessen Gesicht, konnte aber nichts davon richtig einordnen. Er wirkte weder traurig, noch wütend, noch niedergeschlagen. Nach dem Training war Gabe zwar immer erschöpft und sprach nicht viel, aber normalerweise war er gut gelaunt. Nicht wie heute. Heute war er zerstreut und mit den Gedanken so weit weg, dass sie sich wirklich Sorgen zu machen begann. "Was ist denn los?" Jules bemühte sich, ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, auch wenn dieses stumme, abwesende Benehmen ihres Bruders wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch wirkte. Was war los? Gabe fühlte sich, als stünde er in einem Raum voller gespannter Mausefallen. Ein falscher Schritt und die Hölle brach los!   Vorsichtig stellte Gabe die Saftflasche auf die Theke und atmete ein letztes Mal tief durch. Wo sollte er mit den Dingen anfangen, die gerade los waren? Im Hydra, wo er wegen drei Münzen, die für alle anderen nur einen symbolischen Wert hatten, eine Panikattacke im Wassertank bekommen hatte? Oder gleich bei Thomas? Der Gedanke an Thomas und wie er dessen Tod Jules beibringen sollte, schlug wie ein Tsunami über ihm zusammen. Er brachte es nicht übers Herz. Jetzt nicht, später nicht und vermutlich überhaupt niemals. Ihre, laut Alvaro, lausige Bude wäre vielleicht der beste Anfang. Ihm gingen sowieso Alvaros letzte Worte nicht mehr aus dem Kopf, ob es nicht besser war, wegzuziehen, auch wenn er Alvaros Beweggründe dazu nicht verstand. Er kannte ihn nicht und er kannte Jules nicht und er kannte ihr Leben in keinster Weise. Und doch hatte er Recht, was Gabe am meisten ärgert. Und es war das kleinere Übel im Gegensatz zu Thomas' Tod.   "Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt endlich nach was Neuem umsehen?" Ein kurzer Blick in Jules' schockiertes Gesicht ließ Gabe den Kopf abwenden. Er musste da durch. Und Jules musste da durch. Gabe hob den Kopf wieder und sah seine Schwester direkt an. Tapfer hielt er ihren erschütterten Blicken stand. "Wir suchen uns etwas Größeres. Schöneres. Etwas, was näher am Hydra liegt." Er klammerte sich an jeden Strohhalm, der sich ihm bot, doch das Gesicht seiner Schwester, das gerade alle Farbe verlor, wischte sämtliche Hoffnung auf Verständnis weg. "Aber du weißt, dass das nicht geht." Jules brüchige Stimme war kurz davor endgültig zu kippen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Wir haben ihr versprochen, zu warten." "Du hast ihr versprochen, zu warten, und ich denke, wir haben jetzt lange genug gewartet!" Er klang schroffer, als er eigentlich beabsichtigt hatte, aber es war nicht die erste Diskussion zu diesem Thema und es lief immer gleich ab: nicht mehr lange und sie würde weinen und er nach ein paar hartnäckig schweigenden Minuten doch wieder nachgeben und zustimmen, noch etwas mit dem Umzug zu warten. Und am Ende war er es wieder, der frustriert auf dem Holzbalken des verdammten Schlafsofas lag. Über ein Jahr ging das jetzt schon so. Dieses Mal nicht! Die Enge und die abstoßende Umgebung hier schnitten ihm alles ab, was ihn am Leben hielt.   "Du könntest im Hydra arbeiten!", spielte Gabe seinen letzten Joker aus. "Die bezahlen mehr und die Arbeitszeiten sind besser. Außerdem kennst du dort schon alle!" Er war so froh, dass ihm das noch eingefallen war! Gabe sah gebannt zu Jules und wartete auf ihre Reaktion zu diesem, in seinen Augen wirklich guten Vorschlag. Jules' verletzte Blicke sagten ihm, dass er das Gegenteil erreicht hatte. Die Tränen, die bis eben in ihren Augen geschimmert hatten, waren wie weggezaubert und stattdessen sah sie ihn so feindselig an, als hätte er ihr gerade gestanden, ihr Haustier im Wald ausgesetzt zu haben. Das hier war ein endloser Kampf, den am Ende niemand gewann. Ein Albtraum, aus dem er einfach nicht aufwachen konnte. "Du kannst ja ausziehen, wenn du möchtest, aber ich bleibe hier." Es war das erste Mal, dass Gabe seine Schwester in diesem schroffen Tonfall reden hörte und er war kurzzeitig beeindruckt. "Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Jules, aber du bleibst auf keinen Fall alleine hier!" "Nate ist auch noch hier", setzte Jules trotzig hinzu. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Gabe lachte tonlos auf. "Nate hat in seiner Freizeit genug mit sich selbst zu tun." Eine kleine Pause entstand, in der sich die beiden Geschwister schweigend ansahen. Jules hatte scheinbar ihren Faden verloren und Gabe triumphierte bereits innerlich, weil er sich spätestens jetzt sicher war, dass er dieses Mal doch gewonnen hatte. Überraschend, aber immerhin. Jules' Augen blickten fest in die ihres Bruders. Sämtliche Angst war daraus gewichen. Sie sah verletzt aus, aber nicht mehr auf ihre sonst so verworrene Art. "Langsam glaube ich, dass du der Grund bist, warum alle immer mit sich selbst zu tun haben", zischte Jules ihrem Bruder harsch zu, dem vor Schreck die Knie weich wurden. "Zuerst Nate und jetzt Thomas."   Gabe war so schockiert, dass er einen Moment nicht wusste, was er sagen oder tun sollte. Der Sprung seiner Schwester von Nate zu Thomas war selbst für Jules' verwirrendes Gedankenlabyrinth einen Ticken zu abgehoben. Der erste aufsprudelnde Zorn über diese unfaire Anschuldigung seiner Schwester rumorte wie ein tollwütiges Tier in seinem Magen, das sich mit seinen Klauen einen Weg nach draußen reißen wollte, doch Gabe schluckte seine Antwort, dass Thomas schon längst tot unter der Erde lag, hinunter, auch wenn es sich wie eine Tonne glühende Lava anfühlte. Eher würde er daran ersticken, als diesen einen Satz zu sagen. Ohne ein Wort zu sagen, ließ Gabe Jules stehen und ging ins Bad. Das hier war so ein Moment, in dem er es wirklich vermisste, wieder seinen eigenen privaten Bereich zu haben, dachte er, während er sich mit zitternden Händen umzog. Das erste Mal in seinem Leben hatte ihn Jules so wütend gemacht, dass ihm kein einziges Wort mehr über die Lippen kam. Er konnte nicht mal schreien, obwohl er innerlich kurz vorm Explodieren war. Als hätte dieser eine Satz aus ihrem Mund, dessen tatsächliche Tragweite sie noch nicht mal wissen konnte, etwas in ihm lahmgelegt, was bis vor wenigen Minuten noch mehr schlecht als recht funktioniert hatte, weil ihm eben keine andere Wahl geblieben war.   Ohne Jules, die noch immer an der Küchentheke stand und selbst überrascht von dem Effekt ihres Wutausbruchs war, eines Blickes zu würdigen, ging Gabe an ihr vorüber in den Flur und zur Haustür raus. Wenn er noch länger blieb, würden ihm tausend, mindestens genauso unfaire Dinge einfallen, die er ihr an den Kopf werfen könnte, doch damit wäre dann sein absoluter Tiefstpunkt erreicht. In dem Augenblick, als die Haustür hinter Gabe zufiel und er in der angenehm kühlen Abendluft auf dem flurartigen Gang stand, der die Appartements mit dem Treppenaufgang verband, und dessen Überdachung bei Starkregen ständig überlief und den Flur darunter überschwemmte, fragte er sich ehrlich, was zur Hölle er hier tat.   Die Haustür öffnete sich einen Spalt breit und Gabe kam zwei Schritte weit in den Flur hinein. "Ich gehe was essen, kommst du mit?" Abwartend sah er zu seiner Schwester, die kurz so wirkte, als wollte sie tatsächlich mitkommen, sich dann aber innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder fing und den Kopf schüttelte. "Hab' keinen Hunger", murmelte Jules gerade so laut, dass Gabe sie hören konnte. Der erwiderte ein ebenso leises Okay und verschwand dann wieder nach draußen.     "Wo ist Jules?", wurde Gabe kurz darauf von Nate begrüßt, der vor dem Eingang des The Gorge auf ihn wartete, hinter dessen Tür ohrenbetäubende Musik auf die Straße schallte. Es stand wohl wieder irgendein Feiertag vor der Tür, sonst würde man hier nicht so scheinheilig tun, als wäre man der Zufluchtsort Nr. 1 vor der nervenden Verwandtschaft. "Kommt nicht mit", antwortete Gabe knapp und ging an Nate vorbei, der noch einmal die Gasse hinunter sah, ob Jules nicht doch noch folgte. "Was hat sie denn?", fragte Nate, als er zu Gabe aufgeschlossen hatte, der mit verbissenem Gesichtsausdruck neben ihm die Straße überquerte. "Heute Nachmittag war sie noch richtig gut drauf." "Passiert halt", zischte Gabe abweisend und riss die Tür des Diners so ungehalten auf, dass die Scharniere heiser ächzten und das Windspiel darüber wie eine Handvoll Eisenstangen klang, die eine Treppe hinunter geworfen wurden. Den Rest des Diners ignorierend, glitt Gabe auf die erstbeste freie Sitzbank, die er erreichen konnte. Er zog die Speisekarte aus dem Ständer und ließ seine Blicke über jede einzelne Zeile schweifen. Er kannte das Menü hier auswendig. Samt wechselnder Tagesmenüs! Er musste einfach nur kurz dieses Gefühl überwinden, das ihm vorgaukelte, er solle seinen Kopf so oft irgendwo dagegen schlagen, bis er nicht mal mehr wusste, wie er hieß. Er konnte Nate, der gerade gegenüber von ihm Platz nahm und ihn ungewohnt besorgt ansah, ja schlecht gestehen, dass er der Grund für Jules' schlechte Laune war. Nicht, wenn er die nächste Diskussion für diesen Abend vermeiden wollte.     Gabe hob erst wieder die Blicke von der Speisekarte, als das Essen und die Getränke vor ihnen auf den Tisch gestellt wurden. Er hatte weder mitbekommen, wie die Bedienung an den Tisch gekommen war, noch wie Nate die Bestellung aufgegeben hatte. "Ich habe dich drei Mal gefragt und du hast jedes Mal 'Ja' gesagt." Nate deutete auf Gabes Teller, auf dem ein schlichter Burger samt Pommes thronte. "Schon okay", murmelte Gabe, der sich an keine einzige von Nates Fragen erinnern konnte. Und erst recht nicht daran, darauf geantwortet zu haben. Der aufsteigende Essensgeruch schlug ihm kurz auf den leeren Magen und Gabe wurde bewusst, wie lange er schon nicht mehr richtig gegessen hatte. Vor dem letzten Training im Hydra sowieso nicht, aber auch davor war alles so diffus, dass die letzte Mahlzeit, die am deutlichsten in seiner Erinnerung haften geblieben war, Jules' widerwärtige verschimmelte Lasagne war. Gabe nahm eine Pommes und zog sie gedankenverloren durch einen Klecks Ketchup, der vom Burger auf den Teller hinab getropft war. Eine Weile sah Nate Gabe dabei zu, wie dieser das Kartoffelstück wie einen Schneepflug durch den Ketchup schob, ohne sie essen zu wollen, dann hielt er es nicht mehr aus. "Was ist bei euch eigentlich gerade los?" "Was meinst du?" Die Pommes zog ohne Unterbrechung weiter Kreis um Kreis in dem roten See, der mittlerweile nur noch aus hauchdünnen hellroten Linien bestand, die sich kreuzten und wieder verloren. "Alles!?" Nate ließ seinen Burger auf den Teller sinken. Gabe wirkte, als könnte direkt neben ihm die Erde aufbrechen und das ganze verdreckte Stadtviertel hier verschlingen, ohne dass er es registrierte. "Fang bei dem komischen Typen an, der hier neuerdings ständig auftaucht." Auf Gabes Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. "Welcher Typ?" "Der, der euren Schlüssel hatte." Das erste Mal, seit sie hier angekommen waren, hob Gabe den Kopf. Sein tranceartiger Blick klärte sich zusehends. Er legte die Pommes zurück auf den kalten Kartoffel-Stapel, von dem er sie genommen hatte, und wischte sich die fettigen Finger an der Serviette ab. "Welchen meinst du genau?" Gabes Frage irritierte Nate, der davon überrumpelt erst seine Erinnerungen durchgehen musste. Waren da mehrere?     Kapitel 12: El Loco y La Muerte II ----------------------------------   "Ziemlich groß, trägt teure Anzüge, redet nicht viel", begann Nate seine Beschreibung. "Ach der..." Gabes Mundwinkel zuckten. Beinahe hätte er aufgelacht, als Nate Alvaro beschrieb. Einen winzigen Augenblick hatte er befürchtet, Nate meine Thomas. "Diese Blicke erst. So hasserfüllt!" Nate überlief ein Schaudern. "Schon bei ihm gesehen?" Gabe lachte leise vor sich hin. "Schlimmer..." "Schlimmer?" Nate war sichtlich verwirrt. "Es geht noch schlimmer, als Don Vito Corleone?" "Ja, mitleidig." Gabe sah wieder auf seinen Teller hinab, als fiele ihm gerade erst wieder ein, weshalb er hergekommen war. Er hob die obere Brötchenhälfte seines Burgers an und betrachtete sich das erste Mal, was er da überhaupt im Begriff nicht zu essen war. Nate beugte sich etwas weiter über die Tischplatte zu Gabe hin. "Also, wer ist das?" Seine Stimme klang nun ehrlich besorgt. "Ich weiß, dass er bewaffnet ist. Bedroht er dich?" "Alvaro?" Gabe ließ das Brötchen wieder auf den Burger sinken. Der abgekühlte Käse und die langsam aushärtenden Fettpfützen auf dem Fleisch wirkten alles andere als appetitlich. "Alvaro ist harmlos." "Alvaro?" Nate nickte verstehend, obwohl er noch immer keine Ahnung hatte, was da bei Gabe vor sich ging. Aber der Name passte immerhin zu Jules' wilder Story von vor ein paar Tagen. Nate setzte sich wieder gerade hin und nahm einen Schluck seines Getränks, in dem die Eiswürfel mittlerweile auf Fingernagelgröße geschmolzen waren. "Der hatte beim ersten Mal keine Ahnung, was das The Gorge wirklich ist." "Kann ich mir vorstellen..." Gabe lachte, als er sich Alvaro bei seinem ersten Besuch in der Bar vorzustellen versuchte und wie er auf Nate traf, dem in manchen - vor allem den unpassenden - Situationen ein Filter fehlte. "Ein bisschen länger und er hätte ein Zimmer gebucht, ohne es vermutlich zu nutzen, nur um da wieder rauszukommen." Nates Grinsen wurde breiter. Gabe lachte nun schallend auf. Das passte zu Alvaro. Und zu Nate. "Und beim letzten Mal hat er mich beinahe erwürgt." Die Erinnerung an Alvaros Griff ließen Nate schnell noch einen Schluck seiner Cola nehmen. "Der hat so fest zugedrückt, dass ich noch nicht mal hätte um Hilfe schreien können!" "Ach komm, übertreib nicht", lachte Gabe. "Zum ersten Mal in deinem Leben warst du sprachlos." "Danke für dein Mitgefühl." Nate aß den Rest seines Burgers. "Tut mir übrigens leid, dass ich ihn einfach zu euch gelassen habe." Er sah zu Gabe, der kurz wieder so abwesend wie zu Beginn ihres Besuchs im Diner wirkte, auch wenn er noch immer vor sich hin grinste. "Ich habe nur die 7 gesehen, aber nicht den Rest der Nummer, weil der Anhänger weg war, und Jules hatte angeblich niemanden bei euch getroffen." "Ist doch nichts passiert." Gabes Hand griff wieder nach dem Pommes-Stapel. Völlig in Gedanken schob er sich eine in den Mund. Ausgerechnet diejenige, die mit Ketchup vollgesogen war. Er ließ sich nichts anmerken und aß noch eine. "Alvaro war nur da, weil er etwas für mich hat." Nate nickte stumm. Das passte dann auch zur Aussage dieses Irren, er müsse etwas bei den Appartements erledigen. "Wenn du sagst, er ist in Ordnung, dann ist er das wohl. Ich habe nur keine Lust, irgendwann mal in deiner Wohnung zu stehen und dort deine Leiche zu finden."   Gabe legte die dritte Pommes, die gerade auf dem Weg zu seinem Mund war, zurück auf den Teller. Er seufzte und sah dann seinem Freund fest in die Augen, der das alles wohl tatsächlich ernst meinte. "Nate, das wäre dann ja das grandiose dritte Mal, dass du bei uns in der Wohnung wärst. Und ausgerechnet dann soll ich dort tot liegen?" Nate zuckte mit den Schultern. So unwahrscheinlich klang das alles auch wieder nicht. "Möglich wäre es ja." "Kann ich dich was fragen?" Gabes Blicke fielen kraftlos an Nate hinab und huschten dann ziellos über die Tischplatte. Gebannt wartete Nate darauf, dass sein Gegenüber weitersprach und vergaß dabei völlig, auszuatmen. Endlich, kurz bevor er das Gefühl hatte, zu ersticken, sah Gabe ihn wieder an. "Ist unsere Wohnung wirklich eine lausige Bude?" Nate, der mit einer komplett anderen Frage gerechnet hatte, als mit diesem abrupten Themenwechsel, stieß kurz die Luft durch die Nase aus. Er sah an Gabe vorbei durch die Scheibe nach draußen, wo Regentropfen im Neonlicht schillernd vom Himmel tänzelten.   "Sei ehrlich", setzte Gabe hinzu, als Nate es vorzog, weiter zu schweigen. Nate atmete hörbar aus, bis das unangenehme Kribbeln in seiner Brust wieder nachließ. "Meine Ansprüche sind alles andere als hoch, aber ja, ist sie, tut mir leid. Aber das war sie schon bevor Camilla dort eingezogen ist." Der Name seiner Mutter ließ Gabe traurig lächeln. Nate war wenigstens ehrlich, mehr hatte er nicht wissen wollen. Im Nachhinein hätte sich Nate die Zunge abbeißen können, aber nach wenigen Sekunden war das Traurige wieder aus Gabes Gesicht verschwunden. "Du weißt, dass eure Zimmer noch frei sind. Und eure Möbel sind auch noch alle da", erinnerte er Gabe an etwas, was der schon lange verdrängt hatte, weil ihm einfach die Zeit und die Nerven gefehlt hatten, sich wieder und wieder auf einen verbalen Kampf mit seiner Schwester einzulassen, der am Ende zu nichts führte. "Was soll das heißen?" Gabe versuchte zu lächeln, was ihm nur halb gelang. "Findest du keine neuen Mitbewohner?" "Ich habe nicht gesucht." Gabe nickte, als er verstand. "War schon eine lustige Zeit, was?" "Von dem, was ich noch weiß, ja." Nate lachte. "Wollt ihr denn endlich wieder hier weg?" "So weit weg, wie möglich", platzte es aus Gabe heraus. "Aber Jules spielt nicht mit." Er wirkte, als hätte man die Luft aus ihm rausgelassen. "Einen Versuch wäre es wert. Einen zweiten, meine ich." Nate verschränkte die Arme im Nacken. Er betrachtete sich Gabe ganz genau, dessen Mimik etwas anderes verriet, als seine Worte den Anschein machten. "Was hättet ihr schon zu verlieren?" "Ich nichts, aber Jules wahrscheinlich endgültig ihren Verstand..." "Den verliert sie auch, wenn ihr hier bleibt." Nates fehlender Filter ließ Gabe wieder einmal sprachlos zurück. Wäre ihre Mutter damals doch nur nicht so plötzlich krank geworden. Und hätte sie Jules damals nicht aus ihrem Krankenzimmer nach Hause geschickt und diesen einen Satz gesagt, an den sich seine Schwester seitdem verbissen klammerte, und der ihr ganzes Leben langsam aber sicher wie ein Strudel erfasst und seitdem immer weiter nach unten gezogen hatte. Warte zuhause auf mich, Jules. Gabe verfluchte diesen Satz, der ja nicht einmal böse gemeint war, aber er wusste, wo er sie hingeführt hatte: in eine Ein-Zimmer-Wohnung im schlimmsten Viertel der Stadt. "Komm, wir gehen. Oder willst du dir das hier noch einpacken lassen?" "Sicher nicht", murmelte Gabe und warf dem immer schiefer werdenden, auseinander fallenden Burger und den vertrockneten Pommes Frites einen angewiderten Blick zu. Nate kramte ein paar Scheine aus seiner Jacke und legte sie auf den Tisch. Er wartete, bis Gabe neben ihm stand und dann verließen sie endlich das Diner, in dem es zu stickig und zu laut war, wie in jedem zweiten Gebäude hier.   Das Läuten des Windspiels klang gedämpft zu ihnen auf die Straße. Nates Hand, die seine so selbstverständlich ergriff, kaum dass sie ins Freie traten, fühlte sich wie der Anker an, den Gabe im Moment so sehr gebrauchen konnte. Er erwiderte den vorsichtig abwartenden Druck und ließ sich dann von Nate lenken - weg von hier, den schmutzigen Bürgersteig entlang dorthin, wo er wusste, was ihn erwartete: jemand, bei dem er nicht aufpassen musste, was er sagte oder tat. Jemand, neben den er sich wortlos legen konnte und der keine Antworten auf ungestellte Fragen erwartete. Jemand, der ihm nie vorwarf, dass es zwischen ihnen nur noch um den Sex ging. Nach ein paar Schritten merkte Nate, wie Gabe stehen blieb. Er drehte sich zu Gabe um, der, ohne Nates Hand loszulassen, mit gesenktem Kopf einfach mitten auf dem Bürgersteig stehengeblieben war. Nate machte die zwei Schritte zu Gabe zurück und schlang seine Arme um dessen Taille. "Kommst du nicht mit?" Gabe schüttelte leicht den Kopf, ohne aufzusehen. Nates Hände strichen sachte seinen Rücken hoch und wieder runter und Gabe hätte diesen Augenblick am liebsten für immer festgehalten. Es war so vertraut und er hasste es, dieses einigermaßen konstante Fragment von seinem Platz in seinem Leben zu reißen. "Heute nicht", seine Stimme ging fast im Straßenlärm unter. "Ich muss noch was mit Jules klären." "Schön, du weißt ja, was du verpasst." "Ja, weiß ich." Gabe lächelte amüsiert, auch wenn ihm die bevorstehende Auseinandersetzung mit seiner Schwester jetzt schon Kopfschmerzen bescherte. Er kam nicht drumherum. Nates Mund suchte vorsichtig Gabes Lippen. Still verharrten sie so, ohne dass einer den ersten Schritt machen und endgültig gehen wollte. Autos fuhren vorbei, das Windspiel klingelte mit jedem Besucher - nur auf ihrem kleinen Flecken stand die Zeit still. Der feine Sprühregen glänzte auf Nates Wangen, als er sich schließlich von Gabe löste und ihm ein letztes etwas wehmütiges Lächeln zuwarf, ehe er sich vom Strom aus Passanten mitreißen ließ und nach wenigen Schritten darin untergetaucht war.     Wie Gabe erwartet hatte, war Jules noch wach, als er ihre Wohnung betrat. Er setzte sich neben seine Schwester, die ihn nicht weiter beachtete. Sie kauerte in einer Ecke des Sofas und textete mit irgendjemandem. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, wie Gabe in dem schummrigen Licht ihres Displays erkennen konnte. Sie hatte also geweint, dachte er betroffen. Gabe seufzte und suchte nach dem richtigen Anfang dessen, was er loswerden musste, bevor es ihn auffraß. "Hattest du letztens alles eingepackt, weil du schon eine neue Wohnung hast und es mir nur noch nicht sagen wolltest?", unterbrach Jules schließlich das beharrliche Schweigen zwischen ihnen als erste. "Nein." Gabe war überrascht. Auch wenn Jules' Vermutung falsch war, war sie gar nicht mal so abwegig, dass es ihr so vorkam. Es hätte sein nächster Schritt sein können. "Das war Alvaro", enthüllte er den wirklichen Verursacher und nahm erleichtert wahr, wie sich das niedergeschlagene Gesicht seiner Schwester erhellte. "Alvaro?" Sie verstand den Zusammenhang nicht, aber er war der erste Mensch seit langem, der ihr von Anfang an sympathisch war. Gabes Mund verzog sich zu einem Lächeln. Er sah Jules an, die seine Blicke fragend erwiderte. "Jules, weißt du überhaupt, wer Alvaro ist?" Sie schüttelte den Kopf. "Er arbeitet auch für Thomas." Jetzt hatte er Jules' vollste Aufmerksamkeit. Sie setzte sich aus ihrer zusammengesunkenen Position auf und wandte sich Gabe zu. "Hat er was über Thomas gesagt? Wie geht es ihm?" "Warte!", unterbrach Gabe den Redefluss seiner Schwester. Er könnte ihr jetzt alles erzählen oder damit warten, bis es ihr wieder besser ging. Erst die neue Wohnung, dann Thomas, beschloss Gabe in Gedanken. "War Alvaro deshalb mit dir im Hydra?", rief Jules auf, als ihr das Detail aus ihrem früheren Gespräch wieder einfiel. "Klar, er gehört zu unserer Truppe." Gabe lachte über den perplexen Gesichtsausdruck seiner Schwester, bis sie endlich dahinterkam, dass ihr Bruder sie veralberte. "Kannst du ihn dir echt mit unseren Kostümen vorstellen?" Jules kicherte und Gabe fühlte wie die Belastung ein wenig leichter wurde. "Alvaro ist Thomas' Fahrer." "Dann weiß er ja, wo Thomas ist!" Jules' Stimme sprudelte förmlich vor Fröhlichkeit über. "Normalerweise schon", entgegnete Gabe bedächtig. Er mochte weder das eine Extrem ihrer Stimmungsschwankungen, noch das andere. "Er ist gerade alleine unterwegs, ohne Alvaro." "Hat er denn etwas über Thomas gesagt?" Ihre Stimme klang aufgeregt und gleichzeitig besorgt. "Er war schon so lange nicht mehr hier." Er hatte gewusst, dass es irgendwann zu so einer Konfrontation kommen musste. Als hätte er heute nicht schon genug davon gehabt. "Er ist ziemlich beschäftigt, das weißt du." "Aber nie so lange am Stück", widersprach Jules ihrem Bruder energisch. "Wenn du nicht hier bist, kommt er immer vorbei und schaut, ob alles in Ordnung ist! Selbst wenn es nur fünf Minuten sind." "Ich weiß, Jules, aber manchmal kommen dringendere Sachen dazwischen." Ihr Enthusiasmus schwand von einer Sekunde auf die andere. "Könnte Alvaro ihm etwas ausrichten?", fragte sie schließlich vorsichtig. "Ich denke schon." Gabe spürte wieder, wie belastend ihre gesamte Situation auch für ihn war. Und wie viel schwerer es mit jedem Tag wurde. Lausige Bude, dachte er und verkniff sich jede auffällige Regung, die eventuell Jules alarmieren würde, die ihn gerade genauestens musterte. "Und warum hat Alvaro unsere Wohnung ausgeräumt?" Natürlich, die Frage, vor deren Antwort er sich gedrückt hatte. Sie vergaß nahezu alles, aber das ausgerechnet nicht... "Er hatte etwas falsch verstanden." "Von Thomas?", hakte Jules nach. "Ja, und weil du mal wieder weder Staub gewischt, noch sonst irgendwas getan hast, während ich weg war, dachte er, dass hier niemand mehr wohnt und hat alles einpacken lassen." Jules lachte nun wieder und Gabe fragte sich, wie lange er diese Konfrontation noch herauszögern konnte. Irgendwann gingen ihm auf lange Sicht die Ideen aus. "Ich denke in Zukunft daran. Versprochen! Mindestens ein Mal die Woche wische ich jetzt hier Staub! Dann kann uns das nicht mehr passieren." Sie legte ihren Kopf auf Gabes Schulter, dem unter dem eigentlich nicht mal so schweren Gewicht sämtliche Kraft, die er sich bis heute bewahrt hatte, aus dem Körper sickerte, wie aus einem übervollen Schwamm. Sein persönlicher Albtraum hatte wieder von vorne begonnen. Am gleichen Abend, als er das erste Mal seit langem wieder Hoffnung geschöpft hatte, dass sich das bald erledigt haben würde.   Wenig später lag Gabe auf dem ausgezogenen Schlafsofa und ärgerte sich über den Holzbalken, der ihm den Rücken Wirbel für Wirbel ruinierte. Er drehte sich auf die Seite, aber das machte es auch nicht wirklich besser. Jetzt taten ihm auch noch zusätzlich die Rippen weh. Selbst schuld, du Idiot, du hast ja das Angebot ausgeschlagen, heute Nacht mal in einem normalen Bett zu liegen - und dabei sogar noch Spaß zu haben... Gabe nahm sein Smartphone und tippte ein paar Worte. Ein letztes Mal las er sich durch, was er geschrieben hatte, dann schickte er es ab. Hoffentlich war es kein Fehler, dachte er noch, während ihm die Augen immer weiter zufielen. Im Wegdämmern registrierte er noch die prompt eingehende Antwort, doch er schaffte es nicht einmal mehr, die Hand, die sein Telefon hielt, bis auf Kopfhöhe anzuheben. Die Buchstaben verschwammen vor seinen übermüdeten Augen und noch ehe er den Namen des Absenders lesen konnte, war er eingeschlafen.     Alvaro sah auf sein Telefon, auf dem in dem Moment eine Nachricht einging, als er gerade den Wagen in die Garage fuhr. Moreno würde für die nächsten zwei Wochen das Krankenhaus nicht verlassen, las er erleichtert. Wenigstens etwas, das ohne Überraschungen funktionierte. Er schob sein Handy zurück in die Jackentasche und hielt einen Augenblick inne, als seine Hand den kalten nassen Stoff berührte. Das aktuellste spürbare Überbleibsel dieses lauernden Ungetüms, das er aus naiver Unwissenheit aus der Kiste rausgelassen hatte, und das ihn erst vor ein paar Stunden zum letzten Mal vor die Wahl gestellt hatte, zu entscheiden, wie viel von seiner Vernunft er bereit war zu opfern, bis er endlich wieder Ruhe vor etwas hatte, was er nicht kontrollieren konnte, weil sich jedes Mal ein neues Problem damit auftat. Und Probleme gab es ohne dieses Teil schon mehr als genug. Alvaro ging zum Kofferraum seines Wagens und öffnete ihn. Er griff nach der Kiste, die ihm samt ihrem unlösbaren Inhalt ungefragt aufgebürdet worden war, und trug sie nach draußen zu den großen Müllcontainern, die neben der Garage aufgereiht standen. Ein letztes Mal sah er sich den Erste-Hilfe-Kasten an, von dem er bisher alles andere als Hilfe zu erwarten gehabt hatte, dann ließ er ihn in den Container fallen. Kapitel 13: Ein Sack voller Knochen -----------------------------------     Als Gabe am nächsten Tag wach wurde, hielt er noch immer sein Smartphone in der Hand. Er war so schnell eingeschlafen, als wäre ein Lichtschalter in seinem Kopf ausgeknipst worden und hatte dabei so beschissen geträumt, wie sich sein gesamter Körper gerade anfühlte: wie ein Sack voller Knochen, der ein Mal heftig durchgeschüttelt worden war. Um ihn herum war es totenstill. Jules musste schon weg sein, ohne dass er gemerkt hatte, wie sie aufgestanden und sich fertig gemacht hatte. Die letzten Tage hatten ihm sämtliche Energie geraubt, ohne dass er genug Zeit gehabt hätte, sie wieder aufzufüllen, und dann hatte es ihn einfach umgehauen. Ein Wunder, dass er es so lange geschafft hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gabe sah auf die Uhr. Fast acht Stunden hatte er geschlafen, was sein aktueller Rekord war, aber erholt fühlte er sich ganz und gar nicht. Eher wie ein Schlafwandler, der einen Halbmarathon hinter sich hatte. Fluchend setzte er sich auf dem Folterinstrument namens Schlafsofa auf. Nachdem er seine Knochen wieder sortiert und durchnummeriert hatte, erinnerte er sich wieder an die letzte Nachricht, die er bekommen hatte und die er nicht mal mehr hatte lesen können. Er deaktivierte die Displaysperre und da stand die Antwort, die er nicht anders erwartet hatte: Packt zusammen und kommt her. Blieb noch die zweite Nachricht, die er geschrieben hatte und deren Antwort auch schon eingetrudelt war. "Jackpot!", rief Gabe in die Stille hinein. Das lief ja alles bestens. Zuerst der Umzug zu Nate und Jules neuer Arbeitsplatz im Hydra ging auch klar. Sie konnte anfangen, wann sie wollte. Darüber, wie er es ihr beibringen sollte, konnte er sich später noch genug Gedanken machen. Bis jetzt ging sie davon aus, dass es reichte, wenn sie hier ein Mal die Woche Staub wischte, aber seinen Nerven und seinen Knochen reichte das nicht. Gabe fühlte, wie alles in ihm wieder langsam zum Leben erwachte, auch wenn ihm, wie er säuerlich zugeben musste, sehr wohl bewusst war, wer das alles mit einer einzigen dämlichen Bemerkung tatsächlich ins Rollen gebracht hatte. "Und jetzt Alvaro", murmelte Gabe grinsend. Auf diese Nachricht freute er sich am meisten...     Alvaro wartete geduldig, bis die Kinder im Schulgebäude verschwunden waren, dann ließ er den Wagen an und fuhr Richtung Innenstadt. Er hatte Zeit bis zum Nachmittag, ehe er wieder hier sein musste. Mit Bauchweh dachte er an das bevorstehende Treffen. Moreno und alles was mit ihm zu tun hatte, war nie ein gutes Thema, aber dass es jetzt etwas persönliches zu bereden gab, das man nicht eben am Telefon abklären wollte, war neu. Und dass man es in LaRues Geschäftsstelle klären wollte, war beunruhigend. Er lenkte den Wagen wie an hunderten anderen gewöhnlichen Tagen vor dem Mord an LaRue die einspurige Einfahrt hinab in die Tiefgarage, nur dass er es heute das erste Mal danach wieder tat - ohne seinen Chef auf dem Rücksitz. Hier hatte sich nichts verändert, dachte Alvaro, während er durch die hellerleuchteten Reihen Autos zu seinem reservierten Parkplatz fuhr.   Alles war weitergelaufen wie zuvor, obwohl das taktangebende Rädchen fehlte. LaRue musste über Jahre dafür gesorgt haben, dass alles auch ohne ihn funktionieren konnte. Fast so, als hätte er geahnt oder befürchtet, dass es einmal so kommen würde. Alvaros letzter Gedanke erstarb zeitgleich mit dem Motor. Er öffnete die Wagentür und stand kurz darauf wieder an dem Ort, an dem er LaRue zuletzt lebend gesehen hatte. Der scharfe Geruch nach Abgasen hämmerte sich augenblicklich in seine Nase. Das erste Mal überhaupt nahm er diese widerlichen Ausdünstungen hier tatsächlich bewusst wahr, obwohl es jahrelang zu seinem ganz normalen Arbeitsalltag gehört hatte. Das Quietschen der Autoreifen und die laufenden Motoren der Wagen, das sich in den tunnelartigen Wänden der Tiefgarage verfing und als nie ersterbendes Echo hin und her irrte, dröhnte in seinen Ohren und Alvaro merkte, wie wieder dieser Schwindel nach seinem Kopf griff, den er das erste Mal nach seinem Besuch bei Moreno im Krankenhaus bei sich bemerkt hatte. Hastig eilte er zu den Aufzügen und atmete erleichtert auf, als er endlich in einer der sauberen und vor allem geruchslosen Glaskabinen stand, in der aus versteckten Lautsprechern leise beruhigende Musik erklang. Ohne dass er hinsehen musste, fuhr seine Hand automatisch zur Etagensteuerung und aktivierte das richtige Stockwerk. Sein Unterbewusstsein hatte diesen Ort scheinbar nie verlassen, dachte Alvaro bitter. Wie ein Totengeist, der den richtigen Weg ins Jenseits nicht fand.   Noch ehe er anklopfen konnte, öffnete sich bereits die Tür des Büros, das Alvaro in den endlos langen Fluren im Tiefschlaf hätte finden können. Das Lächeln in dem freundlichen Gesicht, das ihn in der Öffnung der schweren Holztür erwartete, wurde breiter. "Lange nicht mehr gesehen!", wurde Alvaro fröhlich begrüßt. "Wie geht’s dir?" "Besser", antwortete Alvaro der Frau, die ihn zu einer Sitzgruppe hin führte, wo er sich niederließ und in dem Moment, als er das vertraute weiche Polster unter sich spürte, merkte, wie auch das flaue Gefühl in seinem Magen nachzulassen begann. Unzählige Stunden hatte er hier verbracht, in denen LaRue in irgendwelchen Konferenzen festgehalten wurde. Lidia und ihr Büro waren praktisch zu seinem Aufenthaltsraum geworden, in dem immer etwas zu essen und zu trinken und immer auch jemand zum Reden bereit stand. "Nein und Nein", erklärte Alvaro der Frau amüsiert, die ihren gerade zu den üblichen Fragen geöffneten Mund wieder schloss und sich grinsend gegenüber von ihm hinsetzte. "Wirklich nicht?", hakte sie ein letztes Mal nach und sah ihn abschätzend an. "Es ist noch circa eine Tonne Essen vom Frühstück da." "Nur Wasser, danke." Alvaro nahm das Glas mit dem klirrend kalten Wasser entgegen und stellte es vor sich auf der glänzenden Tischplatte ab. "Tut mir leid, dass du herkommen musstest, aber hier kann man besser reden, als immer am Telefon", entschuldigte sie sich und warf ihrem Satz ein aufmunterndes Lächeln nach, das Alvaro auf der Stelle wieder daran erinnerte, dass er heute nicht hier war, um die Zeit bis zu LaRues nächstem Termin zu überbrücken. Alvaro atmete ein Mal tief durch. "Um was geht es denn?" "Moreno", war die prompte Antwort. "Es hat sich was geändert." Alvaros Blicke klebten nun an der Frau vor sich. "Er hat sich gestern selbst aus dem Krankenhaus entlassen." "Das geht?" Alvaro griff nach dem Wasserglas und hielt es, ohne einen Schluck daraus zu trinken. Konnte man einfach so aus einem Krankenhaus spazieren, in dem man wochenlang wegen Schusswunden lag, die einen fast das Leben gekostet hatten, wenn man sagte, man fühle sich gut? "Und da ist noch etwas." Lidia machte eine nachdenkliche Pause, in der sie sich Alvaro genauer betrachtete, der ihren Blicken zwar standhielt, aber dennoch irgendwie unkonzentriert wirkte. Ob ihm bewusst war, dass er bei Morenos Namen zusammengezuckt war? "Er ist direkt zu sich nach Hause. Sah zwar alles andere als gesund aus, aber bis jetzt gibt es keine Auffälligkeiten, was sein Verhalten angeht. Allerdings hat Moreno nach dir gefragt." Schon wieder dieses nervöse, Sekundenbruchteile dauernde Zucken. Alvaro wartete auf noch so eine Eröffnung, denn das, was er bisher wusste, klang noch zu harmlos. Und er behielt recht.   "Er erwähnte einen Auftrag, den LaRue dir noch kurz vor seinem Tod in seinem Beisein erteilt haben soll, und wollte wissen, ob du ihn schon ausgeführt hast." Lidia sah auf ihr Tablet hinab, das sie in den Händen hielt und schien irgendwelche Protokolle durchzugehen. "Ich weiß davon nichts, und sonst auch niemand. Moreno meinte, LaRue hätte das wohl spontan entschieden. Stimmt das?" "Ja, das stimmt", antwortete Alvaro so ruhig wie möglich, dem langsam dämmerte, auf was Moreno tatsächlich abzielte. Lidias Blicke hingen in Alvaros jetzt wieder reglosem Gesicht fest. Es passte ihr nicht, wie Moreno sich aufführte, doch Alvaro wirkte gelassen. "Und er hat noch angeboten, falls du dabei Probleme haben solltest, würde er dir gerne helfen", schloss Lidia ihren Vortrag ab. Alvaro musste sich zusammenreißen, um nicht aufzulachen, doch alles, was er wollte, war hier endlich wieder rauszukommen. Nur ging das nicht, so lange Lidia dachte, irgendwas sei faul. Und alles an ihr, angefangen bei ihrer angespannten Körperhaltung bis hin zu ihrer ernsten Miene und den stechenden Blicken deuteten genau das an. Moreno war ein Wichtigtuer und Großmaul, aber die unausgesprochene Drohung war ernst gemeint. Wenn er herausfand, dass Alvaro diesen angeblichen Auftrag nicht ausgeführt hatte, würde er es tun und als Bonus Alvaro gleich mit erledigen. Das hatte er ihm schon im Krankenhaus klargemacht. Alvaros Hände hatten die gleiche eiskalte Temperatur wie das Wasserglas angenommen und trotzdem schaffte er es nicht, es abzustellen. "Ihr könnt ihm ausrichten, alles ist so gut wie erledigt, es fehlt nur noch ein Detail."     Alvaro bezahlte die Tankrechnung, steckte das Zigarettenpäckchen ein und ging dann zurück zu seinem Wagen, der auf dem Parkplatz vor der Tankstelle stand. Er schloss die Fahrertür und genoss einen Moment die Stille, die ihn umgab, ehe seine Gedanken wieder von vorne anfingen, den Ausgang aus diesem scheiß Labyrinth zu finden. Das fehlende Detail... Wäre in diese ganze Sache nicht ausgerechnet jemand verwickelt, der sein halbes Leben lang dafür gesorgt hatte, dass jemand anderes beruhigt schlafen konnte, und wäre diese Person jetzt nicht praktisch Auftragslos und auf Arbeitssuche, hätte er das alles als Witz abgetan, aber Moreno war Moreno - ob mit zehn Fingern oder nur noch acht, er würde sich nicht einfach so zur Ruhe setzen, nur weil sein Auftraggeber nicht mehr am Leben war. Alvaro ärgerte sich, dass er wichtige Zeit mit dieser Dreckskiste verschwendet hatte. Wäre diese Box nicht gewesen, hätte er Moreno schon zehn Schritte voraus sein können, aber er hatte sich ja lieber wie ein abgerichteter Hund von irgendwelchen Suchspielchen aufhalten lassen, die ihn letzten Endes doch nur immer im Kreis herumgeführt hatten. Die einzig gute Entscheidung der letzten Zeit war, dass er die Kiste weggeworfen hatte. Im Prinzip war sie unnötig. Er wusste alles, was es zu wissen gab. Noch während Lidia ihm von Morenos großzügigem Hilfsangebot erzählte, war Alvaro eingefallen, dass LaRue eigentlich deutlich gemacht hatte, was er tun sollte, auch wenn er es so kryptisch wie möglich ausgedrückt hatte - und auch dafür musste er einen Grund gehabt haben. Eine denkbare, logische Abfolge von allem war, dass sich Alvaro darum kümmern sollte, Gabe und Jules wegzuschaffen und alle Spuren, die zu ihnen führen könnten, und erst danach die Kiste entsorgen sollte. Er hatte lediglich die Reihenfolge seines wirklichen Auftrags geändert, indem er die Kiste - wenn auch aus Frust - zuerst entsorgt hatte. Alles andere war völlig abwegig und sicher nicht in LaRues Sinne. Alvaro ließ den Wagen an und fuhr los. Blieb noch das widerspenstige Detail, das er noch davon überzeugen musste, was im Moment am gesündesten war.   Nachdem Gabe den Text an Alvaro zehn Mal neu geschrieben und immer wieder gelöscht hatte, entschloss er sich dazu, es Alvaro doch lieber persönlich zu sagen. "Jules ist soweit", begann Gabe ohne Umschweife, kaum dass Alvaro den Anruf angenommen hatte. "Aber ich brauche deine Hilfe." Nachdenkliches Schweigen empfing Gabe vom anderen Ende der Leitung und er sah auf sein Display, ob der Anruf vielleicht unterbrochen worden war. "Sicher helfe ich euch", erklang Alvaros ruhige Stimme. Und zwar so schnell wie möglich, dachte er. Bevor Moreno sich so weit erholt hatte, dass er sich auf die Suche machte. "Aber es gibt da ein kleines Hindernis, das auf eine Weise deine Schuld ist", fuhr Gabe fort. Er stand in der Küche und zog nacheinander alle Schubladen auf. Überall nur Dosen, Dosen, Dosen. Oh, und ein paar Snacktüten... "Was soll das sein und warum bin ich daran schuld?" Alvaro klang nun ungeduldig, wie Gabe nicht ohne Genugtuung feststellte. Aber er konnte ruhig noch etwas zappeln. "Jules denkt, du nimmst Thomas' Platz ein, so lange der 'verhindert' ist." "Welchen Platz?" Alvaro verstand kein Wort. Weder welchen Platz LaRue besessen haben sollte, noch was man nun von ihm erwartete. Gabe dachte nicht daran, Alvaro alles auf dem Silbertablett zu präsentieren. Nicht nach allem, was er hier schon angerichtet hatte. Belustigt hörte er das obligatorische Rascheln einer Zigarettenpackung und dann das Klicken eines Feuerzeugs. "Es ist ein bisschen kompliziert, aber da der Umzug ohnehin auf deinem Mist gewachsen ist, dürftest du damit dann sicher auch kein Problem haben." "Oh Gott", murmelte Alvaro so leise es ging. Vermutlich wäre es einfacher, Moreno aus dem Weg zu schaffen. Lidia hatte es ihm ja angeboten und er hätte es nur zu gerne angenommen, wenn da nicht noch das Problem war, dass Moreno der einzig lebende Zeuge von dem Anschlag auf LaRue war und noch immer nicht wirklich mit der Sprache dazu rausgerückt war. Erst danach konnte sich Moreno endgültig zum Teufel scheren.   Alvaro sah über das Dach seines Dienstwagens zum Schulgebäude hin, dessen Türen noch geschlossen waren und himmlische Ruhe vorgaukelten: in ein paar Minuten würde hier die Hölle ausbrechen. Die Zigarette in seiner Hand verbrannte, ohne dass er einen weiteren Zug davon nahm. "Könnten wir uns treffen und dann reden wir darüber?" "Na gerne", rief Gabe und hätte am liebsten laut gelacht. Es war irgendwie nur fair, sich wenigstens ein winziges Bisschen auf Alvaros Kosten zu amüsieren. Dafür hatte er selbst ja den Zirkus mit Jules. "Wann hättest du denn Zeit für deine neue Aufgabe?" "Übermorgen." Alvaro warf die verglühte Zigarette weg und rieb sich mit der freien Hand eine Schläfenseite. Hauptsache, sie sind danach weg, Hauptsache, er kam Moreno zuvor. Das war ja einfach, dachte Gabe. "Du weißt ja, wo die lausige Bude ist. Fühl dich wie zuhause", begann er sein Finale. "Ich muss noch was erledigen, aber ich komme dann nach. Der Schlüssel liegt im The Gorge bei Nate." "Ach ja, Nate", erinnerte sich Alvaro. Wie sollte er den vergessen? "Genau der. Erwürg' ihn dieses Mal bitte nicht, ich brauche ihn noch eine Weile." Gabe machte eine künstliche Pause, damit er sich sicher war, dass Alvaro ihm auch noch beim Rest zuhörte. "Bring die Kiste mit. Nate gibt dir den Schlüssel nur, wenn du sie ihm vorher zeigst, aber wenn du die Wahrheit gesagt hast, ist das ja kein Thema, richtig?" Er konnte hören, wie Alvaro die Luft einsog. "Und versuch erst gar nicht, Nate zu bequatschen - das funktioniert dieses Mal nicht." "Okay, war's das?" "Vorerst schon", erwiderte Gabe großzügig. "Wir sehen uns!" Grußlos beendete Alvaro den Anruf und hätte am liebsten sein Telefon so weit es ging weggeworfen. Diese verfluchte Kiste!   Mit Schwung stieß Alvaro den Deckel des Müllcontainers auf, in dem er den Erste-Hilfe-Kasten entsorgt hatte. Er zog sich am Rand hoch, bis er darüber blicken konnte und fluchte. Der Container war leer. Natürlich. Entsetzt sah Alvaro auf die paar Fetzen zerknitterten Papiers, die am Boden hafteten und alles waren, was sich noch in dem Container befand. Irgendwo musste die Müllkippe sein, dachte er, während er wie hypnotisiert in die Schwärze vor sich starrte. Irgendwo musste der Müll ja landen und er musste nur herausfinden, wo. Alvaro sprang zu Boden und noch ehe er richtig stand, hielt er schon sein Telefon in der Hand und suchte die Adresse der nächsten Deponie, die noch nicht mal allzu weit weg war. Vielleicht bestand ja noch die Chance, dort nach der Kiste zu suchen! Die Fahrertür seines Wagens knallte zu und mit quietschenden Reifen raste Alvaro los. Er kam nicht mal annähernd an die Deponie heran, als er endlich wieder zu Sinnen kam, den Wagen an den Seitenstreifen lenkte und dann eine Weile dort mit laufendem Motor stand.   Seine Hände umklammerten das Lenkrad wie Schraubzwingen. Was für einen Unsinn veranstaltete er hier gerade, dachte Alvaro bestürzt über sein eigenes irrsinniges Benehmen. Was genau sollte er auf dieser Drecksdeponie tun? Im Müll wühlen? Die Kiste war weg, Scheiß drauf! Mit großer Wahrscheinlichkeit war sie schon längst in der Presse oder verbrannt. Es war zu spät, sich darüber noch Gedanken zu machen. Gabe tat ihm kurz leid, der die Kiste gerne gehabt hätte und jetzt keine Chance mehr hatte, den Inhalt von LaRues Kiste zu sehen. Aber die würde ihm auch nichts mehr nutzen, wenn Moreno erst mal vor seiner Tür stand. Alvaro spürte, wie sich der erste Schock über den Verlust der Kiste Schritt um Schritt in Erleichterung wandelte. Es war wie eine Last, die von ihm abfiel und seinen Kopf wieder klar werden ließ. Ob mit oder ohne Kiste, morgen würde er zum The Gorge fahren und er würde dort nicht mehr weg gehen, bis er sicher war, dass Gabe und Jules in Sicherheit waren - selbst wenn das bedeutete, dass er Nate eventuell doch erwürgen musste...     Kapitel 14: Adios, MF! ----------------------     Obwohl ihm durchaus bewusst war, dass er die wichtigste Bedingung für seinen Besuch hier nicht erfüllen würde, betrat Alvaro unbefangen und völlig davon überzeugt, dass er am Ende doch bekam, was er wollte, das The Gorge, das einem wie gewohnt seine hör- und sichtbaren Obszönitäten ins Gesicht prügelte. Wie man hier arbeiten oder, so schlimm es sich anhörte, leben konnte, ging ihm nicht in den Kopf. Er war alles andere als wohlbehütet aufgewachsen, doch das The Gorge war ein unerträglicher Seuchenherd, dessen Siff, der wie eine ätzende Wolke um es herum waberte, in alle Poren sickerte, sobald man sich dessen Dunstkreis näherte. Es warf sich einem wie ein aufdringlicher Besoffener mit seinem ganzen Gewicht an den Hals und lallte einem mit seinem alle Sinne benebelndem Atem aus Alkohol und Magensäure die ganze, vor Selbstmitleid triefende Lebensgeschichte seiner gescheiterten Existenz ins Ohr, die dem Zuhörer eigentlich völlig am Arsch vorbei ging. Es war zu viel von allem und dennoch tat man hier, als sei das normal, was das wirklich schockierende war. Alvaro merkte mit jedem Schritt, den er dem Empfangstresen näher kam, wie sich alles an ihm gegen diesen Ort sträubte. Der schäbige abgewetzte Läufer klang wie Sandpapier unter seinen Schuhsohlen und er hatte das Gefühl, während des Gehens davon ausgebremst zu werden. Und trotzdem ließ es sich nicht umgehen, hier zu sein. Der einzige wirkliche Lichtblick war der junge Mann, der hinter dem Empfang stand und mit dem üblichen gelangweilten Blick am Display seines Telefons hing. Und als könnte er Gedanken lesen, sah er in diesem Moment auf und erkannte Alvaro direkt, der mit den Händen in den Hosentaschen auf ihn zu geschlendert kam und dann direkt vor dem Empfangstresen stehen blieb.   "Guten Tag, der Herr, schön Sie wiederzusehen!", spulte Nate sein einstudiertes Begrüßungsritual ab. Das fette Grinsen auf seinem Gesicht reichte förmlich von einem Ohr zum anderen. "Womit könnte ich unserem liebsten Stammkunden denn dieses Mal eine Freude machen? Wollen Sie unser heutiges Special ausprobieren?" "Vielleicht will ich das ja wirklich", erwiderte Alvaro gelassen, der dieses Mal besser auf Nate und dessen Spinnereien vorbereitet war. Und Nate wusste offensichtlich auch, wie weit er gehen konnte. "Was ist denn das heutige Special?" Alvaro klang so geheuchelt interessiert, wie es ihm an diesem widerwärtigen Ort nur möglich war. Nate grinste scheinheilig. Der Auftragskiller in spe hatte scheinbar Zeit zum Lernen gehabt. Vermutlich mit Nachhilfe. "Ich denke, das wäre nichts für Sie." "Woher willst du denn wissen, dass das nichts für mich ist?", konterte Alvaro ruhig, aber auch Nate war heute gut gelaunt. "Aus Sicherheitsgründen darf man diesen Bereich nur unbewaffnet betreten." "Dann wird das wohl leider nichts." Alvaro zog eine Broschüre aus dem unordentlichen Stapel vor Nate und begann, darin zu blättern. "Schon wieder den Schlüssel vergessen?", witzelte Nate und hielt Alvaro eine weitere Broschüre hin. Alvaro lächelte süffisant. Er ließ das Werbeprospekt - warum auch immer ein Bordell Werbung brauchte - auf den chaotischen Stapel fallen und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tresen. Er lehnte sich so weit wie möglich vor und betrachtete sich Nate ausgiebig, als müsse er sich jedes Detail an dem jungen Mann merken - das wie immer ungebügelte Hemd, den fehlenden Knopf daran, und quasi als Krönung von alledem das auf dem Kopf stehende Namensschild. "Ich darf dich also nicht erwürgen?" Augenblicklich fiel Nate das überhebliche Grinsen aus dem nun knallrot anlaufenden Gesicht. "Dieser verdammte Mistkerl!", schimpfte er los, riss sich aber gleich wieder zusammen. Das würde er später mit Gabe persönlich klären... "Also schön", begann Nate nach ein paar möglichst ruhigen Atemzügen. "Der Schlüssel ist hier. Du weißt ja sicher noch, zu welchem Appartement er gehört." "Lass dieses dämliche Gerede und gib mir endlich den Schlüssel!", unterbrach Alvaro sein Gegenüber jetzt etwas genervt. Zu seinem Erstaunen gehorchte Nate wirklich. Er zog den Schlüssel aus seiner Hemdtasche und platzierte seine Hand samt innenliegendem Schlüssel auf dem Prospektstapel vor sich, ohne aber die Hand wegzunehmen. "Da wäre noch die Kiste, die du mir zuerst zeigen sollst", erinnerte Nate sein Gegenüber an die Bedingung, die an die Herausgabe des Schlüssels geknüpft war. Alvaro sah auf den Schlüssel hinab, der von Nates Hand bedeckt blieb. Dann sah er wieder hoch zu Nate, der Alvaros Gedanken in dessen Gesicht bestens ablesen konnte. Alvaro seufzte. Der Abend würde länger dauern als geplant.   "Die Kiste gibt es nicht mehr", gestand Alvaro sein Dilemma kurz und knapp. "Weggeworfen." "Wohin?", fragte Nate ehrlich verblüfft. "Weiß nicht, wo wirft man denn seinen Müll üblicherweise hin?", war die sarkastische Gegenfrage. Nate lachte auf. "Also hier in diesem Viertel einfach auf die Straße..." "Dann versuch dir jetzt mal vorzustellen, wo normale Menschen ihren Müll entsorgen, nicht die Freaks." "Unter diesen Umständen kann ich den Schlüssel leider nicht rausgeben." Nate zog seine Hand samt Schlüssel unter Alvaros finsteren Blicken zurück. Am liebsten hätte er Nate wieder am Hals gepackt. Einfach nur aus Spaß. Und Nate, dem ihre letzte Begegnung noch allzu gut in Erinnerung geblieben war, machte einen Schritt nach hinten - weg von seinem Gegenüber, der sich nun aufrichtete, als würde er gleich ohne Anlauf über die Theke springen. "Du weiß ja, wie leicht es für mich wäre, dir den Schlüssel einfach so wegzunehmen." Betont ruhig schob Alvaro den unordentlichen Papierstapel vor sich zusammen, bis er ein Rechteck mit exakt aufeinander liegenden Kanten bildete. "Ich müsste dich nur hinter deinem Tresen hervorziehen und dir langsam einen Knochen nach dem anderen brechen, bis du mir diesen verfickten Schlüssel gibst." "So weit wird es sicher nicht kommen", konterte Nate selbstsicher, der bei dieser Drohung immer noch ungewöhnlich ruhig blieb. Alvaro hörte, wie etwas dumpf zugeschlagen wurde und ein rasselndes Geräusch folgte. Er sah zu Nate, der ihn unschuldig anlächelte. So gefasst wie möglich ging Alvaro um den Tresen herum und Nate ging die gleiche Anzahl an Schritten rückwärts, ohne Alvaro aus den Augen zu lassen. Ein scheiß Tresor, dachte Alvaro, als er in das Regal unter dem Tresen sah. Seine Blicke wanderten langsam zu Nate, der in gebührendem Abstand atemlos auf den Ausbruch des sich gerade vor seinen Augen zusammenbrauenden Sturms wartete. "Dann regeln wir das eben auf meine Art und Weise", verkündete Alvaro und betonte dabei jedes einzelne Wort. "Ich könnte dir ja trotzdem noch den ein oder anderen Knochen brechen. Dann wäre ich wenigstens nicht umsonst hergekommen." Nate machte noch zwei Schritte zurück. Sein Hals war so trocken wie die Sahara. Stumm verfluchte er das Management, das aus Kostengründen auf einen Sicherheitsdienst verzichtete.     "Ist er doch nicht gekommen?", begrüßte Gabe Nate, als er auf die Rezeption des The Gorge zuging. Er hatte zuerst bei sich zuhause nachgesehen, doch dort hatte nichts den Anschein erweckt, dass sein angekündigter Besucher dagewesen sein könnte, worüber Gabe enttäuschter war, als ihm lieb war. Erst als er direkt vor dem jungen Mann am Empfangstresen stand, bemerkte Gabe die säuerlichen Blicke, die Nate ihm zuwarf. "Was ist los? Hat er wenigstens angerufen?" Ohne ein Wort zu sagen nickte Nate stumm zur Sitzgruppe des Wartebereichs hinüber. Gabe folgte den giftigen Blicken und dort saß umrahmt von ausgeblichenen Kunstpflanzen Alvaro in einem der Sessel mit dem abgewetzten Polster. Er hatte ein Bein lässig über das andere geschlagen und winkte Gabe freundlich zu. Vor ihm auf dem niedrigen Marmortisch mit den abgeplatzten Kanten stand ein hohes Glas mit irgendeinem bunten Getränk, das Gabe nicht von hier kannte und von dem Alvaro nun in aller Seelenruhe einen Schluck trank. "Nimm ihn bloß mit!", zischte ihm Nate wütend zu. "Willst du wissen, was er getan hat?" "Unbedingt!" Gabe versuchte das Lachen zu unterdrücken. Die Situation war insgesamt verdammt komisch, obwohl sie auf den ersten Blick so harmlos wirkte. Alleine Alvaro, der sich hier so gar nicht ins Bild fügen wollte, benahm sich, als täte er das jeden Tag. "Zum Dank dafür, dass er mich nicht erwürgt oder mir die Knochen bricht, hat er mich behandelt, als wäre ich sein persönlicher Butler!", spie Nate voller Verachtung aus. Wäre er doch nur stärker und mutiger... "Und wie es aussieht, hat er sich daran gehalten, wo ist das Problem?" Gabe wandte sich wieder an Nate, der seine zornigen Blicke nicht von Alvaro lassen konnte. Wenn er ihn schon nicht eigenhändig rauswerfen konnte, konnte er ihn immerhin aus der Ferne mit Blicken durchbohren. "Gib mir den Schlüssel und dann erlöse ich dich von ihm."   "Ich wusste gar nicht, dass im The Gorge Cocktails serviert werden", begrüßte Gabe Alvaro, der nun das halbvolle Glas mit dem blau schillernden Getränk erhob und Richtung Nate prostete. "Den hat Nate eigenhändig für mich gemixt", erklärte Alvaro gut gelaunt. Er nickte zu Nate hinüber, der das Gesicht verzog, als hätte er in eine Zitrone gebissen. "Ein Adios, Motherfu-" "Schon klar, Nate", unterbrach Gabe seinen Freund lachend. "Mit extra wenig Alkohol", erklärte Alvaro belustigt. "Er hat wohl Angst, dass ich mir hier sonst ein Zimmer nehme." "Wie wär's mit dem Keller?", giftete Nate prompt zurück. "Du hattest hier also deinen Spaß?" Amüsiert sah Gabe auf Alvaro hinab, der ihm mit einem breiten Grinsen antwortete. Seine Augen funkelten fröhlich. Keine Spur von Don Vito, dachte Gabe. "Warum hast du Nate nicht einfach die Kiste gezeigt?" Auf der Stelle wurde Alvaro ernster, als hätten Gabes Worte einen Schalter umgelegt. Er stellte das Glas auf der zerkratzen Oberfläche des Tisches ab und seufzte kaum hörbar. "Es gibt da ein Problem mit der Kiste", gestand er Gabe, der kurz zu lächeln aufhörte, sich aber gleich darauf wieder zusammenriss. "Und ich schätze, dafür gibt es eine Erklärung, oder?" Gabe bemühte sich zu lächeln, auch wenn ihm die Antwort vermutlich nicht gefallen würde. So langsam entwickelte er ein Gespür dafür, wann es gut war, sich nicht zu sehr zu freuen. "Komm mit." Er wartete, bis Alvaro sich erhoben hatte und ihn zum Ausgang begleitete. Als sie an Nate vorüberkamen, warf Alvaro diesem ein letztes triumphierendes Lächeln zu, dass der junge Mann mit einem extra bösen Blick quittierte. "Von wegen harmlos", murmelte Nate zu sich selbst, nachdem die Tür endgültig hinter Alvaro zugefallen war.     In seiner Wohnung angekommen, stellte Gabe die Tasche, die er bei sich trug auf der Arbeitsfläche der schmalen Kücheninsel ab. Er nahm zwei Schachteln aus der Tasche, öffnete die Verpackung und stellte die beiden Silberschalen in den Ofen. Nicht besonders nahrhaft, aber besser als Jules' Snacks. Alvaro, der ihm stumm gefolgt war und nun neben Gabe in der offenen Küche stand, wartete geduldig, bis das Essen im Ofen war und das Gerät leise vor sich hin brummte. "Du hast also eine andere Wohnung gefunden? Das ging ja schnell." "Bot sich praktisch von selbst an." Gabe hängte das Geschirrtuch, mit dem er die Arbeitsfläche abgewischt hatte, zurück an die schmale Eisenstange, welche die Kücheninsel auf der Innenseite zwischen Schubladen und Türen geländerartig säumte. "Wir ziehen wieder zu Nate." Alvaro schwieg verblüfft. Er wusste nicht, welche Aussage aus diesem knappen Satz ihn mehr verwirrte: das wieder oder Nate. "Wieder?", hakte er kurzerhand nach. Gabe wandte sich zu Alvaro um, der ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. "Bis vor einem Jahr haben wir zusammengewohnt", erklärte er Alvaro und beobachtete dessen Reaktion genau. Aber der ließ sich nichts mehr anmerken. "Also Nate, Jules und ich, bevor-" Gabe machte eine kurze Pause und sah an Alvaro vorüber. "Bevor dieser ganze Irrsinn anfing", stieß er mit gepresster Stimme hervor. Er sah zurück zu Alvaro, wie der reagierte, doch der war scheinbar noch dabei, die ganzen erhaltenen Informationen zu verarbeiten. Er hatte eine Ahnung, was Gabe mit Irrsinn meinte. Es konnte nur der Grund sein, den er ihm vor Kurzem genannt hatte und wegen dem es wohl jetzt diese Probleme mit Jules gab. "Sie hat Jules damals nach Hause geschickt, weil-" Gabe lachte bitter auf. "Weil sie nicht wollte, dass sie dabei ist, wenn sie stirbt." Erschrocken hielt Gabe inne. Das erste Mal überhaupt hatte er dieses Wort ausgesprochen und es jetzt aus seinem eigenen Mund zu hören, überwältigte ihn kurz. "Sie hat es ja nicht mal böse gemeint, aber genau das Gegenteil erreicht." "Und deshalb hast du Jules auch nichts von LaRue erzählt?", riet Alvaro ins Blaue und traf, wie er an dem schnellen, ertappten Blick sah, der ihn kurz streifte. "Irgendwann wirst du es ihr sagen müssen. Nicht nur ihretwegen." "Ich weiß." Gabe war so viel Verständnis unangenehm. Er drehte Alvaro den Rücken zu und sah in den Ofen. Die Wärme, die das Gerät ausstrahlte fühlte sich angenehm auf seinem Gesicht an. Fast so, als wäre er lebendig und doch nicht dieser Untote, als der er sich fühlte. "Welche Probleme gibt es denn nun mit der Kiste?" "Ich habe sie weggeworfen." Gabe fuhr herum und wartete darauf, dass Alvaro über seinen eigenen vermeintlichen Scherz zu lachen anfing, doch der sah ihn gefasst an, ohne die leiseste Regung, die auf ein Lächeln hindeuteten könnte.   "Aus Versehen?" Alvaro schüttelte langsam den Kopf. Gabes prompte Enttäuschung ließ ihn kurz ein schlechtes Gewissen bekommen, dass er so kopflos und aus Wut reagiert hatte. Gabe nickte abwesend. "Das heißt, du bist völlig umsonst hergekommen?" Er schaltete den Ofen aus und ging zu Alvaro, der seinen Platz nicht verlassen hatte und mit dem Rücken gegen den Schrank gelehnt dastand. "Du kannst ja nicht mal beweisen, dass die Kiste überhaupt existiert hat." "Doch, kann ich." Alvaro griff in die Innentasche seiner Jacke. Zum ersten Mal sah Gabe die Ledergurte des Holsters, die sich von den Schultern kommend straff an Alvaros Brust vorbei hinab zu seinem Gürtel spannten. Gabe musste den Kopf abwenden und hoffte, dass man ihm nicht ansah, was er dachte. Zwei zusätzliche Ersatzmagazine - auf was wollte oder musste Alvaro vorbereitet sein? Welche Sachen hatte Thomas noch so zu erledigen gehabt, dass es nötig war, einen derart bewaffneten Chauffeur einzustellen? Nates Worte fielen ihm wieder ein, ob Alvaro ihn bedrohen würde, und Gabe lachte innerlich auf. Selbst wenn er das würde, was könnte er schon dagegen tun? Er käme sicher nicht weit, bis ihn die knapp 50 Schuss völlig zerfetzt hätten. Den Kopf voller lähmender Gedanken sah Gabe zu, wie Alvaro ein etwa handgroßes Objekt aus seiner Jacke hervorzog und es ihm hinhielt. Gabe griff danach und hätte es beinahe wieder fallen lassen, als er Thomas' Handschrift auf der Vorderseite des Taschenkalenders erkannte.       Kapitel 15: Abgrundtief -----------------------     "Ein paar der Notizen habe ich mittlerweile rausbekommen." Gabe hörte Alvaros Stimme wie durch eine meterdicke Schicht Watte hindurch. Keins der verwaschen klingenden Worte kam wirklich zu ihm durch und prallte direkt an Gabes schockiert auf den Taschenkalender starrenden Blicken ab. Mit eiskalten Fingern blätterte Gabe durch die dicht beschriebenen Seiten und versuchte jeden einzelnen Buchstaben von der ihm so vertrauten Handschrift in sich aufzunehmen und dort auf ewig abzuspeichern. Alvaro hatte keine Ahnung, wie wichtig ihm dieses Schriftstück war. Für ihn war es Papier, das irgendwelche Aufträge und Adressen beinhaltete, von denen er sich erhoffte, dass dort die Lösung zu Thomas' Tod dabei war, dabei stand dort viel mehr, als er sich wahrscheinlich vorstellen konnte. "Das hier ist die Adresse des Hydra." Alvaros Fingerspitze tippte auf einen Eintrag. Als ob er die nicht kennen würde, dachte Gabe bitter. Ein unterdrücktes Lachen ließ seine Brust kurz erzittern. Er kannte nicht nur jede einzelne Bedeutung aller Einträge, sondern auch, was an jenen Tagen dort stattgefunden hatte, welche Show gerade lief, wie viele Gäste gekommen waren und vor allem: was nach der Show gelaufen war - angefangen bei privaten Aftershow-Partys bis hin zu den Treffen mit Thomas. Aber die standen dort natürlich nicht. Sie waren tief in Gabes Erinnerungen verwurzelt und brachen gerade alle auf einmal mit solcher Wucht über ihm zusammen, dass es ihm fast die Beine wegzog. Wieder und wieder glitten Gabes hastige Blicke über die Seiten, blieben an einzelnen Buchstaben hängen, wanderten weiter, sprangen zwischen Einträgen hin und her, hektisch alles in sich aufsaugend, als wäre alles mit dem nächsten Blinzeln wieder verschwunden. Die letzten sichtbaren Reste von Thomas' Existenz, dachte er erschüttert. Ihre Projekte. Alles, wofür er die letzten beiden Jahre gelebt hatte, war hier vermerkt in der sauberen klaren Handschrift jenes Mannes, der bis zum Schluss schlau genug gehandelt hatte, um Gabe nicht in etwas hineinzuziehen, vor dem er ihn dann nicht mehr schützen könnte. Als hätte er etwas geahnt. Alvaro hatte aufgehört zu reden, als ihm aufgefallen war, dass Gabe überhaupt nicht zuhörte. Stumm wartete er, bis Gabe zur letzten beschriebenen Wochenseite geblättert hatte und dann wie gelähmt dort verharrte. Seine fiebrig glänzenden Blicke brannten sich in den letzten Eintrag. "Es geht noch weiter", half Alvaro Gabe auf die Sprünge, doch der regte sich kein bisschen und starrte stattdessen weiter wie hypnotisiert auf den letzten Eintrag.   Es war der Tag, an dem er das letzte Training für die aktuelle Show im Abyss absolviert hatte. Thomas hatte sie sich noch notiert, war dann aber doch nicht erschienen. Zuerst hatte er sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, weil er dachte, dass sie sich ja ohnehin bei der Premiere sehen würden und es schließlich nur um die Generalprobe ging. Aber als Thomas dann auch zur Premiere nicht auftauchte, hatte etwas in Gabe zu nagen begonnen, das sich mit jedem weiteren Tag, der verging, immer tiefer in ihn hinein fraß, je länger er nichts von Thomas hörte. An einen Unfall hatte er nicht gedacht. Nie. Er hatte geahnt, dass es schlimm sein musste und es verdrängt, aber das, was er bisher wusste, übertraf alles. Mehr wollte er nicht mehr wissen. Gabe fuhr erschrocken zusammen, als ihn Alvaros Hand, die sich unvermutet auf seine verkrampften Finger legte, aus den Gedanken riss. Er hatte ihn völlig vergessen. "Da ist noch eine wichtige Notiz", sagte Alvaro bedächtig und blätterte ein paar Seiten weiter. Vielleicht war es ein Fehler, Gabe in seiner momentanen labilen Verfassung auch noch den letzten Eintrag zu zeigen, aber so, wie er gerade auf alles reagiert hatte, war der Kalender wohl ein Volltreffer und da er das letzte war, was aus der Kiste noch existierte, konnte er jetzt unmöglich aufhören, alles miteinander zu verknüpfen.   Gabe schloss kurz die Augen, während Alvaro eine Seite nach der anderen umschlug und es sich wie Stromstöße anfühlte, wenn sich ihre Finger dabei jedes Mal erneut berührten. Lass es bitte keine persönliche Nachricht sein, bitte nicht, dachte Gabe atemlos und schluckte schnell das lähmende Gefühl herunter, das ihn gerade wieder in seinen Klauen hielt und zuzudrücken begann, und das er noch zu gut aus dem Hydra kannte. Und auch wenn er sich gerade nicht unter Wasser befand, fühlte er den Druck davon, der ihn zu zerquetschen drohte. "Hier." Das Gewicht von Alvaros Hand löste sich vom Kalender und Gabe öffnete die Augen. Sein Puls klopfte wie im Wahn in seinem Kopf, so dass er ihn hinter den Augen fühlen konnte. Nichts persönliches, nichts persönliches, hämmerte jeder Herzschlag in seiner Brust. "Entsorgen?" Es war eindeutig Thomas' Handschrift, aber es war keine direkte Nachricht an ihn. Gabe lachte heiser auf. Was auch immer das bedeuten sollte, Thomas hatte nichts persönliches geschrieben, keine Abschiedsworte, wovor er die meiste Angst gehabt hatte, was auch hieß, dass er wohl doch nicht mit einem endgültigen Abschied gerechnet hatte... An Gabes fragend schockierter Reaktion konnte Alvaro sich nun endlich auch seine eigene bestens vorstellen, als er das Wort zum ersten Mal gelesen hatte. "Lies mal, was darunter steht." Alvaro, der ihm gegenüber stand, ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, bis Gabe sich endlich dazu durchgerungen hatte, den gelben Post-it umzuklappen und die Zahlenreihe darunter freizulegen. "Das sind GPS-Koordinaten", erklärte Alvaro knapp die Bedeutung, auf die Gabe nie im Leben gekommen wäre. "Das ist die Adresse des The Gorge." Alvaro hielt kurz inne. Gabe wirkte nun nicht mehr so schockiert, wie zu Anfang. Im Gegenteil. Was Alvaro jetzt selbst irritierte. "So habe ich euer Appartement gefunden", schloss Alvaro seine angefangene Erklärung ab. "LaRue musste sich was dabei gedacht haben. Er hätte mir auch gleich die Adresse und genaue Anweisungen geben können, dann hätte ich hier nicht so ein Chaos angerichtet. Er musste einen Grund gehabt haben, das alles so kryptisch wie möglich zu hinterlassen." Gabes Mund verzog sich zu einem müden Lächeln. Alvaro wartete darauf, dass er ihm jetzt diesen Grund nannte, klar. "Das beweist noch lange nicht, dass es die Kiste tatsächlich gab." Der überraschende, wenn auch berechtigte Einwand brachte Alvaro kurz aus dem Konzept. Gerade hatte er gedacht, dass alles mal in gerader Bahn verläuft, und dann so etwas. "Ok", begann Alvaro nachdenklich und wurde gleich wieder von seinem Gegenüber unterbrochen. "Bevor du dir noch weiter irgendwelche Antworten von mir erhoffst, gibst du mir zuerst einmal ein paar." Gabe klappte den Taschenkalender zu und verschränkte die Arme vor der Brust. "Was war noch in dieser rätselhaften Kiste?" "Schön", stimmte Alvaro seufzend zu. Er erwiderte Gabes sture Blicke, der nur darauf wartete, dass ihm die Argumente ausgingen. Und wirklich viel war es ja auch nicht, was noch alles in der Kiste gelegen hatte.   "Noch ein Taschenkalender vom letzten Jahr mit ziemlich den gleichen Einträgen, euer Wohnungsschlüssel, ein Magisches Quadrat und ein paar Münzen", zählte er alle Dinge auf, die ihm wieder so klar vor Augen erschienen, wie damals in seinem Dienstwagen, als er den Erste-Hilfe-Kasten das erste Mal geöffnet und sich über das seltsame, wahllos wirkende Durcheinander darin gewundert hatte. Er hatte nur den neuen Kalender und den Schlüssel daraus behalten. Alles andere hatte er sich nicht mehr angesehen. Er hatte die Kiste in den Kofferraum geworfen und dort unbeachtet liegen lassen, bis er sie dann im Müll entsorgt hatte. "Mehr war es nicht, tut mir leid." Alvaro hob entschuldigend die Schultern an. "Münzen?" Gabe hatte sämtliche Gesichtsfarbe verloren. Der hämmernde Puls in seinem Kopf machte eine abrupte Pause, um dann noch heftiger darin zu dröhnen. "Wie sahen sie aus? Wie sahen die Münzen aus?" Sein Mund fühlte sich taub an und nur an Alvaros ratlosem Gesicht erkannte Gabe, dass er diese knappen Sätze tatsächlich ausgesprochen hatte. "Ganz normale Münzen eben", erwiderte Alvaro, während er das Aussehen noch einmal durchging. "Es waren keine Sammlermünzen, oder so." "Ganz normale Münzen..." Gabe lächelte nun traurig. "Und die Münzen hast du auch-" "Mit der Kiste weggeworfen, ja." Gabes erschütterte Reaktion auf die Münzen war ihm ein Rätsel und Alvaro versuchte sich noch einmal alle Details davon vor Augen zu führen. Drei stinknormale Münzen, wie wahllos aus dem Geldbeutel genommen, und ausgerechnet die hatten so einen Effekt, nach allem, was in den Kalendern stand? "Gut, ich glaube dir." Gabe sah noch einmal auf den Kalender in seiner Hand hinab. Das aufgewühlte Chaos in seinem Magen ebbte langsam ab und wich dem Gefühl von Eisschollen, die scharfkantig in seinem Körper alles mit sich rissen. Thomas' Münzen, von denen er gedacht hatte, dass er sie nie wieder sehen würde, weil sie mit ihm verschwunden waren, waren die ganze Zeit so nahe gewesen, dass nur die Hülle einer Kiste sie voneinander getrennt hatte. Und jetzt - jetzt waren sie unwiederbringlich weg. Auf irgendeiner Deponie verschwunden. Gabe griff in seine Hosentasche und zog Thomas' Schlüssel daraus hervor. Zusammen mit dem Kalender hielt er ihn Alvaro hin, der beides stumm entgegen nahm. Nichts davon wollte er mehr in seiner Nähe haben. Es würde ihn wahnsinnig machen, jedes Mal so deutlich vor Augen zu haben, was fehlte und nie wieder zu ersetzen war. Bei Alvaro war es besser aufgehoben als bei ihm. "Danke", murmelte Gabe kaum hörbar und bemühte sich, die hellbraunen Ledergurte mit den Ersatzmagazinen zu ignorieren, während er zusah, wie Alvaro die beiden Dinge wieder in der Innentasche seiner Jacke verstaute. Alvaro sparte sich das "gern geschehen", das ihm auf den Lippen lag. Er war schon in so viele Fettnäpfchen getreten, dass er dieses hier mal auslassen würde. Geduldig wartete er darauf, dass Gabe, der wirkte, als wollte er noch etwas sagen, und mit niedergeschlagenen Blicken zusah wie der Kalender und der Schlüssel in Alvaros Jacke verschwanden, mit der Sprache rausrückte. Es dauerte, bis er die Jacke wieder geschlossen hatte.   "Würdest du uns helfen, wenn wir hier ausziehen?" "Jederzeit", versicherte Alvaro und schickte seiner Bestätigung ein aufmunterndes Lächeln hinterher, das außerhalb von Gabes Wahrnehmung ein paar unbeachtete Kreise zog und dann einfach unerwidert verpuffte. Je schneller die Geschwister hier weg waren, umso besser. Er hatte keine Lust, darauf zu warten, bis Moreno wieder wusste, wo er suchen musste, weil Alvaro im Krankenhaus das mit der Wohnung hinter dem The Gorge herausgerutscht war. Und er musste es gehört haben, außer er war so mit Medikamenten vollgepumpt gewesen, dass ihre Unterhaltung irgendwo in seinem Gehirn versickert war. Alvaro stieß sich vom Schrank ab und ging um die Kücheninsel herum. "Ich kenne da ein zuverlässiges Umzugsunternehmen. Ihr müsst mir nur sagen, wann." Das erste Mal seit er ihm den Taschenkalender gegeben hatte, nahm Gabe Alvaro richtig wahr. Die ganze Zeit während ihrer Unterhaltung war er in dem Tsunami aus Notizen, Münzen und verschlüsselten Einträgen gefangen gewesen, wie ein Insekt unter einer Lichtquelle, ohne den Fokus wieder auf das Wesentliche lenken zu können. "Hauptsache, die sind gut im Einpacken und Raustragen und machen nichts kaputt." "Darauf kannst du wetten." Erleichtert bemerkte Alvaro das minimale Lächeln, das sich gerade auf Gabes Lippen schlich. Ein, wenn auch winziger, Fortschritt aus dieser extrem angespannten Situation hinaus. "Ist die neue Wohnung weit von hier?" Das zögerliche Lächeln auf Gabes blassen Lippen wurde nun zu einem Grinsen. "Keine Sorge, du bekommst die Adresse noch, damit du dort auch auftauchen kannst." "Nate wird sich freuen." "Da bin ich mir ganz sicher." Das unwillkürliche Lachen, das bei dieser Vorstellung aus Gabe herausbrach, stoppte augenblicklich die bedrückende Schwere in ihm, die ihn davor immer weiter nach unten gezogen hatte. Es war das gleiche befreiende Gefühl, das er hatte, wenn er nach dem Tauchen die Gewichte an Land wieder ablegte. Für einen winzigen Moment, in dem sich Kopf und Körper noch nicht einig waren, ob man sich noch unter Wasser befand oder bereits an Land, blieb man einfach in diesem Schwebezustand, in dem die Muskulatur von den letzten Resten ihrer Erinnerung an die Schwerelosigkeit unter Wasser zehrte, bis einem das tatsächliche Gewicht des eigenen Körpers wieder bewusst wurde, das einen an die Erde band. "Dann gehe ich jetzt", sagte Alvaro und ließ es wie eine Frage klingen. Nicht zu offensichtlich, aber offensichtlich genug. Er öffnete die Haustür und sah zu Gabe, der schräg hinter ihm stand, aber der hatte die Frage aus seinem Abschied nicht registriert. Oder wollte es nicht. "Ruf an oder schreib - auch wenn es nicht um den Umzug geht." Ein dünnes Lächeln erschien auf Gabes Lippen. "Danke, aber dafür habe ich schon Nate." Alvaros fragende Blicke blieben unbeantwortet. "Denk nicht weiter darüber nach", lachte Gabe stattdessen. Alvaro war immer so gefasst, aber wenn man ihn dann wie jetzt aus dem Konzept brachte, kam das Lamm in ihm zum Vorschein. Bevor er die Treppe in den Hof hinabging, drehte sich Alvaro noch einmal zu Gabe um, der ihm gegen den Türrahmen gelehnt nachsah. Beinahe hätte er ihm zum Abschied gewunken, aber seine Hand, die er schon angehoben hatte, griff nach dem Handlauf des Geländers.   Als sich die Tür hinter ihm schloss und er wieder alleine war, merkte Gabe erst wirklich, wie still es in ihrer Wohnung tatsächlich war. Nicht weit von hier benahmen sich Menschen, als gäbe es kein Morgen und hier tickte nicht mal mehr eine Uhr. Er lebte hier in einem Vakuum, in dem weder Geräusche noch andere Dinge existierten. Man hatte alles um ihn herum aus seinem Lebensraum entfernt, bis außer ihm selbst nichts mehr übrig geblieben war, als absolut leerer Raum, den niemand mehr füllen wollte. Die, die es konnten, sahen zu, wie er, unfähig sich noch zu bewegen, langsam daran zugrunde ging, und die, die nichts davon wussten - denen konnte er auch keinen Vorwurf machen, wenn er ehrlich war. Er erstickte vor aller Augen an allem, was man ihm genommen hatte, weil nichts davon einen besonderen Wert hatte, außer für ihn. Ganz normale Münzen eben...     Kapitel 16: Mare Frigoris - Das Meer der Kälte ----------------------------------------------     Völlig in seine Gedanken vertieft, saß Alvaro auf dem schmalen Balkon vor seinem Wohnzimmer, seine Füße ruhten auf dem Balkongeländer vor ihm und in seiner Hand, die reglos auf der Stuhllehne lag, hielt er eine Zigarette, die schon vor über einer viertel Stunde erloschen war, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Er war wahnsinnig müde, ohne dass er zur Ruhe kommen und schlafen konnte. Selbst sein Körper, der offensichtlich noch einen Funken Selbsterhaltungstrieb besaß, fuhr langsam runter, die Muskeln wurden immer schwerer und sehnten sich nach dem erholsamen Schlaf auf einem möglichst bequemen Liegeplatz, nur sein verdammter Kopf wollte einfach nicht abschalten. Bloß nichts wichtiges vergessen! Bloß nichts übersehen!, spulte sein Hirn ohne Pause die immer gleichen alarmierenden Gedanken in Endlosschleife ab, ohne dass er mal wirklich durchatmen konnte. Ein einziger Fehler, ein noch so winziges, übersehenes Detail könnte ja zur Katastrophe ausarten. Dabei hatte er eher damit gerechnet, dass sein Job nach LaRues Tod so dermaßen einschläfernd monoton werden würde, dass er sich nach einem zweiten umsehen musste, um das wieder auszugleichen, doch mit seinem Gewirr aus Kontakten und Geschäften, in die er, wie es aussah, nur wenige eingeweiht hatte, hatte ihm sein Chef einen ordentlichen Strich durch die Rechnung gemacht.   Nachdenklich sah Alvaro zum Haupthaus hinüber. Bis auf ein paar Lichter war dort alles dunkel. Genau wie hier bei ihm im Angestelltenwohnbereich, das ein eigenes Gebäude war und mehrere Wohnungen beherbergte. Es war so still, dass das liebestrunkene Zirpen der Zikaden in den süß duftenden Sträuchern, die im Dunkeln wie graue Flecken auf dem sauber gemähten Rasen verteilt standen, ohrenbetäubend klang - doch die Stille war trügerisch für jemanden, der die Bewohner hier nicht kannte. Er wusste, wo sich diejenigen aufhielten, die heute Nacht nicht schlafen würden, damit es alle anderen konnten. Alvaro sank auf seinem Sitzplatz nach unten, bis sein Nacken die Rückenlehne erreichte. Er klemmte sich die kalt gewordene Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie zum zweiten Mal an. Der warme Abendwind kräuselte die aufsteigende Rauchwolke sanft über seinem Kopf und wehte sie davon. Er dachte an den Anfang seiner Suche zurück, nach dem, was LaRue so beschäftigt haben musste, dass er es unbedingt von seinem Fahrer hatte wegschaffen lassen wollen. Der erste Abend, als er aus dem Auto stieg und sich vor dieser grellen Monstrosität namens The Gorge wiederfand und nicht wusste, was zur Hölle mit seinem Chef schiefgelaufen war, ohne dass er es mitbekommen hatte. Mit dem Wissen über den Schlüssel in der Jacke hatte er bis zum Betreten des Appartements gedacht, er suche nur ein Zimmer, das irgendwie etwas mit LaRue zu tun hatte. Eine offene Rechnung etwa. Aber was hatte er stattdessen gefunden? Gabe und Jules, die auf den ersten Blick rein gar nichts mit LaRue zu tun hatten. Zwei wahllose Menschen in einer beliebigen Stadt, die aus Gründen, die er damals noch nicht kannte, hinter einem Bordell wohnten, umgeben von anderen wahllosen Menschen, die ebenfalls ihr profanes Leben dort verbrachten. Die zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit aufstanden, etwas aßen und dann ihren Beschäftigungen nachgingen, bis es wieder Zeit zu schlafen war. Er hätte sich umdrehen und wieder gehen können, hätte den Staub auf den Möbeln ruhen lassen können und hätte das Kinderbild nicht in die Hand nehmen müssen. Nichts davon, was vielleicht besser gewesen wäre, hatte er getan. Er war den Geschwistern in ihren Kaninchenbau gefolgt, weiter und weiter hinein, jede noch so dunkle Abzweigung darin nehmend und noch immer war er bereit, viel viel tiefer in dieses Labyrinth hinab zu steigen, weil er noch immer darauf hoffte, dass irgendwo die Antwort auf die ganzen Fragen lag, die LaRue ihm in einer Kiste hinterlassen hatte. Und nur durch seinen Fehler wurde Moreno erst auf den Plan gerufen, und den musste er jetzt wieder ausbügeln. Schnellstens, denn Morenos Drohung bedeutete nichts anderes, als dass er Gabe töten würde, wenn Alvaro es nicht tat. Und nicht nur ihn, sondern gleich alle, die mit ihm zu tun hatten. Und das schloss Alvaro genauso mit ein wie Jules. Müde strich sich Alvaro mit der freien Hand über seine Stirn. Wenn sich alles dahinter doch nur so einfach wegwischen lassen würde wie Kreide auf einer Tafel... Irgendwie musste er Gabe klar machen, dass es kein normaler Umzug war, ohne ihn direkt in Panik zu versetzen. Es reichte, wenn Moreno vorerst die Spur verlor. Danach war immer noch Zeit, um auf weite Sicht zu planen. Dank Lidia kannte er bereits ein paar von Morenos Werken und er wollte definitiv nicht daran Schuld sein, wenn noch welche folgten. Erst recht nicht welche, zu denen er jetzt einen Bezug hatte, der über das bloße Kennen der Namen hinausging. Weit hinaus, bis in deren persönlichste Kreise. Nate... Alvaros leises Lachen verklang zwischen dem hellen, sehnsuchtsvollen Zirpen der Zikaden. Damit hatte ihn Gabe tatsächlich überrascht, musste er sich eingestehen. Kein Wunder, dass er Nate nichts tun sollte.   Erschöpft, aber noch immer nicht müde genug, um schlafen zu können, sah Alvaro dem Rauch seiner Zigarette nach, der wie eine sich windende Schlange über ihm in die Nachtluft aufstieg. Der Vollmond schien so hell am wolkenlosen Himmel, dass sich ein leuchtender Schimmer um ihn herum gebildet hatte, der mit seiner Intensität fast die daneben funkelnden Sterne überstrahlte. Die Struktur der Mondoberfläche war in ihren Details so gut zu erkennen, dass man meinen konnte, man blicke auf eine hochauflösende Aufnahme von dem blassen Himmelskörper. Wie verschüttete Tinte ergossen sich die dunklen Felder zwischen den Mondkratern, von denen strahlenförmige Linien wegführten und von der Gewalt zeugten, die sie vor Millionen und Milliarden Jahren verursacht hatten. Einschläge wie Schusswunden in einem bleichen Körper. Alvaro ließ die nur zur Hälfte gerauchte Zigarette in den Aschenbecher neben sich fallen, wo sich die immer dunkler werdende Glut verzweifelt weiter in den Tabak hineinzufressen versuchte, um bloß nicht wieder zu erlöschen. Seine Hände legten sich auf seine Schläfen und er versuchte, das stechende Gefühl, das sich einen Weg seinen Rücken hinauf bahnte, abzuschütteln, doch es schlug ungehindert weiter seine scharfen Krallen in ihn und kroch an ihm hoch, bis es seinen Kopf erreicht hatte.   Man hatte LaRues Leichnam bis zu den Schultern hoch mit einem sterilen weißen Tuch abgedeckt. Die groben Bügelfalten in dem gestärkten Baumwollstoff standen wie scharfkantige Felsklippen darauf hervor, die im völligen Kontrast zu den gewöhnlich sanft fließenden, maßgeschneiderten Anzügen standen, die er zu Lebzeiten getragen hatte, und von denen sein letzter hektisch zusammengefaltet und in eine Tüte gepresst neben ihm auf der silberfarbenen Liege lag. Alvaros zornige Blicke hafteten minutenlang auf der schmucklosen Plastiktüte, an deren oberer Ecke ein Band mit daran hängendem Zettel befestigt worden war, als wäre es ein gottverdammtes Geschenk. Sobald diese Scheiß Tüte auch nur in die Nähe von LaRues Zuhause kam, käme er mit ihr hierher zurück und erschlug den Verantwortlichen damit. Seine Blicke wanderten wieder zurück zum fahlen Gesicht seines Chefs, wo etwas zwischen Schläfe und Ohr in LaRues blutverkrusteten Haaren glitzerte. Alvaro streckte die Hand danach aus, auch wenn ihm schon alleine der Gedanke an das Berühren der kühlen, blutüberzogenen Haare eine Gänsehaut über die Arme jagte. Es war eine winzige Glasscherbe, die er zwischen den starren Haarsträhnen hervorzog und in deren scharfen Kanten sich das kühle Licht der Lampe über ihm brach. Bunte, funkelnde Lichtpunkte tanzten über das leblose Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den blutleeren, leicht geöffneten Lippen, als Alvaro das Glasstück neben LaRues Kopf auf den kalten Tisch mit den hauchfeinen Kratzern in der spiegelnden Oberfläche legte. Und als hätte die Vernunft den Kontakt zum Rest seiner Körpers eingestellt hatte er schließlich das steife Tuch angehoben und es bis über LaRues Brust hinaus zurückgezogen.   Ohne, dass sein Verstand tatsächlich erfassen wollte, was er da vor sich sah, hatte er sich den im grellen Licht der Pathologie kreidebleichen Körper betrachtet, den man zwar grob gesäubert hatte, aber dessen Wunden noch nicht überdeckt worden waren. Und erst jetzt erkannte man auch das wirkliche Ausmaß der tödlichen Verwundungen, die sich über den gesamten Oberkörper seines Chefs verstreuten. Überall klafften Einschusslöcher wie Meteoriteneinschläge, mit Kraterwänden aus zerfetzter, verbrannter Haut. Selbst einer seiner Unterarme war übersät damit und Alvaro konnte LaRue vor sich sehen, wie er auf der Rückbank seines Wagens saß und den Arm hob, um sich vor den Kugeln zu schützen, die zischend um ihn herum flogen und erbarmungslos in alles einschlugen, was in ihrem Weg lag, Muskeln und Blutgefäße zerfetzten, als wäre es dünnes Papier. Alles musste wahnsinnig schnell passiert sein, so dass ihm wohl noch nicht mal die Zeit geblieben war, den Türgriff zu erreichen. Und mit diesen Bildern im Kopf war er nach Hause gefahren, um der Frau seines Chefs zu bestätigen, dass es unzweifelhaft ihr Mann war, der da tot in einer Kühlkammer der Pathologie lag und nie wieder nach Hause kommen würde, um die wenige Freizeit, die ihm blieb, mit seiner Familie zu verbringen.   Es lag so viel Hass in dieser Tat, die sich Alvaro bis heute nicht erklären konnte. LaRue hatte normalerweise bedächtig agiert und Risiken sorgfältig gegeneinander abgewägt, ehe er sie eingegangen war, und war sicher niemand, der so einen Ausbruch an roher Gewalt leichtfertig provoziert hätte. Klar, er war ein zäher Verhandlungsgegner und unnachgiebig, wenn er sich mal was in den Kopf gesetzt hatte. Das wusste Alvaro von seinen sich wie Kaugummi dahinziehenden Konferenzen, die er selbst irgendwo wartend verbracht hatte. Aber da waren auch Dinge, verborgene Seiten an LaRue, von denen Alvaro nichts wusste und die er jetzt erst nach und nach aufdeckte - das Hydra zum Beispiel, oder Gabe, und er war sicher nicht so naiv, dass er nicht alle Verbindungen zwischen LaRue und Gabe ausschloss, egal in welche Richtung. Prinzipiell war alles möglich. Bei Moreno war es das gleiche. Nur er wusste, mit wem sie sich treffen wollten und Moreno hielt dicht. Genau wie Gabe. Und vermutlich hatte jeder von ihnen seine Gründe, die Alvaro nicht einfach aus ihnen rausprügeln konnte, auch wenn es vielleicht der einfachste Weg wäre. Ja, er war mehr als nur der Chauffeur, da hatte Moreno richtig gelegen. Er hatte sich nie wie ein beliebiger Angestellter gefühlt, sondern als Teil von allem. Ein Teil des Namens LaRue und allem, was dahinter steckte. Gut, von fast allem... Wäre er doch nur dabei gewesen, wie sonst auch. Alvaros Hände, die noch immer auf seinen Schläfen lagen, schoben sich nach vorne über seine Augen. Das erste Mal seit LaRues Ermordung spürte er die Ohnmacht, die ihn in ihren eisernen Klauen hielt. Die erste Wut über diesen unnötigen Akt war verraucht und hatte etwas weitaus grauenhafterem Platz gemacht, das ihm ganz und gar nicht gefiel: der lähmenden Trauer um seinen Chef, den er wirklich gemocht hatte und dessen Verlust sich wie langsam aushärtender Zement auf ihn gelegt hatte, so dass er mit jeder vergehenden Minute spüren konnte, wie sein Körper unter der Last nach und nach den Kontakt zu allem verlor, bis auf dieses ewig andauernde Schreien in seinem Kopf, das einfach nicht zum Schweigen zu bringen war.   Kapitel 17: Schlafende Hunde ----------------------------     Bist du noch wach? Können wir reden? Alvaro, der aus dem Augenwinkel beobachtete, wie sie sich die eingehende Nachricht von oben auf das Display seines Smartphones schob, wartete reglos, bis sich das kleine Fenster wieder geschlossen hatte und nichts mehr auf diese sieben Worte hinwies. Er wandte den Kopf von dem nun erlöschenden Display ab und rieb sich mit den Händen über seine brennenden Augen. Reden? Könnte er reden, hätte er vermutlich weniger Probleme. Oder vielleicht sogar mehr, was wusste er. Eine Möglichkeit davon würde er noch früh genug rausfinden, ob er wollte oder nicht - das war sicher. Seine Haut kribbelte taub, ganz so als löse sie sich wie ein Fremdkörper von ihm ab, und er konnte noch so oft darüber reiben, wie er wollte, es wurde nicht besser. Er spürte, wie er immer mehr den Kontakt zu ihr verlor, wie sich die Schichten voneinander abtrennten wie Wasser und Öl und das Empfinden zwischen dem unteren Teil, der noch mit seinen Nerven verbunden war und dem oberen, der sich schon gelöst hatte, ihm vor Schmerzen den Atem nahm. Aber mit jedem Millimeter, den sich seine äußere Hülle von ihm entfernte, wurde es auch erträglicher, schwand der gleißende Schmerz, der sich wie ein Messer mit glühender Klinge in seinen Körper bohrte. Er musste nur geduldig sein und warten. Geduldig sein und warten. Geduldig sein. Warten. Alvaro verschränkte die Hände auf seinem Bauch und schloss die Augen. So mussten sich Skorpione und Schlangen fühlen, wenn sie sich häuteten. Jetzt verstand er, warum sich diese Tierchen einsam in tiefen, stillen Höhlen verborgen hielten und in aller Ruhe diese Phase durchlebten, bis sie irgendwann mit ihrem neuen Äußeren wieder diese laute und gefährliche Welt betraten, mit allem, was sie bis dahin bereits darüber wussten und sich dennoch mutig dem Unbekannten stellten, was noch auf sie zukommen würde. Und trotzdem hatte er Angst, zu früh mit dieser neuen noch dünnen, weichen Haut zu erwachen, die noch nicht vollständig ausgehärtet war und ihm kaum Schutz bot. Die noch viel zu leicht zu verletzen war. Alvaros Hände sanken müde neben ihm hinab, streiften seinen Bauch, seine Hüften, das kühle Metall des Stuhls. Seine Augen suchten den nun dunkleren Himmel über sich nach dem leuchtend weißen Flecken ab, der ein bisschen weiter gewandert sein musste, doch da war nichts mehr. Keine Krater, die wie Schusswunden in fahler Haut aussahen. Keine Glasscherben, die unter kaltem Licht schimmerten. Der Mond war samt Sternen unter einer dichten, schwarzen Wolkendecke verschwunden und hatte alle vorangegangenen Gedanken hinter sich verwischt, um ja nicht mehr gefunden zu werden. Erschöpft tastete Alvaros Hand nach seinem Telefon.   "Was gibt’s?", meldete sich Alvaro möglichst locker, sobald der Anruf angenommen wurde. Nichts in seiner Stimme deutete auf die vergangenen Stunden hin, obwohl ihm noch immer wahnsinnig übel war, sobald er daran zurückdachte. Aber so lange noch das letzte bisschen seines alten Ichs mit ihm verbunden war und dafür sorgte, dass er sich nicht selbst verlor, selbst wenn es nur wenige Millimeter waren, an denen er noch hing - bis sich alles wieder gefestigt hatte, würde er weitermachen. "Ich bin alleine und mir ist langweilig", antwortete ihm Gabe ungewohnt entspannt, was nach dem vorherigen Abend mit der weggeworfenen Kiste und LaRues letzten Notizen eigentlich völlig undenkbar sein sollte. "Was hast du an?", rückte Gabe schließlich weiter mit der Sprache raus und sorgte mit dieser aus dem von Alvaro eigentlich erwarteten Kontext gerissenen Frage augenblicklich für kurzzeitiges Entsetzen. "Was ich anhabe?" Fassungslos sah Alvaro an sich hinab. Bei dieser Hitze trug er natürlich nicht viel, aber ob er ausgerechnet das zum Thema eines Telefonats machen wollte? Mit Gabe? "Meinst du meine Kleidung oder-?" "Ja, was hast du an? Oder hast du nichts an?" "Ich weiß nicht, ob ich-" Mit jedem Wort wurde Alvaros Stimme leiser, bis er endlich das erlösende Lachen am anderen Ende der Leitung hörte. "Ja, vielen Dank auch..." Alvaro konnte sich das Grinsen nun selbst nicht mehr verkneifen. "Ich weiß doch, dass du immer Anzug trägst, wahrscheinlich auch, wenn du schläfst", zog ihn Gabe weiter auf. "Ich wette, deine Unterwäsche hat Nadelstreifen und Bügelfalten, richtig?" Mühsam unterdrückte Alvaro das Lachen, das sich in ihm zusammenbraute, bis sein Zwerchfell schmerzte, aber er hatte absolut keine Lust, hier irgendjemanden zu wecken und dann morgen die dämlichen Fragen von seinen noch dämlicher grinsenden Kollegen beantworten zu müssen. Er setzte sich auf und beugte sich etwas über das Balkongeländer, um sich zu vergewissern, dass die Wohnungen in dem U-förmigen Komplex auch alle dunkel oder außer Hörweite waren. "Du wolltest doch nicht ernsthaft telefonieren, um dich über Unterwäsche zu unterhalten?", flüsterte Alvaro gerade laut genug, dass Gabe ihn verstehen konnte und er hoffentlich sonst keine Aufmerksamkeit erweckte. "Und wenn doch? Ist es noch zu früh dafür?" Gabes heiteres Lachen sprudelte wie eine kühle klare Quelle aus einem Felsen mitten in der Wüste. "Warum so schüchtern? Du hast es mir doch gestern Abend selbst angeboten." Gestern? War es schon so spät? Oh Gott, und er hatte noch keine Sekunde geschlafen... "Also was ist?" Gabe konnte sich Alvaros entgeistertes Gesicht gerade lebhaft vorstellen. Vermutlich war er sogar so ähnlich blass wie bei ihrem letzten Abschied oder davor im Hydra. Und es war zu lustig, um jetzt damit aufzuhören. "Schickst du mir ein Foto?" "Ganz sicher nicht!", protestierte Alvaro verblüfft, worauf ihm ein belustigtes Spielverderber entgegnet wurde. Das Gespräch ging in eine Richtung, aus der er sich nicht mehr lange flüsternd rauswinden konnte, hatte er das Gefühl. Alvaro erhob sich von seinem Sitzplatz und schlich in sein Schlafzimmer. Möglichst leise zog er die Balkontür hinter sich zu, nicht ohne noch einen schnellen letzten Blick auf die dunklen Wohnungen seiner Kollegen zu werfen. Wenn von denen doch einer draußen war, würde er es morgen, nein, heute wissen. Noch vor dem ersten Kaffee.   "Komm schon, du hast mich im Hydra auch schon nackt gesehen", versuchte Gabe ihn weiter aus der Reserve zu locken. Erinnerung für Erinnerung tastete er sich vor. Alvaro spürte, wie die aufsteigende Röte in seinem Gesicht wie Feuer aufloderte. Wie ein Brand in einem ausgetrockneten Pinienwald, um genau zu sein. Egal, was er jetzt dazu sagte, um sich zu verteidigen - es war ja nur aus Versehen im Spiegel passiert und Gabe hatte direkt in seinem Blickfeld gestanden! - jedes Wort davon würde Gabe genau als das identifizieren, was es war: eine lahme Ausrede. Natürlich hatte er hingesehen... "Das ist ja wohl was anderes, als ein Foto", widersprach Alvaro, aber es klang schon nicht mehr ganz so selbstsicher. "Ja, es ist besser." "Kein Foto, vergiss es!" Hätte er doch bloß nicht angerufen... "Gut, dann komm hierher." Wie viel Blut konnte einem in den Kopf steigen, ehe man einen Schlaganfall bekam? Zum Glück war das hier kein Videoanruf. Nahezu im gleichen Moment, als Alvaro den letzten Gedanken beendet hatte, hörte er auch schon den Klingelton einer eingehenden Nachricht. "Die werde ich jetzt sicher nicht öffnen!" "Das glaubst du ja selbst nicht", lachte ihn Gabe prompt aus. Als ob ihm Alvaro noch was vormachen konnte. "Es ist nicht schlimm, versprochen." Er musste sein Telefon wegwerfen. Jetzt sofort. Und er brauchte eine neue Nummer. Gleich am Morgen. Alvaro ließ sich auf sein Bett fallen. Das Lachen, das er auf dem hellhörigen Balkon erfolgreich unterdrückt hatte, füllte jetzt den ganzen Raum und hatte das schlaflose Rascheln seiner Bettwäsche abgelöst, das hier seit Monaten die Nächte dominierte, sobald er sich hinlegte und wenigstens ein bisschen zu schlafen versuchte und sich stattdessen nur im Halbschlaf von einer Seite auf die andere wälzte, bis es wieder Zeit zum Aufstehen war. Still lauschte Gabe Alvaros Lachen, das dunkel und rauchig heiser klang. Er hörte es zum ersten Mal und es offenbarte eine Seite an Alvaro, die diesem sicher unangenehm war, wenn er ihn darauf ansprechen würde. Samtig weich wie das tintenschwarze Fell eines Panthers, der aus dem Dunkel des Waldes in den hellen Mondschein trat, schlich es durch die stillen Straßen, die zwischen Alvaros Wohnung und seiner lagen, und legte sich hier neben ihn. Kühles Mondlicht schimmerte in dem glänzenden Pelz, der sich unter dem rhythmisch rollenden Vibrato, das tief in ihm tönte, hob und senkte. Honigfarbene Augen blinzelten ihn in der Dunkelheit vertrauensvoll an und für einen winzigen Moment fühlte es sich an, als würde alles besser werden. Irgendwann. Die Augen geschlossen atmete Gabe das wehmütige Gefühl weg, das ihn beinahe etwas sagen ließ, für das ihn selbst Jules auslachen würde.   "Über was wolltest du denn wirklich reden?", fragte Alvaro in die abwartende Stille hinein. Über die Münzen. Über den Zettel. Über die Zweifel an Thomas, die er seit dem Entsorgen spürte. "Ich weiß nicht, wie ich es Jules sagen soll." Alvaro seufzte. "Da bin ich wohl der Falsche, den du fragst." "Ich wollte nicht fragen, nur darüber reden." Alvaro war genau der Richtige, auch wenn er das nicht so sah. Er wusste nicht, welche Bedeutung die Münzen gehabt hatten, aber dass sie existiert hatten und dass Thomas für die Kiste verantwortlich war, daran hatte Gabe jetzt keine Zweifel mehr. Und Alvaro hatte nicht lockergelassen, weil er genau wie Gabe mehr dahinter vermutete, auch wenn es noch außerhalb ihrer Sichtweite lag. Eine verschwommene, unfokussierte Ahnung. Wie Farben unter Wasser, die ab einer gewissen Tiefe alle nur noch blau aussahen. "Warte doch, bis ihr umgezogen seid", schlug Alvaro das vor, was am Schlüssigsten schien. Er konnte sich die Überforderung vorstellen, die LaRues Erbe hinterlassen hatte. Nichts davon ließ sich wirklich greifen und festhalten. Es war wie Wasser, das einem durch die Finger rann. "Vermutlich hast du recht." Gabes Augen suchten in der dunklen Wohnung nach dem kleinen Rahmen, der im Regal vor dem Sofa stand. "Weißt du, was ihre Bedingung für den Umzug war?" "Keine Ahnung", gab Alvaro zu und wartete auf die Erklärung. Es fiel ihm noch schwer Jules und ihre Beweggründe richtig einzuschätzen. "Dass du danach nicht einfach verschwindest, wie unsere Mutter. Oder wie Thomas." "Hatte ich nicht vor. Außer du willst es." Alvaro sah an die Decke über sich, wo sich der Ventilator still unter der Lampe drehte. Die Schatten der Rotorblätter huschten wie Silhouetten schwarzer Vögel über die Decke. Still flogen sie zu ihrem Horizont, wo die Decke an die Wand stieß und verloren sich dort im Licht. Ohne die Bettfläche des Sofas auszuklappen, legte sich Gabe auf die durchgesessene Sitzfläche des uralten Möbelstücks und ließ dabei das gerahmte Foto keinen Wimpernschlag lang aus den Augen. "Was hat er mit Entsorgen gemeint? Mich?" "Glaube ich nicht." Alvaro hätte gerne etwas Tröstenderes gesagt, als das, weil Gabe plötzlich wieder so niedergeschlagen klang und ihm dessen Zusammenbruch im Hydra noch viel zu gut in seiner Erinnerung haftete, doch sein Kopf war wie leergefegt. "LaRue hätte das niemals gewollt." Jedenfalls nicht auf die Weise, wie Gabe dachte. Oder Moreno. "Genau das würde ich auch antworten, um von der Wahrheit abzulenken", murmelte Gabe tonlos. Alvaros Sicht auf Thomas war so herrlich unverdorben. Er kannte ihn nur als Chef, den man respektierte und sicher nicht hinterfragte, aber er selbst kannte Thomas von einigen anderen Seiten, über die er aber sicher nie im Leben mit Alvaro reden würde. "Seine letzten Worte zu mir waren Kümmer dich darum. Das klingt nicht nach Entsorgen, oder?" Alvaro wartete gar nicht erst auf Gabes Antwort. "Erst dachte ich das auch, aber die Reihenfolge stimmt nicht. Er kann nur gemeint haben, dass ich zuerst euch in Sicherheit bringen soll und dann die Kiste entsorge." Offensichtlich hatte er Gabe überzeugt, denn der schwieg. "Wie meinst du das?", erklang nach minutenlangem Schweigen Gabes eisige Stimme wieder. "Wovor sollst du uns in Sicherheit bringen?"   Alvaros kreisende Gedanken kamen augenblicklich zum Stillstand. Atemlos wartete er darauf, dass ihm eine passende Erklärung einfiel, doch Gabe ließ ihn gar nicht erst nach einer Ausrede suchen. "Überleg dir gut, was du darauf antwortest", riet Gabe seinem erschrocken verstummten Gesprächspartner mit warnendem Unterton. Er hatte es befürchtet. Er hatte sich blauäugig von ein bisschen Verständnis blenden lassen und darüber vergessen, dass er es mit jemandem zu tun hatte, der aus einem völlig anderen Universum kam, als er es gewohnt war. Jemand, der nicht viele Worte brauchte, um sein Ziel zu erreichen, was er mit den ganzen Auftritten bei Nate und Jules bereits bestens unter Beweis gestellt hatte. "Keine Sorge, ich lasse dir genug Zeit zum Nachdenken. Der Umzug findet erst statt, wenn du mir die Wahrheit sagst." Noch ehe Alvaro Zeit zu protestieren hatte, hatte Gabe den Anruf beendet. "Fuck!", fluchte Alvaro. Sein Finger presste hektisch die Wahlwiederholung, doch anstatt Gabe antwortete ihm nur die blecherne, automatisierte Ansage seiner Mailbox.   Nach dem fünften vergeblichen Versuch Gabe zu erreichen, legte Alvaro schließlich sein Telefon auf den Nachtschrank und schloss die Augen. Der kühle Luftstrom des Deckenventilators floss wie ein eisiger Gebirgsbach über ihn hinweg, ohne dass er noch genug Energie besaß, ihn auszuschalten oder sich wenigstens mit dem dünnen Laken zuzudecken. Reglos lag Alvaro in der Dunkelheit und spürte, wie die Kälte sich Millimeter für Millimeter in seiner alten, spröde gewordenen Haut festbiss und sie so paradoxerweise daran hinderte, sich weiter von ihm zu lösen.   Kapitel 18: Abyss -----------------   "Verdammter Dreck!" Zum dritten Mal schon schlug Nate gegen den Lichtschalter im Treppenhaus, ohne dass sich etwas tat. Die Lampen an der hohen Decke über ihm blieben dunkel. Neben seiner beschissenen Schicht im The Gorge, bei der einfach niemand nach Hause gehen wollte, war das hier das zweitnervigste des Tages, und der hatte genaugenommen gerade erst angefangen. Natürlich passierte so etwas in stockdunkler Nacht und natürlich erst dann, nachdem die Hausverwaltung bereits zehn immer noch ungelesene E-Mails dazu erhalten hatte. Fluchend kramte Nate sein Handy aus der Jacke und tappte im lächerlichen Schein der winzigen Taschenlampe, die sich nach einigen Augenblicken immer wieder selbst deaktivierte, die Treppen zu seiner Wohnung hinauf, von deren Stufen ein halbes Dutzend gefährlich morsch krachten. Dass er sich hier noch den Hals brach wäre dann das große, aber immerhin passende Finale dieses beschissenen Tages.   Mühsam beleuchtete Nate das Türschloss mit seinem Display, weil es ihm langsam auf die Nerven ging, die Taschenlampe alle paar Sekunden erneut zu aktivieren. In nahezu völliger Dunkelheit stocherte er so lange mit dem Schlüssel im Türschloss, bis der endlich ins Schloss glitt und die kleinen Stifte im Zylinder nacheinander an ihrem Platz einrasteten. "Nate?" Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen und ließ sein Smartphone fallen, das natürlich mit dem Display voraus auf dem Boden aufschlug. Dafür erwachte die Taschenlampe wieder zu neuem Leben und in deren nun ununterbrochenem Schein, der sich wie eine Säule vor ihm aufbaute und die Decke bestrahlte, sah Nate atemlos zu, wie sich neben ihm aus dem Schatten im Flur ein Schemen löste und sich langsam erhob. Wie ein Geist kam die dunkle Gestalt auf ihn zu und Nate wich unbewusst einen Schritt zurück, bis seine Schulter die noch geschlossene Wohnungstür berührte. Die Augen in dem bleichen Gesicht schienen in den dunklen Höhlen zu versinken und der Mund, der sich nun einen Spalt breit öffnete, wirkte wie das groteske Grinsen eines Halloween-Kürbis. Der Geist bückte sich in aller Ruhe und hob das Handy auf, bei dem sich die Taschenlampe passenderweise wieder deaktiviert hatte. "Kauf dir endlich mal ein neues Telefon", raunte ihm der Geist belustigt zu und schlang seine Arme um Nates Brustkorb, in dem dessen Herz ängstlicher hämmerte, als er es zugeben mochte. "Gott, Gabe, geht’s auch ein bisschen weniger gruselig?" Erleichtert atmete Nate aus und zog Gabe näher an sich heran. "Was kann ich dafür, wenn du keine normalen Leute kennst, die dich besuchen könnten?" "Und du bist einer davon, das ist dir ja hoffentlich bewusst." Nates freie Hand tastete nach dem Türgriff und mitsamt Gabe im anderen Arm, betrat er seine Wohnung.   "Mann, ich habe mir fast in die Hose gemacht", murmelte Nate vorwurfsvoll und erntete ein heiseres Lachen dafür, bei dem kein bisschen Mitleid erkennbar war. "Sicher nicht zum ersten Mal - und garantiert nicht zum letzten Mal." Die Deckenlampe flammte auf und in ihrem warmen Schein kehrte prompt das Leben in den bleichen Geist zurück. Äußerlich zumindest, wie Nate mit schnellem Blick besorgt feststellte. Gabe sah aus, als existiere nur noch eine Hülle seines früheren Ichs. Eine todmüde Hülle, die wie ein Zombie nachts durch die Welt spazierte und Leute zu Tode erschreckte. Nate blieb mitten im Flur stehen. Seine Hand ergriff Gabes Hand, der wie ein Schlafwandler an ihm vorbei wankte, und zog ihn wieder zurück in seine Arme. "Was ist los? Warum hast du im Treppenhaus gesessen und bist nicht reingegangen?" Weil er unter allen Dingen, die er absichtlich zuhause gelassen hatte, auch Nates Wohnungsschlüssel war... Gabes Kopf sank erschöpft gegen Nates Schlüsselbein. "Hab den Schlüssel vergessen", klang seine Stimme dumpf zu Nate herauf. "Ist das mit den vergessenen Schlüsseln irgendein Trend, den ich verpasst habe?" Die Antwort darauf brannte Gabe wie Säure auf der Zunge, aber anstatt dem Drang nachzugeben, sich davon zu befreien, würde er lieber warten, bis sich auch der letzte Rest von ihm darin aufgelöst hatte. Unter den tausend Memos, die Nate verpasst hatte, waren die Schlüssel das kleinste Problem. Und von dem Auslöser, der das alles ins Rollen gebracht hatte, wusste Nate auch nach fast zwei Jahren nichts - und so blieb es am besten auch. "Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte dich nach der Arbeit mitnehmen können." Gabe hing kraftlos wie eine Stoffpuppe in seinem Arm und nur sein Atem, der schwach über Nates Schlüsselbein kroch, bewies ihm, dass das hier keine Illusion war und Gabe tatsächlich anwesend war. "Was ist überhaupt los?" Gabes Hände schoben sich unter Nates T-Shirt zu dessen Rücken hin. Dort hielten sie still und ließen die Wärme aus dem Körper unter sich in sich hineinfließen, bis das kalte Kribbeln darin verschwunden war. "Ich musste mal kurz was menschliches spüren", murmelte Gabe so leise, dass Nate es selbst in der herrschenden Stille seines schmalen Flurs beinahe überhört hätte. "Lieb von dir, dass du dabei an mich gedacht hast." Nate schob eine Hand unter Gabes Kinn, bis der endlich den Kopf anhob und sein Gegenüber ansah. In jedem anderen Zeitstrang dieses offensichtlichen Multiversums hätte Gabe ihm für diesen Satz die Hölle heiß gemacht, aber der lächelte nur stumm vor sich hin, als täte er einfach nur das, was man gerade von ihm erwarte. Nates Mund berührte Gabes starres, wie eingefrorenes Lächeln. Es dauerte eine Weile, bis er unter seinen Lippen fühlte, wie es sich langsam löste und den Kuss endlich erwiderte. "Welche Schicht hast du morgen?", fragte Gabe, ohne den Kuss zu lange zu unterbrechen. "Spät." So gut es ging blendete Nate die Hände aus, die die ganze Zeit still auf seinem Rücken geruht hatten, und die sich nun in seine Haut krallten, als würde sich Nate in Luft auflösen, wenn sie es nicht taten. "Ich habe mein Telefon ausgeschaltet und Jules gesagt, sie soll bei dir anrufen, wenn was ist." "Das klingt ja ernst", witzelte Nate. Er traute dem Frieden noch nicht ganz, aber alles war besser als dieser gruselige Auftritt, den Gabe heute Abend hier hingelegt hatte. Und wie ernst es war, dachte Gabe und schluckte den letzten Rest der Säure runter, die weiter auf seiner Zunge gebrannt und sich in ihn hineingefressen hatte. Er hob den Kopf und betrachtete sich Nate stumm, dem man ansehen konnte, wie froh er war, dass Gabe einen Augenblick lang wieder der Alte war. Dann zog er Nate wieder zu sich und küsste ihn, bis er sicher war, dass sich Nates Aufmerksamkeit auf alles andere als Gabes vermeintliches Problem konzentrierte. Egal, wie dunkel der Abgrund vor ihm lag, er war nicht tief genug um alles zu fassen, was weiterhin unaufhörlich in ihm an die Oberfläche kroch, so dass es ihm selbst langsam Angst zu machen begann. "Nate, es ist mir egal wie du es machst, aber ich will die nächsten paar Stunden an nichts denken müssen - an absolut gar nichts." "Kein Problem", erwiderte Nate lächelnd.     Alvaro schrak aus seinem ungewohnt tiefen Schlaf auf und das erste, an das er sich wieder erinnerte, war Gabes letzter Satz. Hektisch suchte er das Bett nach seinem Telefon ab, bis ihm wieder einfiel, dass es auf dem Nachtschrank lag. Kein verpasster Anruf. Nichts. Nur die Nachricht mit dem Foto, die er noch nicht geöffnet hatte. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen wählte er Gabes Nummer und lauschte atemlos der Ansage der Mailbox, bis der Anruf automatisch beendet wurde. Ohne lange nachzudenken wählte er die nächste Nummer. "Alvaro, wie geht’s?" Lidias fröhliche Begrüßung versickerte in seinen gerade auf Autopilot laufenden Gedanken, die schon weit voraus gesprintet waren. "Was macht Moreno gerade?" "Schlafen, schätze ich. Es ist erst halb Sechs." Lidia goss sich einen Kaffee ein und überlegte, ob sie jetzt schon frühstücken sollte oder erst später im Büro. Das Croissant, das sie sich gestern nach der Arbeit noch gekauft und das sie danach völlig vergessen hatte, sah noch ganz essbar aus. Und dann fiel ihr ein, dass Alvaro sonst nie so früh anrief und sich erst Recht nicht nach Moreno erkundigte. "Soll ich nachfragen?" "Ja, bitte." Alvaro hoffte, dass er sich nicht so verzweifelt anhörte, wie er sich gerade fühlte und dass Lidia keinen Verdacht schöpfte. Aber das war utopisch. "Er ist noch zuhause", antwortete Lidia nach einigen Minuten. Der Kaffee und das Croissant waren vergessen. "Was ist passiert?" Alvaro schluckte die Panik runter, die Lidia erst alarmiert hatte, und atmete ein paar Mal möglichst still durch. "Nur so", antwortete er mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven. "Ich habe überlegt, ob ich sein Angebot, mir zu helfen, annehme." "Dann musst du dich aber beeilen, wenn du noch mit ihm zusammenarbeiten möchtest." Lidia lachte ungewohnt verächtlich. Sie nahm einen Schluck ihres abgekühlten Kaffees und wischte dann mit dem Finger über das Display des Tablets vor sich. "Laut den aktuellen Fotos sieht es nicht aus, als ob er es noch lange macht, dieser dämliche Idiot", überbrachte sie Alvaro auch den Rest der guten Nachricht, für die sie ihn eigentlich gerne persönlich getroffen hätte, nur um sein Gesicht dabei sehen zu können. "Danke", antwortete Alvaro knapp und legte auf. Erstaunt sah Lidia auf ihr Telefon. Wenn sie Alvaro nicht so gut kennen würde, hätte sie einen Moment denken können, er bedauere es, dass es Moreno so schlecht ging. "Was für ein verrückter Tagesanfang", murmelte sie belustigt und biss in ihr Croissant, das in ihrer Hand in tausend Teile zerfiel.   Auf der Bettkante sitzend sah Alvaro auf sein Telefon hinab und dachte nach. Moreno war also noch nicht gesund genug, um irgendwas zu tun. Soweit er Lidia verstanden hatte, war sein Gesundheitszustand wohl eher irgendwo kurz vorm Verrecken angesiedelt. Was besseres könnte ihm gerade nicht passieren, dachte Alvaro und entsperrte das Display seines Telefons zum fünften Mal. Er öffnete den Chat mit Gabe und sah das Foto, von dem Gabe behauptet hatte, es wäre nicht so schlimm. Und das war es auch nicht. Das Foto war wirklich schön und nicht das, was Alvaro zuerst befürchtet hatte. Es war wohl ein Promo-Foto von einem seiner Auftritte und laut Hintergrund hatte man es im Wassertank des Hydra aufgenommen. Gabe trug ein Kostüm. Oder ein halbes, denn sein Oberkörper war bis auf ein bisschen Bodypaint unbekleidet. Die untere Hälfte seines Körpers bedeckte ein glänzender Fischschwanz, der aussah, als wäre Gabe einem Film über Meerjungfrauen und Meermännern entsprungen. Mit geschlossenen Augen schwebte er umgeben von den echten Fischen, an die sich Alvaro noch gut erinnern konnte, durch das Wasser. Die Schuppen an dem künstlichen Fischkörper glitzerten in den Lichtstrahlen, die von allen Seiten in das Becken fielen, und die Schwanzflosse zog mehrere schleierartige Bahnen aus halbtransparentem Stoff hinter sich her, die sich wie Wolken um Gabe ausbreiteten. Er sah so friedlich aus, wie er da wie ein Fisch unter zig anderen Fischen im Wasser trieb, weit weg von allem, was außerhalb lauerte, und nur von perlenden Luftblasenströmen umgeben, dass Alvaro ein schlechtes Gewissen bekam, wegen den ganzen Hiobsbotschaften, die er ihm bisher überbracht hatte. Vielleicht wäre es von Anfang an besser gewesen, wenn er ihn in nichts davon hineingezogen hätte, denn der offensichtlich glückliche Gabe auf dem Foto war das totale Gegenteil von dem, den er bisher kennengelernt hatte. Melde dich bitte, tippte Alvaro in das kleine Feld über der Tastatur und schickte die Nachricht ab, auch wenn ihm klar war, dass sie wahrscheinlich nicht dort ankommen würde, wo sie sollte.     Gabe stand auf der schmalen Brücke, welche die völlig überfüllte Tanzfläche unter ihm überquerte, ohne dass ihn jemand von dort aus sehen konnte. Die Leute waren sowieso viel zu sehr mit sich selbst und der Frage beschäftigt, wen sie hier alles beeindrucken konnten, als dass es auch nur einem einzigen in den Sinn kam, dass sich nicht alles nur auf der Tanzfläche abspielte. Bis er sprang, jedenfalls. Der zylindrische Wassertank, der wie eine riesige Glasvase auf einem Podest mitten auf der Tanzfläche thronte, war bis auf das Wasser darin vollkommen leer. Keine Pflanzen, keine Fische, nicht mal Sand gab es. Dafür war er rundherum einsehbar und besaß eine doppelte Wand, die ebenfalls mit Wasser befüllt war und das in der jeweils passenden Farbe beleuchtet wurde, die, je höher es kam, immer schwächer wurde. Heute war das Wasser in der Zwischenwand Korallenrot und sprudelte so heftig, als würde es kochen. Sein Kostüm hier war auch nicht so aufwändig, wie die, die er üblicherweise im Hydra anhatte. Der einzige Stoff, den er trug, war eine knappe Hose, der Rest seines Körpers war mit Bodypaint überzogen, das dem Meerestier nachempfunden war, das gerade im Rampenlicht stand. Pterois radiata - Strahlenfeuerfisch, stand in diesem Quartal auf dem verzierten Metallschild, das am Fuß des Wassertanks angebracht war. Die Idee, hier auch mit Kostümen zu arbeiten, hatten Thomas und er gleich nach der ersten Probe wieder verworfen, weil seine Beweglichkeit in dem relativ schmalen Tank darunter gelitten hatte, und so hatten sie es bei der Farbe belassen, wegen der er zwar eine Stunde früher anfangen und später aufhören musste, aber dafür waren sie auch flexibler, was das Tauschen der Tiere anging. Und das Publikum kam auch nicht ins Abyss, um sich künstliche Fischschwänze anzusehen. Dafür war das Hydra gedacht, wo sich der Teil mit den Kostümen eher als Deko im Hintergrund abspielte. Hier im Abyss ging es nur darum, möglichst viele Leute mit möglichst spektakulären Aktionen in den Nachtclub zu locken und drin zu behalten, und die Idee mit dem Wassertank war scheinbar noch nicht allzu abgenutzt. Selbst Alvaro dürfte sich hier einigermaßen wohlfühlen. Verklemmt war er ja nicht gerade, das wusste Gabe seit ihrem Telefonat. Hätten sie das Thema nicht gewechselt, hätte er auch ein Foto bekommen, jede Wette. Vielleicht schaffte er es, sich bei Alvaro zu entschuldigen. Er konnte ja nicht wissen, welche Angst Gabe seit seiner Bemerkung hatte, dass er ihn und Jules in Sicherheit bringen sollte. Er hatte keine Ahnung, dass er damit eigentlich nur Gabes innere Unruhe, die er seit Thomas' Tod fühlte, noch mehr in Aufruhr versetzt hatte. Genaugenommen hatte Alvaro ihm nur unbewusst bestätigt, dass sein Instinkt ihn nicht getäuscht hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Am leichten Schwanken der Konstruktion, auf der er stand, merkte Gabe, dass noch jemand die Brücke betreten hatte.   Ohne hinzusehen wusste Gabe, dass es Liam, der Besitzer des Abyss, war, der sich ihm gerade über die schmale Brücke näherte. Er roch das teure Aftershave, das den Mann umgab, und kannte die Art, wie er ging. Bedächtig, aber selbstherrlich bis in die Haarspitzen kam er über die Brücke auf Gabe zu. Wie ein Großgrundbesitzer, der sein Eigentum abschritt - was er im Grunde auch tat. "Entschuldige die Verspätung. Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber etwas stimmt nicht mit deinem Telefon." Liams Stimme klang sanft wie immer. Nicht unbedingt, weil es ein Teil seines in seinen Augen sicher edlen Charakters war, sondern weil er wusste, dass er sich damit nahezu alles erlauben konnte. Selbst seine Entschuldigung klang wie eine in rosa Watte gepackte Lektion, dachte Gabe und lachte innerlich. Im Grunde war es Gabes Schuld, dass er nicht erreichbar war, war das, was er damit eigentlich sagen wollte. Schade, dass Liam nicht wusste, wie recht er damit hatte... Würde er Liam nicht kennen, wäre er sicher beeindruckt von dessen Gehabe. Er hatte seine Rolle, in die er irgendwann mal gepresst worden war, zur Perfektion ausgebaut. Liam war ein Hund, der bellte, auch wenn er es auf die indirekte, nicht ganz so aggressive Art tat. Er biss erst zu, wenn man ihm das Theater abkaufte. Direkt neben Gabe blieb Liam stehen und folgte dessen Blicken nach unten, wo die feiernde Menge wie im Rausch die Nacht durchtanzen würde. "Ganz schöner Betrieb", sagte er zu Gabe, der ihn nicht weiter beachtete und auf das Ende dieser Ein-Mann-Show wartete. "Dass es so gut läuft habe ich hauptsächlich dir zu verdanken." "Worum ging es denn?" Gabe, der mit dem Kopf schon längst bei seinem Auftritt war, warf dem Mann neben sich nun doch einen schnellen Blick zu, worauf der nur gewartet zu haben schien. "Um deinen Vertrag", antwortete Liam prompt. Er wartete kurz Gabes Reaktion ab, der sich aber unbeeindruckt wieder von ihm abwandte und damit fortfuhr, seine Muskulatur zu dehnen. "Ich würde ihn gerne auf deinen Namen ändern, nicht dass es Stress mit Behörden gibt, jetzt wo Thomas-" Liam stoppte kurz, als ihn Gabes entsetzte Blicke trafen. "Jetzt wo Thomas tot ist", fuhr Liam nicht ohne Genugtuung über Gabes doch noch erfolgte Reaktion fort. "Die Bedingungen bleiben alle gleich, keine Sorge", versicherte er Gabe großzügig, der am liebsten zuerst die Brücke und dann das Abyss verlassen hätte, wenn ihm Liam dabei nicht im Weg stehen würde. "Im Grunde ändert sich nur, dass du selbst drinstehst, statt Thomas." Stück für Stück warf Liam seine Giftköder aus. Einen davon würde Gabe schon fressen. "Du hättest am Ende sogar mehr Geld, weil der Aufwand wegen Thomas als Mittelsmann wegfällt." Liam ließ ihm bewusst etwas Zeit, um zu antworten, damit er sich in der besseren Position sah, aber darauf würde er heute verzichten müssen. "Ok, ich unterschreibe." Selbst wenn er Liam überrascht hatte, ließ der sich nichts anmerken. "Freut mich. Komm nachher ins Büro."   Gabe öffnete das Türchen am Brückengeländer und betrat die kleine Plattform davor, die gerade groß genug war, dass er darauf stehen konnte. Vorsichtig beugte er sich ein Stück weit vor und sah auf die Öffnung des Wassertanks hinab. Winzige Wellen zogen über das Wasser, in dem eine konstante künstliche Strömung erzeugt wurde, damit die Oberfläche weicher wurde und beim Eintauchen nicht zu viel Wasser aus dem Tank spritzte. Er hatte wirklich darüber nachgedacht, hier aufzuhören, aber damit würde wieder ein Teil von Thomas und ihrem gemeinsamen Projekt verschwinden. Etwas, das sie zusammen erarbeitet hatten und von dem eigentlich nur noch Liam profitierte. Gabe schloss die Augen und wartete auf seinen Einsatz, den Wechsel der Musik und das Zischen der Nebelmaschine, die den Zylinder von unten nach oben hin vollständig in einen dichten Schleier hüllen würde. Und in dem Moment, wenn nichts mehr von dem Wassertank zu sehen war, würde er das Geländer loslassen und sich nach unten fallen lassen. Ein Stück zu weit links oder rechts und er brach sich das Genick.   Kapitel 19: Gabriel -------------------     Die dichten Wolken, die unaufhörlich aus der Nebelmaschine quollen, erreichten jetzt fast die Brücke. Das rote Licht, das von unten im Takt der Musik durch den Dunst zuckte, ließ das Ganze wie das glühende Höllenfeuer eines brodelnden Geysirs kurz vor dem Ausbruch aussehen. Der Tank war bereits völlig von dem dichten Dampf eingehüllt und die Wasserfläche nicht mehr von dessen Außenseiten zu unterscheiden, als Gabe schließlich das Geländer losließ und sich fallen ließ. Der Luftstrom, den sein Körper im Fall verursachte, ließ die Nebeldecke aufwirbeln und Gabe fühlte den kurzen Schmerz auf seiner Haut, als er die Wasseroberfläche durchbrach, in den Tank eintauchte und die Geschwindigkeit augenblicklich abgebremst wurde, mit der er gerade noch nach unten gerast war. Das Wasser schäumte wild und schwappte in Wellen über den Rand des Tanks hinweg. Das aufbrandende Lachen der Leute, die in direkter Nähe des Wassertanks getanzt hatten, als die Tropfen auf sie hinab regneten, klang gedämpft und verzerrt durch das Wasser zu ihm. Das grelle Licht der Laser schnitt wie Klingen aus Licht durch den Nebel, der sich langsam senkte, und Gabe versuchte, jeden Gedanken an den Vertrag auszublenden. Wenigstens für die nächste halbe Stunde.     Auf alles gefasst betrat Gabe Liams Büro, das abseits des ganzen Betriebs in einem ruhigeren Teil des Abyss lag. Thomas hatte ihm einmal erzählt, was das Abyss vor Liams Übernahme war, aber Gabe hatte es vergessen. Jedenfalls war es im Vergleich zu Thomas' Büro, das hauptsächlich aus Glas und Metall und nur wenigen Holzelementen bestanden hatte, eher altbacken und trist. Holzverkleidete Wände dominierten hier und verstärkten den Eindruck, man würde das Büro eines Holzfällers betreten, anstatt den Arbeitsplatz eines Nachtclubbesitzers. Liam schien es nicht zu stören. Der einzige Versuch, sein Büro zu modernisieren, hatte darin bestanden, die schrecklich dunklen Wände hell zu überstreichen und einen neuen, glänzend schwarzen Boden verlegen zu lassen. Nicht ohne Genugtuung wusste Gabe um die nassen Flecken, die er gerade auf dem auf Hochglanz schimmernden Boden hinterließ. Er war gleich nach seinem Auftritt aus dem Wassertank gestiegen und hatte sich ohne sich abzutrocknen oder erst mal die Farbe vom Körper zu waschen, wie er es sonst tat, auf direktem Weg zu Liams Büro aufgemacht. Liam, der an seinem Schreibtisch saß, sah kurz auf, sagte aber nichts zu den nassen Fußspuren, die Gabe von der Tür her kommend bis zu seinem Schreibtisch hinterließ, obwohl er jede einzelne davon registrierte. Stumm schob er die Papiere, die er sich gerade ein letztes Mal durchgelesen hatte, über die Tischplatte nach vorne, wo zwei Besucherstühle standen. Gabe ignorierte die beiden Stühle, von denen Liam wohl erwartete, dass er in einem davon Platz nahm. Er war hier kein Bittsteller, dachte Gabe verächtlich und stellte sich genau zwischen Liam und dessen Schreibtisch. "Hat dir die Show gefallen?" "Wie immer", erwiderte Liam ruhig und schob die Papiere nun zu Gabes selbstgewähltem Platz hin. "Du warst unten und hast zugesehen." Gabe ließ es absichtlich nicht wie eine Frage klingen. Er kannte die Antwort darauf und Liam durfte es gerne wissen. Er blätterte durch die Seiten und las sich alles durch, während das Wasser aus seinen Haaren die Arme hinab direkt auf das Papier rann und dort eine kleine Pfütze unter seiner Hand bildete. Liam hatte nicht gelogen. Es war alles wortgleich mit seinem alten Vertrag. Kein Haken, was ihn wunderte. Er nahm Liam den Stift aus der Hand und unterschrieb. Flink glitt der Kugelschreiber über das Papier und zog eine Tropfenspur aus Wasser und Farbe hinter sich her. Liam hatte sich in seinem Bürosessel etwas nach hinten gelehnt. Einen Ellenbogen auf der Armlehne abgestützt ruhte sein Kopf auf dieser Hand. Still sah er dem Wasser nach, das an Gabes Arm hinabrann und auf die Tischplatte tropfte. An manchen Stellen war das Bodypainting verwischt. Die sich sonst klar voneinander abgrenzenden weißen und roten Streifen des Feuerfisch-Musters hatten sich untereinander vermischt, so dass alles irgendwie verschwommen wirkte. "Der ganze Aufwand für ein paar Stunden", murmelte Liam. Er sah hoch zu Gabe, der kurz innegehalten hatte und den Chef des Abyss aus dem Augenwinkel ansah. "Stört dich das nicht?" "Kein bisschen", verneinte Gabe amüsiert und setzte den letzten Punkt bei seinem Namen. "Es gehört halt zur Vorbereitung." Er drehte sich etwas zu Liam, der sich wieder die Farbe betrachtete. "Außerdem ist es mir lieber, wenn ich im Wasser so wenig Stoff tragen muss, wie möglich. Und die Leute schauen bei einem Körper genauer hin, wenn er auch wie ein Körper aussieht, anders als bei Stoff. Richtig?" Er betonte das Richtig und wartete dann geduldig, bis sich Liams Blicke wieder von seinen Armen lösten und nach oben wanderten, wo sie auf Gabes belustigt blitzende Augen trafen. "Oder gefällt dir das Bodypainting nicht?" "Doch schon." "Dann schau doch beim nächsten Mal in der Garderobe vorbei, wenn es aufgetragen wird, dann weißt du, dass es auch Spaß machen kann. Und wenn du willst, kannst du helfen. Ich komme überall hin, außer an den Rücken." Gabes offensichtliche Provokation ließ Liam nur müde lächeln. "Ich habe kein Talent im Malen." "Das brauchst du auch nicht", entgegnete Gabe prompt. "Du musst noch nicht mal wissen, wie man einen Pinsel hält. Die Hände reichen." Er schob den Vertrag zu Liam, der seine Hand darauf legte, um ihn entgegen zu nehmen, doch Gabe ließ noch nicht los. "Oder hast du Angst, dass dich die Leinwand zu sehr ablenkt? Das wäre das erste Mal, dass du keine Kontrolle hast, stimmt's?" "Ja, genau das ist der Grund." Liam lachte kurz auf, aber es klang nicht sonderlich ehrlich, sondern eher entlarvt, was Gabe sofort auffiel. Die Pause zwischen dem letzten Wort und dem Lachen war ein bisschen zu lang. Kommentarlos ließ Gabe den Vertrag los und sah zu, wie Liam ihn zu sich herumdrehte. Als der bei der Zeile mit Gabes Unterschrift ankam, neben der ein Wasserfleck samt roter Farbe prangte, fuhr sein Kopf hoch. "Ist das dein richtiger Name?" Liams Augen suchten in Gabes Gesicht nach irgendeiner Regung, die seine Frage bestätigte. "Ja, warum?" Liam sah wieder auf die Unterschrift. "Ich kannte nur den Namen, unter dem du hier auftrittst." "Wirklich?" Gabe war kurz davor, loszulachen. In manchen Dingen war Liam scheinbar ziemlich gutgläubig, auch wenn er sonst seine unnahbare Chef-Rolle perfekt spielte. "Der ist doch so offensichtlich absichtlich gewählt, dass es einem förmlich ins Gesicht springt." Liams Lächeln wirkte wie eingebrannt. LaRue war gar nicht mal so dumm gewesen. "Gabriel?" Gabes Blicke, aus denen jetzt das Erheiterte verschwunden war, schossen wie Pfeile auf Liam zu.     "Und du kannst wirklich so lange unter Wasser bleiben, ohne dazwischen aufzutauchen?" Thomas LaRue sah ungläubig zwischen dem jungen Mann und dem Schwimmbecken hin und her. "Musst du dabei an einer Stelle bleiben oder schwimmst du auch hin und her?" "Das spielt keine Rolle", antwortete Gabe amüsiert auf die ihn einprasselnden Fragen. "Du kannst mich gerne testen, wenn du mir nicht glaubst." LaRue dachte einen Moment nach, dann erhellte sich sein konzentrierter Blick. "Warte, ich bin gleich wieder zurück!", rief er Gabe zu und verschwand dann eilig in Richtung Umkleiden.   "Geht das?" Gabe sah auf die glänzenden Münzen, die ihm sein Gegenüber in der Handfläche präsentierte. "Sicher." "Die hatte ich noch-", begann Thomas LaRue zu erklären, doch Gabe unterbrach ihn direkt. "Wegen des Parkscheinautomaten, der Scheine frisst", lachte er. "Meine Schwester verflucht mich jedes Mal, wenn ich hier trainieren will und ihr erst im Parkhaus wieder einfällt, dass sie ihr ganzes Kleingeld in die Snackautomaten gesteckt hat." "Komisch, dass wir uns dann nicht schon früher am Automaten gesehen haben." LaRues Lachen hallte durch den Raum. "Bereit?" Gabe nickte und sah zu, wie Thomas LaRue die Münzen ein letztes Mal durchzählte und dann eine davon zwei Meter vom Beckenrand entfernt ins Wasser warf. "Willst du dich über mich lustig machen?", lachte Gabe auf. "Wirf sie weiter weg! Ins tiefe Wasser!" "Schön." LaRue holte aus und warf die restlichen Münzen in großem Bogen so weit er konnte. Das Wasser spritzte auf, wo sie eintauchten und einen kurzen Moment zweifelte Thomas LaRue an dieser Entscheidung. "Wenn du die nicht alle einsammelst, komme ich nachher nicht aus dem Parkhaus, und mein Fahrer hat heute seinen freien Tag und ist sonst wo unterwegs..." "Keine Sorge", Gabe ließ sich am Beckenrand nieder. Die Beine im Wasser hängend saß er eine Weile schweigend mit geschlossenen Augen da. Auf seiner Körpervorderseite spiegelten sich die Lichter des Wassers auf seiner Haut, unter der die Muskulatur beim Ein- und Ausatmen auftauchte und verschwand wie sanfte Wellen, die ans Ufer eines ruhigen Sees rollten. Kurz bevor Thomas LaRue ihm sagen konnte, dass er das nicht tun müsse und er sich schon irgendwo Kleingeld besorgen würde, glitt Gabe ins Wasser und tauchte sofort unter. Gebannt sah LaRue dem Schatten unter Wasser nach, der flink von einem Flecken zum anderen huschte, bis er irgendwann wieder dort an der Oberfläche auftauchte, wo er die erste Münze ins Wasser geworfen hatte.   Beeindruckt, aber auch erleichtert wartete LaRue auf den jungen Mann, der grinsend auf ihn zugeschwommen kam und ihm die Geldstücke in die Hand drückte. "Zähl nach", forderte Gabe sein Gegenüber auf. "Alle da", bestätigte LaRue fasziniert, während sich Gabe aus dem Becken zog und am Rand sitzen blieb. "Dann kannst du nachher ja beruhigt nach Hause fahren." LaRue sah auf die Münzen in seiner Hand hinab. "Ich glaube, ich bleibe heute nicht so lange." Dann gab er die Hälfte der Geldstücke dem jungen Mann. "Hier, für's nächste Mal." LaRue wartete, bis der andere ihn ansah. In seinen langen Wimpern hingen Wassertropfen, die nach und nach auf seine Wangen fielen. "Thomas", stellte er sich vor. "Gabe", antworte ihm sein Gegenüber lächelnd. "Nur Gabe, nicht Gabriel." Thomas sah verblüfft auf Gabe hinab, der ihn fröhlich angrinste. "Und warum nicht Gabriel?" "Weil mich meine Mutter so nennt, wenn ich etwas angestellt habe." "Schön, dann eben nur Gabe." LaRue hob die Hand zum Abschied und ging zum Ausgang des Beckenbereichs. Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal zu Gabe um, der ihm nachgesehen hatte. "Ich will ja nicht, dass du mich mal mit deiner schimpfenden Mutter verwechselst."     Gabe lächelte bei dieser Erinnerung an das erste Treffen mit Thomas. Aus Reflex wollte er Liam ebenfalls 'Nur Gabe' sagen, aber er merkte, dass es ihn im Grunde gar nicht interessierte, wie der ihn nannte. "War's das?", fragte Gabe, dem langsam die Mundwinkel wegen des Lächelns schmerzten, das sich falsch platziert anfühlte. Er steckte Liam den nassen Kugelschreiber in die Brusttasche seines teuren Hemdes, wo sich augenblicklich ein dunkler Fleck in dem Stoff bildete. Abwartend sah er zu Liam, der keine Anstalten machte, irgendwas gegen das nasse Hemd oder das andere Chaos zu unternehmen, dass Gabe hier bisher veranstaltet hatte. Äußerlich gelassen wartete Liam darauf, dass Gabe noch das loswurde, was ihm offensichtlich noch auf der Zunge brannte. Und er musste nicht lange warten. "Ich habe eine Idee für die nächste Show", presste Gabe mühsam hervor. Es schnürte ihm den Hals zu, weil es die letzte Idee war, die er und Thomas miteinander entwickelt hatten. Aber er musste sie endlich loswerden, selbst wenn es nur für einen einzigen Auftritt war. Hellhörig geworden setzte sich Liam etwas auf. "Komm bei Gelegenheit vorbei und wir reden darüber. Wie wär's mit morgen?" "Nein", war die unerwartete Antwort, die Liam ein kurzes, verärgertes Aufflackern in seinen Augen entlockte. Lächelnd schob sich Gabe zwischen Liam und seinen Schreibtisch, so dass er den Mann genau im Blick hatte, der noch immer unbeeindruckt wirkte. Er fühlte wie das Wasser weiter aus seinen Haaren rann, spürte jeden einzelnen Tropfen auf seiner Haut, die seine Brust, seinen Rücken und seine Beine hinab ein Wettrennen veranstalteten, und er sah Liams Blicke, die den Wasserperlen folgten, die im Licht der Schreibtischlampe funkelten, auch wenn er von Zeit zu Zeit aufschaute, als wäre ihm sein gewecktes Interesse daran schlussendlich doch unangenehm. Aber vielleicht war er auch nur wegen seines Bodens besorgt, dachte Gabe. "Reden wir jetzt darüber!" Gabe lächelte ihn treuherzig an, was Liam kurz irritierte. Seine Finger schoben nervös den Vertrag vor sich auf der Tischplatte hin und her. "Ich kenne ja dein Faible für giftige Tiere", begann Gabe möglichst bedächtig. Er wusste, dass er schon längst Liams vollste Aufmerksamkeit hatte, auch wenn der sich gab, als säße er hier in der langweiligsten Konferenz, die man sich nur vorstellen konnte. "Was hältst du von Seeschlangen? Die sind auch giftig." Gabes Zeigefinger strich über Liams Handrücken und drückte bei giftig kurz in die Haut. Liam zuckte zusammen und schaute dann auf seine Hand, als erwarte er, einen Biss dort zu sehen. Gabes Berührung, die nur wenige Sekundenbruchteile gedauert hatte, war eiskalt gewesen. Ob es am Wassertank lag, dachte Liam. Vielleicht sollten sie die Temperatur darin ein bisschen erhöhen. "Ja, warum nicht." Liam, der gerade nicht wusste, wohin mit seinen Händen, nahm den unterschriebenen Vertrag und legte ihn auf einen Papierstapel am Rand des Tisches. "Es müssen ja nicht immer Tiefseebewohner sein." Als Liams Hand unvorsichtigerweise wieder in seine Nähe kam, griff Gabe zu. Dieses Mal hatte Liam keine Chance, sie ihm zu entziehen. Gabe machte einen Schritt zur Seite, bis er auch die andere Hand erreichen konnte, ehe Liam auf die Idee kommen konnte, diese auch noch wegzuziehen. Liam, der aus seinem Bürosessel zu Gabe aufschauen musste, was ihm ganz und gar nicht passte, rutschte nervös auf seinem Platz herum. Das weiche Lederpolster des Sessels seufzte, als er sein Gewicht etwas von Gabe weg nach hinten verlagerte. Er kam hier nicht weg, dachte er. Direkt hinter ihm war nichts als die Wand und vor ihm blockierten Gabes Füße den Rollen den Weg nach vorne.   "Wusstest du, dass Seeschlangen an Land ziemlich träge und langsam sind?" Gabe machte einen Schritt auf Liam zu. Ihre Finger glitten ineinander. Liam hatte schöne gepflegte Hände, dachte Gabe nicht ohne Anerkennung und lächelte leicht. Zarte Handflächen und schmale, langgliedrige Finger. Dafür, dass er sie hauptsächlich dazu benutzte, um anderen ein Messer in den Rücken zu stoßen, waren sie unglaublich grazil, ohne aber etwas von ihrer Kraft einzubüßen, wie Gabe an dem sich nun verstärkenden Druck merkte, mit dem er sich halbherzig aus der unerwarteten Situation zu winden versuchte. Er hatte sich wohl noch nicht entschieden, ob er flüchten oder kapitulieren sollte. "Allerdings sind diese Biester im Wasser verteufelt schnell", fuhr Gabe in seiner Erklärung fort. "Kann sein", murmelte Liam betont beherrscht. Er sah zwischen Gabes überlegenem Lächeln und ihren Händen hin und her. Was auch immer Gabes Ziel war, er ließ sich nicht davon abbringen. "Ich kenne mich nicht mit Schlangen aus. Weder mit denen an Land, noch mit denen im Wasser." "Das musst du auch nicht. Ich habe schon eine Hübsche ausgewählt. Ihre Färbung ist wirklich eindrucksvoll." Gabe platzierte Liams Hände auf seiner Kehle und fühlte den kurzen, aber nur minimalen Widerstand in den fremden Fingerspitzen, als sie seine Haut berührten - als täte er etwas Verbotenes, bei dem die Bestrafung gleich folgen würde, dachte Gabe erheitert. "Die Unterseite ihres Körpers ist strahlend Gelb." Im Zeitlupentempo dirigierte er Liams Hände seinen Hals hinab zur Brust. Die rot-weißen Farbstreifen, die jemand erst heute Abend sorgsam aufgemalt hatte und deren Versiegelung langsam nachließ, verwischten unter Liams Handflächen, die weiter von Gabe geführt über dessen Oberkörper hinab strichen, jede Erhebung und Vertiefung darauf abtastend, bis sie auf Bauchnabelhöhe ankamen und dort kurz stoppten. Gabe musste Liams Finger bremsen, die unbewusst wie von einer unsichtbaren Strömung getrieben weiter über den bemalten Körper glitten, was Liam offensichtlich nicht direkt bewusst wurde, sondern erst, als er die Blicke hob und Gabes triumphierendes Lächeln sah. "Und ihre Oberseite ist vollkommen schwarz", erklärte Gabe und schob Liams Hände über seine Taille nach hinten zum Rücken hin, wo er wieder einen Moment inne hielt. Als er sich sicher war, dass Liam sie auch dort ließ, gab er sie frei. "Danke für die Lehrstunde über Schlangen." Liams Stimme klang rau und lange nicht mehr so distanziert, wie er es gerne gehabt hätte. Das unsichere Schwanken darin, das seine Gelassenheit überlagerte, ärgerte ihn kurz, aber Gabe sorgte dafür, dass er nicht besonders lange darüber nachdenken konnte. "Die Stunde ist noch nicht zu Ende", fuhr ihn Gabe augenblicklich in ungewohnt scharfem Tonfall an, der Liam sofort zum Schweigen brachte. Wie zum Trost strichen Gabes Hände nun über Liams Kopf, durch seine Haare und an den Schläfen hinab bis zu den glattrasierten Wangen, wo sie in ihrer Bewegung anhielten und ihren Griff wieder verstärkten, so dass er die Knochen unter dem nachgebenden Fleisch spüren konnte. "Weißt du, wie Seeschlangen jagen?" Liam blinzelte schnell und unterdrückte das Gefühl, mit der Zunge seine trockenen Lippen zu befeuchten. Wie Seeschlangen jagten, wusste er definitiv nicht, aber wie Gabe es tat, ahnte er gerade. "Keine Ahnung." Liam schüttelte langsam den Kopf, so weit es ihm Gabes fester Griff überhaupt ermöglichte. Sein Hals fühlte sich so ausgedörrt an als hätte er eine Tonne Sand verschluckt. Nur seine Hände, die still auf Gabes Rücken ausgeharrt hatten, wussten mittlerweile sehr gut, was sie wollten. Vorsichtig tastete er sich von Muskel zu Muskel, spürte die Wassertropfen unter seinen Fingerspitzen und den leichten gummiartigen Widerstand der Farbe darunter, die Gabes Haut bedeckte. "Sie lauern an der Wasseroberfläche und warten geduldig auf eine Bewegung im Wasser." Mit Genugtuung registrierte Gabe, wie sich Liams Hände über seinen Rücken bewegten, so langsam und vorsichtig, als rechneten sie noch mit etwas Unvorhergesehenem, das ihre neugierige Erkundung beenden könnte. "Und wenn sich ihnen ein ahnungsloses Beutetier nähert-" Er zog Liams Kopf etwas näher, der ihn aus seinen aufgerissenen dunkelgrauen Augen ansah und sich nicht mehr zu trauen schien, die paralysierten Blicke von Gabe abzuwenden. "Dann schlagen sie blitzschnell zu!", mit einem letzten heftigen Ruck zog er Liam so weit zu sich, dass sich ihre Münder fast berührten und er dessen Atem auf seinen Lippen spüren konnte, der bei dem letzten Satz eine überraschte Pause gemacht hatte, ehe er etwas verhalten wieder einsetzte. "Ihr Gift wirkt unglaublich schnell", Gabes Stimme war kaum lauter als sein Atem, "dass ihre Beute innerhalb weniger Sekunden vollkommen gelähmt ist." Er war versucht, den Mund mit den leicht geöffneten Lippen vor sich zu küssen, der sich ausnahmsweise seiner eigenen Machtlosigkeit bewusst war und schwieg, und er wollte sehen, wie sich die Lider mit den dichten Wimpern über den unruhig hin und her wandernden Augen ergeben schlossen, weil er akzeptiert hatte, dass er hier nicht mehr so einfach weg kam. Und er wollte endlich spüren, wie der Schwelbrand unter Liams disziplinierter Selbstbeherrschung, an der er sich so beharrlich festklammerte, letztlich in einem ungezügelten Flammensturm aufloderte, in dessen Feuer sie Beide zu Asche zerfielen - doch ein kleines Detail fehlte noch.   "Aber manchmal", flüsterte Gabe und beugte seinen Kopf zu Liam hinab, der jede Bewegung aus halbgeschlossenen Augen beobachtete. Schonungslos hielt er Liam, der ihn weiter an sich zu ziehen versuchte, noch auf Abstand. Diese Lektion war exklusiv für Liam gedacht und er bekam sie nicht so schnell, wie er es sich erhoffte. Gabes Mund strich quälend langsam über Liams Kinn, auf dem er das leichte Kratzen der nachwachsenden Bartstoppeln fühlen konnte, während dessen Hände stetig weiter seinen Rücken hinab glitten und sein Griff dabei immer ungeduldiger wurde. "Manchmal verspeisen sie ihre Beute auch direkt im Ganzen." Gabes Zähne gruben sich nun tief in Liams Unterlippe, der Gabe jetzt packte und auf seinen Schoß zog. Liam zuckte vor Schmerz kurz zusammen, als er spürte, wie seine Lippe unter Gabes erbarmungslosem Biss an einer Stelle aufplatzte, aber kein Laut entwich seinem Mund. Seine Hände suchten fiebrig nach dem Bund von Gabes Hose und schoben sich hektisch darunter, als sie ihn endlich erreicht hatten. Gabes Zähne ließen Liams Lippe los, der frustriert aufkeuchte. Der erste Ton überhaupt, den er seit langem von sich gegeben hatte. In aller Ruhe löste sich Gabe aus Liams Umarmung, dem das abrupte Ausbremsen alles andere als gefiel, und erhob sich von dessen Schoß - nicht zu weit, so dass dessen Hände nicht den Kontakt zu Gabes Körper verlieren konnten, stand er vor ihm und wartete, bis die aufgeregten Finger den Stoff seiner Hose über seine Hüften hinabgeschoben hatten und darunter die einzigen Hautstellen entblößten, die nicht mit Farbe bedeckt waren. Gabe lächelte stumm und ließ sich wieder in die Umarmung zurückziehen. Ein winziger Bluttropfen glänzte auf Liams Unterlippe und Gabe lehnte sich vor. Seine Zungenspitze glitt sachte über den Rubinroten Tropfen, der metallisch süß schmeckte, und sank dann zwischen die angespannt bebenden Lippen, die den Kuss begierig erwiderten. Niemand nannte ihn grundlos Gabriel.   Kapitel 20: Stück für Stück ---------------------------     Das Chaos aus mit Farbe vermischtem Wasser und zerknittertem Papier vor sich auf dem Schreibtisch ignorierend, sah Liam schon eine ganze Weile nachdenklich zur Tür hinüber, die sich vor einiger Zeit hinter Gabe geschlossen hatte. Die neuesten Fußspuren auf dem spiegelnden Boden, die vom Schreibtisch wegführten, waren bis auf schmale Kränze getrocknet und nur vereinzelt sah man noch die farbigen Abdrücke seiner Zehen. Sein Hemd, das Liam gerade im Begriff zu schließen war, war auch voller Farbe. Und seine Hose erst. Er hatte keine Ahnung, wie er das in der Reinigung erklären sollte. Die dunkelroten Flecken sah man ja wenigstens kaum, aber der Rest... Liam erhob sich und ging zu einer Wand aus Türen, die er vor den offenen Schränken nachträglich hatte einbauen lassen und hinter denen sich sämtliche wichtige Dokumente des Abyss befanden. Er öffnete eine Tür, die schräg hinter seinem Arbeitsplatz lag und die anstelle von mit Akten zugestellten Regalböden ein kleines Waschbecken und eine Kleiderstange enthielt, an der sorgsam auf Kleiderbügel gezogen seine Jacke und ein sauberes Hemd hingen. Finster blickte er in die Augen seines Spiegelbildes über dem Waschbecken, das ihm zuerst auf die gleiche düstere Art entgegen schaute, bis er die Farbstreifen sah, die sich seinen Hals hinab zogen, und die Bisswunde auf seiner Unterlippe, auf der das letzte Blut getrocknet war. Reflexartig fuhr seine Zungenspitze über die aufgeplatzte und angeschwollene Stelle und zuckte vor dem prompten Schmerz zurück, als sie sie berührte. Hastig befreite sich Liam aus seinem verschmutzten Hemd, das wie alte Haut an ihm klebte und auf dem sich die Wasserflecken mit dem starr getrockneten Bodypaint abwechselten, und warf es in den Mülleimer. Er lachte tonlos auf, als er seinen Oberkörper sah, über den sich wilde Farbwirbel nach unten bis zum Bund seiner Hose zogen und dann darunter verschwanden. Bis heute hatte er keinen einzigen Gedanken zu viel an irgendwelche Fische oder Schlangen verschwendet, so lange er nicht wusste, was sie ihm nutzten, und erst recht nicht an deren Muster, aber das, was ihm die zweibeinige Schlange heute hier hinterlassen hatte, war schon mehr, als er jemals hatte wissen wollen - und das äußerlich Sichtbare war das kleinere Übel davon. Er fühlte sich bis weit unter die Haut davon gezeichnet. Genauso wie Gabe es ihm voller unverhohlener Schadenfreude prophezeit hatte, hatte er das erste Mal die Kontrolle verloren, wobei es sich zu Anfang noch nach Abgeben statt Verlieren angefühlt hatte. Wäre da nicht dieser letzte Satz gewesen, mit dem er sich verabschiedet hatte. Die trockene Farbe rieselte wie Schneeflocken unter Liams Fingernägeln herab, als er testweise darüber kratzte. Er bekam nur die rissige obere Schicht davon zu fassen. Alles, was darunter lag, überzog seine Haut wie eingebrannter Lack. Das würde definitiv nicht reichen, um das Abyss an einem gut besuchten Abend wie diesem ungesehen zu verlassen, und die Dusche in der Umkleide würde er heute garantiert auch nicht benutzen. Wie ein Verbrecher würde er sich wohl mit gesenktem Kopf aus seinem eigenen Club schleichen müssen. Natürlich aus dem Seiteneingang, denn wer wusste, ob Gabe nicht wieder UV-Farbe benutzt hatte, wie letztens bei dem Kraken. Wenigstens hatte er noch ein frisches Ersatzhemd hier, mit dem er alles zwischen Kragen und Hosenbund bedecken konnte. Der Rest würde schon irgendwie zu schaffen sein. Sein trockenes Lachen klang so verzweifelt in seinen eigenen Ohren, dass Liam sofort damit aufhören musste, bevor er noch den Respekt vor sich selbst verlor. Er schloss den letzten Knopf an seinem frischen Hemd und ließ sich wieder in seinem Bürosessel nieder.   Zornig sah Liam auf das Chaos vor sich und zog Gabes neuen Vertrag mit dem wellig getrockneten roten Handabdruck von einem Papierstapel herunter. Noch einmal las er sich den Namen durch. LaRue war ein verfluchter Bastard gewesen. So weit im Voraus zu planen hieß entweder, dass er ihm von Anfang an nicht vertraut hatte, oder dass er nie ernsthaft vorgehabt hatte, sein Partner zu sein. Er hatte das Abyss für sich alleine haben wollen, auf die gleiche Art, wie er es davor schon mit dem Hydra angestellt hatte, das er ihm abgekauft hatte, als es noch ein stinknormaler Club unter vielen war, nur um es kurz darauf in das jetzige Hydra mit seiner spektakulären Show umzubauen. Liams Vorschlag, das Abyss genauso umzugestalten wie das Hydra hatte LaRue damit beantwortet, dass er mehr Anteile daran haben wollte - die meisten, um genau zu sein. Andernfalls würde weder Geld fließen, noch bekam er Gabe exklusiv für Auftritte im Abyss, worauf Liam eigentlich spekuliert hatte. Normale Mermaids gab es Dutzende, aber Gabe lockte jede Menge weibliche Gäste ins Abyss. Alles in allem hatte LaRue ihm die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, und er hätte so weitergemacht, weil er wusste, dass Liam die Forderung nicht mehr lange ablehnen konnte. Er hätte einfach abgewartet, bis das Abyss keuchend in seinen letzten Zügen lag, um es sich dann ganz zu nehmen. Seit ihm das bewusst war, kam Liam nur noch mit dieser immer schlimmer gärenden Wut hierher, die sich zuerst nur langsam im Hintergrund aufgebaut hatte, bis sie dann so groß geworden war, dass ihr Schatten alles andere verdeckte. Er hatte gehofft, dass sich ohne LaRue im Nacken alles erledigt haben würde, aber das Gegenteil war der Fall. Das Erbe, das der ihm vermacht hatte und mit dem er ihn ein letztes Mal verhöhnte, stand hier schwarz auf weiß - mit einem roten Handabdruck versiegelt. Liams Finger strichen über die Wunde an seiner Lippe. Es schmerzte, wo Gabe ihn gebissen hatte, aber es störte ihn nicht sonderlich. Gabe - Nicht Gabriel!, wie er ihn bevor er ging noch belehrt hatte - hatte ihn verletzen wollen. Er konnte zwar noch nicht einordnen, ob Gabe das tat, weil es ihm gefiel oder ob es aus Wut passiert war, die in dem Moment die Oberhand gewonnen und mit der er scheinbar diesen ganzen Auftritt absolviert hatte, aber er würde lügen, wenn er sagte, dass er keinen Gefallen daran gefunden hatte, mit welcher rohen, ungehemmten Energie sich Gabes Zähne in seine Lippe gegraben hatten. Als wollte er ihn verschlingen. Wenigstens kratzte er nicht, sonst müsste er sich noch eine Katze kaufen, falls man ihn auf solche Spuren ansprach. Liam lachte. Und dann, noch in Liams Umarmung, als ihre Körper einen atemlosen Augenblick lang noch in dieser angenehm schweren Erschöpfung verharrt hatten, hatte ihn Gabe wieder auf diese befremdlich zufriedene Art angesehen, mit der er ihm den Vortrag über das Jagdverhalten und das Gift von Seeschlangen gehalten hatte. Und dann hatte er Liam, der sich schon innerlich auf die nächste Attacke vorbereitete, einen harmlosen Kuss gegeben, ihm durch die Haare gestrichen und lächelnd das gesagt, was er sich wohl absichtlich für den Schluss aufgespart hatte, damit Liam es nie wieder vergessen würde: "Du hattest was damit zu tun, richtig? Mit Thomas' Tod." Es hatte sich angefühlt, als wäre LaRue noch einmal aus seinem verdammten Grab gestiegen, nur um ihn mit diesem überheblichen Lächeln anzusehen, mit dem er ihm über ein Jahr lang etwas vorgemacht hatte. Liam schmeckte das Blut aus der Wunde in seinem Mund, als das Fleisch unter dem Druck seiner Hand wieder aufplatzte. Sein Unterkiefer schmerzte, so fest biss er die Zähne zusammen. Ohne viel nachzudenken, griff seine Hand, in der noch sein eigenes Blut glänzte, nach dem Telefon. "Ich habe den Namen", sagte Liam so gefasst wie möglich, als der Anruf angenommen wurde. "Mir ist egal, wann und wo, aber nicht in der Nähe des Abyss!", beendete er den Anruf gereizt. Er nahm den neuen Vertrag, den Gabe gerade erst unterschrieben hatte, und zerriss ihn.     Gabe fühlte erst wieder, wie sich sein Kopf mit seinem Körper zu verbinden begann, als er in Nates Flur stand und das grüne Fahrrad anstarrte, das dort an der Wand zwischen Nates Schlafzimmer und dem Bad lehnte. Nate weigerte sich eisern, es endlich im Keller abzustellen, obwohl es den ohnehin schon schmalen Flur noch enger machte. Aber vor lauter Angst, dass es ihm gestohlen werden könnte, riskierte er es lieber, zehn Mal am Tag an dem scheiß Lenker hängen zu bleiben. Gott, wie oft war Gabe schon schlaftrunken aus Nates Zimmer gewankt und gegen dieses Drecksteil gestoßen... So leise er konnte, verschwand Gabe im Bad. Er hatte sich nach seiner Privatvorstellung bei Liam nicht einmal die Mühe gemacht, den letzten Rest des Bodypaints abzuwaschen, sondern hatte sich einfach angezogen, ein Taxi gerufen und war dann auf direktem Weg zu Nate gefahren. Und erst jetzt, wo er hier in dem vertrauten Badezimmer stand und alle Klamotten abgelegt hatte, schwand auch diese aufgestaute Spannung, mit der er Liams Büro verlassen hatte. Unwillkürlich musste Gabe lachen, als er an Liams schockierte Blicke dachte, nachdem er ihm die eigentliche Botschaft überbracht hatte, wegen der er überhaupt dort aufgetaucht war. Und das war praktisch erst die Ouvertüre gewesen. Er würde Liam vernichten, jede Spur von ihm auf diesem Planeten auslöschen, bis absolut nichts mehr von ihm übrig blieb. So wie er es mit Thomas getan hatte. Er würde Liam unter den Trümmern jedes einzelnen Projekts begraben, das nach Thomas' Tod in sich zusammengefallen war.   Das Geräusch der Dusche nebenan ließ Nate, der kurz aufgewacht war, als er das Türschloss gehört hatte, wegdämmern und erst wieder die Augen aufschlagen, als sich Gabe neben ihn legte. Seine Haut war vom Duschen eiskalt und Nate zog ihn schweigend an sich, bis er spüren konnte, wie Gabes Körper wieder Normaltemperatur erreichte. Oder wenigstens etwas über den Gefrierpunkt hinaus kam. "Immer noch der hübsche blaugeringelte Kraken?" "Feuerfisch", erwiderte Gabe müde. Nate seufzte leise. "Schade, Tentakel finde ich besser, als Giftstachel. Die sind so hinterhältig." "Dann warte mal auf die Seeschlange. Die beißt nur und sticht nicht." Wäre er wirklich ein Feuerfisch, dann hätte sich Liam bei jedem Kontakt mit Gabes Körper zweifellos vergiftet. Mehrmals sogar. Gabes Lächeln irritierte Nate kurz. Es sah so schaurig aus, wie jenes von vor ein paar Tagen im Treppenhaus, als er aus dem Schatten getreten war und sich nach Nates Telefon gebückt hatte. Und mit einem Wimpernschlag war es wieder verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, was ebenso beklemmend war. Genaugenommen war Gabe exakt wie dieser Fisch. So lange man wusste, wo man ihn zwischen all den Giftstacheln anfassen konnte, passierte nichts, aber eine falsche Berührung - Nate lachte nun leise, als ihm eine Situation ganz am Anfang ihrer damaligen Beziehung einfiel, bei der ihm Gabe so dermaßen fest eine geknallt hatte, dass er eine ganze Weile ein taubes Gefühl an der Stelle seines Gesichts gehabt hatte. "Was ist so lustig?", murmelte Gabe im Halbschlaf. Nates Körper bebte vor unterdrücktem Lachen. Er wandte sein Gesicht Gabe zu, der neben ihm lag und gerade genervt die Augen öffnete. Gabe sah in Nates Augen, in denen sich die Lachtränen zu sammeln begannen. Er hob die Hand und strich über Nates Gesicht, der, statt zu antworten, einfach weiter vor sich hin lachte, ohne ihm endlich zu sagen, weshalb er ihn damit aus dem gerade einsetzenden Schlaf gerissen hatte. "Warum lachst du so dämlich?", zischte ihn Gabe nun ungeduldig an. Seine Finger kniffen in die kleinen Grübchen neben Nates Wange, doch nicht einmal das konnte dessen Lachanfall stoppen. "Weißt du noch die Ohrfeige damals?", stieß Nate schließlich lachend aus. "Die hattest du verdient." Nates Lachen stoppte abrupt. Er riss die Augen auf und ließ seine Blicke an Gabe auf und ab wandern. "Das heißt, du bereust sie nicht?", rief er gespielt empört und lachte dann wieder. "Kein bisschen", antwortete Gabe gelassen und ließ Nates Wange los. "Und sie war wohl nicht fest genug, wenn du jetzt noch darüber lachen kannst." Endlich war der alte, widerspenstige Gabe wieder aus den Tiefen seiner neuen furchteinflößenden Menschenhülle aufgetaucht, dachte Nate bei sich. Er stützte sich auf einem Ellenbogen ab und sah auf Gabe hinab, der die Augen geschlossen und sein Gesicht Nate zugewandt hatte. Gabe versuchte die Hand zu ignorieren, die seinen Hals hinab strich und an seinem Schlüsselbein stoppte. Er hatte nie mit Nate über Thomas gesprochen. Er dürfte ihn überhaupt nicht kennen, außer als seinen Chef, falls Jules seinen Namen mal erwähnt hatte, aber ansonsten war nie ein Wort über Thomas zwischen ihnen gefallen. Er hatte alles, was Thomas anging, für sich behalten wollen. Nicht, weil sie das so abgemacht hatten - er fragte nicht bei Nate und der nicht bei ihm -, sondern weil er selbst damit beschäftigt war, alles einzuordnen, was diesen Menschen anging, der so plötzlich in seinem Leben aufgetaucht war. Obwohl Gabe derjenige war, der aufgetaucht war. Wortwörtlich.     Thomas LaRue hielt erschrocken in seiner Schwimmbewegung inne, als er das Hindernis bemerkte, das direkt vor ihm aus dem Wasser des Beckens auftauchte. "Entschuldigung", murmelte er und sah sein Gegenüber perplex an, das vor ihm im Wasser auf der Stelle trat und ihn amüsiert anlächelte. "Ich dachte, ich bin alleine, weil niemand im Becken war, als ich rein bin." Langsam legte sich der erste Schrecken über den plötzlich wie aus dem Nichts erschienenen jungen Mann. "Und ich schwimme sicher schon die zweite Bahn, ohne-" "Die dritte Bahn", korrigierte ihn der junge Mann und lachte dann über das schockierte Gesicht. "Ich habe gesehen, wie du ins Wasser bist." In Gedanken ging LaRue den Moment durch, als er den Poolbereich betreten hatte. Da war niemand gewesen. Weder am Rand, noch auf der Bahn, aus der er aufgetaucht war. "Ich war schon länger drin", war die belustigte Antwort, auf die Frage, die sich in Thomas LaRues entgeistertem Gesicht abzeichnete, ohne dass er sie laut stellen musste. "Wie macht man sich denn im Schwimmbecken unsichtbar?" "Unter Wasser." Gabes Lachen begleitete die fassungslosen Blicke des Mannes vor sich, die in Richtung Poolboden und dann wieder zurück zu ihm gingen. Ruhig schwamm er an dem Mann vorbei, der ihm nach wenigen nachdenklichen Augenblicken folgte.   "Ich übe hier Apnoetauchen." Gabe zog sich aus dem Wasser und blieb am Beckenrand sitzen, während Thomas LaRue, der sich mit einer Hand am Rand festhielt, langsam verstand. "Alleine, oder seid ihr eine ganze Gruppe?" "Nur meine Schwester und ich." LaRues vorsichtige Blicke glitten noch einmal über die Wasserfläche. "Ist sie auch - unter Wasser?" "Nein, keine Sorge." Gabe erhob sich. Er sah auf den Mann hinab, der noch immer alles zu erfassen versuchte, was er gerade an Informationen erhalten hatte. "Sie ist wahrscheinlich bei den Getränke-Automaten und flucht dort leise über mich, dass heute sicher der Tag ist, an dem ich hier ertrinke und dass sie dann garantiert keinen Fuß ins Wasser setzt, um mich zu retten." Thomas LaRue lachte.     Nate beugte seinen Kopf zu Gabe hinab und küsste den stumm vor sich hin lächelnden Mund. Er war nicht so dumm, dass er nicht wusste, dass dieses Lächeln, das ausnahmsweise beruhigend friedlich wirkte, eigentlich einen anderen Ursprung hatte. "Sagst du mir irgendwann, was mit dir los ist?" Die verärgerten Blicke, die Nate jetzt trafen, ließen sein beschissenes Gefühl nur noch stärker werden. "Wenn ich dir so zu harmlos bin, weißt du ja, wie du das mit ein paar Handgriffen ändern kannst", spielte Gabe unschuldig lächelnd auf die Ohrfeige an und Nate stieg prompt darauf ein. "Vielleicht will ich das ja?", neckte er Gabe und gab ihm einen sachten Kuss auf die Nasenspitze. "Eigentlich war es gar nicht so übel..." Gabe musste unwillkürlich lachen, während Nates Küsse seinen Hals hinab krochen, bis er an seinem Brustbein stoppte und seinen Kopf dort ablegte. Mit geschlossenen Augen hörte Nate dem dumpfen Pochen hinter den Rippen zu. Seine Hand zog sanfte Spiralen über Gabes Brust. "Ich freue mich darauf, wenn du hier wieder einziehst", murmelte Nate leise. "Wenn du möchtest, behalten wir die getrennten Schlafzimmer, aber wenn wir uns eins teilen, hätte Jules zwei eigene Zimmer." "Wie großzügig von dir!", zog ihn Gabe auf und Nate lachte ertappt. "Und was ist, wenn ich mal Besuch habe?" "Dafür bräuchten wir dann wohl einen Plan", versuchte Nate zu scherzen und hoffte, dass Gabe den bitteren Unterton nicht heraushörte. Seine Hand glitt Gabes Rippen hinunter zu seiner Taille und wieder hoch. "Ja, mal schauen. Alleine schon für dein Bett lohnt sich der Umzug", seufzte Gabe. Nate hielt inne und sah irritiert hoch, doch Gabe schien in Gedanken schon wieder weit weg zu sein. Er lachte den kurzen Zweifel weg und konzentrierte sich wieder auf Gabe, der unter seinen Berührungen erschauerte. "Nate?" Gabes Stimme klang schwer. Seine Hand fuhr durch Nates unordentliche Haare, der so tat, als höre er ihm nicht zu. Gemächlich glitten Gabes Finger durch die seidig glänzenden Strähnen und hinterließen Furchen darin, die mit dem nächsten Drüberstreichen wieder verschwunden waren. Immer, wenn er auf das, was Nate tat, reagierte, hielt der kurz inne, als teste er nur aus, was Gabe mochte und Gabes Körper konnte sich nicht entscheiden, ob er sich von Nates Hand und seinen Lippen, die sachte und warm über seine Haut glitten, weg oder sich ihnen zuwenden sollte. "Nate, deine Hand!" Statt einer Antwort fühlte Gabe nur den abgehackten Atem von Nates Lachen auf seinem Bauch. Seine Hand packte nun fest in den Haarschopf und zog Nates Kopf an den Haaren so weit nach hinten, bis der ihn anschauen musste. "Du bist kurz vor deiner nächsten Ohrfeige", warnte Gabe seinen Freund. "Ich weiß", flüsterte Nate grinsend. "Gut, dann bist du ja darauf vorbereitet." Gabe erwiderte das breite Grinsen. Noch einmal schüttelte er warnend seine Hand mitsamt Nates Haarschopf darin und ließ dann los. Und wie er Liam vernichten würde! Stück für Stück.     Der Schlüssel glänzte zwischen Alvaros Fingern, aber er brachte es nicht über sich, ihn in das Schloss vor sich zu stecken, ohne sich nicht wie ein Verbrecher zu fühlen. Das Hoftor war schon schlimm genug gewesen. Aber er hatte jetzt lange genug gewartet, wie er fand, und da Gabe sich weiter weigerte, auf irgendeinen Kontaktversuch einzugehen, und Alvaro während der Woche nicht immer die Zeit hatte, mal eben so zwei Stunden hierher und wieder nach Hause zu fahren, nur um zu schauen, ob Licht brannte, hatte er heute Abend das erste Mal den langen Weg auf sich genommen, mit dem Vorsatz nachzusehen - egal, wie es enden würde. Lidia hielt ihn zwar weiter auf dem Laufenden, was Moreno anging, der sich noch auskurierte und die Zeit zwischen seinen Arztbesuchen zuhause verbrachte, aber das Zeitfenster schloss sich langsam. Alvaro steckte den Schlüssel zurück in seine Jackentasche und klopfte nun an der grünen Holztür. Es dauerte etwas, aber dann hörte er dahinter endlich vorsichtige Schritte, die dicht an der Tür anhielten. "Ja?", fragte eine leise Stimme misstrauisch. Das konnte nur Jules sein, dachte Alvaro ein bisschen erleichtert. Gabe hätte Alvaro schon aus der Entfernung gewittert und die Tür aufgerissen, um ihn verbal zusammenzufalten, was er sich erlaubte, hier aufzutauchen. "Ich bin's, Alvaro." Die Tür öffnete sich nicht weniger schwungvoll als bei Gabe, aber im Gegensatz zu ihrem Bruder, sah ihn Jules zuerst bestürzt an, als wäre Alvaro ein Geist, nur um ihm dann fröhlich lachend um den Hals zu fallen - nun, fast. Sie kam bis auf Brusthöhe, aber ihr Griff um seine Taille war beeindruckend fest. "Dieser dämliche Idiot!" Jules klang gleichzeitig verärgert und erleichtert. "Also hat Gabe doch gelogen!" "Womit?", hakte Alvaro verblüfft über diese schnelle Wendung nach. "Er hat gesagt, du hättest zu viel zu tun, um noch mal herzukommen." Jules' Umarmung wurde etwas lockerer. Mehr als ein ratloses Oh brachte Alvaro nicht über die Lippen. Er wusste nicht, ob Gabe seiner Schwester auch erzählt hatte, was zu dieser Annahme geführt hatte. "Soll ich lieber gehen? Nicht, dass es Stress gibt." "Auf gar keinen Fall!", lehnte Jules Alvaros Einwurf mit Nachdruck ab und zog ihn in den Flur hinein. "Gabe kommt sowieso erst morgen nach Hause. Die Show im Abyss wechselt bald wieder, aber er will mir nicht verraten, was dann an der Reihe ist." Alvaro nickte brav, ohne ein Wort davon verstanden zu haben. "Hast du Zeit, oder musst du gleich wieder weg?" Jules' hoffnungsvolle Blicke ließen Alvaro das beunruhigende Gefühl vergessen, mit dem er hier angekommen war. "Nein, nein, kein Problem, ich habe Zeit." Neuerdings hatte er die meisten Wochenenden frei... "Sehr gut!", rief Jules und schob Alvaro weiter durch den Flur bis ins Wohnzimmer. "Dann können wir uns ja heute was zu Essen bestellen." "Sicher." Das kam zwar alles ungeplant, aber das Ergebnis war das gleiche. Jules und Gabe ging es gut. "Welches Restaurant?" "Restaurant?" Jules lachte. "Wie immer: Romero's." "Klar, Romero's", wiederholte Alvaro und gab den Namen in die Suchmaschine ein und seufzte gleich darauf. Es gab gleich drei Pizzerien mit dem offensichtlich beliebten Namen Romero's. "Hast du zufällig die Nummer?" "Hängt am Kühlschrank", war die schnelle Antwort von Jules, die ihre tausend Snacktüten auf dem kleinen Wohnzimmertisch einsammelte und in die Küche brachte, wo sie sie in Schubladen und Schränken verstaute.   Von vorne nicht sichtbar, fand Alvaro wie von Jules erklärt tatsächlich die Karte an der Seite des Kühlschranks, wo sie zwischen zig anderen Notizen, Fotos und Menükarten hing. Er konnte noch nicht mal sagen, ob das auch damals, als er das erste Mal hier gewesen war, überhaupt schon alles dort gehangen hatte. Es war einfach alles voll und er hatte es übersehen. Alvaro schmunzelte, als er die gelben Notizzettel sah, die denen ähnelten, die in der Umkleide des Hydra am Spiegel hingen. Nur stand hier nicht 'Einfach schwimmen', aber in der gleichen Handschrift 'Herd nicht anschalten' und gleich daneben 'Backofen auch nicht!'. 'Nicht so viele Snacks kaufen', stand auf einem dritten Zettel, worüber Alvaro lachen musste, denn an diese Anweisung hatte sich Jules definitiv nicht gehalten - er hatte gerade einen Blick in die vollgestopften Schränke werfen können... Seine Blicke wanderten weiter über die teils lustigen Notizen, die, wenn er die Handschrift berücksichtigte, nur von Jules stammen konnten. 'Nate anrufen' las er auf einer anderen Notiz und direkt unter diesem Satz stand etwas kleiner und in anderer - vermutlich Nates' - Handschrift 'Aber nicht 20x pro Minute!!!'. "Hast du die Karte gefunden?", riss ihn Jules' Stimme aus den Gedanken, die gerade in die Küche gehuscht kam, etwas aus dem Schrank neben Alvaro nahm und damit verschwand. "Ja", antwortete Alvaro und betrachtete sich die Speisekarte, die nur aus einer einzigen Seite bestand. Ihm lag die Frage auf der Zunge, was Jules essen wollte, als ihm im gleichen Augenblick die kleinen Punkte auffielen, die vor manchen Speisen aufgemalt waren. Er nahm sein Telefon und bestellte kurzerhand alles, was markiert war. Während man seine Bestellung am anderen Ende wiederholte, blieben Alvaros Blicke an einem Flyer hängen, der am gleichen Magneten hing, wie die Anweisung, Nate anzurufen. Abyss stand in neongrünem Schriftzug auf dem Werbezettel. Er hatte den Namen schon mal gehört. Gerade eben erst. Mit einem Ruck zog Alvaro den Flyer unter dem Magneten hervor. Darauf zu sehen war ein Glaszylinder, der wie aus dem Labor eines Alchemisten wirkte. Von bunten Lichtern bestrahlt, brodelte etwas in seinem Inneren, das man durch den dichten Nebel, der ihn füllte und oben über den Rand quoll, nicht erkennen konnte, doch es sah aus, als greife darin eine Hand aus dem Dunst nach der Glaswand. Und genau dort, wo eigentlich der Rest dieses ominösen Inhalts zu sehen wäre, versperrte ein dicker schwarzer Balken den Blick, auf dem in grellen Buchstaben 'Neue Show!' prangte. Hatte nicht Jules die neue Show erwähnt, wegen der Gabe unterwegs war? Irgendwas, das wechselte? "War das alles?", hörte Alvaro wie aus weiter Ferne eine Stimme an seinem Ohr. "Ja, ja", antwortete er abwesend und beendete den Anruf. Noch einmal sah Alvaro auf den Flyer. Wie automatisiert griff er in seine Jacke und nahm den Kalender aus der Innentasche. Er brauchte fünf Sekunden, bis er die GPS-Daten der Adresse einem Eintrag im Kalender zuordnen konnte. Die Daten waren wie schon zuvor beim Hydra in ungeordneter Reihenfolge notiert, aber die Adresse stimmte. Und schlimmer: es war die letzte im Kalender notierte Adresse vor dem Mord an LaRue. Alvaro überlief es eiskalt. Wenn er recht behielt, war dieser Club der Schlüssel zum Tod seines Chefs. Oder er fand den Schlüssel an diesem Ort, der letztendlich alles aufklärte. Er musste unbedingt dorthin. Sofort! Das musste er jetzt nur noch Jules klar machen.   Kapitel 21: Der Skorpion & der Revolverheld -------------------------------------------   Seinen Plan, sich zu entschuldigen und dann so schnell es ging hier wegzukommen, blieb Alvaro augenblicklich im Hals stecken, als er das Wohnzimmer betrat und sah, was Jules in der Zwischenzeit, in der er das Essen bestellt und den Flyer des Abyss entdeckt hatte, alles vorbereitet hatte. Der kleine ovale Wohnzimmertisch war nicht nur abgeräumt, sondern komplett gedeckt. Tischdecke, Teller, Besteck und vermutlich die besten Gläser, die sie hier hatten, waren sorgfältig darauf angeordnet, so dass Alvaro sein Vorhaben, Jules zu sagen, dass er leider doch wieder gehen musste, sofort abbrach. "Hast du Feuer?" Jules zeigte auf ein großes Glas, das wie ein Einmachglas aussah und bei dem Alvaro erst auf den zweiten Blick erkannte, dass es sich um eine Kerze mit mehreren Dochten handelte. Nacheinander zündete Alvaro alle Dochte an, deren warmes Licht sogleich den ansonsten eher tristen Raum ein wenig freundlicher wirken ließ. Was für eine bizarre Szene er hier vorfinden würde, wenn Gabe doch schon heute nach Hause käme. Alvaro musste bei dem Gedanken schmunzeln. Zufrieden erwiderte Jules sein Lächeln, wenn auch aus einem anderen Grund.   Als es an der Tür klingelte, sprangen Alvaro und Jules gleichzeitig von ihren Sitzplätzen auf. "Ich gehe schon", wimmelte Alvaro Jules' einsetzenden Protest ab und wartete, bis sie sich wieder hingesetzt hatte, bevor er das Wohnzimmer verließ. Jules lachte laut auf, als Alvaro wenige Minuten später mit den Armen voller Kartons und silbernen Schalen in der Tür zwischen Flur und Wohnzimmer auftauchte. Sein ratloses Gesicht setzte dem Ganzen erst die Krone auf. "Wen hast du denn noch alles eingeladen?", rief Jules mit Lachtränen in den Augen. Vorsichtig stellte Alvaro den Stapel auf der Küchentheke ab. Das erklärte dann die drei irrwitzig großen Flaschen mit Getränken, die man ihnen dazu geschenkt hatte und die noch draußen im Flur auf der wackeligen Kommode standen. Man dachte wohl, hier fände eine Party statt. "Tiramisu!", jubelte Jules, die die Kartons und Schalen nacheinander öffnete und den Inhalt mit immer größer werdenden Augen inspizierte. "Das hatte ich schon ewig nicht mehr." Sie trug die Schale mit dem Dessert feierlich wie etwas wirklich kostbares zum Wohnzimmertisch und stellte sie dort ab. Und Alvaro folgte ihr mit dem Rest. "Davon habe ich immer schon geträumt!" Mit glücklich strahlenden Augen verteilte Jules Löffel in den Schalen mit Pasta und Salaten. "Einfach bestellen, was man möchte und dann von allem probieren. Wie bei einem Buffet. Nur ohne fremde Menschen." Sie schob einen niedrigen Hocker an den Tisch und nahm darauf Platz. Was für eine Katastrophe, dachte Alvaro und sah auf das Chaos aus Pizzakartons, Silberschalen mit dampfender Pasta und Knoblauchbrot. Seine Blicke blieben an Jules hängen, die eifrig von allem etwas auf einen Teller schöpfte, den sie dann Alvaro, der ihr gegenüber auf dem Sofa saß, in die Hand drückte. Er hatte nicht mal sonderlich Hunger, aber Jules wirkte so glücklich und der aufgeregte Moment, das unruhige Kribbeln, das ihn erfasst hatte, als er das Abyss gefunden hatte und das ihn beinahe sofort losstürmen gelassen hätte, hatte sich endgültig gelegt, als er die Freude gesehen hatte, mit der Jules jede einzelne Speise betrachtet und daran gerochen hatte. Alvaro spießte eine Garnele auf seine Gabel und hob sie zu seinem Mund. Der scharfe ölige Geschmack von Knoblauch und fruchtig süßer Tomatensauce ließ ihn die Gabel direkt eine zweite Portion aufspießen. Es war das erste Mal, dass er diese Kombination aß und sie schmeckte fantastisch. Jules' vergnügtes Lächeln stoppte für den Windhauch einer Erinnerung an einer Schale vor sich. Ihre Mundwinkel sanken einen Sekundenbruchteil nach unten und sprangen gleich wieder in die Höhe. "Das hatte sich Thomas immer bestellt", sagte sie und zeigte auf die Nudeln und Garnelen in roter Sauce, von denen Alvaro gerade etwas aß. Alvaro sah auf seine Gabel hinab, auf der er schon den nächsten Bissen aufgespießt hatte. Die gerade aufgewickelten Spaghetti wickelten sich in Spiralen wieder ab. Das hier wurde immer skurriler. Egal, wie er es versuchte, er konnte sich LaRue nicht vorstellen, wie er hier in dieser winzigen Bude saß und Pasta mit Garnelen aß. Er kannte ihn nur wie er mit Geschäftsleuten in aberwitzig teuren Restaurants essen ging, in denen man noch an den Tisch begleitet wurde und auf deren Menükarten garantiert keine einzige "Kinderportion" existierte. Selbst die Restaurants, in denen er mal mit seiner Familie essen ging, hatten Servietten aus Stoff, statt Papier. Obwohl das hier den Gören sicher tausend mal lieber wäre, als irgendwo in einem sterbenslangweiligen Restaurant still am Tisch sitzen zu müssen... Alvaro schob sich den mittlerweile kalten Bissen in den Mund und stieß jeden Gedanken an LaRue beiseite.   "Also", begann Jules, nachdem sie mit Essen fertig und beim Dessert angelangt waren. Sie thronte im Schneidersitz auf ihrem Hocker vor Alvaro und betrachtete ihn genau, als müsste sie noch etwas neues an ihm entdecken. Ein kleiner schimmernder See aus Wachs bedeckte die schief heruntergebrannte Oberfläche der Kerze, so dass zwei der drei Dochte bereits mit einem leisen Zischen darin erloschen waren und Jules Gesicht nun etwas mehr im Schatten lag, als am Beginn ihrer Mahlzeit. Still wartete Alvaro auf das Ende des Satzes, an dem Jules wohl noch gedanklich etwas feilen musste. "Was war das Dümmste, was du bisher getan hast?", platzte es schließlich aus ihr heraus, als ihre Neugierde überwog. Gebannt sah sie Alvaro an, der nachdenklich blinzelte. "Du meinst so etwas, wie: für zehn Leute Essen zu bestellen, wenn man nur zu Zweit ist?" Jules legte den Kopf in den Nacken und lachte hell auf. "Nein, was richtig Dummes!" Alvaro schwieg. "Geht auch das Zweitdümmste?", hakte er vorsichtig nach. "Okay, ausnahmsweise. Aber nur, wenn es auch wirklich sensationell ist!", willigte Jules großzügig ein und rückte den Hocker noch etwas näher an den Tisch heran. Sie wollte keine einzige Information verpassen! Ihre Blicke hafteten aufmerksam an Alvaro, der einen Moment an ihr vorbei sah, bis er sich entschlossen hatte. "Ich habe mal einen giftigen Skorpion angefasst." Jules Augenbrauen hoben sich erstaunt. "Das ist wirklich dumm", murmelte sie beeindruckt. "Ich war ja noch ein Kind", wiegelte Alvaro schnell ab. "Mit Neun hatte ich nur Unfug im Kopf." Alvaro erinnerte sich noch gut an die Faszination, die er als kleines Kind bei diesen hübschen glänzenden Tierchen empfunden hatte, die unter den sonnengewärmten Steinen im kühlen Sand gelegen und dort im Schatten vor sich hin gedöst hatten. Und er erinnerte sich an die unzähligen Steine, die er auf der Suche nach den Tierchen umgedreht hatte, bis er endlich ein schönes gefunden hatte. Ihre fragilen Körperglieder glichen Perlen, die man an Drähten aufgereiht hatte und er hatte unbedingt wissen wollen, wie sie sich anfühlten. Jules' ergriffene Blicke wichen keinen Millimeter aus Alvaros Gesicht. "Wurdest du gestochen?" Alvaro nickte. "War es knapp?", hakte Jules atemlos nach. Alvaro nickte noch einmal. "Ziemlich." Jules hatte das Tiramisu jetzt völlig vergessen, das vor ihr auf dem Tisch stand. Die Gabel mit dem ersten Bissen davon sank auf den Teller zurück und verharrte dort in der Kakaobestäubten Creme des süßen Desserts. Sie wollte unbedingt wissen, was passiert war, auch wenn sie ja direkt vor Augen hatte, dass es gut ausgegangen war. "Weißt du noch, wohin du gestochen wurdest?" Alvaro rückte näher zur Tischplatte und hielt Jules zwischen Pizzakartons und Salatschalen hindurch seine linke Hand hin. Unter seinem Zeigefinger zog sich eine schmale, gerade Narbe über die Handfläche hinunter zu seinem Daumen. Jules nahm Alvaros Hand in ihre und zog sie näher zu sich heran. Ihr Zeigefinger fuhr sachte an der silbrig schimmernden Narbe entlang, die man kaum sah, wenn man nichts von ihr wusste. "Ich dachte immer, die Stiche seien kleiner", wisperte sie mit brüchiger Stimme. "War er auch", erwiderte Alvaro. Er nickte zu seiner Hand. "Das war mein Vater." Er hatte die Einstichstelle mit seinem Taschenmesser aufgeschnitten und mit seinen riesigen Händen so fest zugedrückt, dass sich Alvaros Handknochen darunter verschoben und wie trockene Äste geknackt hatten. Er hatte vor Schmerzen geschrien, als die fragilen Knochen unter der Kraft seines Vaters brachen und er erinnerte sich an die Angst, die er als kleiner Junge gehabt hatte, als er den rubinroten Blutstrom sah, der aus dem Schnitt in seiner Hand quoll, zwischen den Fingern, die taub vor Schmerzen waren, hinablief und in den Sand tropfte. Er hatte das Blut noch schlimmer als den Stich gefunden, aber sein Vater, den er das erste Mal panisch vor Angst erlebte, hatte ihm schnell klargemacht, dass das Ergebnis des Stichs tödlich sei. Das Blut bilde sich wieder neu und die Knochen würden auch wieder zusammenwachsen. Und dann wusste er nur noch, wie es grell in seinen Ohren gerauscht hatte, kurz bevor er das Bewusstsein verloren und dann neben der Pfütze seines eigenen Blutes in den Sand gefallen war. Am gleichen Abend hatte er auf dem lauten und überfüllten Flur im Krankenhaus gesessen, auf seine verbundene Hand hinab geschaut und den Schnitt, die gebrochenen Knochen und den Skorpion, den sein Vater zertreten hatte, beweint. "Pass auf, was du anfasst", hatte ihm sein Vater noch energisch eingetrichtert, während er ihm den Schmutz, in dem seine Tränen helle Spuren hinterlassen hatten, aus dem Gesicht gewischt hatte. "Auch wenn es harmlos aussieht, kann es tödlich sein. Gift ist meistens farblos und nicht jedes Lebewesen warnt dich vor, bevor es zubeißt oder sticht. Verstanden?" Ohne aufzusehen hatte Alvaro stumm genickt. Er hatte sich zu sehr geschämt, um noch mal in das Gesicht seines Vaters zu schauen, in dem man selbst Stunden nach dem Vorfall noch die Angst in den Augen sehen konnte, die er wohl das erste Mal in seinem Leben wirklich gehabt haben musste. Erst Jahre später hatte ihm sein Vater dann erzählt, was in dem Moment in ihm vorgegangen war, die Vorwürfe, die er sich selbst gemacht hatte, seinen Sohn selbst schwer verletzen zu müssen, um ihm das Leben zu retten.   Als der letzte Docht der Kerze erlosch und eine dünne starre Haut das aushärtende Wachs überzog, hob Jules endlich wieder ihre Blicke von Alvaros Hand, die sie in ihren eigenen Händen hielt, als wollte sie ihm die Zukunft daraus vorhersagen. Alvaro hätte sterben können, wenn sein Vater nicht in der Nähe gewesen wäre, war der einzige Gedanke, der es in ihrem übervollen Kopf gerade an die Oberfläche schaffte. Welche Angst er wohl gehabt haben musste, obwohl er als Kind sicher nicht gewusst haben konnte, was es tatsächlich bedeutete, zu Sterben. Es war die gleiche Angst die sie selbst fühlte, seit ihre Mutter starb, als sie gerade nicht bei ihr war, und sie war kein Kind mehr... "Wenn das das Zweitdümmste war, das du jemals getan hast, will ich das Dümmste lieber doch nicht wissen", murmelte Jules bedrückt, als sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte. "Jetzt bist du dran", erinnerte Alvaro sein Gegenüber an ihre unausgesprochene Abmachung. "Die Geschichte mit dem Skorpion kann ich nicht toppen", lachte Jules trocken auf. "Das ist ja eine wirklich billige Ausrede." Grinsend wartete Alvaro auf Jules' weitere Ausreden, doch die junge Frau war ungewöhnlich still geworden. Ihre Hände, die Alvaros Hand noch immer umklammerten, wurden kälter. Irgendetwas stimmte nicht, dachte Alvaro, während er langsam aufstand, ohne Jules' Hände loszulassen und sie von ihrem Hocker auf die Beine hoch zog. "Was ist denn?", sprach er sie so ruhig wie möglich an. Sie wirkte wie weggetreten, ihre Blicke fanden keinen Halt und schwirrten wie ängstliche, gefangene Vögel durch den Raum, auf der Suche nach dem Ausweg. Vorsichtig führte er sie um den Tisch herum zum Sofa, wo er ihr half, sich hinzusetzen. "Erinnerst du dich noch an die Ärztin, bei der wir waren?", stieß sie kaum hörbar aus. "Ich fühle mich wieder wie damals, kurz bevor du mich dorthin gebracht hast." Er hatte keinen Schimmer, was Jules meinte. Sie verwechselte ihn wohl mit Gabe, oder mit Nate - oder mit LaRue. "Wir rufen Gabe an, der hat die Nummer sicher", redete Alvaro Jules möglichst sorglos zu, die stumm nickte und ihr Telefon in die zitternden Hände nahm. "Könntest du? Ich-meine Hände", stammelte sie mit brüchiger Stimme und gab ihr Telefon an Alvaro. Ohne Jules aus den Augen zu lassen, wählte er Gabes Nummer. Bei seiner Schwester würde er ja sicher drangehen - doch der Anruf wurde ebenso wie seine eigenen direkt an die Mailbox geleitet. Ratlos sah Alvaro auf die Anrufliste und wählte dann den Kontakt, den Jules davor als Letztes angerufen hatte.   "Hey Jules, alles klar?", begrüßte Nate die vermeintliche Anruferin und zuckte erschrocken zusammen, als ihm stattdessen eine männliche Stimme antwortete. "Hier ist ganz und gar nichts klar", raunte die Stimme, die er nicht gleich zuordnen konnte, die ihm aber aus irgendeinem anderen Zusammenhang seltsam vertraut war. "Der Psycho mit dem Schlüssel", stieß Nate fassungslos aus, als es ihm schließlich wie Schuppen von den Augen fiel. Jules zuliebe ignorierte Alvaro diese neue, nicht besonders schmeichelhafte Bezeichnung vorerst. "Gib mir mal Gabe, hier stimmt was nicht." Es raschelte und Alvaro hörte die kurze Diskussion am anderen Ende der Leitung. "Was willst du denn?", zischte ihn Gabe wütend an, noch ehe Alvaro ein Wort herausbrachte. "Hast du es dir endlich überlegt und verrätst mir, wovor du uns in Sicherheit bringen sollst?" Schockiert sah Nate zu Gabe, doch der schüttelte nur abweisend den Kopf, während er Alvaros Erklärung zuhörte. "Ich komme", antwortete Gabe nun nicht mehr ganz so ungehalten und beendete den Anruf. "Was sollte das mit dem-", begann Nate und wurde auf der Stelle von Gabe unterbrochen. "Nicht jetzt, Nate!" Gabe griff nach seinem Rucksack und riss seine Jacke vom Haken. Dann würde Liam heute eben umsonst warten auf ihn warten. Wer wusste, wozu das gut war. "Fährst du mich nach Hause?" "Klar." Nate zuckte mit den Schultern. Offenbar war er irgendwann in den letzten Wochen zum Statisten degradiert worden... Er schlüpfte in seine Schuhe und folgte Gabe, der mit finsteren Blicken die Treppe hinunter eilte.     Kurz nach dem Telefonat mit ihrem Bruder war Jules in Alvaros Arm eingeschlafen. Sie hatte auf einmal so erschöpft gewirkt, dass er den Versuch, sie noch zu ihrem Bett zu bringen, sein gelassen und sich zu ihr auf das Sofa gesetzt hatte, wo schon bald ihr müder Kopf gegen seine Brust gesunken war. Den Arm um Jules' Schultern gelegt, achtete Alvaro auf jede noch so winzige Bewegung von ihr und dachte dabei über das Dümmste nach, das er Jules nicht hatte erzählen wollen. Und es war wirklich dumm gewesen. Nicht spektakulär, nicht mutig - auch wenn er das zuerst so sah - nein, einfach dämlich, auch wenn es genaugenommen eine direkte Folge von dem Erlebnis als Kind gewesen war. So dämlich, dass außer ihm nur zwei andere Personen davon wussten und bei einer davon war er sich sicher, dass er, sollte er noch leben, kein einziges Wort mehr darüber verlor, weil sein sogenanntes Geschäft davon abhing. Und trotzdem hatte sich Alvaro in dem Moment alles andere als dumm gefühlt, als er dieses dreckige Hinterhof-Tattoo-Studio betreten und dem Besitzer ein kleines verschlossenes Plastik-Röhrchen in die Hand gedrückt hatte. Dieser abgewrackte Typ hatte Alvaro eine Weile stumm mit diesem stechenden Blick in seinem wie in Stein gemeißelten Gesichtsausdruck angesehen und dann mit frostiger Stimme gesagt, dass er weder für Schäden wie Blutvergiftung verantwortlich sei, noch für irgendeine andere Scheiße, die mit seinem Körper passierte. Und erst recht hatte er nicht wissen wollen, wie Alvaro an das Skorpiongift gekommen war, das er ihm mit zusammengekniffenen Lippen unter die schwarze Tinte gemischt hatte. Alvaro hatte allem zugestimmt und dann ruhig dabei zugesehen, wie die Nadeln die mit Gift versetzte Tinte unter seine Haut stachen. Nichts davon war es am Ende wert gewesen. Die Wunde hatte sich infiziert und nach Nächtelangen Fieberträumen war nichts weiter als ein ausgeblichener vernarbter Fleck von dem Tattoo auf seiner rechten Brust zurückgeblieben, auf der jetzt Jules' Kopf ruhte. Alles nur, weil er damals wissen wollte, ob er das Gift auch ohne seinen Vater aushalten konnte, und weil er nie wieder vor Angst ohnmächtig werden wollte, was beides auf eine beklemmend groteske Art und Weise funktioniert hatte, denn jedes Mal, wenn er nach der Pistole griff, streifte die Narbe in seiner Hand das misslungene Tattoo, so dass er niemals vergaß, was sein Vater ihm gesagt hatte: auch wenn es harmlos aussah, konnte es ihn das Leben kosten. Und entweder war er schneller oder er ließ die Finger davon! Daran hatte sich Alvaro immer gehalten - bis er Gabe kennengelernt hatte, und da er den Punkt schon längst überschritten hatte, an dem er die Finger hätte davonlassen können, musste er ab sofort schneller sein. Und mit dem Abyss fing er an. Er musste wissen, warum Gabe ihm diesen Ort verschwiegen hatte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)