Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 20: Stück für Stück ---------------------------     Das Chaos aus mit Farbe vermischtem Wasser und zerknittertem Papier vor sich auf dem Schreibtisch ignorierend, sah Liam schon eine ganze Weile nachdenklich zur Tür hinüber, die sich vor einiger Zeit hinter Gabe geschlossen hatte. Die neuesten Fußspuren auf dem spiegelnden Boden, die vom Schreibtisch wegführten, waren bis auf schmale Kränze getrocknet und nur vereinzelt sah man noch die farbigen Abdrücke seiner Zehen. Sein Hemd, das Liam gerade im Begriff zu schließen war, war auch voller Farbe. Und seine Hose erst. Er hatte keine Ahnung, wie er das in der Reinigung erklären sollte. Die dunkelroten Flecken sah man ja wenigstens kaum, aber der Rest... Liam erhob sich und ging zu einer Wand aus Türen, die er vor den offenen Schränken nachträglich hatte einbauen lassen und hinter denen sich sämtliche wichtige Dokumente des Abyss befanden. Er öffnete eine Tür, die schräg hinter seinem Arbeitsplatz lag und die anstelle von mit Akten zugestellten Regalböden ein kleines Waschbecken und eine Kleiderstange enthielt, an der sorgsam auf Kleiderbügel gezogen seine Jacke und ein sauberes Hemd hingen. Finster blickte er in die Augen seines Spiegelbildes über dem Waschbecken, das ihm zuerst auf die gleiche düstere Art entgegen schaute, bis er die Farbstreifen sah, die sich seinen Hals hinab zogen, und die Bisswunde auf seiner Unterlippe, auf der das letzte Blut getrocknet war. Reflexartig fuhr seine Zungenspitze über die aufgeplatzte und angeschwollene Stelle und zuckte vor dem prompten Schmerz zurück, als sie sie berührte. Hastig befreite sich Liam aus seinem verschmutzten Hemd, das wie alte Haut an ihm klebte und auf dem sich die Wasserflecken mit dem starr getrockneten Bodypaint abwechselten, und warf es in den Mülleimer. Er lachte tonlos auf, als er seinen Oberkörper sah, über den sich wilde Farbwirbel nach unten bis zum Bund seiner Hose zogen und dann darunter verschwanden. Bis heute hatte er keinen einzigen Gedanken zu viel an irgendwelche Fische oder Schlangen verschwendet, so lange er nicht wusste, was sie ihm nutzten, und erst recht nicht an deren Muster, aber das, was ihm die zweibeinige Schlange heute hier hinterlassen hatte, war schon mehr, als er jemals hatte wissen wollen - und das äußerlich Sichtbare war das kleinere Übel davon. Er fühlte sich bis weit unter die Haut davon gezeichnet. Genauso wie Gabe es ihm voller unverhohlener Schadenfreude prophezeit hatte, hatte er das erste Mal die Kontrolle verloren, wobei es sich zu Anfang noch nach Abgeben statt Verlieren angefühlt hatte. Wäre da nicht dieser letzte Satz gewesen, mit dem er sich verabschiedet hatte. Die trockene Farbe rieselte wie Schneeflocken unter Liams Fingernägeln herab, als er testweise darüber kratzte. Er bekam nur die rissige obere Schicht davon zu fassen. Alles, was darunter lag, überzog seine Haut wie eingebrannter Lack. Das würde definitiv nicht reichen, um das Abyss an einem gut besuchten Abend wie diesem ungesehen zu verlassen, und die Dusche in der Umkleide würde er heute garantiert auch nicht benutzen. Wie ein Verbrecher würde er sich wohl mit gesenktem Kopf aus seinem eigenen Club schleichen müssen. Natürlich aus dem Seiteneingang, denn wer wusste, ob Gabe nicht wieder UV-Farbe benutzt hatte, wie letztens bei dem Kraken. Wenigstens hatte er noch ein frisches Ersatzhemd hier, mit dem er alles zwischen Kragen und Hosenbund bedecken konnte. Der Rest würde schon irgendwie zu schaffen sein. Sein trockenes Lachen klang so verzweifelt in seinen eigenen Ohren, dass Liam sofort damit aufhören musste, bevor er noch den Respekt vor sich selbst verlor. Er schloss den letzten Knopf an seinem frischen Hemd und ließ sich wieder in seinem Bürosessel nieder.   Zornig sah Liam auf das Chaos vor sich und zog Gabes neuen Vertrag mit dem wellig getrockneten roten Handabdruck von einem Papierstapel herunter. Noch einmal las er sich den Namen durch. LaRue war ein verfluchter Bastard gewesen. So weit im Voraus zu planen hieß entweder, dass er ihm von Anfang an nicht vertraut hatte, oder dass er nie ernsthaft vorgehabt hatte, sein Partner zu sein. Er hatte das Abyss für sich alleine haben wollen, auf die gleiche Art, wie er es davor schon mit dem Hydra angestellt hatte, das er ihm abgekauft hatte, als es noch ein stinknormaler Club unter vielen war, nur um es kurz darauf in das jetzige Hydra mit seiner spektakulären Show umzubauen. Liams Vorschlag, das Abyss genauso umzugestalten wie das Hydra hatte LaRue damit beantwortet, dass er mehr Anteile daran haben wollte - die meisten, um genau zu sein. Andernfalls würde weder Geld fließen, noch bekam er Gabe exklusiv für Auftritte im Abyss, worauf Liam eigentlich spekuliert hatte. Normale Mermaids gab es Dutzende, aber Gabe lockte jede Menge weibliche Gäste ins Abyss. Alles in allem hatte LaRue ihm die ganze Zeit nur etwas vorgemacht, und er hätte so weitergemacht, weil er wusste, dass Liam die Forderung nicht mehr lange ablehnen konnte. Er hätte einfach abgewartet, bis das Abyss keuchend in seinen letzten Zügen lag, um es sich dann ganz zu nehmen. Seit ihm das bewusst war, kam Liam nur noch mit dieser immer schlimmer gärenden Wut hierher, die sich zuerst nur langsam im Hintergrund aufgebaut hatte, bis sie dann so groß geworden war, dass ihr Schatten alles andere verdeckte. Er hatte gehofft, dass sich ohne LaRue im Nacken alles erledigt haben würde, aber das Gegenteil war der Fall. Das Erbe, das der ihm vermacht hatte und mit dem er ihn ein letztes Mal verhöhnte, stand hier schwarz auf weiß - mit einem roten Handabdruck versiegelt. Liams Finger strichen über die Wunde an seiner Lippe. Es schmerzte, wo Gabe ihn gebissen hatte, aber es störte ihn nicht sonderlich. Gabe - Nicht Gabriel!, wie er ihn bevor er ging noch belehrt hatte - hatte ihn verletzen wollen. Er konnte zwar noch nicht einordnen, ob Gabe das tat, weil es ihm gefiel oder ob es aus Wut passiert war, die in dem Moment die Oberhand gewonnen und mit der er scheinbar diesen ganzen Auftritt absolviert hatte, aber er würde lügen, wenn er sagte, dass er keinen Gefallen daran gefunden hatte, mit welcher rohen, ungehemmten Energie sich Gabes Zähne in seine Lippe gegraben hatten. Als wollte er ihn verschlingen. Wenigstens kratzte er nicht, sonst müsste er sich noch eine Katze kaufen, falls man ihn auf solche Spuren ansprach. Liam lachte. Und dann, noch in Liams Umarmung, als ihre Körper einen atemlosen Augenblick lang noch in dieser angenehm schweren Erschöpfung verharrt hatten, hatte ihn Gabe wieder auf diese befremdlich zufriedene Art angesehen, mit der er ihm den Vortrag über das Jagdverhalten und das Gift von Seeschlangen gehalten hatte. Und dann hatte er Liam, der sich schon innerlich auf die nächste Attacke vorbereitete, einen harmlosen Kuss gegeben, ihm durch die Haare gestrichen und lächelnd das gesagt, was er sich wohl absichtlich für den Schluss aufgespart hatte, damit Liam es nie wieder vergessen würde: "Du hattest was damit zu tun, richtig? Mit Thomas' Tod." Es hatte sich angefühlt, als wäre LaRue noch einmal aus seinem verdammten Grab gestiegen, nur um ihn mit diesem überheblichen Lächeln anzusehen, mit dem er ihm über ein Jahr lang etwas vorgemacht hatte. Liam schmeckte das Blut aus der Wunde in seinem Mund, als das Fleisch unter dem Druck seiner Hand wieder aufplatzte. Sein Unterkiefer schmerzte, so fest biss er die Zähne zusammen. Ohne viel nachzudenken, griff seine Hand, in der noch sein eigenes Blut glänzte, nach dem Telefon. "Ich habe den Namen", sagte Liam so gefasst wie möglich, als der Anruf angenommen wurde. "Mir ist egal, wann und wo, aber nicht in der Nähe des Abyss!", beendete er den Anruf gereizt. Er nahm den neuen Vertrag, den Gabe gerade erst unterschrieben hatte, und zerriss ihn.     Gabe fühlte erst wieder, wie sich sein Kopf mit seinem Körper zu verbinden begann, als er in Nates Flur stand und das grüne Fahrrad anstarrte, das dort an der Wand zwischen Nates Schlafzimmer und dem Bad lehnte. Nate weigerte sich eisern, es endlich im Keller abzustellen, obwohl es den ohnehin schon schmalen Flur noch enger machte. Aber vor lauter Angst, dass es ihm gestohlen werden könnte, riskierte er es lieber, zehn Mal am Tag an dem scheiß Lenker hängen zu bleiben. Gott, wie oft war Gabe schon schlaftrunken aus Nates Zimmer gewankt und gegen dieses Drecksteil gestoßen... So leise er konnte, verschwand Gabe im Bad. Er hatte sich nach seiner Privatvorstellung bei Liam nicht einmal die Mühe gemacht, den letzten Rest des Bodypaints abzuwaschen, sondern hatte sich einfach angezogen, ein Taxi gerufen und war dann auf direktem Weg zu Nate gefahren. Und erst jetzt, wo er hier in dem vertrauten Badezimmer stand und alle Klamotten abgelegt hatte, schwand auch diese aufgestaute Spannung, mit der er Liams Büro verlassen hatte. Unwillkürlich musste Gabe lachen, als er an Liams schockierte Blicke dachte, nachdem er ihm die eigentliche Botschaft überbracht hatte, wegen der er überhaupt dort aufgetaucht war. Und das war praktisch erst die Ouvertüre gewesen. Er würde Liam vernichten, jede Spur von ihm auf diesem Planeten auslöschen, bis absolut nichts mehr von ihm übrig blieb. So wie er es mit Thomas getan hatte. Er würde Liam unter den Trümmern jedes einzelnen Projekts begraben, das nach Thomas' Tod in sich zusammengefallen war.   Das Geräusch der Dusche nebenan ließ Nate, der kurz aufgewacht war, als er das Türschloss gehört hatte, wegdämmern und erst wieder die Augen aufschlagen, als sich Gabe neben ihn legte. Seine Haut war vom Duschen eiskalt und Nate zog ihn schweigend an sich, bis er spüren konnte, wie Gabes Körper wieder Normaltemperatur erreichte. Oder wenigstens etwas über den Gefrierpunkt hinaus kam. "Immer noch der hübsche blaugeringelte Kraken?" "Feuerfisch", erwiderte Gabe müde. Nate seufzte leise. "Schade, Tentakel finde ich besser, als Giftstachel. Die sind so hinterhältig." "Dann warte mal auf die Seeschlange. Die beißt nur und sticht nicht." Wäre er wirklich ein Feuerfisch, dann hätte sich Liam bei jedem Kontakt mit Gabes Körper zweifellos vergiftet. Mehrmals sogar. Gabes Lächeln irritierte Nate kurz. Es sah so schaurig aus, wie jenes von vor ein paar Tagen im Treppenhaus, als er aus dem Schatten getreten war und sich nach Nates Telefon gebückt hatte. Und mit einem Wimpernschlag war es wieder verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen, was ebenso beklemmend war. Genaugenommen war Gabe exakt wie dieser Fisch. So lange man wusste, wo man ihn zwischen all den Giftstacheln anfassen konnte, passierte nichts, aber eine falsche Berührung - Nate lachte nun leise, als ihm eine Situation ganz am Anfang ihrer damaligen Beziehung einfiel, bei der ihm Gabe so dermaßen fest eine geknallt hatte, dass er eine ganze Weile ein taubes Gefühl an der Stelle seines Gesichts gehabt hatte. "Was ist so lustig?", murmelte Gabe im Halbschlaf. Nates Körper bebte vor unterdrücktem Lachen. Er wandte sein Gesicht Gabe zu, der neben ihm lag und gerade genervt die Augen öffnete. Gabe sah in Nates Augen, in denen sich die Lachtränen zu sammeln begannen. Er hob die Hand und strich über Nates Gesicht, der, statt zu antworten, einfach weiter vor sich hin lachte, ohne ihm endlich zu sagen, weshalb er ihn damit aus dem gerade einsetzenden Schlaf gerissen hatte. "Warum lachst du so dämlich?", zischte ihn Gabe nun ungeduldig an. Seine Finger kniffen in die kleinen Grübchen neben Nates Wange, doch nicht einmal das konnte dessen Lachanfall stoppen. "Weißt du noch die Ohrfeige damals?", stieß Nate schließlich lachend aus. "Die hattest du verdient." Nates Lachen stoppte abrupt. Er riss die Augen auf und ließ seine Blicke an Gabe auf und ab wandern. "Das heißt, du bereust sie nicht?", rief er gespielt empört und lachte dann wieder. "Kein bisschen", antwortete Gabe gelassen und ließ Nates Wange los. "Und sie war wohl nicht fest genug, wenn du jetzt noch darüber lachen kannst." Endlich war der alte, widerspenstige Gabe wieder aus den Tiefen seiner neuen furchteinflößenden Menschenhülle aufgetaucht, dachte Nate bei sich. Er stützte sich auf einem Ellenbogen ab und sah auf Gabe hinab, der die Augen geschlossen und sein Gesicht Nate zugewandt hatte. Gabe versuchte die Hand zu ignorieren, die seinen Hals hinab strich und an seinem Schlüsselbein stoppte. Er hatte nie mit Nate über Thomas gesprochen. Er dürfte ihn überhaupt nicht kennen, außer als seinen Chef, falls Jules seinen Namen mal erwähnt hatte, aber ansonsten war nie ein Wort über Thomas zwischen ihnen gefallen. Er hatte alles, was Thomas anging, für sich behalten wollen. Nicht, weil sie das so abgemacht hatten - er fragte nicht bei Nate und der nicht bei ihm -, sondern weil er selbst damit beschäftigt war, alles einzuordnen, was diesen Menschen anging, der so plötzlich in seinem Leben aufgetaucht war. Obwohl Gabe derjenige war, der aufgetaucht war. Wortwörtlich.     Thomas LaRue hielt erschrocken in seiner Schwimmbewegung inne, als er das Hindernis bemerkte, das direkt vor ihm aus dem Wasser des Beckens auftauchte. "Entschuldigung", murmelte er und sah sein Gegenüber perplex an, das vor ihm im Wasser auf der Stelle trat und ihn amüsiert anlächelte. "Ich dachte, ich bin alleine, weil niemand im Becken war, als ich rein bin." Langsam legte sich der erste Schrecken über den plötzlich wie aus dem Nichts erschienenen jungen Mann. "Und ich schwimme sicher schon die zweite Bahn, ohne-" "Die dritte Bahn", korrigierte ihn der junge Mann und lachte dann über das schockierte Gesicht. "Ich habe gesehen, wie du ins Wasser bist." In Gedanken ging LaRue den Moment durch, als er den Poolbereich betreten hatte. Da war niemand gewesen. Weder am Rand, noch auf der Bahn, aus der er aufgetaucht war. "Ich war schon länger drin", war die belustigte Antwort, auf die Frage, die sich in Thomas LaRues entgeistertem Gesicht abzeichnete, ohne dass er sie laut stellen musste. "Wie macht man sich denn im Schwimmbecken unsichtbar?" "Unter Wasser." Gabes Lachen begleitete die fassungslosen Blicke des Mannes vor sich, die in Richtung Poolboden und dann wieder zurück zu ihm gingen. Ruhig schwamm er an dem Mann vorbei, der ihm nach wenigen nachdenklichen Augenblicken folgte.   "Ich übe hier Apnoetauchen." Gabe zog sich aus dem Wasser und blieb am Beckenrand sitzen, während Thomas LaRue, der sich mit einer Hand am Rand festhielt, langsam verstand. "Alleine, oder seid ihr eine ganze Gruppe?" "Nur meine Schwester und ich." LaRues vorsichtige Blicke glitten noch einmal über die Wasserfläche. "Ist sie auch - unter Wasser?" "Nein, keine Sorge." Gabe erhob sich. Er sah auf den Mann hinab, der noch immer alles zu erfassen versuchte, was er gerade an Informationen erhalten hatte. "Sie ist wahrscheinlich bei den Getränke-Automaten und flucht dort leise über mich, dass heute sicher der Tag ist, an dem ich hier ertrinke und dass sie dann garantiert keinen Fuß ins Wasser setzt, um mich zu retten." Thomas LaRue lachte.     Nate beugte seinen Kopf zu Gabe hinab und küsste den stumm vor sich hin lächelnden Mund. Er war nicht so dumm, dass er nicht wusste, dass dieses Lächeln, das ausnahmsweise beruhigend friedlich wirkte, eigentlich einen anderen Ursprung hatte. "Sagst du mir irgendwann, was mit dir los ist?" Die verärgerten Blicke, die Nate jetzt trafen, ließen sein beschissenes Gefühl nur noch stärker werden. "Wenn ich dir so zu harmlos bin, weißt du ja, wie du das mit ein paar Handgriffen ändern kannst", spielte Gabe unschuldig lächelnd auf die Ohrfeige an und Nate stieg prompt darauf ein. "Vielleicht will ich das ja?", neckte er Gabe und gab ihm einen sachten Kuss auf die Nasenspitze. "Eigentlich war es gar nicht so übel..." Gabe musste unwillkürlich lachen, während Nates Küsse seinen Hals hinab krochen, bis er an seinem Brustbein stoppte und seinen Kopf dort ablegte. Mit geschlossenen Augen hörte Nate dem dumpfen Pochen hinter den Rippen zu. Seine Hand zog sanfte Spiralen über Gabes Brust. "Ich freue mich darauf, wenn du hier wieder einziehst", murmelte Nate leise. "Wenn du möchtest, behalten wir die getrennten Schlafzimmer, aber wenn wir uns eins teilen, hätte Jules zwei eigene Zimmer." "Wie großzügig von dir!", zog ihn Gabe auf und Nate lachte ertappt. "Und was ist, wenn ich mal Besuch habe?" "Dafür bräuchten wir dann wohl einen Plan", versuchte Nate zu scherzen und hoffte, dass Gabe den bitteren Unterton nicht heraushörte. Seine Hand glitt Gabes Rippen hinunter zu seiner Taille und wieder hoch. "Ja, mal schauen. Alleine schon für dein Bett lohnt sich der Umzug", seufzte Gabe. Nate hielt inne und sah irritiert hoch, doch Gabe schien in Gedanken schon wieder weit weg zu sein. Er lachte den kurzen Zweifel weg und konzentrierte sich wieder auf Gabe, der unter seinen Berührungen erschauerte. "Nate?" Gabes Stimme klang schwer. Seine Hand fuhr durch Nates unordentliche Haare, der so tat, als höre er ihm nicht zu. Gemächlich glitten Gabes Finger durch die seidig glänzenden Strähnen und hinterließen Furchen darin, die mit dem nächsten Drüberstreichen wieder verschwunden waren. Immer, wenn er auf das, was Nate tat, reagierte, hielt der kurz inne, als teste er nur aus, was Gabe mochte und Gabes Körper konnte sich nicht entscheiden, ob er sich von Nates Hand und seinen Lippen, die sachte und warm über seine Haut glitten, weg oder sich ihnen zuwenden sollte. "Nate, deine Hand!" Statt einer Antwort fühlte Gabe nur den abgehackten Atem von Nates Lachen auf seinem Bauch. Seine Hand packte nun fest in den Haarschopf und zog Nates Kopf an den Haaren so weit nach hinten, bis der ihn anschauen musste. "Du bist kurz vor deiner nächsten Ohrfeige", warnte Gabe seinen Freund. "Ich weiß", flüsterte Nate grinsend. "Gut, dann bist du ja darauf vorbereitet." Gabe erwiderte das breite Grinsen. Noch einmal schüttelte er warnend seine Hand mitsamt Nates Haarschopf darin und ließ dann los. Und wie er Liam vernichten würde! Stück für Stück.     Der Schlüssel glänzte zwischen Alvaros Fingern, aber er brachte es nicht über sich, ihn in das Schloss vor sich zu stecken, ohne sich nicht wie ein Verbrecher zu fühlen. Das Hoftor war schon schlimm genug gewesen. Aber er hatte jetzt lange genug gewartet, wie er fand, und da Gabe sich weiter weigerte, auf irgendeinen Kontaktversuch einzugehen, und Alvaro während der Woche nicht immer die Zeit hatte, mal eben so zwei Stunden hierher und wieder nach Hause zu fahren, nur um zu schauen, ob Licht brannte, hatte er heute Abend das erste Mal den langen Weg auf sich genommen, mit dem Vorsatz nachzusehen - egal, wie es enden würde. Lidia hielt ihn zwar weiter auf dem Laufenden, was Moreno anging, der sich noch auskurierte und die Zeit zwischen seinen Arztbesuchen zuhause verbrachte, aber das Zeitfenster schloss sich langsam. Alvaro steckte den Schlüssel zurück in seine Jackentasche und klopfte nun an der grünen Holztür. Es dauerte etwas, aber dann hörte er dahinter endlich vorsichtige Schritte, die dicht an der Tür anhielten. "Ja?", fragte eine leise Stimme misstrauisch. Das konnte nur Jules sein, dachte Alvaro ein bisschen erleichtert. Gabe hätte Alvaro schon aus der Entfernung gewittert und die Tür aufgerissen, um ihn verbal zusammenzufalten, was er sich erlaubte, hier aufzutauchen. "Ich bin's, Alvaro." Die Tür öffnete sich nicht weniger schwungvoll als bei Gabe, aber im Gegensatz zu ihrem Bruder, sah ihn Jules zuerst bestürzt an, als wäre Alvaro ein Geist, nur um ihm dann fröhlich lachend um den Hals zu fallen - nun, fast. Sie kam bis auf Brusthöhe, aber ihr Griff um seine Taille war beeindruckend fest. "Dieser dämliche Idiot!" Jules klang gleichzeitig verärgert und erleichtert. "Also hat Gabe doch gelogen!" "Womit?", hakte Alvaro verblüfft über diese schnelle Wendung nach. "Er hat gesagt, du hättest zu viel zu tun, um noch mal herzukommen." Jules' Umarmung wurde etwas lockerer. Mehr als ein ratloses Oh brachte Alvaro nicht über die Lippen. Er wusste nicht, ob Gabe seiner Schwester auch erzählt hatte, was zu dieser Annahme geführt hatte. "Soll ich lieber gehen? Nicht, dass es Stress gibt." "Auf gar keinen Fall!", lehnte Jules Alvaros Einwurf mit Nachdruck ab und zog ihn in den Flur hinein. "Gabe kommt sowieso erst morgen nach Hause. Die Show im Abyss wechselt bald wieder, aber er will mir nicht verraten, was dann an der Reihe ist." Alvaro nickte brav, ohne ein Wort davon verstanden zu haben. "Hast du Zeit, oder musst du gleich wieder weg?" Jules' hoffnungsvolle Blicke ließen Alvaro das beunruhigende Gefühl vergessen, mit dem er hier angekommen war. "Nein, nein, kein Problem, ich habe Zeit." Neuerdings hatte er die meisten Wochenenden frei... "Sehr gut!", rief Jules und schob Alvaro weiter durch den Flur bis ins Wohnzimmer. "Dann können wir uns ja heute was zu Essen bestellen." "Sicher." Das kam zwar alles ungeplant, aber das Ergebnis war das gleiche. Jules und Gabe ging es gut. "Welches Restaurant?" "Restaurant?" Jules lachte. "Wie immer: Romero's." "Klar, Romero's", wiederholte Alvaro und gab den Namen in die Suchmaschine ein und seufzte gleich darauf. Es gab gleich drei Pizzerien mit dem offensichtlich beliebten Namen Romero's. "Hast du zufällig die Nummer?" "Hängt am Kühlschrank", war die schnelle Antwort von Jules, die ihre tausend Snacktüten auf dem kleinen Wohnzimmertisch einsammelte und in die Küche brachte, wo sie sie in Schubladen und Schränken verstaute.   Von vorne nicht sichtbar, fand Alvaro wie von Jules erklärt tatsächlich die Karte an der Seite des Kühlschranks, wo sie zwischen zig anderen Notizen, Fotos und Menükarten hing. Er konnte noch nicht mal sagen, ob das auch damals, als er das erste Mal hier gewesen war, überhaupt schon alles dort gehangen hatte. Es war einfach alles voll und er hatte es übersehen. Alvaro schmunzelte, als er die gelben Notizzettel sah, die denen ähnelten, die in der Umkleide des Hydra am Spiegel hingen. Nur stand hier nicht 'Einfach schwimmen', aber in der gleichen Handschrift 'Herd nicht anschalten' und gleich daneben 'Backofen auch nicht!'. 'Nicht so viele Snacks kaufen', stand auf einem dritten Zettel, worüber Alvaro lachen musste, denn an diese Anweisung hatte sich Jules definitiv nicht gehalten - er hatte gerade einen Blick in die vollgestopften Schränke werfen können... Seine Blicke wanderten weiter über die teils lustigen Notizen, die, wenn er die Handschrift berücksichtigte, nur von Jules stammen konnten. 'Nate anrufen' las er auf einer anderen Notiz und direkt unter diesem Satz stand etwas kleiner und in anderer - vermutlich Nates' - Handschrift 'Aber nicht 20x pro Minute!!!'. "Hast du die Karte gefunden?", riss ihn Jules' Stimme aus den Gedanken, die gerade in die Küche gehuscht kam, etwas aus dem Schrank neben Alvaro nahm und damit verschwand. "Ja", antwortete Alvaro und betrachtete sich die Speisekarte, die nur aus einer einzigen Seite bestand. Ihm lag die Frage auf der Zunge, was Jules essen wollte, als ihm im gleichen Augenblick die kleinen Punkte auffielen, die vor manchen Speisen aufgemalt waren. Er nahm sein Telefon und bestellte kurzerhand alles, was markiert war. Während man seine Bestellung am anderen Ende wiederholte, blieben Alvaros Blicke an einem Flyer hängen, der am gleichen Magneten hing, wie die Anweisung, Nate anzurufen. Abyss stand in neongrünem Schriftzug auf dem Werbezettel. Er hatte den Namen schon mal gehört. Gerade eben erst. Mit einem Ruck zog Alvaro den Flyer unter dem Magneten hervor. Darauf zu sehen war ein Glaszylinder, der wie aus dem Labor eines Alchemisten wirkte. Von bunten Lichtern bestrahlt, brodelte etwas in seinem Inneren, das man durch den dichten Nebel, der ihn füllte und oben über den Rand quoll, nicht erkennen konnte, doch es sah aus, als greife darin eine Hand aus dem Dunst nach der Glaswand. Und genau dort, wo eigentlich der Rest dieses ominösen Inhalts zu sehen wäre, versperrte ein dicker schwarzer Balken den Blick, auf dem in grellen Buchstaben 'Neue Show!' prangte. Hatte nicht Jules die neue Show erwähnt, wegen der Gabe unterwegs war? Irgendwas, das wechselte? "War das alles?", hörte Alvaro wie aus weiter Ferne eine Stimme an seinem Ohr. "Ja, ja", antwortete er abwesend und beendete den Anruf. Noch einmal sah Alvaro auf den Flyer. Wie automatisiert griff er in seine Jacke und nahm den Kalender aus der Innentasche. Er brauchte fünf Sekunden, bis er die GPS-Daten der Adresse einem Eintrag im Kalender zuordnen konnte. Die Daten waren wie schon zuvor beim Hydra in ungeordneter Reihenfolge notiert, aber die Adresse stimmte. Und schlimmer: es war die letzte im Kalender notierte Adresse vor dem Mord an LaRue. Alvaro überlief es eiskalt. Wenn er recht behielt, war dieser Club der Schlüssel zum Tod seines Chefs. Oder er fand den Schlüssel an diesem Ort, der letztendlich alles aufklärte. Er musste unbedingt dorthin. Sofort! Das musste er jetzt nur noch Jules klar machen.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)