Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 15: Abgrundtief -----------------------     "Ein paar der Notizen habe ich mittlerweile rausbekommen." Gabe hörte Alvaros Stimme wie durch eine meterdicke Schicht Watte hindurch. Keins der verwaschen klingenden Worte kam wirklich zu ihm durch und prallte direkt an Gabes schockiert auf den Taschenkalender starrenden Blicken ab. Mit eiskalten Fingern blätterte Gabe durch die dicht beschriebenen Seiten und versuchte jeden einzelnen Buchstaben von der ihm so vertrauten Handschrift in sich aufzunehmen und dort auf ewig abzuspeichern. Alvaro hatte keine Ahnung, wie wichtig ihm dieses Schriftstück war. Für ihn war es Papier, das irgendwelche Aufträge und Adressen beinhaltete, von denen er sich erhoffte, dass dort die Lösung zu Thomas' Tod dabei war, dabei stand dort viel mehr, als er sich wahrscheinlich vorstellen konnte. "Das hier ist die Adresse des Hydra." Alvaros Fingerspitze tippte auf einen Eintrag. Als ob er die nicht kennen würde, dachte Gabe bitter. Ein unterdrücktes Lachen ließ seine Brust kurz erzittern. Er kannte nicht nur jede einzelne Bedeutung aller Einträge, sondern auch, was an jenen Tagen dort stattgefunden hatte, welche Show gerade lief, wie viele Gäste gekommen waren und vor allem: was nach der Show gelaufen war - angefangen bei privaten Aftershow-Partys bis hin zu den Treffen mit Thomas. Aber die standen dort natürlich nicht. Sie waren tief in Gabes Erinnerungen verwurzelt und brachen gerade alle auf einmal mit solcher Wucht über ihm zusammen, dass es ihm fast die Beine wegzog. Wieder und wieder glitten Gabes hastige Blicke über die Seiten, blieben an einzelnen Buchstaben hängen, wanderten weiter, sprangen zwischen Einträgen hin und her, hektisch alles in sich aufsaugend, als wäre alles mit dem nächsten Blinzeln wieder verschwunden. Die letzten sichtbaren Reste von Thomas' Existenz, dachte er erschüttert. Ihre Projekte. Alles, wofür er die letzten beiden Jahre gelebt hatte, war hier vermerkt in der sauberen klaren Handschrift jenes Mannes, der bis zum Schluss schlau genug gehandelt hatte, um Gabe nicht in etwas hineinzuziehen, vor dem er ihn dann nicht mehr schützen könnte. Als hätte er etwas geahnt. Alvaro hatte aufgehört zu reden, als ihm aufgefallen war, dass Gabe überhaupt nicht zuhörte. Stumm wartete er, bis Gabe zur letzten beschriebenen Wochenseite geblättert hatte und dann wie gelähmt dort verharrte. Seine fiebrig glänzenden Blicke brannten sich in den letzten Eintrag. "Es geht noch weiter", half Alvaro Gabe auf die Sprünge, doch der regte sich kein bisschen und starrte stattdessen weiter wie hypnotisiert auf den letzten Eintrag.   Es war der Tag, an dem er das letzte Training für die aktuelle Show im Abyss absolviert hatte. Thomas hatte sie sich noch notiert, war dann aber doch nicht erschienen. Zuerst hatte er sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, weil er dachte, dass sie sich ja ohnehin bei der Premiere sehen würden und es schließlich nur um die Generalprobe ging. Aber als Thomas dann auch zur Premiere nicht auftauchte, hatte etwas in Gabe zu nagen begonnen, das sich mit jedem weiteren Tag, der verging, immer tiefer in ihn hinein fraß, je länger er nichts von Thomas hörte. An einen Unfall hatte er nicht gedacht. Nie. Er hatte geahnt, dass es schlimm sein musste und es verdrängt, aber das, was er bisher wusste, übertraf alles. Mehr wollte er nicht mehr wissen. Gabe fuhr erschrocken zusammen, als ihn Alvaros Hand, die sich unvermutet auf seine verkrampften Finger legte, aus den Gedanken riss. Er hatte ihn völlig vergessen. "Da ist noch eine wichtige Notiz", sagte Alvaro bedächtig und blätterte ein paar Seiten weiter. Vielleicht war es ein Fehler, Gabe in seiner momentanen labilen Verfassung auch noch den letzten Eintrag zu zeigen, aber so, wie er gerade auf alles reagiert hatte, war der Kalender wohl ein Volltreffer und da er das letzte war, was aus der Kiste noch existierte, konnte er jetzt unmöglich aufhören, alles miteinander zu verknüpfen.   Gabe schloss kurz die Augen, während Alvaro eine Seite nach der anderen umschlug und es sich wie Stromstöße anfühlte, wenn sich ihre Finger dabei jedes Mal erneut berührten. Lass es bitte keine persönliche Nachricht sein, bitte nicht, dachte Gabe atemlos und schluckte schnell das lähmende Gefühl herunter, das ihn gerade wieder in seinen Klauen hielt und zuzudrücken begann, und das er noch zu gut aus dem Hydra kannte. Und auch wenn er sich gerade nicht unter Wasser befand, fühlte er den Druck davon, der ihn zu zerquetschen drohte. "Hier." Das Gewicht von Alvaros Hand löste sich vom Kalender und Gabe öffnete die Augen. Sein Puls klopfte wie im Wahn in seinem Kopf, so dass er ihn hinter den Augen fühlen konnte. Nichts persönliches, nichts persönliches, hämmerte jeder Herzschlag in seiner Brust. "Entsorgen?" Es war eindeutig Thomas' Handschrift, aber es war keine direkte Nachricht an ihn. Gabe lachte heiser auf. Was auch immer das bedeuten sollte, Thomas hatte nichts persönliches geschrieben, keine Abschiedsworte, wovor er die meiste Angst gehabt hatte, was auch hieß, dass er wohl doch nicht mit einem endgültigen Abschied gerechnet hatte... An Gabes fragend schockierter Reaktion konnte Alvaro sich nun endlich auch seine eigene bestens vorstellen, als er das Wort zum ersten Mal gelesen hatte. "Lies mal, was darunter steht." Alvaro, der ihm gegenüber stand, ließ ihn keine Sekunde aus den Augen, bis Gabe sich endlich dazu durchgerungen hatte, den gelben Post-it umzuklappen und die Zahlenreihe darunter freizulegen. "Das sind GPS-Koordinaten", erklärte Alvaro knapp die Bedeutung, auf die Gabe nie im Leben gekommen wäre. "Das ist die Adresse des The Gorge." Alvaro hielt kurz inne. Gabe wirkte nun nicht mehr so schockiert, wie zu Anfang. Im Gegenteil. Was Alvaro jetzt selbst irritierte. "So habe ich euer Appartement gefunden", schloss Alvaro seine angefangene Erklärung ab. "LaRue musste sich was dabei gedacht haben. Er hätte mir auch gleich die Adresse und genaue Anweisungen geben können, dann hätte ich hier nicht so ein Chaos angerichtet. Er musste einen Grund gehabt haben, das alles so kryptisch wie möglich zu hinterlassen." Gabes Mund verzog sich zu einem müden Lächeln. Alvaro wartete darauf, dass er ihm jetzt diesen Grund nannte, klar. "Das beweist noch lange nicht, dass es die Kiste tatsächlich gab." Der überraschende, wenn auch berechtigte Einwand brachte Alvaro kurz aus dem Konzept. Gerade hatte er gedacht, dass alles mal in gerader Bahn verläuft, und dann so etwas. "Ok", begann Alvaro nachdenklich und wurde gleich wieder von seinem Gegenüber unterbrochen. "Bevor du dir noch weiter irgendwelche Antworten von mir erhoffst, gibst du mir zuerst einmal ein paar." Gabe klappte den Taschenkalender zu und verschränkte die Arme vor der Brust. "Was war noch in dieser rätselhaften Kiste?" "Schön", stimmte Alvaro seufzend zu. Er erwiderte Gabes sture Blicke, der nur darauf wartete, dass ihm die Argumente ausgingen. Und wirklich viel war es ja auch nicht, was noch alles in der Kiste gelegen hatte.   "Noch ein Taschenkalender vom letzten Jahr mit ziemlich den gleichen Einträgen, euer Wohnungsschlüssel, ein Magisches Quadrat und ein paar Münzen", zählte er alle Dinge auf, die ihm wieder so klar vor Augen erschienen, wie damals in seinem Dienstwagen, als er den Erste-Hilfe-Kasten das erste Mal geöffnet und sich über das seltsame, wahllos wirkende Durcheinander darin gewundert hatte. Er hatte nur den neuen Kalender und den Schlüssel daraus behalten. Alles andere hatte er sich nicht mehr angesehen. Er hatte die Kiste in den Kofferraum geworfen und dort unbeachtet liegen lassen, bis er sie dann im Müll entsorgt hatte. "Mehr war es nicht, tut mir leid." Alvaro hob entschuldigend die Schultern an. "Münzen?" Gabe hatte sämtliche Gesichtsfarbe verloren. Der hämmernde Puls in seinem Kopf machte eine abrupte Pause, um dann noch heftiger darin zu dröhnen. "Wie sahen sie aus? Wie sahen die Münzen aus?" Sein Mund fühlte sich taub an und nur an Alvaros ratlosem Gesicht erkannte Gabe, dass er diese knappen Sätze tatsächlich ausgesprochen hatte. "Ganz normale Münzen eben", erwiderte Alvaro, während er das Aussehen noch einmal durchging. "Es waren keine Sammlermünzen, oder so." "Ganz normale Münzen..." Gabe lächelte nun traurig. "Und die Münzen hast du auch-" "Mit der Kiste weggeworfen, ja." Gabes erschütterte Reaktion auf die Münzen war ihm ein Rätsel und Alvaro versuchte sich noch einmal alle Details davon vor Augen zu führen. Drei stinknormale Münzen, wie wahllos aus dem Geldbeutel genommen, und ausgerechnet die hatten so einen Effekt, nach allem, was in den Kalendern stand? "Gut, ich glaube dir." Gabe sah noch einmal auf den Kalender in seiner Hand hinab. Das aufgewühlte Chaos in seinem Magen ebbte langsam ab und wich dem Gefühl von Eisschollen, die scharfkantig in seinem Körper alles mit sich rissen. Thomas' Münzen, von denen er gedacht hatte, dass er sie nie wieder sehen würde, weil sie mit ihm verschwunden waren, waren die ganze Zeit so nahe gewesen, dass nur die Hülle einer Kiste sie voneinander getrennt hatte. Und jetzt - jetzt waren sie unwiederbringlich weg. Auf irgendeiner Deponie verschwunden. Gabe griff in seine Hosentasche und zog Thomas' Schlüssel daraus hervor. Zusammen mit dem Kalender hielt er ihn Alvaro hin, der beides stumm entgegen nahm. Nichts davon wollte er mehr in seiner Nähe haben. Es würde ihn wahnsinnig machen, jedes Mal so deutlich vor Augen zu haben, was fehlte und nie wieder zu ersetzen war. Bei Alvaro war es besser aufgehoben als bei ihm. "Danke", murmelte Gabe kaum hörbar und bemühte sich, die hellbraunen Ledergurte mit den Ersatzmagazinen zu ignorieren, während er zusah, wie Alvaro die beiden Dinge wieder in der Innentasche seiner Jacke verstaute. Alvaro sparte sich das "gern geschehen", das ihm auf den Lippen lag. Er war schon in so viele Fettnäpfchen getreten, dass er dieses hier mal auslassen würde. Geduldig wartete er darauf, dass Gabe, der wirkte, als wollte er noch etwas sagen, und mit niedergeschlagenen Blicken zusah wie der Kalender und der Schlüssel in Alvaros Jacke verschwanden, mit der Sprache rausrückte. Es dauerte, bis er die Jacke wieder geschlossen hatte.   "Würdest du uns helfen, wenn wir hier ausziehen?" "Jederzeit", versicherte Alvaro und schickte seiner Bestätigung ein aufmunterndes Lächeln hinterher, das außerhalb von Gabes Wahrnehmung ein paar unbeachtete Kreise zog und dann einfach unerwidert verpuffte. Je schneller die Geschwister hier weg waren, umso besser. Er hatte keine Lust, darauf zu warten, bis Moreno wieder wusste, wo er suchen musste, weil Alvaro im Krankenhaus das mit der Wohnung hinter dem The Gorge herausgerutscht war. Und er musste es gehört haben, außer er war so mit Medikamenten vollgepumpt gewesen, dass ihre Unterhaltung irgendwo in seinem Gehirn versickert war. Alvaro stieß sich vom Schrank ab und ging um die Kücheninsel herum. "Ich kenne da ein zuverlässiges Umzugsunternehmen. Ihr müsst mir nur sagen, wann." Das erste Mal seit er ihm den Taschenkalender gegeben hatte, nahm Gabe Alvaro richtig wahr. Die ganze Zeit während ihrer Unterhaltung war er in dem Tsunami aus Notizen, Münzen und verschlüsselten Einträgen gefangen gewesen, wie ein Insekt unter einer Lichtquelle, ohne den Fokus wieder auf das Wesentliche lenken zu können. "Hauptsache, die sind gut im Einpacken und Raustragen und machen nichts kaputt." "Darauf kannst du wetten." Erleichtert bemerkte Alvaro das minimale Lächeln, das sich gerade auf Gabes Lippen schlich. Ein, wenn auch winziger, Fortschritt aus dieser extrem angespannten Situation hinaus. "Ist die neue Wohnung weit von hier?" Das zögerliche Lächeln auf Gabes blassen Lippen wurde nun zu einem Grinsen. "Keine Sorge, du bekommst die Adresse noch, damit du dort auch auftauchen kannst." "Nate wird sich freuen." "Da bin ich mir ganz sicher." Das unwillkürliche Lachen, das bei dieser Vorstellung aus Gabe herausbrach, stoppte augenblicklich die bedrückende Schwere in ihm, die ihn davor immer weiter nach unten gezogen hatte. Es war das gleiche befreiende Gefühl, das er hatte, wenn er nach dem Tauchen die Gewichte an Land wieder ablegte. Für einen winzigen Moment, in dem sich Kopf und Körper noch nicht einig waren, ob man sich noch unter Wasser befand oder bereits an Land, blieb man einfach in diesem Schwebezustand, in dem die Muskulatur von den letzten Resten ihrer Erinnerung an die Schwerelosigkeit unter Wasser zehrte, bis einem das tatsächliche Gewicht des eigenen Körpers wieder bewusst wurde, das einen an die Erde band. "Dann gehe ich jetzt", sagte Alvaro und ließ es wie eine Frage klingen. Nicht zu offensichtlich, aber offensichtlich genug. Er öffnete die Haustür und sah zu Gabe, der schräg hinter ihm stand, aber der hatte die Frage aus seinem Abschied nicht registriert. Oder wollte es nicht. "Ruf an oder schreib - auch wenn es nicht um den Umzug geht." Ein dünnes Lächeln erschien auf Gabes Lippen. "Danke, aber dafür habe ich schon Nate." Alvaros fragende Blicke blieben unbeantwortet. "Denk nicht weiter darüber nach", lachte Gabe stattdessen. Alvaro war immer so gefasst, aber wenn man ihn dann wie jetzt aus dem Konzept brachte, kam das Lamm in ihm zum Vorschein. Bevor er die Treppe in den Hof hinabging, drehte sich Alvaro noch einmal zu Gabe um, der ihm gegen den Türrahmen gelehnt nachsah. Beinahe hätte er ihm zum Abschied gewunken, aber seine Hand, die er schon angehoben hatte, griff nach dem Handlauf des Geländers.   Als sich die Tür hinter ihm schloss und er wieder alleine war, merkte Gabe erst wirklich, wie still es in ihrer Wohnung tatsächlich war. Nicht weit von hier benahmen sich Menschen, als gäbe es kein Morgen und hier tickte nicht mal mehr eine Uhr. Er lebte hier in einem Vakuum, in dem weder Geräusche noch andere Dinge existierten. Man hatte alles um ihn herum aus seinem Lebensraum entfernt, bis außer ihm selbst nichts mehr übrig geblieben war, als absolut leerer Raum, den niemand mehr füllen wollte. Die, die es konnten, sahen zu, wie er, unfähig sich noch zu bewegen, langsam daran zugrunde ging, und die, die nichts davon wussten - denen konnte er auch keinen Vorwurf machen, wenn er ehrlich war. Er erstickte vor aller Augen an allem, was man ihm genommen hatte, weil nichts davon einen besonderen Wert hatte, außer für ihn. Ganz normale Münzen eben...     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)