Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 11: El Loco y La Muerte -------------------------------     Reglos stand Gabe in ihrem winzigen Flur und blickte auf den leeren Fleck vor sich an der Wand über der wackligen Kommode, wo bis vor wenigen Wochen noch ein Spiegel gehangen hatte. Kurz zuvor hatte er ein letztes Mal die Haustür geöffnet und nach draußen gesehen, nur um absolut sicher zu sein, dass Alvaro endlich verschwunden war. Was er auch war. Erst danach war er dieses lauernde Gefühl losgeworden, das ihm praktisch im Nacken gesessen hatte, aber eben dieses Gefühl hatte sich nicht vollständig abschütteln lassen, sonst würde er jetzt nicht hier stehen mit dem Kopf voller Gedanken, die langsam überzulaufen begannen. Seine Hand ruhte noch immer still auf seinem Schlüsselbund, den er auf die Kommode gelegt hatte, welche die letzte unfreiwillige Umzugs-Aktion mit einem weiteren gelockerten Fuß mehr schlecht als recht überstanden hatte. Viel mehr war seit seiner Ankunft zuhause nicht geschehen. Er hatte gehofft, nach Hause zu kommen und alleine zu sein, ohne Jules, damit ihm wenigstens etwas Zeit blieb, um sein Vorhaben noch mal durchzugehen und alle Möglichkeiten abzuwägen, damit sie zustimmte, doch der Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer in den Flur fiel, hatte diese Hoffnung zunichte gemacht. Stumm verfluchte er Alvaro, dass er ihm diese Idee in den Kopf gesetzt hatte, hier alles hinter sich zu lassen und auszuziehen, was gar nicht mal so neu war und eigentlich, vernünftig betrachtet, schon viel früher hätte in Angriff genommen werden sollen. Dieses Mal sogar endgültig. Und trotzdem wusste Gabe jetzt nicht, wie er das Jules nach dem Desaster mit dem ersten Versuch, noch einmal beibringen konnte, ohne dass es genauso endete wie damals. Ein Schatten schob sich zwischen Wohnzimmer und Flur und verdunkelte den räumlichen Übergang zwischen ihrem früher mal vor Leben sprühenden Wohnraum zur kalten Welt draußen.   Ohne ein Wort zu sagen, stand Jules im Türrahmen und sah zu ihrem Bruder hinüber, der wie in der Bewegung eingefroren vor der Kommode stand und abwesend die Wand vor sich betrachtete. Seine Haare schimmerten im Halbdunkel. "Warst du schwimmen?" "Nein, im Hydra." Er hörte, wie Jules die Luft erschrocken einsog und ein heiseres 'Heute? Aber-' stammelte, das es kaum aus ihrem Mund heraus schaffte und sich irgendwo auf der kurzen Strecke zwischen ihnen beiden im Flur verlor. "Alvaro war bei mir." "Oh", setzte Jules nun mit nicht weniger Erstaunen hinzu, als bei seinem Geständnis, im geschlossenen Club trainiert zu haben. Ein letztes Mal betrachtete sich Gabe das Stück Wand vor sich, auf der die ausgeblichene Tapete immer poröser wurde und sich langsam an den Kanten zu lösen begann. Irgendwann würde eine der Bahnen vermutlich wie ein verdorrtes Blatt von der Wand segeln und selbst dann würde Jules sie eher irgendwie wieder befestigen wollen, als eine neue Tapete zu akzeptieren. Es passte zum Rest der Wohnung, in der sich seit ihre Mutter hier nicht mehr lebte, nichts mehr verändert hatte. Oder aus Jules' Sicht sich nichts mehr verändern durfte, ohne dass es eine ewige Krise nach sich zog. Gabe fühlte, wie sein sorgsam aufgebautes Konstrukt aus Sorge zu seiner Schwester und seinem eigenen Wohlbefinden in sich zusammenfiel. Er hatte es satt, auf dem Schlafsofa zu liegen und nicht einschlafen zu können, weil es zu klein und unbequem war und ihm ein Holzbalken in den Rücken drückte! Und er hatte es satt, hier nirgendwo auch nur ein winziges bisschen Privatsphäre zu haben! Alles hatte er hier satt! Erst recht diese deprimierende Einrichtung, die ihm selbst immer mehr aufs Gemüt schlug. "Jules, wir müssen reden." Das erste Mal seit er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, kam wieder Bewegung in Gabes Körper. Er nahm die Hand von seinem Schlüsselbund und wandte sich seiner Schwester zu, die ihn teils erwartungsvoll und teils erschrocken ansah.   Jules folgte Gabe bis zur Kücheninsel, wo er seinen Rucksack ablegte und sich etwas zum Trinken aus dem Kühlschrank nahm. Er zögerte einen Moment. Vermutlich, weil ihm die ganzen, heute neu hinzugekommenen Dosen auffielen. Jules beschloss, darüber kein Wort zu verlieren und lieber zu warten, ob es ihr Bruder von selbst ansprach. Doch der tat, als sei nichts besonderes und trank ein paar Schlucke Orangensaft. Gabe war heute seltsam. Jules beobachtete sorgsam jede noch so kleine Regung in dessen Gesicht, konnte aber nichts davon richtig einordnen. Er wirkte weder traurig, noch wütend, noch niedergeschlagen. Nach dem Training war Gabe zwar immer erschöpft und sprach nicht viel, aber normalerweise war er gut gelaunt. Nicht wie heute. Heute war er zerstreut und mit den Gedanken so weit weg, dass sie sich wirklich Sorgen zu machen begann. "Was ist denn los?" Jules bemühte sich, ihre Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen, auch wenn dieses stumme, abwesende Benehmen ihres Bruders wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch wirkte. Was war los? Gabe fühlte sich, als stünde er in einem Raum voller gespannter Mausefallen. Ein falscher Schritt und die Hölle brach los!   Vorsichtig stellte Gabe die Saftflasche auf die Theke und atmete ein letztes Mal tief durch. Wo sollte er mit den Dingen anfangen, die gerade los waren? Im Hydra, wo er wegen drei Münzen, die für alle anderen nur einen symbolischen Wert hatten, eine Panikattacke im Wassertank bekommen hatte? Oder gleich bei Thomas? Der Gedanke an Thomas und wie er dessen Tod Jules beibringen sollte, schlug wie ein Tsunami über ihm zusammen. Er brachte es nicht übers Herz. Jetzt nicht, später nicht und vermutlich überhaupt niemals. Ihre, laut Alvaro, lausige Bude wäre vielleicht der beste Anfang. Ihm gingen sowieso Alvaros letzte Worte nicht mehr aus dem Kopf, ob es nicht besser war, wegzuziehen, auch wenn er Alvaros Beweggründe dazu nicht verstand. Er kannte ihn nicht und er kannte Jules nicht und er kannte ihr Leben in keinster Weise. Und doch hatte er Recht, was Gabe am meisten ärgert. Und es war das kleinere Übel im Gegensatz zu Thomas' Tod.   "Was hältst du davon, wenn wir uns jetzt endlich nach was Neuem umsehen?" Ein kurzer Blick in Jules' schockiertes Gesicht ließ Gabe den Kopf abwenden. Er musste da durch. Und Jules musste da durch. Gabe hob den Kopf wieder und sah seine Schwester direkt an. Tapfer hielt er ihren erschütterten Blicken stand. "Wir suchen uns etwas Größeres. Schöneres. Etwas, was näher am Hydra liegt." Er klammerte sich an jeden Strohhalm, der sich ihm bot, doch das Gesicht seiner Schwester, das gerade alle Farbe verlor, wischte sämtliche Hoffnung auf Verständnis weg. "Aber du weißt, dass das nicht geht." Jules brüchige Stimme war kurz davor endgültig zu kippen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Wir haben ihr versprochen, zu warten." "Du hast ihr versprochen, zu warten, und ich denke, wir haben jetzt lange genug gewartet!" Er klang schroffer, als er eigentlich beabsichtigt hatte, aber es war nicht die erste Diskussion zu diesem Thema und es lief immer gleich ab: nicht mehr lange und sie würde weinen und er nach ein paar hartnäckig schweigenden Minuten doch wieder nachgeben und zustimmen, noch etwas mit dem Umzug zu warten. Und am Ende war er es wieder, der frustriert auf dem Holzbalken des verdammten Schlafsofas lag. Über ein Jahr ging das jetzt schon so. Dieses Mal nicht! Die Enge und die abstoßende Umgebung hier schnitten ihm alles ab, was ihn am Leben hielt.   "Du könntest im Hydra arbeiten!", spielte Gabe seinen letzten Joker aus. "Die bezahlen mehr und die Arbeitszeiten sind besser. Außerdem kennst du dort schon alle!" Er war so froh, dass ihm das noch eingefallen war! Gabe sah gebannt zu Jules und wartete auf ihre Reaktion zu diesem, in seinen Augen wirklich guten Vorschlag. Jules' verletzte Blicke sagten ihm, dass er das Gegenteil erreicht hatte. Die Tränen, die bis eben in ihren Augen geschimmert hatten, waren wie weggezaubert und stattdessen sah sie ihn so feindselig an, als hätte er ihr gerade gestanden, ihr Haustier im Wald ausgesetzt zu haben. Das hier war ein endloser Kampf, den am Ende niemand gewann. Ein Albtraum, aus dem er einfach nicht aufwachen konnte. "Du kannst ja ausziehen, wenn du möchtest, aber ich bleibe hier." Es war das erste Mal, dass Gabe seine Schwester in diesem schroffen Tonfall reden hörte und er war kurzzeitig beeindruckt. "Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Jules, aber du bleibst auf keinen Fall alleine hier!" "Nate ist auch noch hier", setzte Jules trotzig hinzu. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Gabe lachte tonlos auf. "Nate hat in seiner Freizeit genug mit sich selbst zu tun." Eine kleine Pause entstand, in der sich die beiden Geschwister schweigend ansahen. Jules hatte scheinbar ihren Faden verloren und Gabe triumphierte bereits innerlich, weil er sich spätestens jetzt sicher war, dass er dieses Mal doch gewonnen hatte. Überraschend, aber immerhin. Jules' Augen blickten fest in die ihres Bruders. Sämtliche Angst war daraus gewichen. Sie sah verletzt aus, aber nicht mehr auf ihre sonst so verworrene Art. "Langsam glaube ich, dass du der Grund bist, warum alle immer mit sich selbst zu tun haben", zischte Jules ihrem Bruder harsch zu, dem vor Schreck die Knie weich wurden. "Zuerst Nate und jetzt Thomas."   Gabe war so schockiert, dass er einen Moment nicht wusste, was er sagen oder tun sollte. Der Sprung seiner Schwester von Nate zu Thomas war selbst für Jules' verwirrendes Gedankenlabyrinth einen Ticken zu abgehoben. Der erste aufsprudelnde Zorn über diese unfaire Anschuldigung seiner Schwester rumorte wie ein tollwütiges Tier in seinem Magen, das sich mit seinen Klauen einen Weg nach draußen reißen wollte, doch Gabe schluckte seine Antwort, dass Thomas schon längst tot unter der Erde lag, hinunter, auch wenn es sich wie eine Tonne glühende Lava anfühlte. Eher würde er daran ersticken, als diesen einen Satz zu sagen. Ohne ein Wort zu sagen, ließ Gabe Jules stehen und ging ins Bad. Das hier war so ein Moment, in dem er es wirklich vermisste, wieder seinen eigenen privaten Bereich zu haben, dachte er, während er sich mit zitternden Händen umzog. Das erste Mal in seinem Leben hatte ihn Jules so wütend gemacht, dass ihm kein einziges Wort mehr über die Lippen kam. Er konnte nicht mal schreien, obwohl er innerlich kurz vorm Explodieren war. Als hätte dieser eine Satz aus ihrem Mund, dessen tatsächliche Tragweite sie noch nicht mal wissen konnte, etwas in ihm lahmgelegt, was bis vor wenigen Minuten noch mehr schlecht als recht funktioniert hatte, weil ihm eben keine andere Wahl geblieben war.   Ohne Jules, die noch immer an der Küchentheke stand und selbst überrascht von dem Effekt ihres Wutausbruchs war, eines Blickes zu würdigen, ging Gabe an ihr vorüber in den Flur und zur Haustür raus. Wenn er noch länger blieb, würden ihm tausend, mindestens genauso unfaire Dinge einfallen, die er ihr an den Kopf werfen könnte, doch damit wäre dann sein absoluter Tiefstpunkt erreicht. In dem Augenblick, als die Haustür hinter Gabe zufiel und er in der angenehm kühlen Abendluft auf dem flurartigen Gang stand, der die Appartements mit dem Treppenaufgang verband, und dessen Überdachung bei Starkregen ständig überlief und den Flur darunter überschwemmte, fragte er sich ehrlich, was zur Hölle er hier tat.   Die Haustür öffnete sich einen Spalt breit und Gabe kam zwei Schritte weit in den Flur hinein. "Ich gehe was essen, kommst du mit?" Abwartend sah er zu seiner Schwester, die kurz so wirkte, als wollte sie tatsächlich mitkommen, sich dann aber innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder fing und den Kopf schüttelte. "Hab' keinen Hunger", murmelte Jules gerade so laut, dass Gabe sie hören konnte. Der erwiderte ein ebenso leises Okay und verschwand dann wieder nach draußen.     "Wo ist Jules?", wurde Gabe kurz darauf von Nate begrüßt, der vor dem Eingang des The Gorge auf ihn wartete, hinter dessen Tür ohrenbetäubende Musik auf die Straße schallte. Es stand wohl wieder irgendein Feiertag vor der Tür, sonst würde man hier nicht so scheinheilig tun, als wäre man der Zufluchtsort Nr. 1 vor der nervenden Verwandtschaft. "Kommt nicht mit", antwortete Gabe knapp und ging an Nate vorbei, der noch einmal die Gasse hinunter sah, ob Jules nicht doch noch folgte. "Was hat sie denn?", fragte Nate, als er zu Gabe aufgeschlossen hatte, der mit verbissenem Gesichtsausdruck neben ihm die Straße überquerte. "Heute Nachmittag war sie noch richtig gut drauf." "Passiert halt", zischte Gabe abweisend und riss die Tür des Diners so ungehalten auf, dass die Scharniere heiser ächzten und das Windspiel darüber wie eine Handvoll Eisenstangen klang, die eine Treppe hinunter geworfen wurden. Den Rest des Diners ignorierend, glitt Gabe auf die erstbeste freie Sitzbank, die er erreichen konnte. Er zog die Speisekarte aus dem Ständer und ließ seine Blicke über jede einzelne Zeile schweifen. Er kannte das Menü hier auswendig. Samt wechselnder Tagesmenüs! Er musste einfach nur kurz dieses Gefühl überwinden, das ihm vorgaukelte, er solle seinen Kopf so oft irgendwo dagegen schlagen, bis er nicht mal mehr wusste, wie er hieß. Er konnte Nate, der gerade gegenüber von ihm Platz nahm und ihn ungewohnt besorgt ansah, ja schlecht gestehen, dass er der Grund für Jules' schlechte Laune war. Nicht, wenn er die nächste Diskussion für diesen Abend vermeiden wollte.     Gabe hob erst wieder die Blicke von der Speisekarte, als das Essen und die Getränke vor ihnen auf den Tisch gestellt wurden. Er hatte weder mitbekommen, wie die Bedienung an den Tisch gekommen war, noch wie Nate die Bestellung aufgegeben hatte. "Ich habe dich drei Mal gefragt und du hast jedes Mal 'Ja' gesagt." Nate deutete auf Gabes Teller, auf dem ein schlichter Burger samt Pommes thronte. "Schon okay", murmelte Gabe, der sich an keine einzige von Nates Fragen erinnern konnte. Und erst recht nicht daran, darauf geantwortet zu haben. Der aufsteigende Essensgeruch schlug ihm kurz auf den leeren Magen und Gabe wurde bewusst, wie lange er schon nicht mehr richtig gegessen hatte. Vor dem letzten Training im Hydra sowieso nicht, aber auch davor war alles so diffus, dass die letzte Mahlzeit, die am deutlichsten in seiner Erinnerung haften geblieben war, Jules' widerwärtige verschimmelte Lasagne war. Gabe nahm eine Pommes und zog sie gedankenverloren durch einen Klecks Ketchup, der vom Burger auf den Teller hinab getropft war. Eine Weile sah Nate Gabe dabei zu, wie dieser das Kartoffelstück wie einen Schneepflug durch den Ketchup schob, ohne sie essen zu wollen, dann hielt er es nicht mehr aus. "Was ist bei euch eigentlich gerade los?" "Was meinst du?" Die Pommes zog ohne Unterbrechung weiter Kreis um Kreis in dem roten See, der mittlerweile nur noch aus hauchdünnen hellroten Linien bestand, die sich kreuzten und wieder verloren. "Alles!?" Nate ließ seinen Burger auf den Teller sinken. Gabe wirkte, als könnte direkt neben ihm die Erde aufbrechen und das ganze verdreckte Stadtviertel hier verschlingen, ohne dass er es registrierte. "Fang bei dem komischen Typen an, der hier neuerdings ständig auftaucht." Auf Gabes Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. "Welcher Typ?" "Der, der euren Schlüssel hatte." Das erste Mal, seit sie hier angekommen waren, hob Gabe den Kopf. Sein tranceartiger Blick klärte sich zusehends. Er legte die Pommes zurück auf den kalten Kartoffel-Stapel, von dem er sie genommen hatte, und wischte sich die fettigen Finger an der Serviette ab. "Welchen meinst du genau?" Gabes Frage irritierte Nate, der davon überrumpelt erst seine Erinnerungen durchgehen musste. Waren da mehrere?     Hosted by Animexx e.V. 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