Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 10: Einfach schwimmen -----------------------------   Mit noch immer weichen Knien betrat Alvaro hinter Gabe die Umkleide, die sich im gleichen Flur wie der Einstieg des Wassertanks befand. Er warf seine nasse Jacke über die Rückenlehne eines Drehstuhls und nahm dann auf dem Stuhl Platz. Langsam ließ der Schock über das eben Geschehene nach und sein Kopf begann vorsichtig damit, das Chaos zu ordnen. Die Geschwindigkeit, mit der alles abgelaufen war, hatte ihm kaum Zeit gelassen, das, was passierte, tatsächlich zu realisieren. Er hatte einfach nur reagiert - und scheinbar richtig, denn sie beide lebten. Seine Ausbilder wären zufrieden. Aber Alvaro war es nicht. Er dachte wieder an die Hilflosigkeit, die ihn gelähmt hatte, als Gabe zu weinen anfing. Sein erster Reflex, etwas zu sagen oder ihm - was wusste er schon? - die Hand auf die Schulter zu legen, hatte sein im Standby-Modus laufender Kopf gar nicht erst weiter als bis zu diesem wenige Sekundenbruchteile dauernden Gedanken kommen lassen. Was einerseits wohl besser war. Es ersparte ihm die Peinlichkeit, sich im Nachhinein zu eventuell gesagtem oder getanem Unsinn erklären zu müssen. Stattdessen hatte er einfach nur still neben Gabe gesessen und gewartet, bis das Schluchzen immer leiser geworden und dann irgendwann ganz verstummt war. Was am Anfang wie Stunden gewirkt hatte, hatte in Wirklichkeit nicht einmal zwanzig Minuten gedauert. Zwanzig Minuten, in denen so viel geschehen war. Ein Beinahetod, ein verzweifelter Rettungsversuch und dann dieser erschütternde Ausbruch von vermutlich wochenlang unterdrückter Trauer. Auf so etwas war er in seiner Ausbildung nicht vorbereitet worden...   Alvaro sah auf. Was er sagen wollte, blieb ihm jedoch im Hals stecken. Gabe hatte entweder vergessen, dass Alvaro anwesend war, oder es war ihm einfach egal. Er stand mitten im Raum, hatte die Neopren-Shorts ausgezogen und damit begonnen, sich abzutrocken. Höflich wandte sich Alvaro von Gabe ab und betrachtete sich nun die Dinge, die der Schminktisch, vor dem er saß, zu bieten hatte. Dort herrschte das gleiche Chaos, wie in seinem Kopf. Nur bunter. Überall lagen künstliche Edelsteine verteilt, deren Zweck ihm völlig schleierhaft war, offene Dosen mit glänzendem Puder, neben denen irgendwelche puscheligen Dinger lagen, und sicher hundert Lippenstifte in allen möglichen Farben. Einzig die bunten Notizzettel, die den Spiegel einrahmten, waren ihm auf den ersten Blick vertraut. Aber auf denen hier standen keine kryptischen Nachrichten wie "Entsorgen!". Auf einem hatte jemand den Abdruck eines Kussmundes aus Lippenstift hinterlassen und auf einem anderen stand in schnörkeliger Schrift "Einfach schwimmen".   Alvaro fiel der Augenblick wieder ein, als er sich fragte, was er tun sollte, wenn Gabe nicht mehr auftauchte. Er hob den Blick und sah im Spiegel zu Gabe, der sich weiter stumm abtrocknete und wirkte, als sei er am anderen Ende der Welt. Er sah so traurig aus, dass sich Alvaros Hals wieder zuschnürte, wie in dem Moment, als ihm seine Machtlosigkeit bewusst wurde, als er am Rand des Wassertanks auf die zigtausende Liter Wasser unter sich geblickt und gebetet hatte, dass Gabe es nach oben schaffte. Im schlimmsten Fall wäre Gabe direkt vor seinen Augen ertrunken und Alvaro hätte rein gar nichts dagegen tun können. Selbst jetzt, weit weg vom Wasser und der gefährlichen Situation an sich, kroch wieder diese Angst in seinen Magen. Er sollte irgendjemanden beiseite schaffen? Lächerlich! Mit einem hatte Moreno allerdings recht gehabt. Er hatte alles für LaRue getan, ohne es weiter zu hinterfragen. Und er würde es auch weiter für den Rest von dessen Familie tun. Und das gleiche würde er für diese neue Familie hier tun, auch wenn er das zum Zeitpunkt von LaRues Tod noch nicht wissen konnte. Er hatte es sich geschworen, als er alleine neben LaRues Leichnam in der Pathologie gestanden und sich dessen seltsam friedliches Gesicht angesehen hatte, das wirkte, als wäre sämtlicher Kummer, der jemals auf ihm gelastet hatte, wie welkes Laub von ihm abgefallen. Es war das erste Mal, dass er einen Toten gesehen hatte und wie in Trance hatte er die Hand nach ihm ausgestreckt und die eiskalte, starre Haut berührt, die sich unerwartet zart angefühlt hatte. Und genau diesen Moment spürte er seit diesem Zeitpunkt immer wieder aufs neue unter seinen Fingerspitzen, sobald er auch nur daran dachte. Kühle, wachsbleiche Haut, die noch ein paar Stunden davor voller Leben gewesen war. Keinem einzigen Menschen könnte er jemals antun, was mit LaRue passiert war.   "Ich kann nicht schwimmen." Gabe hörte auf, sich abzutrocknen. Er hob den Kopf und begegnete im Spiegel Alvaros Blicken. Er bemerkte sofort die Veränderung in dessen Gesicht, so winzig sie auch war. Eine Art Erleichterung hatte die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen geglättet. Als hätte er in diesem Moment die Tür aufgestoßen, die er so eisern zugehalten hatte, und hätte der Welt einen kleinen Blick in sein Universum gewährt. "Echt nicht?" Gabes Stimme klang heiser. Eine direkte Nachwirkung aus der erzwungenen Anspannung, während des Auftauchens nicht aus Versehen einzuatmen, und seinem Weinkrampf direkt danach. Verlegen schüttelte Alvaro den Kopf. Er drehte sich nun ganz zu Gabe herum und schien noch etwas hinzufügen zu wollen, was er aus Gründen, die Gabe nicht kannte, dann aber doch nicht tat. "Soll ich es dir zeigen? Ich kann es normalerweise ganz gut..." Gabes Mundwinkel bogen sich zu einem etwas bitteren Lächeln. "Bitte nicht", lehnte Alvaro Gabes Angebot entschieden ab. "Alles, was tiefer als die Badewanne ist, macht mir Angst." "Dann fangen wir eben mit der Badewanne an." Gabe konnte nicht anders, als über Alvaros fassungsloses Gesicht zu schmunzeln, der sich wohl vorzustellen versuchte, wie das ablaufen sollte. Beinahe hättest du Alvaro zum Zuschauer deines Ertrinkens gemacht und hättest ihn dann mit dieser Bürde bis an sein Lebensende zurückgelassen, meldete sich Gabes schlechtes Gewissen und das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Er wusste noch nicht einmal, warum er heute entgegen aller Vernunft alleine ins Wasser gegangen war. Alvaros Anwesenheit war ja nicht mal eingeplant gewesen. Einen Augenblick hatte er sich unter Wasser sicher gefühlt und gedacht, dass es ewig so bleiben sollte. Am liebsten wäre er gar nicht mehr aufgetaucht, sondern einfach dort unten geblieben, wo ihm der Wasserdruck Geborgenheit vorgegaukelt hatte, und wo die Münzen jetzt wieder im Sand lagen. Zum Glück hatte er heute keine Gewichte getragen. Und zum Glück gab es die Sicherheitsleine, ohne die er ewig zum Auftauchen gebraucht hätte. Und zu seinem größten Glück, war Alvaro dagewesen. "Tut mir leid", stieß Gabe bedrückt hervor. Alvaro sah ihn irritiert an. "Was? Dass ich nicht schwimmen kann?" "Ja, das auch", lachte Gabe über Alvaros unfreiwillige Ahnungslosigkeit. Er warf das Handtuch weg, das er die ganze Zeit vor sich gehalten hatte, und sah Alvaro erwartungsvoll an, der sich peinlich berührt abwandte. Ein paar unangenehm schweigsame Sekunden vergingen, in denen Gabe sich keinen Millimeter rührte, wie Alvaros schneller Blick aus seinem Augenwinkel ihm bestätigte. "Meine Kleider", erklang Gabes amüsierte Stimme irgendwann. "Kleider?" Alvaros Stimme versagte. Was zur Hölle meinte er? "Unter deiner Jacke auf der Stuhllehne", erlöste Gabe schließlich sein Gegenüber aus dessen Kaninchen-sitzt-vor-Schlange-Paralyse.     "Du hast ja wirklich gewartet", begrüßte Gabe wenig später Alvaro gut gelaunt, der auf der obersten Stufe der Metalltreppe neben dem Seiteneingang saß und rauchte. Er sperrte die Tür ab und setzte sich dann neben Alvaro, der eine viertel Stunde zuvor mit einem hektischen Ich warte draußen aus der Umkleide verschwunden war. Er hätte eher damit gerechnet, dass sich Alvaro, so aufgelöst wie er war, ins Auto setzen und wegfahren würde, aber scheinbar hatte sich Mr. Super-korrekt wieder im Griff. "Ich kann übrigens nicht Autofahren." Gabe sah zu Alvaro hinüber, der nun leicht lächelte, ohne den Blick von den Bergen alter Kartons zu lassen, die sich an der Fassade des Gebäudes gegenüber stapelten. Eine Rauchwolke stieg vor Alvaro auf. Er drehte den Kopf, bis er Gabe gerade so sehen konnte, der gebannt auf Alvaros Reaktion wartete. Seine Haare waren nass und das Wasser tropfte auf seine Schultern hinab, ohne dass es Gabe zu stören schien. Genau wie an dem Tag, als er ihn das erste mal vor dem Appartement mit der Nummer 17 gesehen hatte und sich keinen Reim darauf machen konnte, warum Gabe bei strahlendem Sonnenschein nasse Haare hatte. Jetzt wusste er es. Alvaro warf seine Zigarette weg. Ihre rotglühende Spitze versank in der Dunkelheit vor der Treppe. "Soll ich es dir zeigen? Ich kann es normalerweise ganz gut", witzelte er im gleichen Tonfall wie Gabe in der Umkleide. Gabe lachte. "Ich denke nicht, dass deine Versicherung davon begeistert wäre..." "Wahrscheinlich nicht." Alvaro suchte in seiner Jacke nach den Autoschlüsseln. "Soll ich dich ins Krankenhaus fahren? Nur um sicher zu sein?" "Ist nicht nötig", lehnte Gabe das Angebot bestimmt ab. Er erhob sich und wartete, dass Alvaro ebenfalls aufstand. "Ich habe ja kein Wasser eingeatmet." "Das sah aber anders aus", wandte Alvaro skeptisch ein. "Ich weiß." Gabe bemühte sich zu lächeln. "Aber glaub mir, den Unterschied würdest du erkennen..."   Der Motor von Alvaros Wagen verstummte. Anstatt vor dem The Gorge, das wie immer die halbe Straße erleuchtete, hatte er vor dem ruhigeren Kiosk geparkt, in dem sich Jules tagtäglich mit allen möglichen Snacks eindeckte. Gabe saß nachdenklich neben ihm, ohne Anstalten zu machen, aussteigen zu wollen, und Alvaro beschloss, zu warten, bis er so weit war. "Machst du das regelmäßig?" Gabe nickte stumm, ohne aufzuschauen. "Immer alleine?" Gabe lachte tonlos auf. "Nein, so dumm war ich heute das erste Mal." "Dumm wirkte das nicht", murmelte Alvaro vor sich hin. "Eher geplant." Er betrachtete sich Gabe, der wieder schweigend neben ihm saß und mit den Gedanken ganz woanders war. Aber er lag wohl richtig. "Warum gibt es keine Zeitungsartikel zu dem Unfall? Keine Todesanzeige?" Alvaro seufzte unhörbar. Gabes traurige Blicke strichen über sein Gesicht und wieder zurück zur Frontscheibe hinaus. "Seine Familie wollte das so." Das war nur die halbe Wahrheit und Gabe durchschaute es direkt, wie Alvaro an dessen Mimik bemerkte. "War jemand bei ihm? Was war davor?" Gabe hatte sich auf seinem Sitz zu Alvaro umgewandt. "Ist er einfach weggefahren, hatte den Unfall und das war's? Ich arbeite für ihn und habe nichts davon gewusst, bis du es mir gesagt hast." Alvaro dachte wieder an die Tiefgarage und das Kümmer dich darum. Er verstand, dass Gabe Fragen hatte, aber die hatte er selbst auch. Mehr als genug. Sollte er Gabe etwa von Moreno erzählen? Ganz sicher nicht. "Warum wohnt ihr eigentlich noch hier in dieser lausigen Bude?", lenkte Alvaro schnell ein, bevor Gabe ihn noch weiter mit Fragen löchern konnte, die er nicht beantworten konnte oder wollte. "Wenn du für LaRue gearbeitet hast, wirst du dir ja was anderes leisten können, als das hier." Gabes Augenbrauen zogen sich düster zusammen. Man merkte, wie er nach den richtigen Worten suchte. "Wegen Jules", sagte Gabe schließlich. Seine Blicke gingen wieder nach draußen auf die Straße, wo trotz der späten Uhrzeit geschäftiger Betrieb wie am helllichten Tag herrschte. "Sie will hier nicht weg, weil sie Angst hat, den Zeitpunkt zu verpassen, wenn unsere Mutter nach Hause kommt." Er lachte bitter. Seine Hand suchte nach dem Türgriff. Er stieß die Tür auf und stieg aus. "Vielleicht solltet ihr es doch mal versuchen", rief Alvaro Gabe nach, der sich ein letztes Mal zu ihm hinabbeugte. "Danke, ich werde es Jules ausrichten", erwiderte Gabe spöttisch. Er schlug die Tür zu und verschwand dann die Gasse zu den Appartements hinauf. Alvaro wartete, bis sich das Hoftor mit lautem Knall hinter Gabe schloss. Dann fiel ihm die Kiste wieder ein, die er extra wegen Gabe wieder in den Wagen geworfen und dann durch den ganzen Zirkus doch prompt vergessen hatte. Dann eben beim nächsten Mal, dachte Alvaro. Er startete den Wagen und fuhr los. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)