Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 9: Deadweight ---------------------     Was für ein Unterschied zum The Gorge, das sich den Leuten mit seiner übertrieben grellen Geschmacklosigkeit quasi aufdrängte, dachte Alvaro, nachdem Gabe die Treppe in die obere Etage hinauf verschwunden war und ihn in der Bar alleine gelassen hatte. Jetzt, wo es hell war, wirkte die Umgebung regelrecht gemütlich. Hier war nichts schmutzig oder abgenutzt. Die Einrichtung, die das Innere eines alten Schiffs imitierte, war zwar auf alt getrimmt mitsamt rissigen Segeltüchern, die einen Teil der Wände bespannten und wurmstichigen Holzplanken als Tresenumrandung, aber alles war aufeinander abgestimmt und gut gepflegt. Es war offensichtlich ein Club, in dem sich Menschen zum Feiern trafen, anstatt die eigene Sinnlosigkeit mit anderer Leute Bedürftigkeit zu maskieren.   Gemächlich schlenderte Alvaro weiter an der verglasten Wand entlang und blieb dann direkt davor stehen. Sein halbtransparentes Spiegelbild in der klaren Oberfläche riss die Augen auf, als er den Fischschwarm sah, der direkt vor ihm an der Scheibe entlang glitt. Kleine, silbrig schimmernde Augen streiften mit ihren starren Pupillen den Mann vor dem Glas, der sich nun etwas zu ihnen vorbeugte und sich fasziniert den Lebensraum ihres kleinen Universums betrachtete. Es sah aus, als würde man einen Blick direkt in den Ozean werfen, ohne dabei nass zu werden. Nachgebaute Korallenriffe, auf denen vermutlich echte Pflanzen wuchsen, säumten die hohen Wände des zylindrischen Aquariums, dessen oberer Teil von hier unten nicht zu sehen war. Die Beleuchtung über dem Tank warf lange schillernde Vorhänge aus Lichtstrahlen auf den Boden, wo sie auf den Bug samt barbusiger Galionsfigur eines künstlichen Schiffswracks trafen, das aus dem Sand ragte. Und wie es sich für ein gesunkenes Schiff gehörte, wiegte sich direkt daneben die gerissene Kette eines rostigen Ankers gemächlich in der Wasserströmung und diente ein paar Muscheln und Seepocken als Sitzplatz. Überall huschten Fische durch die langblättrigen Pflanzen, kamen kurz neugierig näher und verschwanden sofort wieder zwischen Schnüren aus Luftblasen, die wie Perlenketten nach oben stiegen. Alvaro konnte nicht einmal sagen, was von den Pflanzen und Steinen alles künstlich war und was echt, so harmonisch wirkte es in seiner Gesamtheit. Seine Blicke folgten der ausgestreckten Hand der Galionsfigur nach oben und er versuchte abzuschätzen, wie hoch das Aquarium wohl war und was darüber lag. Wahrscheinlich ein Einstieg zum Füttern der Fische und für Wartungsarbeiten. Und dann fragte er sich, wer dieses monströse Wasserbecken säuberte und konnte sich das kalte Schaudern nicht verkneifen, das seinen Rücken hochkroch. Er hasste Wasser; es machte ihm Angst - erst recht, wenn es so tief war wie hier.   Alvaro sah auf seine Uhr. Gabe war schon eine ganze Zeit lang weg, ohne dass er auch nur die geringste Spur von ihm entdecken konnte. Das monotone Plätschern des Aquariums ermüdete ihn langsam und Alvaro folgte den Lichtleisten, die in den Boden eingelassen waren, zu einer Sitzgruppe in der Nähe des Wasserbeckens, wo er erleichtert Platz nahm. Das erste Mal für heute. Die Arme im Nacken verschränkt, sah Alvaro den Fischen vor sich zu, die unbekümmert ihrem Fischdasein nachgingen und sich offensichtlich nicht darum scherten, was außerhalb ihrer gläsernen Barriere vor sich ging. Eine Bar mit Aquarium - oder eher ein Aquarium mit Bar. Auf welche Ideen LaRue wohl noch so gekommen war? Und warum hatte er ein Geheimnis daraus gemacht, dachte Alvaro bitter. Welchen Grund gab es, dass er ihn nicht in dieses eigentlich harmlose Geschäft eingeweiht hatte? Warum hatte er nie hier im Auto auf seinen Chef warten müssen? Dann hatte er eben keine Ahnung von allen Geschäften, die LaRue betrieben hatte. Dafür hatte er ja jetzt mehr damit zu tun, als ihm lieb war... Die Kiste mit den Münzen und dem anderen Kram tauchte kurz in Alvaros Erinnerung auf. Eigentlich könnte er sie auch schnell aus dem Auto holen.     Mit geschlossenen Augen saß Gabe auf dem gefliesten Beckenrand des Aquariums, dessen Einstieg sich wie von Alvaro richtig angenommen, im Obergeschoss befand. Seine Beine hingen im angenehm warmen Wasser und trotzdem gelang es ihm nicht, abzuschalten. Verbissen versuchte er, sich auf seine Atmung und Herzschlag zu konzentrieren, die beide heute ihrem eigenen störrischen Takt folgten. Seine Brust fühlte sich wie eingeschnürt an, als läge er unter einem wahnsinnig schweren Stein. Sämtliche Rippen sträubten sich gegen jeden einzelnen Atemzug, den er nahm und langsam wurde aus dem anfänglichen Frust Wut. Gabes Augen öffneten sich und seine Blicke fielen auf die drei Münzen, die neben ihm auf dem Beckenrand lagen. Sie waren der Stein, unter dem er gerade um jeden Atemzug kämpfte. Es war ihr Gewicht, das ihm am Hals hing und vor dem er plötzlich eine undefinierbare Angst hatte - das erste Mal überhaupt, wenn er ehrlich war. Einen Moment dachte Gabe darüber nach, das Training abzubrechen, aber was änderte das auf lange Sicht schon? Irgendwann saß er wieder hier und wenn er heute aufgab, dann beim nächsten Mal wieder und wieder und wieder und dann war alles weg, was sie zusammen aufgebaut hatten. Er nahm die Münzen in die Hand und betrachtete sie sich einen Moment lang, dachte an die Bedeutung, die sie hatten. Daran, weshalb er sie seit zwei Jahren zu jedem Training mitnahm. Eine nach der anderen warf er sie vor sich ins Wasser, hörte das Plätschern der Wasseroberfläche und sah ihnen dabei zu, wie sie glänzend zu Boden tänzelten. Jetzt gab es kein Zurück mehr.   Gabe reckte die Arme über seinen Kopf und atmete tief ein. Er spürte, wie sich jeder Muskel in seinem Oberkörper entspannte und sein Brustkorb sich mit jedem Atemzug weitete. Nach und nach wurden die Gedanken an Thomas von den imaginären Wellen weggetragen, die aufeinander folgend auf Gabe zurollten. Mit jedem Einatmen kam eine neue Welle auf ihn zu, schwappte schäumend um seine Beine und nahm beim Ausatmen Thomas Stück für Stück mit hinaus aufs offene Meer, als wäre sein Körper nichts anderes als eine Anhäufung von zig Milliarden Sandkörnern, die immer mehr ihre Form verloren, bis nichts mehr von ihm übrig war. Mit der letzten Welle, die von Gabe wegrollte, verschwanden Thomas' Fußabdrücke endgültig von seinem imaginären Strand. Er nahm einen letzten tiefen Atemzug und ließ sich ins Wasser sinken. Kerzengerade sank Gabe Richtung Boden, vorbei an den künstlichen Riffen und den im Wasser tanzenden Pflanzen. Er spürte den zunehmenden Wasserdruck wie eine Umarmung, die seinen ganzen Körper einschloss und fühlte sich endlich geborgen.     Die Bewegung in seinem Augenwinkel ließ Alvaro aufschrecken. Augenblicklich war er wieder hellwach. Sein Herz raste, aber seine Gedanken war kristallklar. Vorsichtig sah er sich um und registrierte, dass sich die Wasserpflanzen nun heftiger bewegten, als die ganze Zeit. Der Fischschwarm, der träge vor der Scheibe hin und her glitt, teilte sich und in dem nun entstandenen Spalier aus Fischkörpern sank Gabe wie ein Stein nach unten. Alvaro durchfuhr es eiskalt. Was in Gottes Namen sollte das? Panik machte sich in ihm breit, der, von dem Anblick völlig überfordert, Gabe zusah, wie er mit geschlossenen Augen vor ihm zu Boden sank. In einem Tank mit schätzungsweise zwanzig- oder dreißigtausend Litern Wasser darin. Als Gabe etwa auf Alvaros Höhe war, öffnete er endlich die Augen und winkte fröhlich seinem schockierten Gegenüber auf der trockenen Seite zu. Kurz bevor er den Boden erreichte, glitt er ruhig zur Seite weg und folgte dem Fischschwarm, der sich wieder neu geordnet hatte.   Alvaros entgeisterte Blicke folgten Gabe, der gemächlich wie ein Fisch durch das Becken schwamm. Kurz darauf hatte ihn das neblig milchige Blau des Hintergrunds verschluckt. So dicht es ging trat Alvaro an die Glaswand heran und suchte das Wasser nach Gabe ab. Ihm war immer noch absolut schleierhaft, was Gabe da tat. Bis er ihn aus den Augen verloren hatte, hatte es ausgesehen, als suchte er den Boden ab. Alvaro reckte den Hals und versuchte, etwas auf dem Boden zu erkennen, aber die gewölbte Glaswand und das sich in ständiger Bewegung befindende Wasser ließen keine klaren Konturen zu. Alles war verschwommen und änderte sich kontinuierlich mit der Strömung. Wie lange konnte Gabe eigentlich die Luft anhalten?   Gabe hatte Alvaro völlig vergessen. Er versuchte, an nichts unnötiges zu denken und genoss die Eigenbewegung des Wassers, das ihn umgab und trug. Er fühlte sich wie in einem Kokon, in dem er abgeschirmt von allem, was draußen geschah, in seiner eigenen Welt vor sich hin glitt. Nichts und niemand konnte ihn hier drin erreichen. Erst recht keine schlechten Nachrichten... Zwei Münzen hatte er bereits gefunden und die dritte lag nicht weit von ihm weg in einer Gruppe Seetang. Flink sammelte er sie im Vorbeischwimmen ein und machte sich wie sonst auch auf die Suche nach der Vierten, als ihm einfiel, dass es keine weiteren Münzen mehr gab. Es würden für immer nur noch seine drei Münzen bleiben, weil die übrigen mit Thomas verschwunden waren und nie wieder irgendwo am Grund eines Gewässers auf ihn warten würden, bis er kam und sie einsammelte. Gabe fühlte, wie etwas seine Brust umklammerte. Eiskalt stieg es seinen Oberkörper empor, bis zu seinem Hals und weiter, bis es seinen Kopf erreicht hatte. Nie wieder lagen alle Münzen zusammen am Grund. Und absolut nie wieder würde er das anerkennende Lachen hören, wenn er sie alle an die Oberfläche brachte. Am liebsten würde er nur noch schreien und nie wieder damit aufhören. Gabe unterdrückte das Gefühl in seinem Hals, als würde ihm die Kehle zugedrückt, doch ausgerechnet heute funktionierte nichts. Sein Körper wehrte sich gegen alles, was er tat. Seine Hand öffnete sich und die Münzen taumelten wieder zu Boden. Gabe griff noch danach, doch der sich aufbauende Druck in seiner Brust wurde immer unerträglicher. Er musste auftauchen.   Endlich hatte er Gabe wieder entdeckt! Kopfschüttelnd sah Alvaro ihm zu, wie er fast bewegungslos zwischen den Fischen dahinglitt, immer mal wieder zu Boden tauchte und eine Kurve nach der anderen zog. Aber irgendwas an seinen Bewegungen wirkte nun plötzlich seltsam. Abgehackter und nicht mehr ganz so harmonisch wie davor. Statt ruhig dahinzugleiten, richtete sich Gabe im Wasser auf. Seine Hände suchten nach etwas und kurz darauf brach ein Schwall Luftblasen aus seinem Mund hervor. Alvaro rannte los, die Treppe hinauf, die Gabe vorhin genommen hatte. Irgendwo musste der Einstieg zum Becken sein!     Wie vermutet fand Alvaro den Einstieg im Obergeschoss. Er sah aus wie der Beckenrand eines Swimming Pools mitsamt Metalltreppe, die ein Stück weit ins Wasser führte. Vorsichtig trat Alvaro an den kniehohen Rand heran und sah ins Wasser hinab. Nervös wartete er auf eine Spur von Gabe und dachte fieberhaft darüber nach, was er im schlimmsten Fall tun sollte: wenn Gabe überhaupt nicht mehr auftauchte. Alvaro unterdrückte die aufkommende Panik, die kurz davor war, seine Gedanken zu benebeln, und ging zur Metalltreppe. Er sah auf die sich Kaleidoskopartig verändernde Wasseroberfläche hinab und zählte die Sekunden. Wie lange dauerte es, bis man aus dieser Tiefe aufgetaucht war? Zehn Sekunden? Zwanzig? Was, wenn Gabe am Boden lag? Einen Moment dachte Alvaro daran, ins Wasser zu springen, als er einen Schatten im Wasser sah, der sich der Oberfläche näherte. Er hoffte, dass es kein verdammter Fisch war, doch dann erkannte er zu seiner Erleichterung Gabes Haarfarbe. Alvaro kniete sich auf den gekachelten Rand. Mit einer Hand hielt er sich am Geländer der Metalltreppe fest und beugte sich so weit vor, wie er konnte. Seine freie Hand schoss nach vorne ins Wasser, bis er Gabes Arm zu fassen bekam und mit einem kräftigen Ruck zog er ihn nach oben.   Gabe hustete und spuckte Wasser, aber er lebte. Alvaro konnte es kaum fassen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Hand zitterte unkontrolliert, aber er hielt Gabe weiter fest, damit dieser nicht wieder untertauchen konnte. Geduldig wartete Alvaro, bis Gabes Hustenanfall etwas nachließ und er einigermaßen normal atmete. Er half ihm, sich aus dem Wasser zu ziehen und erst als Gabe sicher auf dem Beckenrand saß, ließ er ihn wieder los. Gabes Herzschlag hämmerte heftig gegen seinen Brustkorb, während der Krampf in seiner Kehle andauerte. Sein Kopf fühlte sich an als würde er gleich platzen und jeder Gedanke, den er zu erfassen versuchte, rann aus ihm heraus wie Sand aus einer zerbrochenen Sanduhr. Einzig Alvaros eiskalte zitternde Hand, die seinen Unterarm umklammerte und ihn gleich darauf losließ, schaffte es durch seinen Panikmodus hindurch. Alvaros Schulter berührte Gabes Schulter, als er sich erschöpft neben ihm auf dem Beckenrand niederließ, weil ihn seine eigenen wackeligen Beine nicht mehr trugen. Er sprach kein einziges Wort. Alvaro wusste, wenn er jetzt den Mund öffnete, käme sowieso kein einziger klarer Laut heraus. Sein rasender Atem war alles, was das Schweigen zwischen ihnen durchbrach.   Endlich löste sich der Krampf in Gabes Hals und er tat seinen ersten richtigen Atemzug, was Alvaro augenblicklich erleichtert registrierte. Er sah auf, als er spürte wie kurz darauf Gabes Körper neben ihm von heftigen Kontraktionen geschüttelt wurde. Automatisch griff Alvaro nach seinem Handy, um einen Krankenwagen zu rufen, als er merkte, dass Gabe weinte. Er schob sein Telefon zurück in seine Jackentasche und blieb einfach ruhig neben Gabe sitzen, der das Gesicht in seinen Händen vergraben hatte und verzweifelt schluchzte. Bedrückt sah Alvaro auf seine eigenen Hände hinab. Jedes einzelne aufkommende Schluchzen neben ihm legte sich wie eine Bleischicht auf seine Schultern und ließ ihn einfach hilflos dasitzen, ohne dass er sich rühren konnte. Er wusste es nicht genau, aber er ahnte es, wie knapp es gewesen sein musste, dass Gabe jetzt hier lebend neben ihm saß. Und egal, was Moreno behauptet hatte, es gab keinen einzigen plausiblen Grund dafür, dass LaRue gedacht haben könnte, Gabe stelle in irgendeiner Form eine Gefahr dar und müsste aus dem Weg geschafft werden. Lieber würde er bis an sein Lebensende irgendwelche Kinder durch die Gegend zum Fechttraining und Musikunterricht fahren, als auch nur ein einziges Mal seine Hände mit fremdem Blut zu beschmutzen.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)