Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 4: 10.984 m -------------------       "Hast du euren Besuch noch getroffen?", wurde Jules am gleichen Abend im The Gorge begrüßt, als sie hinter den Empfangstresen trat. "Besuch? Ich habe niemanden gesehen." Seelenruhig verstaute sie ihren Rucksack in einem Fach und steckte sich dann ihr Namensschild an die strahlend weiße Bluse. "War es etwas wichtiges?" "Keine Ahnung, er wirkte etwas neben der Spur. Faselte was davon, dass er etwas bei euch abholen sollte. Total schräger Typ." "Dann war's wohl nichts wichtiges, sonst wüsste ich es ja." Sie warf ihrem Nebenmann ihr strahlendstes Lächeln zu, der es mit einem hilflosen Grinsen erwiderte. "Soll ich ihn nächstes Mal rauswerfen lassen?" "Ach was!" Jules legte den Kopf schief, wobei ihre dunklen Haare, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte, wie ein Pendel hin und herschwangen. "Nate", sie tippte dem jungen Mann energisch auf die Brusttasche. Ihr Gesicht war ein einziger Vorwurf. "Wo ist dein Namensschild? Und warum ist dein Hemd nicht gebügelt?" Vergeblich wehrte Nate die flinken Hände ab, die damit begonnen hatten, an seiner Kleidung herumzuzupfen. "Jules", unterbrach er das Gerede der jungen Frau über anständige Arbeitskleidung und seine Position als jemand, der die Kunden begrüßen und dafür zu sorgen hatte, dass sie sich von Anfang an wohlfühlten, und versuchte sie erfolglos dazu zu bringen, ihn anzusehen. "Jules!" Endlich sah sie ihn an. "Was denn? Kein Grund, mich so anzuschreien", murmelte die junge Frau und ließ die Hände von ihrem Arbeitskollegen. Ihre Wangen überzog ein leichtes Rot. "Der Typ war wirklich schräg." "Na und? Sind das nicht alle hier?" Nate stieß einen langen Atemzug aus. "Ja, sind sie, aber der war sozusagen der Gottvater aller schrägen Typen, verstehst du? Er war bewaffnet, Jules-" "Oh, erzähl mir etwas neues, Nate." Jules lachte heiter auf. Sie streckte ihre Hand aus und zeigte auf die Tür direkt neben dem Empfang. "Wir gehen einmal durch und finden sicher fünfundzwanzig Typen, die bewaffnet sind." "Er hatte einen Schlüssel von eurer Wohnung", spielte Nate seinen letzten Trumpf aus. Es wirkte. Jules Wangen wurden bleich. Ihre Blicke wanderten zögerlich zum Eingang der Bar und wieder zurück zu ihrem Kollegen. "Einen Schlüssel?" Ihre Stimme klang nun unsicher. "Du solltest es Gabe sagen", fügte Nate versöhnlich hinzu. Jules nickte stumm. Nate hatte Recht, sie sollte es Gabe sagen, sobald er nach Hause kam. "Wenn du möchtest, kannst du bei mir bleiben, bis er zurück ist." "Auf gar keinen Fall", schlug sie müde lächelnd das freundschaftliche Angebot ihres Kollegen aus. Sie wusste, wie er es gemeint hatte, aber was sie ganz und gar nicht gebrauchen konnte, war noch ein Typ in ihrem Leben, der ihr sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumte. Sie konnte ihre eigenen Vorkehrungen treffen.     Dass er sich unwohl fühlte, wenn er morgens seine Arbeit begann, war untertrieben. Es war so untertrieben, wie zu behaupten, dass der Marianengraben mit seinen fast elftausend Metern ein Tümpel sei. Sobald er seinen Wohnbereich verließ und im Haupthaus darauf wartete, dass man ihm den Plan für den heutigen Tag mitteilte, dachte er an die andere Familie, die sich zwei Stunden von hier entfernt eine Ein-Zimmer-Wohnung teilen musste. Hier gab es zwei Zimmer pro Kind, mit so viel Spielzeug, dass die beiden einen ganzen Monat durch spielen könnten, ohne dabei jedes Teil in die Hand zu bekommen. Die andere Wohnung hatte nicht einmal den Eindruck hinterlassen, dass dort überhaupt Kinder wohnten. Alles, was er an Spielzeug gesehen hatte, war ein Plüschpanda, der wie ein ziemlich trauriger Panda mit dem Gesicht nach unten vor der Badezimmertür gelegen hatte. Wie hatte es sein Chef hinnehmen können, dass ein Teil von ihm in so ärmlichen Verhältnissen gelebt hatte, während den undankbaren Gören hier jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde? Selbst seine Hausangestellten lebten nicht so unwürdig. Am Geld konnte es nicht gelegen haben. Davon hätte er locker noch zwei weitere Familien in anständigen Häusern ernähren können. Apropos Gören. Alvaro sah auf die Uhr an seinem Handgelenk hinab. In zehn Minuten würden die beiden vom Fechttraining zurück sein. Danach hatte er Feierabend und eigentlich noch genug Zeit, sich um die andere Wohnung zu kümmern. Wenn seine Vermutung zutraf, war das Appartement schon länger unbewohnt. Vielleicht hatte sein Boss ja doch noch einen Funken Verantwortung besessen und seine Zweitfamilie an einen anderen Ort bringen lassen? Vielleicht ja sogar mit angenehmerer Nachbarschaft?     In der Wohnung hatte sich tatsächlich nichts verändert, als wäre nicht schon eine Woche seit seinem letzten Besuch hier vergangen. Der Bilderrahmen mit dem Familienfoto lag noch genau dort auf dem Sofa, wo er es hingelegt hatte. Wäre zwischenzeitlich jemand hier gewesen, hätte man dieses geliebte Erinnerungsstück sicher nicht so achtlos auf dem Polstermöbel liegen lassen. Was wohl aus der Frau und den Kindern geworden war? Hoffentlich hatten sie es jetzt besser als in dieser Konservenbüchse. Wenn sein Boss schlau gewesen war, dann hatte er sie weit weg von hier bringen lassen. Die Türklingel summte. Alvaro öffnete und sah sich einem Bären von Mann gegenüber, der mit verschränkten Armen dastand und auf Alvaro, der alles andere als klein gewachsen war, herabsah. "Move it! - Ihr freundliches Umzugsunternehmen", brummelte der Mann düster. Sein Vollbart war so dicht, dass man keine einzige Lippenbewegung erkennen konnte. "Dann toben Sie sich mal aus", Alvaro trat zur Seite und ließ den Bären samt seiner Kollegen in die Wohnung. Bald hatte Familie Bär nach einiger Diskussion einen Plan entwickelt, wie die Einrichtung am besten aus der Wohnung zu bringen war. "Es kann alles raus", wies Alvaro die Männer noch einmal an, von denen zwei die Wohnung verließen, um kurz darauf mit gefalteten Kartons, Gurten und Transportgeräten zurückzukommen.   Die Wohnung war bereits zu einem Drittel ausgeräumt, als von draußen plötzlich empörtes Geschrei zu hören war. Irgendeine Diskussion, die in immer lauter werdendem Geschimpfe gipfelte, kam auf. Alvaro seufzte. So etwas hatte er irgendwie schon erwartet und in seine Planung mit einbezogen. Er trat vor die Tür, bereit, den Ärger zu regeln. "Keine Sorge, alle Schäden werden bezahlt", rief er in Richtung Möbelpacker, die im Halbkreis um die gerade erst rausgetragenen Möbel standen und auf jemanden vor ihnen einredeten, der ihnen den Weg versperrte. Jemand löste sich aus der gestikulierenden Gruppe heraus und schoss wie ein Blitz auf Alvaro zu. "Sind Sie für den Scheiß hier verantwortlich?", fuhr ihn der junge Mann an, der sich vor ihm aufgebaut hatte, und wütend auf die Möbel deutete, die sich auf dem überdachten Gang stapelten, der über Treppen hinab zum Hinterhof führte. "Ich schätze schon", entgegnete Alvaro gelassen und ignorierte geflissentlich die feindseligen Blicke, die ihn durchbohrten. "Wo ist das Problem?", hakte er geduldig nach. Sein Gegenüber schnappte nach Luft. Seine Haare waren völlig nass, als käme er direkt aus dem Regen, was an diesem sonnigen Tag mehr als unwahrscheinlich war. Jetzt fielen Alvaro die Schwimmflossen auf, die der junge Mann in einer Hand hielt und damit ausholte. Alvaros linke Hand zuckte, um dem Irren vor sich im Notfall die Flossen wegzunehmen. "Die verdammte Miete ist verdammt noch mal bezahlt! Im Voraus schon!" Die Flossen flogen nur knapp an Alvaro vorbei in die offenstehende Haustür und krachten im Flur hinter ihm gegen irgendetwas, das gut hörbar zerbrach. Was dem Unbekannten eine weitere Zornesfalte bescherte. Gelassen schnippte Alvaro die gerauchte Zigarette an seinem Gegenüber vorbei in den Innenhof. Anscheinend hatte er doch nicht alles miteinberechnet, als er die Wohnung zum Entrümpeln freigegeben hatte. "Ich bin nicht wegen der Miete hier." "Ach so, dann fährt man eben einfach mal so irgendwo vorbei und räumt eine Wohnung aus, in der noch Menschen leben." Die Stimme des angeblichen Mieters wurden mit jedem Wort lauter. "Schon mal was von Hausfriedensbruch gehört?" "Die Wohnung sah nicht gerade bewohnt aus." Alvaro spürte, wie in ihm langsam Wut emporkroch. Nicht unbedingt auf sein zorniges Gegenüber, der gerade einem der Möbelpacker, der nichts von der Diskussion mitbekommen hatte, einen Karton aus der Hand riss. Er war einfach nur wütend auf die Umstände, die ihn schon wieder in die falsche Richtung geführt hatten. Langsam hatte er es satt. Die anderen Mieter des Komplexes, die aufgescheucht vom Geschrei vor ihren Wohnungen standen und dem Treiben um sie herum misstrauisch zusahen, machten ihm dabei fast genauso viele Sorgen. Einige sahen nicht unbedingt aus, als wäre man gerne in deren Gesellschaft. Das konnte er nicht auch noch gebrauchen... "Die Wohnung ist also noch vermietet?" Der junge Mann mit den nassen Haaren ließ seinen Rucksack neben den Schwimmflossen und dem zerbrochenen Spiegel zu Boden fallen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Alvaro ungläubig an, als wäre der von allen guten Geistern verlassen. "Offensichtlich schon!" "Schön." Alvaro zuckte mit den Schultern. Er pfiff in Richtung der Möbelpacker, die sich zu ihm umdrehten. "Alles wieder zurück bringen." Er wandte sich dem jungen Mann zu und betrachtete ihn eine Weile stumm. "Wie lange wohnst du schon hier?" Überrascht von dieser Frage, runzelte der Angesprochene die Stirn. "So lange ich mich erinnern kann, warum?" Er hatte aufgehört, die Möbelpacker mit giftigen Blicken zu durchbohren, und betrachtete sich das erste Mal den Fremden vor sich, der noch mit sich zu ringen schien. Alvaro straffte die Schultern und nahm einen sorgsamen Atemzug. Er spürte, wie verspannt er die ganze Zeit über gewesen war, als sich die Muskulatur, angefangen bei seinem Nacken hinab zu seinem Brustkorb langsam lockerte. "Dann habe ich eine schlechte Nachricht."       Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)