Apnoe von Ixtli ================================================================================ Kapitel 3: Black Fish, Blue Fish --------------------------------     Kurz bevor Alvaro die Bar betrat, trat der leise Zweifel, der auf der gesamten zweistündigen Fahrt hierher in der hintersten Ecke seines Kopfes von Schatten verborgen wie ein unruhiger Panther auf und ab geschlichen war, ins grell blendende Neonlicht dieser unwirklichen Umgebung. Wollte er wirklich wissen, was ihn hier erwartete? Er könnte sich jetzt einfach umdrehen und zum Auto zurückgehen. Was konnte im schlimmsten Fall passieren? Offensichtlich war er der einzige, der von dieser Kiste wusste. Der Einzige, der noch lebte, und er würde darüber sicher kein Wort mehr verlieren. Seine Blicke schweiften über die Fassade, auf der sich alle möglichen schrillen Neonlichter der Bars und Restaurants, die es umgaben, vereinten. Die hohen schmucklosen Fenster waren mit Sichtschutzfolie abgeklebt und ließen nicht die kleinste Ahnung dessen nach außen, was dahinter womöglich gerade vor sich ging. Dieses Gebäude war sein eigenes kleines, in sich ruhendes Universum und wollte vielleicht nicht gestört werden. Und wenn sein Chef, aus welchen Gründen auch immer, etwas mit diesem Ort zu schaffen gehabt hatte, dann war das vorbei und zusammen mit ihm jedes einzelne Geheimnis darum für immer verstummt. Es war nicht nötig, dass er sich zu einer Figur in einem Spiel machen ließ, dessen Ende ohnehin keinen Gewinn versprach und alle doch nur verlieren konnten. Schlafende Hunde und so... Gut, er würde seine eigentliche Arbeit nie mehr wieder so locker und unbelastet leisten können, wie die letzten Jahre. Aber war das nicht schon seit dem Auftauchen der Kiste und der Anweisung so? Ganz egal, ob er sich jetzt dieser Herausforderung eines gelben Notizzettels noch stellte, oder nicht? Nur dass es nicht mehr um ihn alleine ging. Jedes Mal, wenn er die Kinder zu irgendeiner noch so trivialen Schulveranstaltung fahren musste, würde wieder dieser Zweifel umher schleichen und ihm die Erinnerung an diese Neonschilder zurückbringen. Egal, wo er sich befand und was er tat. Jetzt, wo er wusste, wo ihn dieses verdammte "Kümmer dich darum" hingeführt hatte, "Entsorgen", kam es unbewusst über Alvaros Lippen. Es war keine Frage mehr, es war ein Beschluss. Er wollte Ruhe. Den letzten Auftrag erledigen und dann einfach nur noch Ruhe haben.     So gefasst wie möglich schlenderte Alvaro auf die Rezeption zu, die in dem hellerleuchteten Foyer lag, das sich unerwartet normal gab. Im Hinterkopf jedoch war er auf der Hut. Der sicher nicht billige Marmorboden in dem hellerleuchteten Eingangsbereich und die Deckenhohen und in Goldrahmen gefassten Spiegel konnten nicht von dem eigentlichen Zweck dieses Gebäudes ablenken und auch nicht von dessen jahrzehntelanger Vernachlässigung. Er kannte mindestens dreißig Hotels, die so aufgemacht waren wie dieses hier, aber wenn man genauer hinsah, fielen einem unweigerlich der abbröckelnde Putz in den Zimmerecken und das abgewetzte Polster der Sitzgruppen auf. Leder, das garantiert einmal sehr viel Geld gekostet hatte und um dessen Pflege sich niemand mehr kümmerte, spannte sich rissig über die Sitzflächen der hochbeinigen Barhocker an der Seite des Empfangs. Sie wirkten deplatziert. Genau wie die an den Sonnenseiten ausgeblichenen Kunstpflanzen, die in riesigen Kübeln den Eingangsbereich von einer Art Wartezone abteilten. Aus den angrenzenden Räumen schallten laute Musik und Gelächter. Gläser klirrten und unter der Tür kroch ein zarter Schleier Kunstnebel nach draußen. Auf den zweiten und dritten Blick war es hier drinnen genau so, wie das Äußere des Gebäudes es vermuten ließ. Preislich vielleicht teuer, aber im Grunde ohne viel Wert.     Der Mann an der Rezeption sah mit dem gleichen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, mit dem er gerade noch in dem Heft geblättert hatte, das vor ihm auf einem Haufen unordentlich gestapelter Papiere lag. Alvaro dachte einen Moment darüber nach, welche wichtigen Papiere sich in so einer Bar anhäufen konnten, dass die Bewältigung scheinbar nicht mehr zu schaffen war, und warum zur Hölle sie so offen und für jeden hier zugänglich herumlagen. Immerhin passte der Typ, der dahinter saß, auf eine verschrobene Art und Weise perfekt hierher mit seinem ungebügelten Hemd, das vermutlich den Eindruck erwecken sollte, dass man Wert auf Kleidung legte. "Ja?", hakte der Mann vom Empfang jetzt betont langsam nach, als sein Gegenüber auch nach zwanzig Sekunden, nachdem er an die Theke getreten war, keinen Ton von sich gegeben hatte und stattdessen seine Blicke sorgsam über jeden Besucher gleiten ließ, der irgendwo saß oder stand. "Also, wenn Sie undercover hier sind, sollten Sie sich vielleicht nicht ganz so auffällig umsehen, Mann", witzelte der Typ und das erste Mal sah Alvaro zu ihm hin. "Ich... bin nicht-", begann er und wurde gleich wieder unterbrochen. "Das war mir schon klar. Womit kann ich dienen, der Herr?" Der Papierstapel raschelte leise unter dem Gewicht des Ellenbogens, der darauf abgestützt wurde. Blicke, die viel zu viel Interesse heuchelten, waren nun starr auf Alvaro gerichtet. Alvaro räusperte sich und versuchte seine gerade aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Er griff in die Innentasche seines Sakkos, um den Schlüssel dort herauszunehmen und hatte stattdessen den kalten Griff seiner Waffe in der Hand. Als hätte er sich daran verbrannt, zuckte Alvaro zusammen und schob schnell wieder den Jackenstoff über das Holster. Sein Herz schlug ihm mittlerweile bis zum Hals, aber der Mann vor ihm hatte entweder nichts davon mitbekommen oder er war verdammt gut darin, so zu tun, als hätte er nichts mitbekommen. Und wenn es hier einen stillen Alarm gab, würde er es in circa fünf Minuten wissen... Mit eiskalten Fingern fischte Alvaro erneut nach dem Schlüssel; dieses Mal auf der richtigen Seite seines Sakkos. "Ich suche ein Zimmer", presste Alvaro zwischen den Zähnen hervor. Dieser idiotische Schlüssel hatte sich im Innenfutter der Tasche verhakt. "Schön, welche Leistung?" Die unerträgliche Musik und der Geruch nach zu viel Parfum bescherten Alvaro langsam Kopfschmerzen. Er hätte sich besser vorbereiten sollen... "Ich möchte hier nicht übernachten." "Was für eine Überraschung, aber das tut hier fast niemand", kam prompt die lakonische Antwort. "Welcher Service soll es sein?" Nacheinander wurde mehrere Sachen aufgezählt, bei denen Alvaro unweigerlich einen Schritt zurück trat. Der Typ machte sich doch über ihn lustig, dachte er und wich den Blicken aus, die ihn amüsiert musterten, während weiter munter ein Service nach dem anderen aufgezählt wurde, bei denen Alvaro irgendwann die Vorstellungskraft ausging. Stumm legte Alvaro den Schlüssel aus der Kiste auf den Tresen. "Ich suche das Schloss zu diesem Schlüssel." Endlich klang seine Stimme so gefasst, wie das beim Betreten dieses Ortes geplant gewesen war. Das Grinsen seines Gegenübers wurde eine Spur breiter, als er auf den silbern glänzenden Schlüssel hinabsah. "Oh", er zog das Oh unnötig in die Länge, wie Alvaro fand. "Privater Service", setzte er fast andächtig hinzu und nickte verstehend. "Das denke ich nicht", widersprach Alvaro möglichst nachdrücklich. "Ich soll dort etwas abholen." Er glaubte selbst nicht, was er da gerade sagte. "Was auch immer." Der Mann von der Rezeption hatte aufgehört zu grinsen. Er betrachtete sich Alvaro genauer, als müsste er sich jedes Detail an ihm einprägen. "Warum sind Sie dann nicht gleich ums Haus herumgegangen?" "Ums Haus herum?" Alvaros Gedanken rasten. Er konnte sich an keinen anderen Eingang erinnern. "Das wusste ich nicht. Ich bin heute das erste mal hier." "Selbstverständlich. Jeder ist immer das erste Mal hier. Egal wie oft." Das gespielte Grinsen kehrte auf das Gesicht des Mannes zurück, aber etwas in seinem Blick hatte sich verändert. Immer erwischte er die Anfänger auf seiner Schicht. "Also", setzte er zu einer gnädigen Erklärung an. "Die Appartements gehören zum Hinterhaus. Wieder zur Tür raus, die kleine Gasse runter und dort durch das Tor. Schönen Abend!" Alvaro verkniff sich die bissige Antwort. Wortlos nahm er den Schlüssel und machte sich daran, dieses Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. "Oh, und die Nummer des Appartements steht auf dem Schlüssel", rief man Alvaro nach, bevor er aus der Tür verschwand. "Hoffentlich gibt es keinen Ärger wegen des verlorenen Anhängers."     Das stockdunkle Appartement atmete tief aus, als sich die Eingangstür dazu öffnete und sich die alte Luft mit der neuen mischte, die hineinströmte. Augenblicklich schlug Alvaro die Mischung aus sicher wochenlang abgestandener Luft und Staub aus der Dunkelheit entgegen und ließ ihn kurz den Atem anhalten. Der modrige Geruch war überwältigend. Seine Hand tastete an der Wand neben der Tür nach dem Lichtschalter. Sekunden später flammte die Lampe an der Decke grell auf und Alvaro musste kurz den Blick von der plötzlichen Helligkeit abwenden, die seine Augen blendete, ehe er mit vorsichtigen Schritten die fremde Wohnung betreten konnte. "Hallo", rief Alvaro in die Stille, die sich vor ihm wie dichter Nebel ausbreitete. Bevor er aufgeschlossen hatte, hatte er sicherheitshalber ein paar Mal gegen die dunkelgrün lackierte Haustür geklopft. Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn noch vorsichtiger werden lassen, als er ohnehin schon war, und erst nachdem sich auch nach dem dritten Klopfen nichts in der Wohnung geregt hatte, hatte er den Schlüssel mit einem mulmigen Gefühl im Magen ins Schloss gesteckt. Was er jetzt absolut nicht gebrauchen konnte, waren noch ein paar seltsame Gestalten mehr, als die, die er auf dem Weg hierher schon gesehen hatte. Die Lampe im Wohnzimmer flammte auf und tauchte den Raum in angenehmeres weiches Licht, als es beim Flur der Fall gewesen war. Ein schneller Rundblick sagte Alvaro, dass er wirklich alleine war. Das Appartement bestand lediglich aus einem einzigen Raum mit offener Küche, und dem Staubschleier auf den billigen Möbeln nach zu urteilen, war es schon eine ganze Weile her, dass jemand hier gelebt hatte. Was, bei allen guten Geistern, hatte sein Chef hier verloren gehabt, an diesem – diesem profanen Ort? Es ergab einfach keinen Sinn. Nichts. Er machte ein paar Schritte und fand sich kurz darauf wieder am Anfang. So langsam begann er die Kiste und alles, was seither passiert war, zu hassen. Mit jedem gefundenen Puzzlestück, das er platzierte, entstand irgendwo anders eine neue Lücke. Immerhin konnte er sich jetzt denken, was mit Entsorgen gemeint war. Alvaro nahm ein gerahmtes Foto aus einem der Regale und wischte den Staubschleier vom Glas. Die winzigen Partikel tanzten im Licht der Deckenlampe auf und ließen sich vor Alvaros auf dem Foto festgetackerten, entsetzten Blicken wieder nieder. Er fühlte sich, als würde ihm der geschmacklose Polyesterteppich unter den Füßen weggezogen. Nur entfernt registrierte er den ohrenbetäubenden Knall, mit dem die Haustür hinter ihm ins Schloss krachte.     Später konnte er noch nicht einmal mehr genau sagen, wie lange er das Foto angestarrt hatte, aber als er die Wohnungstür hinter sich zuwarf, hatte er sich gewünscht, dass das alles nicht wahr war, auch wenn ihm sein Verstand etwas anderes sagte. Das fröhliche Lächeln der blonden Frau vom Foto ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ein Mädchen im Vorschulalter hatte sich an ihre Seite gedrückt, während sie auf dem Arm einen höchstens zwei Jahre alten Jungen hielt. Und alle drei hatten auf die gleiche Art gelächelt. Der Klassiker! Das hier wurde langsam zum Albtraum, dachte Alvaro und zählte mit fahrigen Fingern die Münzen in seiner Handfläche zusammen. Sein Geldbeutel lag im Auto. Natürlich nur, wenn er Glück hatte und das Auto nicht aufgebrochen worden war. Die Kühltruhe in dem 24-Stunden-Kiosk, das er nicht weit von dem Appartement entfernt gefunden hatte, surrte leise im Takt des Deckenventilators, der einen steten Strom eiskalter Luft in Alvaros verschwitzten Nacken blies. Mit einem verhaltenen Zischen öffnete sich die automatische Eingangstür. "Hey, lange nicht mehr gesehen!" So gut es ging trat Alvaro in dem engen Labyrinth aus Regalen zur Seite und ließ die junge Frau vorbei, die gerade den Kiosk betreten hatte. Ein gut gelauntes "Danke", folgte, während sie sich an Alvaro vorüber schlängelte. Flink angelte sie ein Fertiggericht aus der Kühltruhe und schnappte sich auf dem Weg zur Kasse noch zwei Dosen Bier. "Wow, ein Festmahl. Gibt es was zu feiern?" Der Scanner an der Kasse piepte und die beiden Frauen lachten. "Alles wie immer." Es klang etwas betreten, fast wie eine Entschuldigung. "Immer noch besser, als der Hotdog, den ich auf dem Weg zur Arbeit hatte. Du glaubst ja nicht, was-" Alvaro wandte sich von der Szene ab. Er legte das Sandwich, das er eben erst aus der Kühltheke genommen hatte, wieder zurück. Er hatte keinen Appetit mehr. Die Tatsache, dass sein Chef wohl eine Affäre mit offensichtlich zwei daraus resultierenden Kindern gehabt hatte, war ihm auf den Magen geschlagen. Er tat es der jungen Frau gleich, die noch immer mit der Bedienung an der Kasse redete, und nahm sich ein kaltes Bier, ehe er zur Kasse ging. Noch während der Staub sich wieder langsam gelegt hatte, hatte er versucht, irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Kindern und seinem Chef zu finden, was relativ witzlos war. Dafür war das Foto nicht nahe genug aufgenommen worden. Aber ehrlich, musste er das so genau wissen? Mittlerweile passte alles viel zu gut zueinander. "Vorsichtig öffnen." "Bitte?" Alvaro hob den Blick. Vor ihm stand die junge Frau mit dem Fertiggericht und dem Bier. Sie nickte zur Dose in Alvaros Hand. "Vorsichtig öffnen", wiederholte sie und versuchte das Grinsen zu unterdrücken. "Wenn Jill die Regale einräumt, lässt sie meistens was fallen." "Sehr witzig, Jules..." Die Frau hinter der Kasse verdrehte die Augen. "Hör auf, unseren einzigen anständigen Kunden zu vergraulen!" "Gern geschehen. Bis morgen."     "Ich bin wieder zurück! Sorry, hat leider etwas gedauert." Ohne das Licht in dem Vorraum anzuschalten tappte Jules im Dunkeln zur Küchentheke. Mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin umrundete sie dabei den kleinen Beistelltisch, der neben dem Sofa stand. "Wo bist du denn?", rief sie in das anhaltende Schweigen. Ihre Einkäufe fielen polternd auf die Arbeitsfläche. Eine der Dosen rollte über den Rand und krachte zu Boden. "Ich habe doch gesagt, es tut mir leid." Das Licht ging an und Jules sah erschrocken auf den staubfreien Flecken im Regal, wo normalerweise der Bilderrahmen stand. Ein eiskalter Schauer überlief sie. Suchend blickte sie sich um und lachte dann erleichtert auf. Sie nahm den Bilderrahmen, der mitten auf dem Sofa gelegen hatte und drückte ihn liebevoll an sich. "Gott sei Dank, ich dachte schon, dir sei etwas passiert." Sie hielt das Foto vor sich und neigte lauschend ihren Kopf. "Wie meinst du das, es war jemand hier?" Jules schwieg und ließ noch einmal ihre Blicke durch die Wohnung wandern. Alles wirkte wie immer. Mit der Ausnahme, dass es so still war, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. "Weißt du was, wir essen jetzt zuerst und dann unterhalten wir uns weiter." Sie gab dem Foto in dem Bilderrahmen einen schnellen Kuss und stellte es auf der Küchentheke ab.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)