Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Angekommen --------------------- Die Rollen des Trolleys ratterten über die Gehwegplatten. Ein unruhiges und doch monotones Geräusch, auf das ich mich konzentrieren konnte, während meine Füße einfach immer weiter gingen. Es war besser, als über das nachzudenken, was vor mir lag. „Wir sind da.“ Die Schritte neben mir hielten an und auch ich blieb stehen. Wartete, dass die Tür vor mir geöffnet wurde. Weiß war sie. Mit einem Fenster darin, damit man sehen konnte, wer davor stand. Hier kam nicht jeder rein. „Ich melde uns eben an, dann zeig ich dir alles.“ Ich reagierte nicht. Starrte weiter auf den Fußboden des Flurs, in dem ich jetzt stand. Beige Fließen. Unregelmäßig gefärbt mit grauen Fugen. Es roch nach Kaffee. Meine Finger zuckten, mein Mund brannte. Ich wollte eine Zigarette. „Darf ich eine rauchen?“ Kurz hob ich den Blick, um meinem Begleiter zu begegnen. Tobias Ritter. Er arbeitete für das Heim, war hier seit drei Jahren tätig. Hatte seine Ausbildung hier gemacht, früher selbst in einem Heim gelebt. All das hatte er mir auf der Fahrt hierher erzählt. In seinem eigenen Auto, wie er mit stolzgeschwellter Brust verkündet hatte. Bezahlt von seinem eigenen Geld. „Ist ein gutes Gefühl“, hatte er gesagt und ich hatte aus dem Fenster gesehen, während meine Finger mit meinem Feuerzeug gespielt hatten. Mich auf die Landschaft konzentriert, die flach und eintönig vorbeigerauscht war. Ich war weit weg von zu Hause. „Sorry, Rauchen ist hier nicht. Du musst die Dinger übrigens abgeben, weißt du das schon? Jugendschutzgesetz und so.“ Mein Kopf ruckte nach oben. Die wollten mir meine Kippen wegnehmen? Scheiße! Tobias schenkte mir ein Lächeln.   „Keine Bange. Wir finden schon Beschäftigung für dich. Ihr habt hier ein ziemlich straffes Programm. Da bleibt eh nicht viel Zeit, um Blödsinn anzustellen.“ Damit ließ er mich stehen und öffnete nach einem kurzen Klopfen die Tür zu einem Büro. Ich sah einen Schreibtisch, Papiere, einen Computer. Dahinter eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren. „Hallo Nathalie, ist Herr Steiner da?“ „Nein, er ist noch nicht wieder zurück. Du sollst dir alles Notwendige einfach vom Tisch nehmen.“ „Gut, bis gleich.“ Tobias verschwand irgendwo außerhalb meines Blickfeldes, während ich vor der halb geöffneten Tür stehenblieb. Wie von selbst wanderte mein Blick nach hinten. Da war die Haustür. Sie war nicht verschlossen. Ebenso wenig wie das Hoftor, durch das wir hierhergekommen waren. Ich hätte also noch abhauen können. Das Ding war, dass ich nicht wusste, wo ich hätte hingehen sollen. Zurück konnte ich nicht und vor mir lag einfach nur ein gähnender Abgrund. Ich schloss die Augen und bereute für einen Moment, dass ich mich hierfür entschieden hatte. Denn so war es. Ich war freiwillig hier. Hatte mich von Jens, dem Leiter meiner vorherigen Wohngruppe, dazu überreden lassen. Lauter kluges Geschwafel hatten er und die anderen bei Gericht von sich gegeben, bis ich es am Ende selbst geglaubt hatte. Dass ich hierher gehörte. Weggesperrt. Nur zu meinem eigenen Besten. Damit ich wieder zu mir selbst finden konnte. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich kannte mich schließlich und ich war ein ziemliches Arschloch. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich so viele Kilometer wie nur möglich zwischen mich und meine Wenigkeit gebracht. „So, ich hab den Schlüssel für dein Zimmer. Aber erst mal müssen wir noch deine Tasche kontrollieren.“ Ich nickte. Das kannte ich schon. Keine Waffen oder Drogen. Das Übliche halt. Tobias lächelte. „Na los, filzen wir dich mal, damit du sauber bist.“ Er lachte dabei, aber er meinte es ernst. Todernst. Ohne zu antworten folgte ich ihm in einen hellen, freundlichen Raum, in dem mehrere Schließfächer in einem großen Metallschrank an den Wänden standen. Es gab einen Tisch, einen Stuhl, Bilder an den Wänden. „So, dann lass mal schauen. Ich bekomme alles von dir, was irgendwie spitz oder aus Glas ist. Auch Rasierwasser oder Bilderrahmen. Dazu alle technischen Geräte. Handy, MP3-Player, Notebook. Außerdem sind verboten: Alkohol, Drogen, Spraydosen, Feuerzeuge, Streichhölzer und eben die Zigaretten. Auch Kugelschreiber musst du abgeben. Bücher sind aber erlaubt.“ „Ach echt?“, sagte ich gespielt erstaunt. „Was, wenn ich mir mit ner Seite die Pulsadern aufschneide?“ „Dann kommst du unter Garantie ins Guinnessbuch der Rekorde.“ Tobias grinste wieder und fing an, in meinem Koffer herumzuwühlen. Ich stand daneben und ließ es über mich ergehen. Er nahm wirklich jedes Teil in die Hand. Tastete es ab, ob ich nicht etwas darin versteckt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, alles zu verbrennen oder wenigstens zu waschen. „So, alles gefunden“, meinte er schließlich. Ich konzentrierte mich auf den Tunnel in seinem linken Ohr. Schwarz und fast einen Zentimeter breit. Es passte zu den Ansätzen des Tattoos, das man an seinem Hals sah. Der Nacken war dunkel und stoppelig ebenso wie sein Bartansatz, das Deckhaar blondiert. Er sah gut aus irgendwie. Freundliche Augen. Sportlich. Ob er noch mehr Tattoos hatte? „Manuel?“ Tobias’ Stimme holte mich wieder zurück in die Gegenwart. Er musterte mich aufmerksam. „Ist alles okay bei dir?“ Ich nickte nur stumm. An dem Kloß in meinem Hals wäre eh kein vernünftiges Wort vorbeigekommen. Wenigstens keines, das keine Beleidigung oder ein Fluch war. Worte, die man mit Gewalt nach draußen pressen konnte, egal wie es einem ging. Worte, die andere auf Abstand hielten. Worte wie Waffen. „Gut.“ Das Lächeln war zurück ebenso wie Tobias’ gute Laune. „Die Sachen bekommst du natürlich zurück, wenn du uns verlässt. Außerdem kannst du nach der Eingewöhnung vielleicht ab und an dein Handy wiederhaben, um deinen Freunden zu schreiben oder zu Hause anzurufen. Bis dahin sind sie hier im Schrank sicher.“ Während er fortfuhr, mir die Heimregeln zu erklären, driftete ich gedanklich ab. Da war die Rede von Ämtern und Pflichten, Küchendienst, Putzdienst, Gartenarbeit, Stundenplänen, Schule, Bettruhe und und und. Alles hier war durchgetaktet. Kein Raum für Langeweile. Kein Raum für Freiheit. „Alle Klarheiten beseitigt?“ Wieder grinste Tobias mich an. Und wieder nickte ich nur. „Redest nicht gerne, was?“ „Irgendeiner muss ja die Klappe halten.“ Die Beleidigung war mir über die Lippen geschlüpft, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Tobias lachte nur. „Stimmt“, meinte er grinsend. „Aber wenn du mal was zu erzählen hast, kannst du gerne zu mir kommen. Ich hab immer Zeit für euch.“ Bestimmt nicht, dachte ich, während ich ihm nach draußen folgte. Er erklärte mir noch, dass sich in diesem Haus die Verwaltung und die Schulräume befanden. Dort würde ich in Zukunft jeden Tag mit den anderen zusammen unterrichtet werden. „Aber keine Sorge. Wir schauen erst mal, wo du stehst, und machen dann einfach da weiter.“ Ich hätte beinahe gelacht. Einfach da weitermachen, wo mein „normales“ Leben aufgehört hatte? Ich hätte nicht mal sagen können, wann das eigentlich war. Als ich zum ersten Mal die Schule geschwänzt hatte? Das erste Mal geklaut? Das erste Mal schon am helllichten Tag so besoffen war, dass ich nicht mehr geradeaus gehen konnte? Das erste Mal Koks? Das erste Mal einen Typen zusammengetreten, nur weil ich es konnte? „Kommst du?“ Tobias stand bereits draußen auf dem Hof. Das Tor war immer noch offen, aber jetzt konnte ich sehen, dass der Teil, der hinter dem Wohnhaus lag, von einem hohen Zaun umgeben war. Graue Gitterstäbe, im oberen Teil nach innen gerichtet, damit man nicht darüber klettern konnte. Es gab keinen Stacheldraht, aber es sah trotzdem aus wie im Knast. Vielleicht wäre ich da besser aufgehoben gewesen. Der Gedanke war da, bevor ich ihn verhindern konnte. Ich wusste, dass das nicht stimmte. Dass ich es nicht verdient hatte. Ich hatte Scheiße gebaut, aber es war angeblich nicht meine Schuld. Die Umstände hatten dazu geführt. Bullshit! Ich wusste, was ich getan hatte, und ich hatte es freiwillig gemacht. Niemand hatte mich dazu gezwungen. Es war meine Entscheidung gewesen. „Die anderen sind schon ganz gespannt auf dich“, plapperte Tobias weiter. Die anderen. Wer die wohl waren? Jünger als ich? Oder älter? In meinem Alter? Arschlöcher? Oder würde ich mit ihnen klarkommen? „Ihr seid insgesamt sechs Leute. Dennis, Nico und Jason wohnen links, du wirst mit Leif und Sven rechts wohnen. Ihr habt zusammen ein Bad. Küche, Gemeinschafts- und Therapieräume sind im Erdgeschoss. Zum Lernen werdet ihr täglich gebracht und abgeholt. Nach dem Mittagessen wird gemeinsam Klarschiff und Hausaufgaben gemacht, danach ist Freistunde in den Zimmern, bis nachmittags die Gruppenaktivitäten anfangen.“ Mir entkam ein Schnauben. Gruppenaktivität klang ätzend. Therapie noch mehr. Tobias ging nicht darauf ein, sondern zückte ein großes Schlüsselbund, von denen einer die Tür zum Nebengebäude öffnete. Eine Glastür, aber mit Sicherheit dick genug, dass man sie nicht eintreten konnte. Dahinter lag ein helles Treppenhaus. „Wir müssen erst mal hoch in den ersten Stock, da zeige ich dir dein Zimmer.“ Ich wartete, bis er vorangegangen war, um ihm dann zu folgen. Meine Turnschuhe quietschten auf dem marmorierten Kunststeinboden. Oben erwarteten uns wieder Glastüren, dieses Mal offen. Dahinter ein Flur, der mich an ein Krankenhaus erinnerte. Weiß, kalt, einzig die blauen Türen bildeten eine Ausnahme. Sie waren allerdings nicht so breit, dass ein Krankenbett hindurchgepasst hätte. „Bisschen kahl ist es noch. Wir haben letztens frisch streichen lassen. Die Jungs beraten schon, wie sie die Wände gestalten wollen, damit ein bisschen mehr Farbe reinkommt. Kannst dich ja miteinbringen, wenn du Lust hast.“ Tobias wies auf zwei Türen. „Das da sind die Klos, daneben der Waschraum mit Dusche und so. Hier hinten sind dann die Zimmer. Deins ist das ganz links.“ Ich verzog keine Miene, als er erneut den Schlüssel zückte. Von außen hatte die Tür keine Klinke. Nur einen Knauf. „So, das hier wird dein eigenes, kleines Reich.“ Ich folgte ihm in einen Raum, der vielleicht zwölf Quadratmeter hatte. Drei Meter breit, vier lang. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal. Dazu ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Heller Holzfußboden und ein Fenster mit einem Riegel davor. Als Tobias merkte, dass ich ihn anstarrte, lächelte er leicht. „Die Dinger sind nur zur Sicherheit. Damit ihr nicht abhaut. Kippen kannst du es aber, falls es dir zu warm wird oder hier drinnen dicke Luft herrscht.“ Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte. Natürlich hatte ich das verstanden. Es war etwas, das es in dem Haus vorher nicht gegeben hatte. Eine Möglichkeit, die ich zu nutzen gewusst hatte. „Hast du noch irgendwelche Fragen? Ansonsten können wir runter zum Mittagessen gehen. Da kannst du dann auch die anderen kennenlernen.“ Ich wollte nicht. Ich wollte am liebsten die Tür hinter mir zumachen. Von außen. Ich wollte hier weg. „Okay“, sagte ich jedoch nur. Ich wusste, dass das hier notwendig war, weil ich es sonst wieder verkacken würde. Wie jedes Mal. Zu Hause, in der Schule, in allem. Trotzdem wollte ich nichts lieber als dorthin zurück. In mein eigenes Zimmer, mein eigenes Bett. Rauchen, vielleicht was trinken, den Tag rumbringen, bis ich abends auf Tour gehen konnte. Meistens bis spät in die Nacht hinein. Wer am nächsten Tag nicht zur Schule ging, hatte jede Menge Freizeit. „Na dann los! Ich hab einen Bärenhunger.“ Wir ließen meine Sachen in meinem Zimmer zurück, das Tobias wieder abschloss, bevor wir nach unten gingen. Mit jeder Stufe wuchs das Gefühl in meinem Magen. Wie ein Stein. Ein Knoten. Irgendwas, dass mich immer weiter nach unten zog. Ich fing an zu schwitzen und meine Finger spielten mit dem Saum meiner Jacke. Ich hätte sie oben lassen sollen. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt half sie mir die Schweißflecken auf dem beigen T-Shirt zu verbergen, das ich heute angezogen hatte. Nicht mein bestes. Das hatte ich vorgestern verbraucht, als ich … Nur nicht darüber nachdenken. „So, immer rein in die gute Stube“, rief Tobias fröhlich und öffnete eine weitere Glastür für mich. „Das kann ich selber“, knurrte ich ihn an und ging einfach an ihm vorbei in Richtung Küche. In einem mit bodentiefen Fenstern ausgestatteten Raum stand ein großer Tisch, daran angrenzend ein Küchenbereich. Bevölkert wurde das Ganze von vier Jungen etwa in meinem Alter. Als ich so um die Ecke bog, glotzten sie mich blöde an. „Hi“, sagte ich ungeniert. „Ich bin Manuel.“ „Und ich Thomas“, reagierte als Erster der Erzieher, der offenbar das Kochen überwachte. Er war ziemlich groß und dünn, mit langen, fusseligen Haaren und einem Bart. Er erinnerte mich an Jens, nur in dunkel. „Herzlich willkommen!“ Er wandte sich an den Rest der Truppe, der immer noch dämlich glotzte. „Wollt ihr euch selber vorstellen oder soll ich das machen?“ Der erste, in den Bewegung kam war ein blonder, verpickelter Typ mit Segelohren. „Ich bin Sven“, sagte er. „Und das da ist Dennis, der am Herd ist Nico und …“ „Ich bin Jason“, platzte der letzte der Runde heraus. Er hatte unter seinem T-Shirt einen deutlichen Bauchansatz und die Haare über seinem rundlichen Gesicht nach oben gegelt. Die dicke Silberkette um seinen Hals wirkte ebenso wie die Uhr an seinem Handgelenk billig und protzig. Dennis, ein schmaler, nichtssagender Typ nickte mir nur kurz zu, während Nico, ein langes Elend mit haarigen Unterarmen, mir mit dem Kochlöffel grüßend zuwinkte. „Wo ist Leif?“, wollte Tobias wissen. „Der ist oben. Hatte mal wieder Bauchschmerzen “, gab Jason zurück, bevor er zu mir kam und mich am Arm packte „Komm, ich zeig dir, wo alles ist, dann kannst du gleich für dich mitdecken. Wir wussten ja nicht, wann du kommst.“ Er zog mich kurzerhand in Richtung Tisch, während Tobias ankündigte, dass er den fehlenden Typen zum Essen holen würde. „Der braucht auch immer ne Extraeinladung“, knurrte Sven und setzte mit Schwung einen Topf auf den Tisch, in dem für meinen Geschmack viel zu viel Gemüse herumschwamm. „Was ist das?“, fragte ich und zog die Nase kraus. „Ratatouille“, gab Nico zu wissen. Er hatte doch tatsächlich eine Schürze vor dem Bauch. „Gibt Reis oder Brot dazu.“ „Nico will mal Koch werden“, gab Jason kund und zu wissen, bevor er sich auf den Stuhl neben mich fallen ließ und sich gleich mal von dem Gemüsemischmasch auffüllte. So bekam ich zu sehen, dass unter dem ganzen gesunden Kram auch noch Fleisch drin war. Wenigstens etwas. Ich wartete ab, bis sich der Rest genommen hatte, bevor ich auch zugriff. Eigentlich hatte ich so gar keinen Bock, hier mitzuessen, aber mein Magen knurrte und wer wusste schon, wann es wieder was gab. „Seht mal, wen ich gefunden habe.“ Tobias kam zurück in die Küche, im Schlepptau einen weiteren Jungen, der ihm betont langsam folgte. „Geht’s dir wieder besser?“, fragte Thomas sofort. Der Neue nickte nur, bevor er sich ans andere Ende des Tisches setzte. Erst, als er sich zu Trinken genommen hatte und nach dem Topf in der Mitte griff, blickte er hoch. Dunkle, große Augen unter ebenso dunklen Augenbrauen musterten mich. Dazwischen hatte er ein Piercing. Zwei kleine, silberne Punkte rechts und links seines Nasenrückens. Auch in seinen Ohren steckten mehrere Schmuckstücke, allen voran ein silberner Tunnel auf der linken Seite, während rechts ein Ohrring mit einem Kreuz daran baumelte. Neben den leicht vorquellenden Augen fiel mir vor allem sein Mund auf. Er war riesig im Vergleich zum Gesicht. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er wohl noch mehr Piercings hatte. „Was glotzt’n so blöd?“, quakte er mich plötzlich an. Ich hob die Mundwinkel zu einem Grinsen. „Ich hab halt noch nie einen sprechenden Frosch gesehen“, gab ich zurück. Der Rest der Gruppe brach in wieherndes Gelächter aus und selbst Tobias’ Mundwinkel zuckten. „Ruhe“, machte sich Thomas im nächsten Moment bemerkbar. „Manuel, du solltest lernen, deine Zunge ein bisschen im Zaum zu halten. Wir gehen hier …“ „Ich arbeite aber gerne mit meiner Zunge“, unterbrach ich ihn einfach. Zum Beweis ließ ich sie ein paar Mal in höchst eindeutiger Weise aus dem Mund schnellen. Wieder brandete Gelächter auf, außer von Sven, der unzufrieden grunzte. „Können wir jetzt essen? Ohne euer dummes Gelaber?“ Thomas nickte bestätigend. „Ich denke auch, dass es für heute genug Spaß war. Tobias und ich gehen nach dem Essen noch mit dir den Plan durch, damit du weißt, was diese Woche ansteht. Danach kannst du dann deine Sachen auspacken und dich ein bisschen heimisch machen.“ Ich nickte und widmete mich dem Fraß auf meinem Teller. Ausgerechnet gekochte Paprika. Widerlich. Ich schob sie beiseite und versuchte, dazwischen Reis, Fleisch und Soße zu erwischen, ohne was von den wabbeligen Dingern mit auf den Löffel zu kriegen. Ich war hochkonzentriert dabei, als ich plötzlich ein merkwürdiges Gefühl hatte. Irgendwer beobachtete mich. Möglichst beiläufig hob ich den Kopf. Leif saß auf der anderen Seite des Tisches. Er hatte sein Essen nicht angerührt. Stattdessen starrte er mich an, als wollte er mich damit an die Wand nageln. Ich setzte ein Grinsen auf und schob mir die nächste Portion besonders langsam zwischen die Lippen. Sein Blick glitt tiefer und blieb daran hängen, wie ich das Besteckteil Stück für Stück wieder hervorzog. In dem Moment wusste ich es. Er war interessiert und es würde nicht lange dauern, bis wir beide miteinander fickten. Kapitel 2: Runde Eins --------------------- „So. Alle satt?“   Thomas sah erwartungsvoll in die Runde. Hier und da antwortete ihm ein Brummen.   „Gut. Wer hat heute welchen Dienst?“   „Ich hab gekocht“, sagte Nico sofort. „Und Sven ist mit Abwaschen ran.“ „Das kann ich selber sagen, du Spacko.“ „Selber Spacko!“   „Jungs! Ruhig bleiben, ja?“ Thomas’ tiefer Bass unterbrach den Streit. Er wandte sich an Dennis. „Was machst du heute?“ „Treppenhaus“, kam es einsilbig zurück. „Ich hab Tisch gedeckt und mach die Fußböden“, gab Jason bekannt. „Manuel kann mir ja mit dem Wischen helfen.“ „Mit dem Wischen oder mit dem Wichsen?“, fragte Nico. Sofort bekam Jason feuerrote Ohren.   „Du bist so ein Penner!“, schrie er und sprang auf. „Jungs!“ Wieder gelang es Thomas, sich Gehör zu verschaffen. „Hier wird keiner beleidigt. Und du, Nico, hörst mit dem Gestichel auf. Jason, du hast nachher noch Wäsche zu machen.“   „Bettwäsche zum Beispiel“, frotzelte Nico weiter und grinste breit. Jason wollte schon wieder auffahren, als der Lange abwehrend die Hände hob. „Hey, ist doch nur Spaß. Alles easy, Küken.“ „Ich geb dir gleich mal easy“, knurrte Jason, packte den Topf und stampfte damit in Richtung Küche. Auch der Rest der Truppe stand auf, nahm ihren Teller und brachte ihn zur Spüle, wo sich bereits Kochutensilien zu einem abenteuerlichen Stapel türmten. Sofort maulte Sven rum, dass die Spülmaschine nicht ausgeräumt war. In den Streit, der daraufhin entbrannte, mischte sich diesmal nicht nur Thomas sondern auch Tobias ein, indem er die Streithähne kurzerhand dazu abkommandierte, das Geschirr gemeinsam auszuräumen. Jason zockelte der weil los, um Besen und Mopp zu holen. Einzig ich und Leif saßen noch am Tisch. Als ich zu ihm rübersah, erhob er sich betont langsam.   „Ich geh dann mal die Klos putzen. Wenn du also ein Bedürfnis hast, kommst du entweder gleich mit oder du verkneifst es dir.“   Er schenkte mir noch einen langen Blick, bevor er sich auf dem Absatz umdrehte und immer noch unendlich langsam zum Ausgang schlenderte. Als Tobias ihn zurückpfeifen wollte, weil er seinen halbvollen Teller hatte stehenlassen, beschloss ich, die Gelegenheit zu nutzen. „Ich mach das schon“, rief ich, griff mir meinen und Leifs Teller und stapelte sie so ineinander, dass man nicht sehen konnte, dass wir beide total viel übrig gelassen hatten. Ich das Gemüse, er den Rest. „Okay, danke Manuel“, sagte Tobias und lächelte mich an. „Wir verschieben das Gespräch am besten auf die Hausaufgabenstunde, dann ist bestimmt wieder Ruhe eingekehrt. Halbe Stunde?“   „Ja, okay. Ich … ich müsste allerdings mal.“ „Die Treppe hoch und dann rechts. Ich bring dich eben hin.“ „Nein, nein, ich schaff das schon. Ich will ja hier keinen von der Arbeit abhalten.“   Tobias zögerte kurz, bevor er nickte. „Okay, dann geh allein. Aber keinen Unsinn anstellen, verstanden?“ „Klar. Großes Ehrenwort.“   Ich setzte ein Lächeln auf, von dem ich wusste, dass es Herzen zum Schmelzen brachte. Auch bei Tobias schien etwas davon anzukommen. Er bedeutete mir mit dem Kopf, mich endlich zu verdrücken, und ich leistete Folge. So schnell mich meine Füße trugen, lief ich den Flur entlang. Erst, als ich an der Haustür vorbeikam, wurde ich unwillkürlich langsamer. Da draußen war der Frühling in vollem Gange. Die Sonne schien auf den Hof, die Bäume standen in sattem Grün. Noch nicht zu warm, aber schön genug, um nicht zu frieren. Ideal um irgendwo abzuhängen. Vielleicht was zu trinken. Zu rauchen. Wieder kribbelte es in meinem Mund.   Scheiße, ich brauch ne Zigarette.   Mit Gewalt riss ich mich von dem Anblick los und sah zu, dass ich nach oben kam. Ich hielt mich nicht damit auf, nach irgendwelchen offenen Türen zu suchen, sondern ging gleich zu den Toiletten, wo Leif gerade dabei war, mit einem Lappen das Waschbecken zu säubern. Als ich in der Tür erschien, hielt er inne.   „Hast ja lange gebraucht“, meinte er, bevor er sich wieder dem Putzjob zuwandte. Er öffnete den Wasserhahn, spülte die Reste des Schaums weg und tat so, als wäre ich nicht da. „Musste mich erst loseisen“, gab ich zurück und lehnte mich an die Wand. Von hier aus hatte ich einen guten Blick auf ihn. Er war schmal, hatte lange, dünne Beine, sehnige Arme. Ansonsten war nicht viel zu erkennen unter dem weiten Shirt und der Jeans, die trotz des engen Schnitts ziemlich locker saß. Als ich versuchte, mir den dazu gehörigen Rest vorzustellen, hörte ich ein belustigtes Schnauben. „Willst du da weiter rumstehen, oder machst du endlich die Tür zu, damit wir zur Sache kommen können?“   Alles klar, er war direkt. Gefiel mir. Da sagte ich nicht Nein. Ich trat in den Raum, drehte mich um und schloss die Tür. Kaum, dass ich den Riegel umgelegt hatte, spürte ich ihn schon hinter mir stehen.   „Na los. Erst du, dann ich. “   Ich fragte nicht, wie er das meinte. So schnell ich konnte, öffnete ich meine Hose. Er trat noch näher und griff um mich herum. Als sich seine Finger um meinen Schwanz legten, zischte ich leise.   „Fuck, du hast ja Eishände.“ „Das Wasser war kalt“, raunte er an meinem Ohr und begann mich zu wichsen. Binnen Sekunden hatte er mehr in der Hand als zuvor. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. „Mhm, nett.“   „Ich kann auch gut damit umgehen“, setzte ich hinzu, bevor ich für einen Moment die Augen schloss. Seine Finger bewegten sich schnell und geschickt und mir war klar, dass es nicht lange dauern würde. Er wusste, was er da tat. Sein harter Atem streifte meinen Hals, sein Körper berührte meinen jedoch kaum. Nur seine Hand, die sich unablässig schneller und schneller bewegte. Ich merkte, wie es anfing zu kribbeln. Zu ziehen. Ich unterdrückte ein Keuchen. Lehnte mich gegen die Wand, um mich abzustützen. Gleich … gleich würde es passieren.   „Warte“, zischte ich, so leise ich konnte. „Soll ich etwa gegen die Tür …?“ „Mein Handtuch kriegst du jedenfalls nicht.“   Ich lachte halb. Die andere Hälfte war ein erneutes Keuchen. Ich war so kurz davor. „Manuel?“   Scheiße! Tobias.   Sofort verschwand die Hand aus meinem Schritt und ich starrte wie benebelt die Tür an, an der es jetzt klopfte. „Manuel, bist du da drin?“   Ich muss antworten.   „Ja, ich … es hat ein bisschen gedauert. Ich komme.“   Oder auch nicht.   In Windeseile packte ich meinen Schwanz wieder ein und riss den Reißverschluss nach oben. Schnell noch richten, das Shirt drüber. Fertig.   „Manu~el“   „Jaha, ich mach ja.“   Ich fuhr mir noch einmal mit der Hand über das Gesicht und warf einen Blick nach hinten. Leif tat so, als würde er den Fußboden schrubben. Mit einem letzten Durchatmen öffnete ich die Tür.   Tobias’ Stirn war gerunzelt. Er äugte an mir vorbei in den Raum. Als er Leif entdeckte, wanderten seine Augenbrauen nach oben. „Was geht hier vor?“, wollte er wissen. „Was habt ihr zwei gemacht?“   „Nichts“, antwortete ich sofort. Leif reagierte nicht.   „Und warum war die Tür dann zu?“   Ich verdrehte die Augen.   „Na weil ich pinkeln war. Ich wollte halt nicht, dass mir jeder zuguckt.“ „Aber Leif schon?“   Ich wollte mir irgendeine glaubhafte Ausrede einfallen lassen, als mein Mitverschwörer sich endlich dazu bequemte, auch mal was zu sagen. „Mensch, Tobi, nun mach dir mal nicht ins Hemd. Ich hab geputzt und da haben wir halt ein bisschen gequatscht. Ist doch nichts dabei. Deswegen musst du uns doch nicht gleich so zusammenscheißen.“   Tobias zögerte. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Vermutlich, weil er es ja gewesen war, der mich von der Leine gelassen hatte. Wenn ich Scheiße gebaut hatte, würde er vermutlich Ärger dafür kriegen. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Na schön, aber lasst nächstes Mal die Tür dabei offen“, erklärte er mit fester Stimme. „Wir haben hier klare Regeln für so was.“ „Klar“, sagte ich sofort und hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. „War mein Fehler. Ich hätte gleich zurückkommen sollen.“   Als Tobias immer noch nicht erweicht war, senkte ich den Blick und ließ meine Stimme leiser werden. „Ich … ich wollte halt mal von einem der anderen hören, wie es hier so ist. Ohne Zuhörer.“   Tobias’ Blick wurde weicher.   „Okay, das kann ich nachvollziehen. Trotzdem darfst du dich hier am Anfang noch nicht so frei bewegen. Wir müssen dich ja erst kennenlernen.“ „Klar.“   Ich tat geknickt, weil mir klar war, dass, wenn Tobias rausbekam, was wir hier gerade getrieben hatten, es nicht so bald wieder eine zweite Gelegenheit dazu geben würde. Ich sah von unten herauf zu ihm hoch.   „Krieg ich jetzt noch die versprochene Einweisung?“   Tobias lachte leicht. „Natürlich. Komm mit. Thomas übernimmt heute die Hausaufgabenhilfe hat er gesagt.“ „Schön, ich freu mich.“   Ich lächelte ebenfalls und ließ Tobias vorgehen. Als er an mir vorbei war, warf ich noch einen Blick zu Leif. Der saß mit seinem Putzlappen auf dem Boden und glich dadurch mehr denn je einem Frosch.   Ich unterdrückte ein Grinsen und beeilte mich, Tobias zu folgen. Das, was wir heute begonnen hatten, würden wir ein andermal fortführen.     Nachdem wir wieder im Erdgeschoss angekommen waren, gingen wir dieses Mal nicht nach links in Richtung Küche, sondern steuerten die rechte Glastür an. Tobias zückte den Schlüssel, um sie zu öffnen. Im Flur dahinter gab es mehrere Türen. „Wir gehen hier rein“, sagte Tobias und öffnete einen kleinen Raum, in dem es einen Tisch gab und vier Stühle. Bücherregale zierten die Wände und ein Bild von einem Frosch, der halb im Schnabel eines Storches verschwunden war, bevor er das Langbein am Hals gepackt und ihm die Luft abgeschnürt hatte. „Niemals aufgeben“ stand daneben. Der Storch sah reichlich gefickt aus. „Hier finden unsere Einzelgespräche statt. Das hast du einmal die Woche, wenn du möchtest, auch öfter.“   Ich nickte nur dazu und ließ mich auf Tobias’ Geheiß hin auf einem der Stühle nieder. Er setzte sich ebenfalls. Auf dem Tisch landete eine Akte. Mein Name stand darauf. „So, wie du siehst, hat uns dein früherer Betreuer ein bisschen was zukommen lassen. Da stehen deine Noten drin, Zeugnisse, ärztliche Gutachten und so weiter. Mit anderen Worten, nur Bockmist.“   Tobias grinste, als er mein erstauntes Gesicht sah. „Ein Scherz. Wir haben das natürlich gelesen um abzuschätzen, ob du hier gut reinpassen würdest. Es gibt hier noch eine weitere Gruppe, aber ich denke, du bist hier ganz gut aufgehoben. Wir möchten dir gerne helfen, Manuel. Doch das Allerwichtigste ist eigentlich, was du hier möchtest. Denn auf dich kommt es an.“   Danach entstand eine Pause, die ich wohl hätte mit Worten füllen können. Oder sollen. Als ich nichts sagte, hakte Tobias nach. „Warum bist du hier?“   Ich verzog den Mund zu einem abschätzigen Grinsen. „Das steht doch bestimmt auch in der Akte. Weil ich mich rumtreibe, nicht zur Schule gehe, von zu Hause abgehauen bin …“   „Nicht ohne Grund, nehme ich an“, unterbrach Tobias mich. Ich gab ein unbestimmtes Schnauben von mir. Darauf wollte er also hinaus. „Nein, nicht ohne Grund“, gab ich zu und sah weg.   Tobias wartete eine Weile, aber als ich nicht mehr dazu sagte, seufzte er.   „Du willst nicht darüber reden? Okay. Kann ich verstehen. Ist bestimmt nicht leicht, so von der eigenen Familie behandelt zu werden.“ „Das hat nichts damit zu tun.“ „Nein? Und ich dachte, dein Bruder hätte dich krankenhausreif geprügelt. Wäre mit einem Messer auf dich losgegangen.“   Ich antwortete nicht darauf. Er wusste schließlich, dass es stimmte. Warum mir also noch die Mühe machen und es zugeben?   Tobias seufzte leise. „Na schön. Ist ein schwieriges Thema. Ich versteh schon.“ „Einen Scheiß verstehst du.“   Erst stutze Tobias, dann lächelte er. „Vielleicht hast du recht. Aber ich sagte ja schon, dass es hier um dich geht. Was möchtest du erreichen?“   Wieder so eine Frage aus irgendeinem Psycho-Lehrbuch. Was wusste ich denn? Was konnte ich denn erreichen? Einen Schulabschluss? Einen Job? Familie? Kinder womöglich. Wobei sich die Natur da ja nun keine Sorgen machen brauchte. Mit Nachwuchs würde ich die Welt verschonen.   „Okay, dann sage ich dir einfach mal, was wir uns vorgestellt haben. Wir werden dich hier in die Gemeinschaft aufnehmen. Das machen wir zu einem großen Teil erst mal, damit du sicher bist.“ „Mir passiert schon nichts.“ „ Ach, ist das so? Und wenn dein Bruder wieder aus dem Gefängnis kommt? Wenn ihn nächstes Mal niemand aufhält, wenn er ein Messer zückt? Oder wenn er sich ne Knarre besorgt? Dann ist die Welt um einen Manuel ärmer und das würde ich persönlich echt schade finden.“   Als er das sagte, huschte mein Blick einmal kurz zu ihm rüber. Meinte er das jetzt ernst? Daran glaubte ich nicht. Der war doch auch nur hier, weil er dafür bezahlt wurde. „Was? Denkst du, ich mache das hier nur, weil ich dafür bezahlt werde? Glaub mir, im Zoo den ganzen Tag Elefantenscheiße zu schaufeln, wäre einfacher, als auf euch aufzupassen. Und Elefanten haben verdammt große Scheißhaufen, das kannst du mir glauben. Die kacken mit einem Mal ne ganze Schubkarre voll.“   Ich musste gegen meinen Willen grinsen. „Quatsch. Höchstens ne halbe.“ „Ach, bist du jetzt Experte für Elefantenscheiße oder was?“ „Klar. Ich wollte immerhin mal Tierarzt werden.“   Das Lächeln auf meinem Gesicht erstarb. Tobias bedachte mich mit einem Blick, der mich schlucken ließ. „Ist verdammt lange her, oder?“ „Mhm.“   Ich antwortete nicht. Diesen Wunsch hatte ein anderer Manuel gehabt. Einer, den es heute nicht mehr gab.   Ich hörte Tobias tief durchatmen. „Ob das mit dem Tierarzt klappt, kann ich dir natürlich nicht versprechen. Aber wir können gemeinsam dafür sorgen, dass du dein Leben in den Griff bekommst. Dass du was lernst, später mal Geld verdienst. Ein richtiges Zuhause hast. Aber dafür braucht es vor allem eines.“   Ich zog die Schultern hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und das wäre?“ „Verdammt viel Mut. Und Ausdauer. Und den Arsch in der Hose, sich hinzusetzen und die Scheiße wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich sage nicht, dass das einfach wird. Aber ich verspreche dir, dass wir dir dabei helfen werden, so gut wir können.“   Ich verzog keine Miene, aber die spitze Bemerkung, die mir sofort dazu in den Sinn kam, kitzelte meine Zungenspitze. Ich schaffte es nicht, sie zurückzuhalten. „Und wofür? Damit ich dann später mal irgendwelchen Losern dämliche Vorträge halten kann?“   Wieder war da ein Lächeln auf Tobias’ Lippen. „Nein. Sondern damit du morgens in den Spiegel blicken kannst, ohne das Kotzen zu kriegen. Deswegen solltest du es machen.“     Der Satz, den mir Tobias da an den Kopf geworfen hatte, wirkte noch nach, als ich kurz darauf neben meinem Bett stand. Mittagsruhe war angesagt. Das hieß, es gab keine laute Musik, jeder musste in seinem Zimmer bleiben. Zeit, um auszupacken. Zeit um anzukommen. Zeit allein.   Ich trat an das Fenster, das ich zwar öffnen, aber nicht als Fluchtmöglichkeit nutzen konnte. Da draußen gab es einen Außenbereich. Zwei Sitzgruppen, Rasen, Blumen, Büsche. Dahinter einen Sandplatz. Eine Schaukel, ein Klettergerüst. Ich starrte die Spielgeräte an und konnte die Erinnerung nicht verhindern, die damit nach oben kam. Da hatte es jemanden gegeben, der mir genau dieses Gefühl gegeben hatte. Dass ich nicht nur zum Kotzen war. Dass ich nicht nur ein dummes Arschloch war, das nur an sich selbst dachte.   „Tja. Hab dir jetzt wohl das Gegenteil bewiesen, oder Bambi?“   Vermutlich ahnte er noch nicht mal was davon. Mit einer Verabredung hatten wir uns verabschiedet. Für Donnerstag. Das war in drei Tagen. Ich hatte gewusst, dass ich nicht kommen würde. Ich hatte es gewusst, aber nichts gesagt. Ich hatte mir geholt, was ich gewollt hatte. Wofür ich gearbeitet hatte. Wochenlang. Ich hatte es mir verdient. Hatte ich gedacht und mich so vor mir selbst gerechtfertigt. Aber dann … Er war so scheiße lieb gewesen. Aufgeregt. Es war sein erstes Mal. Und irgendwie … irgendwie hatte ich dann gewollt, dass es schön für ihn war. Dass er, obwohl ich ihn danach fallen lassen würde, das Ganze in guter Erinnerung behielt. Dass er mich in guter Erinnerung behielt. Ich hatte was Besonderes für ihn sein wollen. Im Nachhinein kam mir das albern vor. Absolut lächerlich. Aber in dem Moment hatte es sich richtig angefühlt.   Und dann bin ich einfach gegangen.   Weil ich eben doch ein Arschloch war. Ich hatte ihn gewarnt, dass es so war, aber er hatte nicht hören wollen. War immer näher und näher gekommen.   Das passiert mir nicht noch mal.   Denn egal, wie sehr ich mir sagte, dass er selbst schuld war; ich wusste, dass es nicht stimmte. Ich hatte ihn benutzt und dann weggeworfen. Und ich wusste, wie sich das anfühlte. Wenn man sich wie Dreck an der Schuhsohle vorkam. Wenn man nichts tun konnte, um das zu ändern. Ohne es zu merken, hatte ich plötzlich die Türklinke in der Hand. Mir war schwindelig. Schlecht. Ich musste hier weg.   Ich riss die Tür auf, stürzte auf den Gang. Mein erster Impuls war, nach unten zur Haustür zu laufen. Immer wieder und wieder gegen das Glas zu treten, bis es splitterte und mich wieder freigab. Herausließ aus diesem Käfig.   Eine Tür öffnete sich und Tobias trat hindurch.   „Manuel? Warum bist du nicht in deinem Zimmer? Ist was passiert?“   Ich antwortete nicht. Natürlich war etwas passiert. Mein ganzes Scheißleben war passiert. Ich wollte das nicht. Ich wollte hier weg. Weg von allem, was mich daran erinnerte. „Komm, es ist Mittagsruhe. Du musst in deinem Zimmer bleiben.“ Schon hörte ich, wie sich die ersten Türen öffneten. Die anderen steckten ihre neugierigen Fressen in den Flur. Wollten sehen, wie ich mich blamierte. Scheiße! „Na los, ich bring dich zurück.“   Wie betäubt ließ ich mich mitziehen und befand mich im nächsten Moment wieder in dieser Zelle, aus der ich doch gerade erst ausgebrochen war. Wie war das passiert? „Jetzt erzähl mal. Was ist denn los?“   Tobias’ Art brachte mich gegen meinen Willen runter. Ich wollte nicht runterkommen. Nicht so. „Fick dich!“, schnauzte ich ihn an und wollte mich an ihm vorbeidrängen. Vielleicht bekam ich die Tür ja doch auf. „Oh nein, mein Freund. Du bleibst schön hier.“   Mit erstaunlich kräftigen Händen hielt er mich fest und hinderte mich allein mit seinem Körper daran, wieder in den Flur zu rennen. Ich stieß ihn vor die Brust. Er ließ mich los und trat einen Schritt zurück. In seinen Augen stand Sorge. „Okay, was brauchst du?“   Meine Hand ballte sich zur Faust. Ich wollte ihn so gerne schlagen. Damit er aufhörte, so ne Scheißfragen stellte.   „Willst du reden oder dich ne Runde abreagieren? Ich kann dich runterbringen.“   Für einen Moment wusste ich nicht, was er meinte, aber dann fiel es mir ein. Der Time-out-Raum. Dort konnte man schreien, wüten, toben, so viel man wollte. Nicht alleine, immer in Begleitung, solange man niemanden angriff. Tobias hatte ihn mir gezeigt. Er sah aus wie ne Gummizelle.   „Nein!“ Das Adrenalin rauschte immer noch durch meine Adern. Es wollte raus, wollte etwas kaputtmachen. Aber ich wollte nicht dort unten eingesperrt werden wie ein Verrückter, der sich sonst selbst die Arme aufschlitzte. Ich war nicht so verrückt. „Raus!“, schnauzte ich und machte drohend einen Schritt auf Tobias zu. Er hob beschwichtigend die Hände. „Es reicht, wenn du mir das ruhig sagst. Ich gehe. Aber nur, wenn es wirklich das ist, was du willst.“   Beinahe wäre mir über die Lippen gekommen, dass ich das nicht wollte. Dass ich nicht alleine sein konnte in diesem Zimmer. Dieser Zelle. In meinem verdammten Leben. „Ich komme klar“, sagte ich und drehte mich um, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich hörte ihn durchatmen. „Ich kann wirklich bleiben, wenn du das möchtest. Oder wir drehen ne Runde draußen auf dem Platz. Die überschüssige Energie loswerden, den Kopf freikriegen.“ „Geh weg!“   Wieder eine Pause. Unendliche Augenblicke, in denen ich mich beherrschen musste, um nicht weich zu werden. Nicht schwach. Erbärmlich.   „Gut. Wenn du das so willst, gehe ich. Aber du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du es dir anders überlegst. Ich meine das so. Wir sind für euch da.“   Danach sagte er nichts mehr. Ich hörte nur, wie die Tür geschlossen wurde und sich seine Schritte auf dem Flur entfernten. Aus dem Nebenzimmer drang leise Musik an mein Ohr. Ich setzte mich auf mein Bett und hörte zu, bis der Klang plötzlich verstummte und ein allgemeines Türöffnen das Ende der Mittagsruhe verkündete. Die Pause war vorbei. Auf zu Runde zwei.   Kapitel 3: Der letzte Dreck --------------------------- „Hast ja schnell den Schwanz eingekniffen.“ Der provozierende Unterton in Svens Stimme war auch über das Geräusch, mit dem sich die Säge in die Holzlatten fraß, nicht zu überhören. Ich hob den Kopf und schickte ihm einen herausfordernden Blick. „Was willst du damit sagen?“ Er grinste dreckig, während er fortfuhr, die Latte zu zersägen, die ich auf dem Bock festhielt. „Dass du ne Pussy bist. Das will ich damit sagen.“ Die Säge erreichte das Ende der Latte und mit einem Knirschen gab der Rest des Holzes nach. Das Stück, das Sven abgesägt hatte, fiel zu Boden. Er senkte die Hand mit der Säge, während er die andere affektiert in die Höhe hob, das Handgelenk abknickte und mit fistiliger Stimme verkündete: „Hi, ich bin Manuel und ich steh auf Ponys und Regenbögen.“ Meine Finger krallten sich in das unbehandelte Holz in meinen Händen. Ich wusste, dass ich mir entweder gleich einen Splitter einfing oder Sven das Ding in die Fresse knallen würde. Bevor es jedoch so weit kommen konnte, tauchte Tobias wie aus dem Boden gewachsen auf. „Na, alles klar bei euch? Sind die Latten fertig?“ „Klar“, gab Sven grinsend zurück. „Mit Latten kennt Manuel sich aus.“ Er ließ offen, wie er das meinte, und trollte sich zu den anderen. Ich sah ihm nach und fragte mich, wie er jetzt auf einmal darauf kam. Ob Leif was gesagt hatte? „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Tobias sah mich fragend an. „Ja, alles bestens“, knurrte ich. Die Antwort war eine Lüge, aber eine andere gab es nicht. Es war nichts in Ordnung und Tobias wusste das. Sonst hätte er wohl nicht hinterhergeschoben, dass ich jederzeit zu ihm kommen konnte, wenn ich was auf dem Herzen hatte. Diese verständnisvolle Tour ging mir langsam echt auf die Eier. Der sollte aufhören, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. „Ich kann auf mich aufpassen, klar?“, fuhr ich ihn an. Ich brauchte niemanden, der mir Händchen hielt. Ich konnte meine Probleme selbst lösen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre auch gegangen. Eine rauchen. Runterkommen. Aber das ging ja nicht, weil ich in diesem Scheißknast festsaß. Mit Arschlöchern wie Sven, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatten, mir den Aufenthalt hier zur Hölle zu machen. Und mit denen musste ich jetzt ein Hochbeet basteln. Um noch mehr Gemüse anzubauen. Lecker und ökologisch und leck mich doch am Arsch. Wozu gab es schließlich Supermärkte? Thomas klatschte tatkräftig in die Hände. „Wenn die Latten fertig zugesägt sind, können wir jetzt die Kopfenden aufstellen. Danach kommen die Seitenteile dran.“ Nico und Jason, die gerade noch kräftig den Pinsel geschwungen hatten, machten sich jetzt daran, die kürzeren Bretter zwischen den Holzpfählen zu montieren, die Thomas zuvor zusammen mit Leif in die Erde getrieben hatte. Unnötig zu sagen, dass ich sie dabei beobachtet hatte. Leif hatte auf dem Boden gekniet und den Pfahl gehalten, während Thomas mit einem schweren Hammer draufgeschlagen hatte. Dabei hatte das Fröschlein mich keines Blickes gewürdigt wie auch schon beim „Kaffeetrinken“, das aus ein paar trockenen Keksen und Limo bestanden hatte. Ich hatte die Brühe, die aus der altersschwachen Kaffeemaschine getröpfelt war, zwar probiert, aber schnell gemerkt, dass es ohne Zigarette dazu nur halb so befriedigend war. Dabei mochte ich Kaffee. Oder hatte ihn zumindest gemocht. Es war das Einzige, was zu Hause neben Alkohol immer vorrätig gewesen war. Ich streckte mich und bildete mir ein, in meinem Rücken etwas knacken zu hören. Seit über einer Stunde werkelten wir hier schon herum. Die Sonne brannte vom Himmel und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Die anderen hatten alle eine Flasche zum Trinken. Mir hatte niemand etwas angeboten und ich hatte mir nicht die Blöße geben wollen, um etwas zu bitten. „Hey, lass dich von Sven nicht ärgern. Der ist nur sauer, weil ihm sein Ausgang heute gestrichen wurde.“ Jason war neben mir aufgetaucht und strahlte über beide Hamsterbacken. Ihm schien dieser Scheiß hier sogar Spaß zu machen. Was er gesagt hatte, ließ mich allerdings aufhorchen. „Ausgang?“, fragte ich möglichst beiläufig nach. „Ja. Wir kriegen hier doch Ausgang. Anfangs nur kurz, aber später sind bis zu zwei Stunden drin. Wusstest du das nicht?“ Nein, das hatte ich nicht gewusst. Eine interessante Neuigkeit. Meine Mundwinkel zuckten. „Und warum kommt ihr danach wieder her?“ Die Frage war mir rausgerutscht, bevor ich es verhindern konnte. Jason hob die Schultern. „Weiß nicht. Am Anfang hab ich auch gedacht, dass ich es hier nicht aushalte, aber … Die Alternative ist halt auch Mist. Und hier hört einem wenigstens jemand zu, wenn man Probleme hat. Thomas und die anderen helfen einem. Auch mit der Schule. Ich will ja später mal was aus meinem Leben machen. Einen Beruf lernen und so.“ Jason wollte wohl noch mehr sagen, aber als Nico nach seinem Haustier pfiff, trabte er ganz brav zurück und hielt die Schrauben, die dazu dienen sollten, die längeren Latten zu befestigen. Mir war klar, dass das nur ein Vorwand war, um ihn von mir wegzubekommen. Die wollten mich hier nicht. Um das zu kapieren, brauchte ich keinen Schulabschluss. Das hatte ich oft genug erlebt. „Manuel? Hilfst du uns mal mit dem Gitter?“ Tobias hatte eine große Rolle Kaninchendraht in der Hand und Leif stand daneben mit Hammer und Nägeln. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, das Zeug beiseitezulegen um mitanzupacken. Aber offenbar war das nicht gewollt. Weil ich ja auch eine Aufgabe brauchte. Damit ich mich dazugehörig fühlte. Haha! „Nö.“ Ich hatte keinen Bock, mich noch weiter herumschubsen zu lassen. Sollten die Pisser ihr Scheißbeet doch alleine bauen. Ich würde mich hier ausklinken. „Ich geh mal ne Runde spazieren“, verkündete ich und hatte mich umgedreht, bevor jemand was dagegen sagen konnte. Ich kam jedoch kaum zehn Meter weit, bevor ich jemand hinter mir her joggen hörte. Es war natürlich Tobias. „Hey, du kannst nicht einfach so abhauen. Nachher hast du noch Freistunde, aber jetzt wird was gemeinsam gemacht.“ „Ach ja?“, fauchte ich, „Dann frag doch die anderen mal, wie viel Bock sie auf den Scheiß haben, zu dem ihr uns hier zwingt. Das hier ist doch auch nicht viel anders als im Knast. Mit euren Schlüsseln und Regeln und der ganzen Scheiße. Such dir wen anders, dem du damit auf den Sack gehen kannst.“ Ich merkte, wie meine Unterlippe zu zittern begann. Scheiße! Ich würde jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Ich würde nicht heulen. Oder ihn schlagen, denn meine Hand hatte sich ganz von allein zur Faust geballt. Tobias hingegen blieb total ruhig. „Ist der Entzug, was?“ „Was?“ Ich sah ihn einige Momente lang verständnislos an, bis ich kapierte, was er meinte. Als mir dann bewusst wurde, dass ich gerade tatsächlich unbedingt eine rauchen wollte, wurde das Gefühl nur umso drängender. Ich wollte das jetzt. Ich brauchte es. Diese tiefe Befriedigung, wenn der Rauch durch meine Lungen strich, das beruhigende Gefühl, wenn das Nikotin die Blutbahn erreichte. Wenn alles irgendwie leichter und ein bisschen weiter weg schien. „Willst du was dagegen haben? Kaugummis oder so.“ Ich wollte keine Scheißkaugummis. Ich wollte eine Zigarette. „Ja, vielleicht“, murmelte ich trotzdem und sah zu Boden. Fuck, ich war doch kein Junkie. So verkorkst war ich nicht. Ich ging nicht auf den Strich, nahm keine Drogen, hielt meine Sachen sauber. Selbst Jens hatte damals ganz verblüfft festgestellt, wie ordentlich ich war. Ich hasste es, wenn jemand etwas durcheinander brachte. Dementsprechend scheiße hatte es sich angefühlt, als Tobias mir gesagt hatte, dass hier darüber Protokoll geführt wurde, wie oft ich duschte, mir die Zähne putzte, meine Wäsche wechselte und wusch. Hier wurde einfach alles kontrolliert und ich wollte nur noch weg. Ich hatte das Gefühl, hier nicht atmen zu können. Es erdrückte mich. „Du gewöhnst dich dran“, meinte Tobias plötzlich, als hätte er meine Gedanken erraten. Im nächsten Moment sagte ich mir, dass das Unsinn war. Es war einfach nur irgendeine Floskel, die er da von sich gab. Leeres Blabla ohne was dahinter. „Und ich kann dir wirklich gerne was besorgen, das es leichter macht.“ „Was denn? Gras?“ Ich lachte rau, weil es in meinem Hals kratzte. Er begann zu grinsen. „Na, wenn dir nach Gras ist, kannst du dir gerne den Rasenmäher schnappen. Ich werde dich nicht aufhalten.“ Ganz kurz sah ich zu ihm hoch und dieses Lächeln, ein echtes Lächeln, fühlte sich irgendwie gut an. Ein schneller Blick über seinen Körper, der inzwischen in kurzen Klamotten steckte, verriet, dass das, was sich da unter dem Stoff verbarg, nicht von schlechten Eltern war. Außerdem hatte er wohl wirklich noch mehr Tattoos. An seinem Bein ringelte sich ein Drache nach oben und verschwand irgendwo im rechten Hosenbein. Wo er wohl endete? Scheiße! Jetzt denke ich schon über Sex mit Tobias nach. Hätte er mich und Leif nicht unterbrochen, hätten wir dieses Problem jetzt nicht. Ob das wohl auch in meiner Akte stand? Dass ich am anderen Ufer fischte? Wahrscheinlich nicht. Aber Jens hatte es vielleicht erwähnt, als er den Platz für mich gesucht hatte. Aber ob die das von Leif auch wussten? Konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Das hieß wohl, dass wir safe waren, solange uns keiner erwischte. „Wie sieht’s eigentlich mit Sport aus?“ Tobias’ Lächeln wurde breiter. Ich hatte wohl das Richtige gefragt. „Du kannst dich gerne austoben, wenn du willst. Wir haben den Park oder auch den Sportplatz, da kannst du joggen gehen. Bälle sind auch vorhanden. Wir spielen oft alle zusammen Fußball oder Basketball. Manchmal auch Volleyball, gehen am See schwimmen. Ist alles möglich.“ Schwimmen am See? Mit Tobias? Nette Vorstellung. „Und wie sieht’s mit Kraftsport aus?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, dafür haben wir hier nichts da. Du kannst dir natürlich gerne ein paar Wasserflaschen ausborgen, um die als Hanteln zu benutzen. Sag uns einfach, wenn du was brauchst.“ Der letzte Satz fegte die Anfänge des Lächelns, das sich in mein Gesicht geschlichen hatte, wieder hinfort. Richtig, da war ja was. Ich musste fragen, wenn ich etwas wollte, statt es mir einfach nehmen zu können. Sogar wenn es um so einfache Sachen wie Kaugummis oder eine Flasche Wasser ging. Es war wirklich zum Kotzen. „Ja, danke.“ Für nichts. „Komm, wir gehen zurück zu den anderen. Nach dem Kaninchendraht kommt die Folie ins Beet, da müssen wir alle mitanpacken.“ Es war eine billige Ausrede. Das Beet maß maximal drei Meter in der Länge und selbst vier Leute wären mehr als genug gewesen, um das Ding auszukleiden. Ich musterte die sprichwörtliche Hand, die Tobias mir entgegengestreckt hatte, mit einem argwöhnischen Blick. Sicher, ich hätte ihm jetzt folgen können. Aber ich wusste, wie das ausgesehen hätte. Als hätte er mich dazu gebracht zurückzugehen. Und das Schlimmste war, dass es die Wahrheit gewesen wäre. Es hätte ausgesehen, als wäre ich eingeknickt. Hätte mich weichkochen lassen. Als hätte ich keinen Respekt verdient. „Ich … ich will mich erst noch ein bisschen … abregen. Ist das okay?“ Ich legte einen bittenden Unterton in meine Stimme, versuchte weich auszusehen. Das, was die anderen nicht sehen sollten, weil sie es für echt gehalten hätten. Aber Tobias fiel darauf rein. Wie dumm! „Klar“, meinte er gönnerhaft. „Du kannst dich ja ein bisschen im Park umsehen. Aber nicht über die Mauer steigen.“ Er zwinkerte mir zu, bevor er sich umdrehte und zu den anderen zurückging. Im Weggehen gönnte ich seinem Hintern einen langen Blick. Ja, da war tatsächlich so einiges Schönes dran. Aber es war ja kein Rankommen. Da bildete ich mir nichts ein. Selbst wenn er schwul war, würde er nichts mit mir anfangen. Nicht solange ich hier drinnen unter seiner Fuchtel stand. Scheiße! Kein Sex, keine Zigaretten, kein Sport. Was soll ich denn hier sonst machen? Ich beschloss mir das, was Tobias als „Park“ betitelt hatte, mal genauer anzusehen. Beim Näherkommen stellte sich jedoch heraus, dass es sich dabei lediglich um eine große Rasenfläche handelte, auf der einige Bäume standen. Begrenzt wurde sie von einer hohen, grau verputzten Mauer, auf der eine Reihe von roten Ziegeln lag. Ätzend und sterbenslangweilig. Ich begann, mitten über die Wiese zu wandern. Einfach um nicht auf dem Weg zu bleiben. Unter den Bäumen war es nur unmerklich kühler. Einige von ihnen blühten. Ich hörte Bienen, die scheißefleißig über mir rumsummten, und zu meinen Füßen krabbelte einer von diesen rotschwarzen Käfern eilig in eine mir unbekannte Richtung. Wie er sich da so vorwärts plagte über Stöcke und Steine und doch unbeirrt seinen Weg fortsetzte, kochte auf einmal die Wut in mir hoch. Wieso wusste so ein Drecksinsekt genau, wo es hinwollte, während ich so gar keinen Plan hatte? Ich stand doch weit über so einem beknackten Käfer. Ehe ich es mir recht überlegt hatte, hob ich den Fuß und zermatschte das Vieh mit einem einzigen Tritt. Danach wartete ich darauf, dass ich mich besser fühlte, aber die Wirkung blieb aus. Stattdessen hatte ich jetzt Käferschmiere an meiner Sohle kleben und fühlte mich noch mieser als vorher. Scheiße! Während ich meinen Schuh am Gras abwischte, erregte auf einmal einer der Bäume meine Aufmerksamkeit. Er stand näher als die anderen an der Mauer. Wenn man dort hochkletterte, war die Freiheit nur noch einen Katzensprung entfernt. Ich konnte es riechen. Schnell blickte ich mich nach Tobias und den anderen um. Ob sie von dieser Möglichkeit wussten? Ich war doch unter Garantie nicht der erste, der aus dieser abgefuckten Anstalt abhauen wollte. Vielleicht haben sie es übersehen. Oder der Baum ist erst dieses Jahr so groß geworden. Könnte ja sein. Am besten sehe ich mir das mal genauer an. Unter dem Baum angekommen, stellte ich fest, dass ich mich tatsächlich nicht geirrt hatte. Wenn man es schaffte, irgendwie die unteren Äste zu erreichen, sollte es möglich sein, sich an einem von ihnen bis zur Mauer zu hangeln. Dahinter befand sich, wie ich wusste, eine ruhige Allee. Die Gefahr, bei einem Ausbruch entdeckt zu werden, war somit gleich Null. Es war perfekt. „Brauchst du Hilfe beim Raufkommen?“ Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Zu meiner Erleichterung war es nicht Tobias, der hinter mir stand, sondern Leif. Seine Gestalt wirkte im Sonnenlicht seltsam durchscheinend. „Du hast also die Hintertür gefunden. Gratuliere.“ Ich erwiderte nichts darauf. Er schnaubte belustigt, schlenderte an mir vorbei und legte die Hand auf die glatte, braune Rinde. „Ich hab damals ne Woche gebraucht, bis ich’s geschnallt habe. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass damals auch Winter war. Alles voller Schnee und so.“ Er warf einen Blick über die Schulter zu mir zurück. „Und? Soll ich dir nun raufhelfen?“ Ich drückte den Rücken durch und steckte die Daumen in die Hosentaschen. „Ich hatte nicht vor abzuhauen.“ „Ach nein? Wärst du der Erste.“ Arschloch! Ich hätte ihm am liebsten seine überhebliche Fresse poliert. Erst machte er einen auf Anmache, dann zeigte er mir die kalte Schulter und verriet mich sogar an Sven, nur um jetzt wieder angekrochen zu kommen? Konnte er vergessen. „Ich sagte doch, ich hab nicht vor abzuhauen.“ „Okay.“ Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme regte mich noch mehr auf als die Tatsache, dass er mich nicht mal ansah, während er mit mir sprach. Er wollte also Spielchen spielen. Na fein. Darin war ich auch nicht schlecht. „Hast du eigentlich vor, noch zu Ende zu bringen, was du vorhin angefangen hast? Oder war das nur heiße Luft, die da aus deinem Froschmaul kam?“ Er wurde kurz langsamer, beendete die Runde jedoch erst noch, sodass er mir ins Gesicht blicken konnte, bevor er antwortete. „Wenn du den Schneid dazu hast“, gab er lässig zurück. „Klar“, antwortet ich sofort. „Sag mir einfach wann und wo.“ Erst nachdem ich das gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich ihm damit die Zügel überlassen hatte. Und mit Garantie hatte er es genau darauf angelegt. Diese Ratte! Er lächelte, wie um mir zu zeigen, dass es ihm scheißegal war, dass ich ihn durchschaut hatte. „Dann heute Nacht, wenn das Licht aus ist. Ich komm zu dir rüber. Warte einfach, bis ich klopfe.“ Ich nickte betont lässig. „Geht klar.“ Er sah nochmal hoch zu dem Baum, als wolle er sich verabschieden. „Gut, dann sollten wir zurückgehen. Und uns heute Abend benehmen. Wenn sie einen von uns einschließen, wird es nichts.“ Mir lag auf der Zunge zu fragen, wie er denn überhaupt zu mir rüberkommen wollte – ich wusste immerhin, dass es eine Nachtwache gab und da war ja auch noch die Sache mit den Türen – aber eigentlich war es mir auch egal. Solange ich ihn dann vielleicht dazu brachte, mit seinem Lippen auch was anderes zu machen, als nur große Töne zu spucken, sollte es mir recht sein.     Die Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich damit, die Wand in meinem Zimmer anzustarren und mir auszumalen, was ich machen würde, wenn ich erst hier raus war. Als Tobias mich dann holen kam, warf er einen erstaunten Blick auf meinen Koffer. „Ich dachte, du hättest inzwischen ausgepackt.“ „Keinen Bock gehabt“, gab ich zurück. Er schnalzte mit der Zunge. „Nach dem Essen wird aber ausgeräumt. Der Koffer muss aus dem Zimmer. Klar?“ „Ja Ma’am“ Er lachte und ich grinste ebenfalls, als hätte ich einen lustigen Witz gemacht. Ich konnte so scheißefreundlich sein. Damit war es jedoch vorbei, als ich Sven über den Weg lief. „Na, Schönheitsschlaf vorbei?“ „Fick dich doch!“ „Manuel!“ Henning, ein neuer Erzieher, der sich mir beim Runterkommen als „die Nachtschicht“ vorgestellt hatte und die Aufsicht über die Vorbereitung des Essens innehatte, runzelte vorwurfsvoll die Stirn. „So reden wir hier nicht miteinander. „Jaaa, ich weiß.“ Heute Nachmittag hatte ich mehr als einmal dieser und ähnlichen Ermahnungen lauschen dürfen. Tobias war da wesentlich toleranter. Ich wurde zum Tischdecken abkommandiert und verteilte Teller und Besteck auf der ovalen Holzplatte. Draußen schien immer noch die Sonne. Um diese Jahreszeit blieb es schon eine ganze Weile hell. Durch die Fenster konnte man in den Garten sehen, wo bereits das Gerüst des Hochbeets stand. Sah gar nicht mal schlecht aus. Andererseits hatte ich ja nicht viel dazu beigetragen. Die meiste Arbeit hatten die anderen gemacht. „Hey, sag mal, pennst du? Mach mal hinne. Ich hab Hunger.“ Ich bekam einen Stoß in den Rücken. Schon wieder Sven. So langsam reichte es mir. Ich fuhr mit geballten Fäusten zu ihm herum. „Pass auf, was du sagst, sonst könnte es sein, dass du bald aus ner Schnabeltasse trinken musst.“ „Ach ja?“, höhnte Sven und grinste schon wieder dreckig. „Das will ich sehen. Du haust doch nicht mal ne Fliege aus den Latschen.“ Wie von selbst spannte sich mein Arm und ich war kurz davor zuzuschlagen, als sich Henning zwischen uns schob und uns auseinanderdrängte. Da er ein ziemlicher Bär war, gelang ihm das mühelos. „Schluss jetzt“, brummte er. „Manuel, du machst jetzt den Tisch fertig. Und du kümmerst dich um Brot und Brötchen, wie ich dir gesagt habe. Sven grollte und wollte wohl noch etwas sagen, aber dann trollte er sich und ließ mich mit Henning alleine zurück. Der sah von oben auf mich herab. Mit den roten Haaren und dem Bart erinnerte er mich ein bisschen an einen Wikinger. Hägar der Schreckliche oder so. „Ich weiß, dass es hier am Anfang nicht immer einfach ist. Aber wenn du Schwierigkeiten hast, dann komm zu uns, statt es selbst zu regeln. Wir sind für euch hier.“ Wieder dieser Spruch, den auch schon Tobias gebracht hatte. Es war so lächerlich einfach zu durchschauen. „Ja, sicher“, brummte ich jedoch scheinbar nachgiebig und drehte mich um, um den Tisch weiter einzudecken. In meinem Rücken hörte ich Getuschel und wusste, dass Sven mit irgendwem über mich redete. Wahrscheinlich mit Nico. Arschlöcher. Alle beide. Das Essen verlief größtenteils schweigend. Ich bekam am Rande mit, dass Tobias mit Leif diskutierte, weil der noch was essen sollte. Leif weigerte sich zunächst, bis er schließlich einknickte und noch eine weitere Scheibe Brot völlig ohne jeden Belag zu sich nahm. Nachdem alle fertig waren, wurde gemeinsam abgeräumt und die Küche gereinigt, bevor wir uns zum Fernsehen ins Wohnzimmer zurückziehen durften. Irgendwer hatte eine dieser billigen Krimiserien eingeschaltet. Apathisch hingen alle auf ihren Sesseln und glotzten auf den Bildschirm, auf dem alle paar Minuten massenweise Autos in die Luft flogen. Erst, als ich mir die Fernbedienung krallte, kam plötzlich Leben in den müden Haufen. „Hey, Flossen weg. Ich will das sehen.“ Jason hatte sich aufgeplustert und machte Anstalten, mir das ergatterte Elektronikteil wieder wegzunehmen. „Aber ich nicht“, meinte ich lapidar und begann umzuschalten. „Na warte. Henning!“ Sofort erschien Henning mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm bei seiner Körpermasse gar nicht zugetraut hätte, auf der Bildfläche. Wahrscheinlich hatte er nebenan in der Küche gesessen und uns von dort aus beaufsichtigt. „Was ist denn los?“ „Manuel hält sich nicht an die Fernsehregelung.“ „Na und?“, fauchte ich. „Das war doch der totale Schwachsinn, was da lief.“ „Gar nicht“, maulte Jason zurück und Henning kam einfach zu mir und nahm mir die Fernbedienung wieder aus der Hand. „Man hat dir doch bestimmt erklärt, dass hier über das Programm abgestimmt wird. Wenn es dir nicht zusagt, kannst du gerne gehen und für nächste Woche eigene Wünsche anmelden.“ Ich stand da wie vom Donner gerührt. Hatte Tobias davon was gesagt? Ich kramte in meiner Erinnerung, aber da war nichts. Scheiße! „Das hättet ihr Wichser mir ja auch einfach sagen können“, motzte ich mit einem halben Seitenblick auf Leif, der so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Wütend wollte ich den Raum verlassen, doch Henning trat mir in den Weg und ließ mich nicht vorbei. „Wie mir scheint, hast du ein bisschen Schwierigkeiten damit, dir die Hausregeln zu merken“, brummte er. „Ich denke, da sollten wir nochmal nacharbeiten.“ „Und wie?“, fragte ich gedehnt. „Indem du sie jetzt einfach mal abschreibst. „Was?“ Ich starrte ihn an und hoffte, dass das ein Scherz war. Aber Henning sah nicht aus, als würde er Witze machen. „Ich krieg ne Strafarbeit, weil ich umgeschaltet habe?“ Henning schüttelte den Kopf. „Nein. Du bekommst Gelegenheit, dir die Regeln noch einmal einzuprägen, damit dir das Leben hier in Zukunft etwas leichter fällt. Oder ist es etwa nicht besser, wenn du weißt, wie hier was funktioniert?“ „Besser für euch vielleicht.“ Henning lächelte leicht. „Ach ja? Wenn du gewusst hättest, dass du nicht umschalten darfst, würdest du dann jetzt nicht immer noch da drüben sitzen und weiter mit den anderen fernsehen, anstatt auf deinem Zimmer zu hocken und die Hausordnung abzuschreiben?“ Ich schnaubte und wollte etwas Gepfeffertes darauf erwidern, aber ich konnte nicht. Mir fiel einfach nichts ein.   Wieder in meinem Zimmer schmiss ich Zettel und Stift wütend gegen die Wand. Der Stift hinterließ eine Spur auf der Tapete, bevor er auf mein Bett plumpste. Die Zettel flatterten wirkungslos zu Boden. „So eine dreimal verfluchte Scheiße!“, schrie ich noch einmal, bevor ich mich auf mein Bett schmiss, den Stift von dort ebenfalls auf den Fußboden beförderte und mich zusammenrollte, um nichts mehr hören oder sehen zu müssen. Kaum eine halbe Stunde später hörte ich Lärm im Treppenhaus. Die anderen kamen zurück. „Zähne putzen und dann ab ins Bett“, dröhnte Henning auf dem Gang. Einen Augenblick später wurde meine Zimmertür geöffnet. „Los, Manuel! Zeit fürs Bett.“ „Es ist ja noch nicht mal dunkel.“ Das stimmte nicht. Draußen war es sogar schon ziemlich dunkel und ich war mir sicher, dass es gerade mal neun Uhr durch sein konnte. Viel zu früh, um ins Bett zu gehen. „Ihr müsst aber morgen früh raus. Also los, ab ins Bad mit dir.“ Als ich nicht reagierte, seufzte Henning. Er hob die Zettel und den Stift auf, legte alles auf den Tisch und trat ans Bett. „Das bringt doch nichts“, meinte er noch ein wenig versöhnlicher als gerade eben. „Wenn du dich weigerst, wird es nur umso schlimmer. Außerdem: Bist du dir wirklich so wenig wert, dass du dir nicht mal die Zähne putzen willst? Dann hast du mit 30 nur noch Stummel im Mund. Kein besonders schöner Anblick.“ Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Henning seufzte wieder. „Na schön. Ich kann dich nicht zwingen. Aber wenn du nicht kooperierst, wird das Konsequenzen haben.“ Ich hätte ihm nur zu gerne gesagt, wohin er sich seine Konsequenzen stecken konnte, aber ich ließ es bleiben. Draußen hörte ich, wie sich Leif und Sven unterhielten. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, aber besonders freundlich klang es nicht. Dann jedoch liefen Schritte in Richtung Leifs Zimmer und die Badezimmertür klappte zu. Schisser! Erst, als ich das Wasser im Bad rauschen hörte, fiel mir ein, dass ich ja eigentlich eine Verabredung hatte. Und dass ich vorher hatte duschen wollen. Schnell sprang ich auf, schnappte mir mein Handtuch und eilte nach draußen. Auf dem Flur lief ich beinahe in Tobias hinein. „Hey“, rief er lachend. „Ich wollte mich noch von dir verabschieden. Hab jetzt Feierabend.“ Seine Worte waren wie Salz in meinen Wunden. Ich kniff die Lippen zusammen und reagierte nicht. Tobias schien es nicht zu merken. „Morgen ab neun bin ich wieder hier. Hab extra mit Thomas getauscht, damit ich diese Woche die Tagschicht habe. Wenn du aus der Schule kommst, erwarte ich dich also schon.“ Wieder sagte ich nichts. Sollte er doch denken, was er wollte. Morgen würde ich eh hier abhauen. „Na gut, Manuel. Mach’s Henning nicht so schwer, ja? Er ist ein guter Kerl.“ „Er ist fett“, rutschte es mir über die Lippen. Tobias stockte und war wohl für einen Augenblick sprachlos. Als er seine Worte wieder gefunden hatte, war da Bitterkeit in seiner Stimme. „Er ist vor allem ein Mensch. So wie du und ich und wir alle hier. Außerdem ist es doch überhaupt nicht wichtig, wie jemand aussieht. Das, was wirklich zählt, ist das, was hier drin steckt.“ Er schlug sich mit der Faust gegen den Brustkorb. Auf dem mit ziemlicher Sicherheit ein Tattoo prangte. Aber darauf kam es ja nicht an, hatte er gesagt. „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Manuel.“ Damit drehte Tobias sich um und ließ mich stehen. Und ich? Ich kam mir vor wie der letzte Dreck der Menschheit.   Kapitel 4: Drei Jahre --------------------- „Manuel, Aufstehen!“   Mühsam öffnete ich die Augen ein Stück und blinzelte den Schatten an, der da turmhoch neben meinem Bett aufragte. Er hatte rote Haare und eine Brummstimme. Ein Bär? „Na los, du Schlafmütze. Die anderen sind schon auf. Beim nächsten Wecken bring ich einen Wassereimer mit.“   Ich schloss die Augen wieder, weil die Deckenbeleuchtung einfach viel zu hell war, und versuchte mich zu erinnern, wo ich mich befand. Als es mir einfiel, hätte ich beinahe laut aufgestöhnt. Scheiße! Ich war echt eingeschlafen. Und der Bär war kein Bär sondern Henning. Henning, mit dem ich mich gestern noch angelegt hatte, weil ich zu lange im Bad gewesen war. Und dann nochmal, weil ich meine Koffer immer noch nicht ausgeräumt hatte. Ich hätte mich wahrscheinlich noch weiter mit ihm herumgestritten, wenn er am Ende nicht einfach das Licht ausgemacht und mir eine Gute Nacht gewünscht hätte. Danach hatte ich mich in mein Bett gelegt und gewartet, dass es an der Tür klopfte. Aber das war nicht passiert. Ich hatte gewartet und gewartet, aber Leif war nicht aufgetaucht. „Wie spät ist es?“, murmelte ich.   „Halb sieben.“ „Halb sieben?“, wiederholte ich ächzend. „Das ist ja mitten in der Nacht.“ „Ich bringe euch um halb acht rüber zur Schule. Bis dahin müsst ihr gefrühstückt und die Küche wieder auf Vordermann gebracht haben. Also los, auf geht’s!“   „Nur noch fünf Minuten“, bettelte ich und vergrub mich noch einmal in den Kissen. Doch Henning kannte keine Gnade. „In ner Viertelstunde gibt’s Frühstück. Bis dahin muss der Tisch gedeckt sein. Da das deine Aufgabe ist, würde ich lieber zusehen. Ansonsten verspeisen die anderen dich zum Frühstück.“ „Kacke“, knurrte ich unter meiner Decke hervor und erntete dafür ein bäriges Lachen. „Na los, hoch mit dir und anziehen.“   Ich streckte ihm unter dem Kissen den Mittelfinger hin und machte mich dann daran, mich halbwegs passabel herzurichten. Im Bad begegnete ich Sven, was die Sache nicht besser machte. Er verzog das Gesicht zu einem gehässigen Grinsen. „Du siehst ja beschissen aus.“ „Danke gleichfalls“, murmelte ich und schlurfte erst mal in Richtung Toiletten. Vielleicht hatte ich da ja meine fünf Minuten Ruhe.   Als ich in die Küche kam, war die Hälfte der Truppe schon anwesend. „Wird ja Zeit, dass du kommst“, muffelte Nico mich gleich an. „Los, Tisch decken! Ich hab Hunger.“ „Ja ja“, gab ich zurück und fing an, in den Schränken nach Tellern zu suchen. Zum Glück half Henning mir, alles Notwendige zu finden. Die anderen standen derweil nur rum und guckten mir zu. Am liebsten hätte ich sie angepflaumt, dass sie einfach mal mitanpacken sollten, aber mir war klar, dass ich mir damit eine Abfuhr einhandeln würde.   Muss ich wohl doch früher aufstehen. Die Erkenntnis passte mir nicht, aber die Aussicht, jedes Mal mit Publikum zu arbeiten, war auch nicht gerade berauschend. Als ich die letzten Teller hinstellte, kamen auch Leif und Dennis in die Küche. Beide würdigten mich keines Blickes, sondern setzten sich lediglich stumm an den Esstisch. „Guten Morgen!“, rief Henning auffordernd und bekam zwei gemurmelte Antworten. Immerhin etwas.   Ich riss mich zusammen, um nicht allzu auffällig zu Leif rüberzusehen. Warum war der Arsch denn gestern nicht gekommen? Ob Henning ihn erwischt hatte? Aber das hätte ich bestimmt gehört. Mein Zimmer lag immerhin am Kopfende des Ganges. Wenn jemand zu den beiden anderen wollte, musste er an meiner Tür vorbei.   Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Henning wie eine Elfe vorbeigeschwebt ist.   Blieb also nur die Möglichkeit, dass Leif es sich aus irgendwelchen Gründen anders überlegt hatte. Warum auch immer.   Na und? Sein Problem. Ist ja nicht so, dass ich Notstand hätte.   Ich beschloss, ihn nicht weiter zu beachten. Stattdessen griff ich nach der Lehne des Stuhls, der mir am nächsten stand, als Sven plötzlich die Hand auf die Sitzfläche legte. „Hier ist besetzt“, sagte er und sah mich herausfordernd an. Ich starrte zurück. Auch das noch. Auf Stress hatte ich nun wirklich keine Lust. Schon gar nicht vor dem Frühstück. Aber einfach den Schwanz einziehen war definitiv auch nicht drin.   „Und für wen?“, fragte ich und sah mich um. „Sitzen doch schon alle.“   „Für Henning“, erklärte Sven scheinheilig.   Henning, der gerade aus der Küche kam, lachte. „Das ist ja nett, dass du mir einen Platz freihältst. Du überlässt ihn mir doch, oder Manuel?“   Ich zögerte kurz, bevor ich nickte und mich auf die andere Seite des Tisches verzog. Hier waren noch zwei Stühle frei und beide waren direkt neben Leif.   Muss an seiner wunderbaren Persönlichkeit liegen.   Ich zog mir einen der Stühle heran und ließ mich darauf fallen. Ohne Leif auch nur eines Blickes zu würdigen, griff ich nach dem Brotkorb. Es gab drei verschiedene Brotsorten. Alle frisch. Sogar der Toast war noch warm. Henning hatte ihn wohl gerade erst aus dem Toaster gezogen. „Los, reich mal weiter“, forderte mich Nico auf und ich gab ihm den Korb über den Tisch. Ob Leif auch etwas hatte oder gar haben wollte, ignorierte ich dabei geflissentlich. Immerhin schuldete er mir noch eine Erklärung für letzte Nacht. Da sollte er mal schön den ersten Schritt machen und mich ansprechen. „Ist kein Müsli mehr da?“, wollte Dennis wissen und ich war irgendwie erstaunt, seine Stimme zu hören. Henning verneinte. „Ist alle. Wir müssen heute erst neues kaufen. Schreibst du es auf die Liste?“   Dennis nickte, stand auf und nahm sich einen Stift, der an der Wand neben einem Notizblock hing. Als Henning meinen Blick bemerkte, lächelte er. „Wenn du was brauchst, kannst du es da aufschreiben. Am besten setzt du deinen Namen in Klammern dahinter, damit wir wissen, für wen es ist. Aber keinen Blödsinn wie Wodka oder so.“   „Okay,“ sagte ich und fing an, mir mein Brot mit Butter zu beschmieren. Drei Scheiben Salami vervollständigten das Gebilde. Als ich den ersten Bissen nahm, merkte ich, wie hungrig ich war. Dem ersten folgte ein zweites und noch ein drittes Brot. Dabei bemühte ich mich nach Kräften, nicht nach rechts zu schauen, wo Leif immer noch an seinem Toast herummümmelte. Die Art, mit der er sich langsam Stückchen für Stückchen in den Mund schob, hätte mich nur wahnsinnig gemacht. Wie konnte man nur so langsam sein?   „Ich bin fertig. Kann ich aufstehen?“   Nico hatte sich schon halb erhoben. Hennings Blick ging zu Leif. „Ja, mach ruhig. Leif kann seinen Teller dann selbst in die Spülmaschine stellen.“   Fast erwartete ich, dass jemand eine Bemerkung über die sprichwörtliche Extrawurst machte, die Leif bekam, aber niemand sagte etwas dazu. Alle fingen an, gemeinsam den Tisch abzuräumen und waren dabei ausgesprochen friedlich. Nico machte sogar einen Witz und die anderen lachten darüber. Leif nicht, wie mir ein schneller Check in seine Richtung verriet. Als ich mich wieder wegdrehen wollte, hob er auf einmal den Kopf und sah mich an. Ganz kurz trafen sich unsere Blicke, dann senkte er die Augen wieder auf den Teller, auf der inzwischen nur noch eine Toastrinde lag. Er schob sie ein bisschen hin und her, zupfte kleine Stückchen davon ab und verteilte sie auf dem Teller. Als er fertig war, stand er auf. „Ich bin auch fertig“, verkündete er, drehte sich um und verschwand durch die Tür. Den Teller hatte er stehen lassen.   „Dieser Pisser!“, schimpfte Nico, griff sich aber trotzdem den Teller und trug ihn in die Küche. Ich bekam einen Lappen und wischte den Tisch ab. Dabei sah ich, dass auch um Leifs Stuhl herum ziemlich viele Krümel lagen. Wenn man das alles zusammennahm, hatte er vielleicht eine halbe Scheibe Toast gegessen. Nicht gerade viel.   Na und? Ist mir doch egal. Nico hat schon recht. Er ist ein Pisser.   Ich wischte die Krümel zusammen und ließ sie dann einfach auf den Boden fallen, den Jason ohnehin gerade kehrte. Er meckerte ein bisschen, bemühte dann aber nochmal den Besen, um auch meine und Leifs Krümel mitzunehmen. Kurz darauf war die Küche tiptop in Ordnung. „Habt ihr toll gemacht, Jungs“, lobte Henning und bekam dafür zumeist aufgesetzte Gleichgültigkeit gezeigt. Nur Jason strahlte. „Klar, wir sind doch ein Team“, verkündete er, bevor er sich zusammen mit den anderen trollte, um seine Schulsachen zu holen. Es war acht vor halb. „Du bekommst dann alles drüben“, informierte Henning mich. „Da erfährst du dann auch, in welche Klassengruppe du kommst.“   „Wir haben nicht alle zusammen Unterricht“, fragte ich verblüfft.   „Nein, die Klassen richten sich nach dem Leistungsstand wie in der richtigen Schule. Allerdings sind die Klassen hier sehr viel kleiner.“   Diese Ankündigung hätte mir wahrscheinlich Mut machen sollen, aber stattdessen bildete sich ein eigenartiger Knoten in meinem Bauch. Ich ahnte, was kommen würde, aber ich schob den Gedanken lieber weit, weit weg. „Ich geh mir nochmal schnell die Zähne putzen“, hörte ich mich sagen. Henning ermahnte mich noch, mich zu beeilen, aber da war ich schon zur Tür raus. Wie gerne hätte ich jetzt eine geraucht. Vielleicht auch zwei oder drei. Der Gedanke, dass ich das nicht konnte, traf mich mit voller Wucht. Ich konnte nichts selbst entscheiden. Alles wurde mir weggenommen. „Fuck!“, fluchte ich halblaut und blieb stehen, als ich von oben Stimmen hörte. Die anderen waren bereits wieder auf dem Weg nach unten. Sven, Nico und Jason, die herumblödelten und sich gegenseitig damit aufzogen, wer am meisten Schiss hatte, vom oberen Treppenabsatz zu springen. „Ich hab mir bei so was mal den Arm gebrochen“, behauptete Jason und wurde von den anderen dafür ausgelacht, dass er sich so ungeschickt angestellt hatte. Als sie unten ankamen, sah ich, dass auch Dennis mit von der Partie war, auch wenn er wie üblich schwieg. Nur Leif fehlte. „Na los, husch husch, Prinzessin. Du willst doch nicht am ersten Schultag zu spät kommen“, stichelte Sven, als er mich entdeckte. „Halt die Klappe“, gab ich ein bisschen lahm zurück.Ich warf einen kurzen Blick die Treppe hinauf. Eigentlich musste ich nicht nach oben gehen. Die Sache mit dem Zähneputzen war ohnehin nur vorgeschoben gewesen, damit ich mich aus der Küche verdrücken konnte. Und da oben war außer Leif niemand mehr. Warum mich also zu ihm ins Abseits begeben? Ich konnte ebenso gut hierbleiben.   Als wäre es genau so geplant gewesen, ließ ich mich auf der Treppenstufe nieder, auf der ich gerade stand und lehnte mich lässig zurück. Die konnten mich mal. Kreuzweise!   Leider hatten die vier wohl beschlossen, mich weiterhin wie Luft zu behandeln. So saß ich ziemlich dämlich da und hörte ihnen zu, wie sie ihre Witze rissen. Wenigstens dauerte es nicht lange, bis Henning auftauchte. „Sind alle da?“, fragte er und ließ den Blick über die „Menge“ schweifen. „Leif fehlt noch“, informierte ihn Nico.   „Gehst du ihn dann bitte holen?“ „Soll Manuel das doch machen. Der ist eh am nächsten dran.“   Henning öffnete den Mund um zu antworten, aber ich war schneller. „Ich geh schon“, sagte ich und erhob mich. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend joggte ich nach oben und ging durch den Gang nach hinten bis zu Leifs Zimmer. Die Tür war nur angelehnt, also schob ich sie auf und trat ein. Leif saß an seinem Schreibtisch und schrieb etwas in ein kleines Buch. „Kommst du? Die anderen warten.“ Ich sah, wie er zusammenzuckte und das Buch mit einem Knall zuschlug, bevor er offenbar versuchte, es vor mir zu verstecken. „Man, kannst du nicht anklopfen?“ „Dann hättest du die Tür zumachen sollen.“   Leif verzog das Gesicht, sagte aber nichts dazu. Er drehte sich nur von mir weg und griff nach einem Rucksack, der neben seinem Bett stand. Dabei schob er das kleine Buch unter die Matratze. Er versuchte zwar, es mich nicht sehen zu lassen, aber ich war ja schließlich nicht dumm. Als er sich mir wieder zuwandte, war sein Gesicht verschlossen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei mir.   „Raus hier! Das ist mein Zimmer.“   Ich gönnte ihm ein Grinsen,   „Und wenn nicht?“   Auge in Auge standen wir uns gegenüber. Seine waren braun, genau wie meine. So aus der Nähe konnte ich sehen, dass dunkle Schatten darunter lagen. Er war blass.   „Hör zu“, begann er und leckte sich über die Lippen. „Wegen heute Nacht. Ich …“ „Manuel? Leif! Kommt ihr?“   Hennings tiefer Bass dröhnte durchs Treppenhaus. Leifs Blick glitt an mir vorbei in den Gang. Er wirkte gehetzt. „Wir sollten gehen“, sagte er und trat noch näher, um mich aus der Tür zu befördern. Ich ließ ihn gewähren. Ließ zu, dass er die Tür ins Schloss zog und dann an mir vorbei ging, ohne seinen Satz zu beenden. Meine Hand zuckte zwar, um ihn zurückzureißen und ihn zu fragen, was die Scheiße sollte, aber dann ließ ich es bleiben. Wir hatten jetzt erst mal Schule. Um das hier zu klären, blieb uns hinterher noch genug Zeit.   Henning brachte uns rüber ins Hauptgebäude, in dem Tobias auch meinen Zimmerschlüssel geholt hatte. Dieses Mal gingen wir zu anderen Seite, wo hinter einer Glastür ein langer Gang mit verschiedenen Türen lag. Die anderen fünf verteilten sich auf verschiedene Zimmer, während Henning mit mir im Flur stehenblieb. „Es kommt gleich jemand, um dich abzuholen“, informierte er mich. Tatsächlich erschienen gleich darauf zwei Frauen und drei Männer. Einer von ihnen kam gleich auf mich zu. „Hallo, du musst Manuel sein. Ich bin Herr Steiner, der Leiter hier. Ich hoffe, du hast dich schon ein bisschen eingelebt.“   Der Mann schüttelte mir die Hand und übergab mich dann an einen Herrn Zimmermann, der, wie ich erfuhr, Lehrer an einer benachbarten Schule war. Die Lehrkräfte kamen von dort hier herüber, um uns zu unterrichten. Herrn Zimmermann war nun die Aufgabe zugefallen herauszufinden, wie schlecht es um mich stand. „Keine Bange“, erklärte er fröhlich, „Du musst keinen Test schreiben. Wir gucken nur, wo du am besten hinpasst.“   Während er lächelte, hatte ich nur Augen für seine braungebrannte Halbglatze mit den kurzgeschorenen, weißen Seitenstreifen. Eine kleine, runde Brille saß über seinen Augen. Er sah freundlich aus. Aber das taten sie alle am Anfang. Henning verabschiedete sich, gab dem Lehrer aber einen Piepser für den Fall, dass er Hilfe brauchte. Hilfe, wenn ich ausrastete, wahrscheinlich. Oder versuchte wegzulaufen. Dabei würde ich doch ohnehin nicht weit kommen. Auch hier waren die Türen abgeschlossen.   „So, wir beide gehen mal hier rein, da haben wir unsere Ruhe.“ Die Schlüssel in Herrn Zimmermanns Hand klimperten, während er einen der Klassenräume aufschloss. Die anderen Türen waren bereits geschlossen. Hinter einer hörte man einiges an Tumult und die Stimme einer Lehrerin, die zur Ruhe mahnte. Es war die Klasse, in der Sven und Leif verschwunden waren.   „Nimm dir doch einen Stuhl, dann schauen wir uns mal an, was wir so über dich haben, ja?“   Ich sah mich in dem Raum um. Es gab eine Tafel an der Stirnseite und zwei weitere an den Wänden. In zwei Reihen standen zwei Doppeltische und zwei einzelne. Ganz vorne ein Pult für den Lehrer. Ein Regal mit Büchern, eine Karte an der Wand, einen Schrank aus Metall, der mit Sicherheit abgeschlossen war. Wahrscheinlich, weil da irgendwas drin war, was man klauen konnte.. „Manuel?“   Ich drehte mich um und sah mich wieder Herrn Zimmermann gegenüber. Er wies auf einen Stuhl. „Ich hatte dich gebeten, dich zu setzen. Wenn du so freundlich wärst?“   Einen Augenblick lang überlegte ich zu antworten, dass ich lieber stehenblieb. Aber dann nahm ich mir doch einen Stuhl und setzte mich auf die andere Seite des Tisches. Herr Zimmermann kommentierte das nicht und las stattdessen in seiner Akte. „Also, das letzte Zeugnis, dass ich von dir habe, ist das Halbjahreszeugnis aus der siebten Klasse. Sieht doch eigentlich ganz ordentlich aus. Den Stoff beherrschst du also?“ Es war eine Frage, aber ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was damals dran war.“   Herr Zimmermann brummte und blätterte noch ein bisschen die Akte durch. Als er sich bei einem der Blätter länger aufhielt, wusste ich, was das sein musste. Mein Mund zuckte und ich spürte den Drang, aufzustehen und eine zu rauchen.   „Hier steht, dass du suspendiert wurdest, weil du dich geprügelt hast.“   Wieder hob ich die Schultern. „War ein Arschloch.“   Ein Arschloch, dass gedroht hatte, Fotos von mir und einem Typen in der ganzen Schule rumzuzeigen. Sein Gesicht hatte daraufhin Bekanntschaft mit meiner Faust gemacht und ich hatte drei Tage „dem Unterricht fernbleiben“ müssen. Meine Alten hatte das nicht besonders interessiert und mein Bruder hatte nur gemeint, dass ich wohl doch nicht so aus der Art geschlagen wäre. An dem Abend hatte er mich das erste Mal zu einem Treffen mit seinen Freunden mitgenommen.   „Hier steht, dass du dann die Schule gewechselt hast. Auf die Hauptschule. Wie kam das?“   Ich reagierte mit einem erneuten Achselzucken. „Hatte halt schlechte Noten.“   Was vielleicht unter anderem daran lag, dass ich ab dem Zeitpunkt abends lieber mit Pascal und seinen Kumpels auf Tour gegangen war, statt zu lernen. Abhängen, rauchen, trinken, Mädels abchecken. Dass die mich eigentlich nicht interessierten, hatte er nie rausgefunden. Als dann die ersten blauen Briefe kamen, hatte Pascal gemeint, ich solle mir da keinen Kopf machen. Würde ich eben runtergestuft werden. Tja, und so war ich dann auf Pascals ehemalige Schule gekommen.   „Mhm, verstehe. Aber den Abschluss hast du dort nicht gemacht. Warum nicht?“   Ich schnaubte nur und drehte den Kopf weg. Warum, warum, warum? Das stand doch da mit Sicherheit drin. Weil ich so dämlich gewesen war, mich von Pascal dazu überreden zu lassen, mit ihm auch noch ganz andere Sachen zu machen. Er war schließlich dafür in den Bau gewandert, aber die Quittung, die hatte ich bekommen. Zuerst von meinen Mitschülern, dann von meinen Eltern. Wie oft hatte ich mir anhören müssen, dass sie lieber mich als Pascal im Kittchen gesehen hätten. Immerhin hatte er bisher ihren Stoff bezahlt und ich war im Vergleich dazu vollkommen nutzlos. Danach hatte es nicht lange gedauert, bis ich angefangen hatte, meine Nächte nicht mehr zu Hause zu verbringen. Und dann die Tage. Und dann hatte irgendwann das Jugendamt vor der Tür gestanden. „Hier steht, dass du dann auf einer weiteren Hauptschule gewesen bist. Das war letztes Jahr.“   Ich nickte leicht. Das war, als ich das erste Mal für ein paar Monate im Heim gelandet war. Nur dass meinen Erzeugern dann eingefallen war, dass sie dadurch, dass ich nicht mehr bei ihnen wohnte, auch keine Kohle vom Amt mehr für mich bekamen. Also hatten sie dafür gesorgt, dass ich wieder zurückkam. Ich weiß noch, wie sie dagesessen hatten, um mich abzuholen. Sie in ihrem besten Kleid, er in einem Anzug, den er sich wohl irgendwo geliehen hatte. Und ich Idiot hatte damals wirklich gedacht, dass sich dadurch etwas ändern würde. Dass sie es wieder gutmachen würden. Irgendwie. Aber es hatte sich nichts geändert. Es war nur noch schlimmer geworden. Ich war immer wieder von dort abgehauen, aber die Polizei hatte mich immer wieder zurückgebracht. Weil ein Kind ja zu seinen Eltern gehörte. Was für ein Bullshit!   „Anfang des Jahres hast du dann noch einmal die Schule gewechselt. In eine kleine Grund- und Hauptschule nahe der dänischen Grenze. Hier steht jedoch, dass du auch dort massive Fehlzeiten hattest.“   Ich verzog keine Miene. Das war nach der Sache mit Pascal. Als er auf Bewährung rausgekommen war und mich noch am selben Tag fast umgebracht hatte. Da hatten sie mich rausgeholt und weit weg von zu Hause untergebracht. Zur Sicherheit. Aber auf der Schule, auf die ich dann kam, war vom ersten Tag an klar gewesen, dass ich der Neue war. Der Komische. Das Heimkind. Ich hatte nicht in diese heile Welt zwischen Dorffesten und Kuhweiden gepasst, auch wenn einige das nicht hatten sehen wollen. So wie Bambi zum Beispiel.   Herr Zimmermann schloss die Akte und sah mich über den Tisch hinweg an. Seine Brille funkelte im Sonnenlicht. „Ich denke, wir können also davon ausgehen, dass dir noch einiges an Stoff der siebten Klasse fehlt. Ich würde deswegen dort mit dir wieder ansetzen wollen. Je nachdem, wie gut es klappt, kannst du dich dann weiter vorarbeiten.“   Ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? Die Erkenntnis, dass da eine riesige Lücke in meinem Lebenslauf klaffte, würde auch ein Schulabschluss nicht ändern. Wozu sollte ich mich dann überhaupt noch anstrengen. Arbeiten gehen konnte man doch auch ohne Abschluss.   Als Herr Zimmermann die Stirn kraus zog, wurde mir klar, dass ich den letzten Satz laut ausgesprochen hatte. „Ja, das ist richtig. Es gibt jede Menge Hilfsarbeiten, die man auch ohne Schulabschluss ausführen kann. Einige Betriebe bieten auch Ausbildungsstellen an. Fakt ist aber, dass du durch einen Abschluss deine Chancen um ein Vielfaches verbessern würdest. Außerdem bist du noch schulpflichtig. So oder so wirst du also nicht drum herumkommen, hier noch etwas zu lernen.“   Ich verzog meinen Mund zu einem abfälligen Grinsen.   „Ich kann auch einfach die ganze Zeit nichts tun.“   Herr Zimmermann nickte, nicht im Geringsten beeindruckt. „Ja, das kannst du. Du kannst dich hinsetzen und nichts tun. Nicht darauf reagieren, wenn man mit dir spricht. Dir die Ohren zuhalten, wenn ich oder einer der anderen Lehrer etwas erklärt. Diese Wahl hast du tatsächlich. Aber ist das auch das, was du wirklich willst.“   Das Grinsen erstarb auf meinem Gesicht. So, wie er es erzählte, klang es absolut lächerlich.   „Ich bin kein kleines Kind“, stieß ich hervor. Er sollte bloß nicht denken, dass er mich wie eines behandeln konnte. „Dann solltest du dich vielleicht auch nicht wie eines benehmen.“   In diesem Moment klingelte es und Herr Zimmermann sah auf seine Uhr. „Die erste Stunde ist um“, sagte er. „Ich denke, ich bringe dich jetzt am besten in deine Klasse.“ „In die siebte?“, fragte ich nach. Mein Ton war ätzend wie kochende Säure. „Bis du mir das Gegenteil beweist, ja.“   Damit war die Sache für ihn offenbar abgeschlossen. Hatte ich mich vorhin noch darüber beschwert, dass mir sämtliche Wahlmöglichkeiten genommen worden waren, war mir hier eine um die Ohren geschlagen worden, die ich gar nicht haben wollte. Weil beide Möglichkeiten beschissen waren. So oder so war ich der Gearschte.   Ich erhob mich betont langsam. Der Typ sollte nicht denken, dass er mich irgendwie beeindruckt hatte. Trotzdem musste ich zugeben, dass es mich schon irgendwie wurmte, dass das erste Gesicht, was ich sah, als er die Tür öffnete, das von Jason war. Ich war also echt bei den Kleinen gelandet.   „Frau Schmidt? Ich bringe Ihnen Ihren neuen Schülern.“   Frau Schmidt, eine Mittfünfzigerin mit rot geschminkten Lippen und orangen Haaren, nickte.   „Gut, er kann sich da hinten hinsetzen. Ich kümmere mich gleich um ihn.“   Einen Moment lang war ich versucht, mich einfach in die erste Reihe zu setzen. Dorthin, wo man mich nicht übersehen konnte, aber dann entschloss ich mich, doch lieber den angewiesenen Platz zu nehmen. Von dort hinten hatte ich alle anderen im Blick. Das war besser als andersherum.   Als Frau Schmidt dann zu mir kam und mir meine Bücher hinlegte, blieb mein Blick an dem obersten Einband hängen. „Mathematik Klasse 7“ stand in roten Buchstaben darauf. Das erste Mal, als ich so ein Buch bekommen hatte, war ich dreizehn. Jetzt stand bald mein 16. Geburtstag an. In dem Moment wurde mir klar, dass ich drei Jahre verloren hatte. Drei Jahre meines Lebens, die ich einfach nur mit Scheiße verbracht hatte. Sinnlos verplempert und niemand, nicht einmal der Papst, würde mir die verlorene Zeit wieder zurückgeben können. Ich hatte es einfach mal vollkommen verkackt. Kapitel 5: Runde Zwei --------------------- Ich bemühte mich. Den Rest des Tages bemühte ich mich wirklich, dem Unterricht zu folgen. Trotzdem erwischte ich mich immer wieder dabei, wie meine Gedanken abdrifteten. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, spielte mit meinen Stiften, malte in mein neues Heft und zappelte auf meinem Stuhl herum, sodass Frau Schmidt mich schließlich ermahnte, nicht so viel Unruhe hineinzubringen. „Kann ich nicht zwischendurch mal raus?“, fragte ich, aber sie verneinte. „Zwischen den Unterrichtsstunden bleibt ihr hier drinnen. Es geht leider nicht anders.“ Natürlich. Der Bereich um das Schulhaus war nicht eingezäunt. Wir hätten abhauen können, uns schlagen oder sonst was. Wobei es zwischen zwei Jungs während der dritten Stunde trotzdem Stress gab. Ich kannte sie nicht; sie mussten wohl zu der anderen Wohngruppe gehören. Während Frau Schmidt zwischen den beiden schlichtete, drehte sich Jason zu mir um. Er grinste. „Hätte nicht gedacht, dich hier zu sehen.“ „Wüsste nicht, was dich das angeht“, fauchte ich ihn an und wünschte mir, dass er sich einfach wieder um seinen eigenen Kram kümmern würde. Tat er aber nicht. „Ach, war doch nur ein Spaß“, meinte er und grinste immer noch. „Die anderen werden da bestimmt ein paar dumme Sprüche drüber machen, aber ich find’s cool, dass ich hier jetzt nicht mehr alleine bin.“ Er wollte wohl noch mehr sagen, aber Frau Schmidt ermahnte ihn, sich wieder dem Unterricht zuzuwenden. Danach fing sie an, irgendwas über Regenwälder zu erzählen. Ich versuchte zuzuhören, aber eigentlich wartete ich nur darauf, dass die Zeiger der Uhr endlich halb eins erreichten. „Hey, da ist ja unser Wunderkind. Bist wohl bei den Kleinen gelandet.“ Svens Stimme troff vor Hohn und Spott. Meine Hand ballte sich ganz von selbst zur Faust, aber ich gab dem Drang, sie in seinem Gesicht zu parken, nicht nach. Er war es nicht wert. „Hatte eben Besseres zu tun, als zu pauken“, gab ich möglichst locker zurück. „Ach ja?“, fragte er nach. „Und was?“ Ich wollte ihm gerade eine Antwort entgegenschleudern, die sich gewaschen hatte, als Nico mir zuvorkam. „Lass gut sein. Ich hab keinen Bock auf Stress.“ Sven sah so aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann ließ er sich von Nico mitziehen. Ich folgte den beiden in einigem Abstand, bis ich merkte, dass jemand hinter mir ging. Als ich mich umdrehte, stand ich vor Leif. Er sah mich an. Ich versuchte, irgendeine Reaktion auf seinem Gesicht zu erkennen, aber da war nichts. Schließlich nickte er mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Wir sollten nicht trödeln. Tobias wartet sicher schon auf uns.“ Tobias. Seine Erwähnung gab den Ausschlag, damit ich mich Leif anschloss und mit ihm zusammen zum Ausgang ging. Tatsächlich stand unser Betreuer bereits an der Tür und erwartete uns mit einem Freudestahlen. „Na, ihr zwei? Alles fit bei euch? Wie war der erste Schultag?“ Da die zweite Frage wohl an mich gerichtet war, rang ich mir ein Schulterzucken ab. „War okay. Bisschen langweilig.“ Tobias lachte. „Hab schon gehört, dass du bei Frau Schmidt gelandet bist. Die kämpft mit harten Bandagen.“ Ich unterdrückte ein Schnauben und sah zu Boden. Dass die Frau eine ziemliche No-Nonsense-Einstellung hatte, war mir schon aufgefallen. Man durfte echt gar nichts. Nicht mal atmen. „Und du, Leif? Was ist bei deinem Test rausgekommen.“ „Ne Drei.“ „Ach cool. Glückwunsch!“ Die beiden begannen, sich über den Lernstoff zu unterhalten. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, während ich hinter ihnen her trottete. Tobias hielt mir die Tür auf, drehte sich dann aber wieder zu Leif um, um ihr Gespräch fortzuführen. Die beiden gingen einfach weiter. Ich stand da – die Tür schwang langsam hinter mir zu – und starrte geradeaus. Direkt vor mir, keine 100 Meter entfernt, lag das Hoftor. Es war nur angelehnt und stellte somit kein Hindernis dar. Ein kurzer Sprint und ich wäre wieder frei. Könnte gehen, wohin ich wollte. Tun und lassen, worauf ich gerade Bock hatte. Ich wäre wieder mein eigener Herr. Wenigstens bis sie mich wieder einfingen und dieses Mal wer weiß wohin steckten. „Manuel? Kommst du?“ Ich sah mich um. Tobias und Leif waren stehengeblieben. Sie beobachteten mich. Beide. Abwartend, was ich wohl tun würde. Mir wurde klar, dass Tobias mit Sicherheit wusste, was mir gerade durch den Kopf ging. Ob er hinter mir herlaufen würde? Mich aufhalten? Noch einmal sah ich zum Tor hinüber. Dahinter lag die Freiheit. Aber auch genau die Scheiße, die mich hierher gebracht hatte. Wollte ich das wirklich? Noch mehr Zeit damit vergeuden, vor mir selbst wegzulaufen? Zu rennen und rennen und doch nie anzukommen? Oder wollte ich es wenigstens versuchen? Ich blickte zurück zu Tobias. Er stand immer noch da und wartete. Wie lange würde er wohl warten? Wie oft mir noch eine Chance geben, bevor auch er mich aufgab? So wie sie es alle taten. Gerade, als ich mich zum Gehen wenden wollte, löste sich Tobias von Leif. Er kam auf mich zu. Langsam, als bestände keinerlei Gefahr, dass ich türmen könnte. Als er fast bei mir war, griff er in seine Hosentasche und zog ein kleines Päckchen heraus. Als er es mir hinhielt, sah ich, dass es Kaugummis waren. „Hier“, sagte er. „Hab ich dir mitgebracht. Sind zwar keine Zigaretten, aber besser als gar nichts.“ Ich sah auf die Packung herab, die er mir hinhielt. Schließlich griff ich danach. „Danke“, schlüpfte es mir über die Lippen. Er lächelte. „Kommst du jetzt mit zum Essen?“ Ich atmete tief durch und nickte. Tobias lächelte noch einmal und dann gingen wir beide gemeinsam zurück zum Wohnheim. Dort angekommen brachten wir zunächst unsere Sachen nach oben. Ich legte die Bücher und alles auf meinen Tisch. Tobias hatte mir versprochen, dass er mir eine Tasche besorgen würde. Ich hatte ja nur meinen Koffer. Als ich zurück in den Flur trat, hörte ich leise Stimmen aus Leifs Zimmer. Unwillkürlich blieb ich stehen und lauschte. „Du musst aber essen. Das weißt du.“ Tobias Stimme klang leise und eindringlich. Leif schnaubte genervt. „Jaa, ich weiß. Es ist nur … es ist grad schwierig, okay? Aber ich krieg das wieder hin. Wirklich.“ „Wenn du nicht ordentlich isst, kannst du nicht hierbleiben.“ Es war keine Drohung, die Tobias da aussprach. Nur eine Feststellung. Ich hörte Leif seufzen. „Ich weiß.“ Nach einer kurzen Pause fragte Tobias: „Soll ich Dr. Leiterer anrufen? Vielleicht hat er noch einen Termin für dich frei.“ „Ja bitte.“ Leifs Stimme war fast nicht mehr zu hören. Ich musste die Luft anhalten, um ihn zu verstehen. Dabei wurde mir bewusst, dass ich hier schon eine ganze Weile stand und sie mich vermutlich gleich erwischen würden. Ich machte einen Schritt zurück und trat dann noch einmal in den Flur. Mit Nachdruck zog ich die Tür hinter mir zu. Danach tat ich so, als hätte ich nicht bemerkt, dass die anderen beiden noch hier oben waren, sondern lief weiter einfach den Gang entlang, bis ich zur Treppe kam, und ohne anzuhalten nach unten. In der Küche war bereits einiges los. Nico stand wieder am Herd und bereitete mit Thomas’ Hilfe das Essen zu. Es roch nach gebratenem Speck und Zwiebeln. Mein Magen begann zu knurren. „Ah, Manuel. Gut, dass du kommst. Kannst du mal Dennis nebenan Bescheid sagen, dass er zum Gemüse schnippeln kommen soll? Oder willst du das übernehmen? Nur ein paar Gurken und Tomaten.“ Ich sah Thomas’ erwartungsvolles Gesicht. Wenn ich wollte, konnte ich jetzt vermutlich ein paar Schleimpunkte sammeln. Aber wollte ich das? „Ich hol ihn“, sagte ich und drehte mich auf dem Absatz wieder um. Ich fand Dennis zusammen mit Jason und Sven im Wohnzimmer. Sie hatten die Füße auf den Tisch gelegt und gammelten herum. Der Fernseher glänzte durch Abgeschaltetheit. Fernsehen gab es immer nur nach dem Abendessen. „Du sollst Gemüse schneiden kommen“, sagte ich zu Dennis und wollte mich schon wieder umdrehen, als Sven mich zurückpfiff. Ich sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er mir mit irgendwas auf den Sack gehen wollte. Meine Mundwinkel hoben sich zu einem süffisanten Grinsen. „Sorry, aber ich hab Tischdienst.“ Damit ließ ich ihn stehen, oder vielmehr sitzen, und machte, dass ich in die Küche kam. Da ich jetzt schon wusste, in welchen Schränken was stand, dauerte es nicht lange, bis ich alles fertig hatte. Trotzdem verkündete Nico just in dem Moment, in dem ich das letzte Glas hinstellte, dass das Essen fertig war. „Wer holt die anderen?“, fragte Thomas, doch da kamen schon Tobias und Leif um die Ecke. Sie hatten Sven und Jason im Schlepptau. „Na, dann sind ja alle da. Also los, Essen fassen.“ Wir setzten uns – ich auf Leifs eine Seite, Tobias auf die andere – während Thomas noch einen großen, leicht angesengten Untersetzer aus Kork auf den Tisch legte. Darauf platzierte Nico eine riesige Pfanne. Sie war voller Bratkartoffeln. Ich sah, wie Leifs Blick in Tobias’ Richtung zuckte. Ein leichtes Lächeln umspielte dessen Lippen. „Greif zu“, sagte er und tatsächlich nahm sich Leif, als er an der Reihe war, eine ordentliche Portion und sogar zwei Spiegeleier dazu. Ich beobachtete ihn fasziniert aus den Augenwinkeln, bis er mich irgendwann unter dem Tisch gegen das Schienbein trat. Seine Augen funkelten angriffslustig, doch ich senkte nur den Blick und konzentrierte mich für den Rest der Mahlzeit darauf, möglichst viele Bratkartoffeln in mich reinzustopfen. Es kam mir so vor, als hätten die noch nie so gut geschmeckt. Irgendwann jedoch kratzte der Löffel nur noch auf dem leeren Pfannenboden herum. Thomas nahm das zum Anlass, die Tischrunde aufzulösen. „Na los, aufräumen und putzen und dann ist Zeit für die Hausaufgaben.“ Ich stöhnte gemeinsam mit den anderen auf. Wenn es etwas gab, das noch ätzender war als Schule oder diese dämlichen Dienste, dann waren es Hausaufgaben. Aber es half nichts. Wir mussten den ganzen Mist gleich erledigen und auch meine Beteuerungen, dass ich es auch ganz bestimmt später zu Ende machen würde, stießen sowohl bei Thomas wie auch bei Tobias auf taube Ohren. „Hausaufgabenzeit ist jetzt“, betonten sie beide. „Danach Mittagsruhe und dann werden wir am Hochbeet weitermachen. Die Samen müssen langsam in die Erde, wenn wir dieses Jahr noch was ernten wollen.“ Ich biss also die Zähne zusammen und kaute noch ein paarmal auf diesem Kaugummi herum, das ja angeblich genauso gut sein sollte wie Kippen. Es schmeckte nicht schlecht und irgendwie … wirkte es vielleicht sogar. Immerhin hatte ich seit dem Vorfall am Tor nicht mehr ans Rauchen gedacht. Und ich hatte das Gefühl, mich besser konzentrieren zu können. Wenigstens machten die komischen Brüche da ein bisschen mehr Sinn, nachdem Tobias es mir noch einmal erklärt hatte. Ich überstand irgendwie die nervige Mittagspause, ohne mich mit meinem Bettlaken aufzuknüpfen. Stattdessen lag ich darauf, kaute Kaugummi und starrte aus dem Fenster. Beobachtete Wolken, die am Fenster vorbeizogen. Leicht und frei und unheimlich weit weg. Als meine Gedanken jedoch anfingen, in eine bestimmte Richtung zu wandern, drehte ich mich auf den Bauch und machte die Augen ganz fest zu. Den Rest der Zeit verbrachte ich damit, sehr konzentriert an gar nichts zu denken. Das war sicherer, als mich mit Dingen zu beschäftigen, die ich ohnehin nicht ändern oder haben konnte. Als wir wieder rausdurften, ging es gleich in den Garten. Nur keine Langeweile aufkommen lassen. Wir schaufelten Zweige, Blätter, Rindenmulch und Erde in rauen Mengen, bis die erbärmliche Holzkiste endlich bis unter den Rand gefüllt war. „Säen werden wir dann am Donnerstag“, erklärte Thomas. Die Samentütchen hatte er schon besorgt. Jason schnappte sich den Karton und wühlte darin herum. „Wow, guckt mal. Mohrrüben, Kohlrabi, Radie-schen.“ „Das heiß Radies-chen, du Pappnase“, berichtigte ihn Nico. „Selber Pappnase.“ Jason zog einen Flunsch. „Woher soll ich denn den Kram kennen. Hab ich nen Garten?“ Nico schnaubte belustigt. „Ich hab auch keinen und kenne Radies-chen trotzdem. Meine Großeltern haben so einen Schrebergarten. Mit Bude und allem. Na ja, bis ich das Ding aus Versehen mal abgefackelt habe.“ Er grinste und ich hatte so eine Ahnung, dass das erstens kein Versehen und zweitens mit Sicherheit nicht das Einzige gewesen war, was er in seinem Leben so angezündet hatte. Tobias wandte sich an Dennis. „Und du? Ihr habt doch ein Haus mit Garten, oder? Habt ihr da ein Gemüsebeet?“ Dennis schüttelte den Kopf. „Nein, nur Zierpflanzen.“ Danach verstummte er wieder und ich fragte mich, wie so einer wie er wohl hier gelandet war. Aber vielleicht war er ja bei sich in der Gegend der Drogendealer vom Dienst. Oder hatte Mamas und Papas Auto zu Schrott gefahren. Irgendwie erinnerte er mich an einen von Pascals Freunden. „Und du, Leif?“, fragte Thomas und erntete dafür ein Achselzucken. „Ich interessiere mich nicht so für Pflanzen.“ „Außer für die mit den fünf Blättern“, gluckste Sven und erntete dafür einen giftigen Blick von Leif. „Du hast doch auch schon gekifft.“ „Ja ja, schon gut“, gab Sven zurück und hob abwehrend die Hände. „Ich lasse Euer Gnaden ja schon in Ruhe.“ Mit einer spöttischen Verbeugung verdünnisierte er sich in Richtung Klettergerüst. Die anderen Blödmänner folgten ihm und Thomas und Tobias machten sich daran, die Werkzeuge wieder in dem abschließbaren Schuppen zu verstauen. Zurück auf der Terrasse blieben nur ich und Leif. Schweigen breitete sich aus, lediglich unterbrochen vom Gesang der Vögel und dem gedämpften Gelächter, das vom Klettergerüst zu uns herüberwehte. Offenbar hatten die anderen Jason dazu überredet, sich an Klimmzügen zu versuchen, woran er jedoch grandios scheiterte. Tobias und Thomas klapperten im Schuppen herum. Es war warm, fast schon zu sehr. Jetzt, wo ich stillstand, merkte ich erst, wie sehr die Strahlen auf meiner Haut stachen. Morgen würde man vermutlich schon den ersten Anflug von Bräune sehen. Kurzentschlossen streifte ich mein T-Shirt über den Kopf, um auch dem Rest meines Oberkörpers ein bisschen Sonne zu gönnen. Ich hatte mir kaum den Stoff vom Leib gezogen, als ich mir des bohrenden Blicks bewusst wurde, der auf mich gerichtet war. Ich drehte den Kopf in Leifs Richtung. Er saß auf einem der Gartenstühle und starrte mich hungrig an. „Was ist? Begutachtest du, was du heute Nacht verpasst hast?“, fragte ich grinsend und setzte mich ebenfalls. Er schnaubte nur, aber der Ausdruck in seinen Augen sagte mir, dass ich recht hatte. Ihm gefiel, was er sah. Ich streckte mich ein bisschen und sah genau, wie seine Aufmerksamkeit kurz nach unten abdriftete, bevor er mir wieder in die Augen sah. „Du hast dich also entschieden zu bleiben?“, fragte er in gelangweiltem Ton. Unter der gespielten Gleichgültigkeit lag noch etwas, aber ich war mir nicht sicher, was es war. Also überging ich es einfach. „Tjaaa“, sagte ich, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. „Ich dachte, ich bleib noch etwas, um Sven noch ein bisschen länger auf den Sack zu gehen. Nur zur Sicherheit, dass ich auch einen bleibenden Eindruck hinterlassen habe. Ich will ja niemanden enttäuschen.“ Leifs Mundwinkel zuckten. Es war fast komisch, wie sicher er sich wähnte. Genüsslich legte ich auf ihn an, zielte und schoss. „Und du?“, fragte ich im gleichen näselnden Singsang wie er zuvor. „Du hast dich also entschlossen zu essen.“ Wir sahen uns an. Ich ahnte, was ihm gerade durch den Kopf ging, und er wusste wahrscheinlich das Gleiche über mich. Dass wir im selben Boot saßen. Nicht freiwillig. Einfach nur, weil die Alternative noch beschissener gewesen wäre. Für uns beide. Irgendwann drehte er den Kopf weg. Ein kleines Lächeln zupfte an seinen Lippen. „Ich mag Bratkartoffeln. Die geh’n irgendwie immer.“ Für einen Moment sah es so aus, als wolle er noch mehr sagen, aber da hörten wir, wie Tobias auf uns zukam. Am Ohr hatte er sein Handy. Er sprach mit jemandem am anderen Ende, sah dabei aber Leif an. Offenbar wollte er zu ihm. Ich machte, dass ich mein Shirt wieder anzog, bevor Tobias etwas bemerkte. Viel Gefahr hätte dafür jedoch nicht bestanden, denn er beendete das Gespräch und wandte sich sofort an Leif. „Das war gerade die Praxis von Dr. Leiterer. Es ist bei ihm so spontan nichts frei. Wenn es dringend ist, könnten wir aber jetzt sofort zu ihm kommen, dann nimmt er sich ein paar Minuten Zeit für dich.“ Für einen Moment sah es so aus, als würde Leif aufstehen und mit Tobias mitgehen, doch dann schüttelte er den Kopf. „Nein, es geht schon. Ich hab ja nächste Woche einen Termin.“ Tobias sah ihn prüfend an. „Bist du sicher?“ „Ja, ganz sicher.“ Tobias zögerte kurz, dann seufzte er. „Na schön. Aber wenn was ist, kommst du zu mir, ja?“ „Ja, natürlich.“ Ich brauchte keinen Detektor um zu wissen, dass wenigstens das Letzte eine Lüge gewesen war. Tobias fragte jedoch nicht weiter nach. Stattdessen scheuchte er Leif und mich zusammen mit den anderen nach draußen zu einer Runde Basketball. Das Spiel war nicht gerade meine Welt, aber ich schlug mich nicht schlecht. Ganz im Gegensatz zu Leif, der den Korb nicht ein einziges Mal traf. Als es danach Richtung Dusche ging, hielt er mich an der Tür zurück, beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Also wenn es nach mir geht, würde ich heute lieber noch mit anderen Bällen spielen.“ Danach sah er mir tief in die Augen und ich verstand sofort. Mein Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Meinst du nicht, dass du mit zweien auf einmal ein bisschen überfordert bist?“ Er grinste zurück. „Ich kann’s ja mal ausprobieren. Groß genug ist mein Mund doch.“ Der Gedanke sorgte für ein Zucken zwischen meinen Beinen und als er vor mir herging, konnte ich nur noch denken, dass vielleicht auch noch ein paar andere Teile vom ihm interessant werden könnten. Zuerst galt es jedoch, das restliche Programm durchzustehen. Abendessen, Aufräumen, Fernsehen. Kurz bevor sich der Schwachsinn, den dieses Mal Nico ausgewählt hatte, dem Ende näherte, stand ich auf und ging Richtung Tür. „Wo soll’s denn hingehen“, fragte Henning, der wieder die Nachtschicht übernommen hatte. „Duschen“, gab ich brav zur Auskunft. „Damit ich dieses Mal rechtzeitig fertig bin.“ Henning stutzte kurz und ich dachte schon, dass ich es jetzt übertrieben hätte, doch dann erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. „Schön. Find ich gut, dass du dran gedacht hast. Da könnten sich die anderen mal ein Beispiel an dir nehmen.“ „Ruhe!“, fauchte Nico nur und schaltete die Lautstärke um drei Stufen nach oben. Ich zuckte mit den Schultern und verabschiedete mich mit einem Nicken. Dass Leif mich die ganze Zeit dabei beobachtet hatte, war mir mehr als bewusst. Ich duschte, rasierte mich. Überall, um sicher zu gehen. Als ich mich danach im Spiegel betrachtete, standen meine Haare wild vom Kopf ab und ich musste plötzlich an ihn denken. Wie er mich angesehen hatte, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Er hatte … glücklich ausgesehen. Fertig, aber eindeutig glücklich. Als hätte diese Erinnerung einen Damm gebrochen, kamen plötzlich immer mehr und mehr Bilder an die Oberfläche. Wie ich ihn das erste mal im Bus entdeckt und beschlossen hatte, dass ich ihn haben wollte. Sein erster Blowjob auf dem Spielplatz. Diese Augen, mit denen er mich angesehen hatte, während er mir einen geblasen hatte. Dieses verdammte Lächeln, jedes Mal, wenn ich vor seiner Tür gestanden hatte. Ich hatte ihn an der Nase herumgeführt wie einen Tanzbären, aber er hatte es einfach nicht krumm genommen. War immer wieder gekommen, egal, was ich gemacht oder gesagt hatte. Fast so, als hätte ich ihm wirklich was bedeutet. In meinem Bauch begann es zu rumoren. „Scheiße!“ Ärgerlich wandte ich mich vom Spiegel ab. Das fehlte gerade noch, dass ich jetzt sentimental wurde. Ja, okay, vielleicht hatte ich ihn gemocht. Oder wenigstens das Gefühl, dass er mir gegeben hatte. Aber er war nicht unersetzbar und ich war es auch nicht. Kein Grund also, deswegen in Schweiß auszubrechen. Zumal ich nun wirklich Besseres zu tun hatte, als mir um irgendwelche Kerle Gedanken zu machen, mit denen ich mal gepoppt hatte. Zum Beispiel mir Gedanken um Kerle zu machen, mit denen ich noch vorhatte zu poppen. Das klang doch gleich sehr viel besser. Nach dem Duschen ging ich auf mein Zimmer und verhielt mich möglichst ruhig, obwohl ich es kaum mehr abwarten konnte. Dummerweise hatten die anderen heute beschlossen, sich wie die Idioten aufzuführen. Immer wieder kam einer von denen aus seinem Zimmer, sodass Henning am Ende drohten, uns alle einzuschließen, wenn damit nicht sofort Schluss wäre. „Und wenn wir mal müssen?“, wollte Jason rotzfrech wissen. Die viele Sonne heute war ihm anscheinend nicht bekommen. Natürlich stand ich auch im Gang rum, um nicht aufzufallen, aber die Blicke, die Leif mir zuwarf, waren mehr als eindeutig. Verpisst euch endlich, formte ich mit den Lippen. Leif runzelte kurz die Stirn, dann nickte er unauffällig. Trotzdem dauerte es noch eine gute halbe Stunde, bis alle in ihren Zimmern verschwunden waren und endlich die Füße still hielten. Henning ging noch eine Weile auf dem Gang auf und ab, doch als alles ruhig blieb, trollte er sich schließlich ins Betreuerzimmer, wo er die Nacht auf einer Liege verbringen würde. Kurz nachdem das Licht erloschen war, ging es wieder an. Ich hörte leise Schritte auf dem Flur und dann klopfte es sachte gegen meine Tür. Ich sprang aus dem Bett und öffnete. Draußen stand Leif. „Man, ich dachte, die geben nie Ruhe“, zischte er und drückte sich an mir vorbei. Schnell schloss ich die Tür wieder, bevor uns jemand sah. Drinnen war es fast vollkommen dunkel. Nur durch eine kleine undichte Stelle der Außenrollos drang ein wenig Licht herein. Ich konnte nicht mal entscheiden, ob ich es hell oder dunkel haben konnte. Selbst das wurde zentral gesteuert. „Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst“, sagte ich und erntete ein Schnauben. „Verlangst du jetzt, dass ich mich dafür rechtfertige?“ „Nicht, wenn du deinen Mund auch sinnvoller einsetzen kannst.“ Fast erwartete ich, dass er darauf noch einen entsprechenden Konter gab, aber statt etwas zu sagen, trat er einfach näher und ließ seine Hand zwischen meine Beine gleiten. Ich fühlte seine Finger durch den Stoff. Wie sie mich erkundeten. Dabei sah er mich die ganze Zeit an. „Und? Was gefunden, dass dir gefällt?“, fragte ich grinsend. Ich sah, wie sich seine Mundwinkel hoben. „Ich dachte, ich soll nicht mehr reden.“ „Hast du auch wieder recht.“ Ohne weitere Vorwarnung ließ er sich vor mir auf die Knie sinken und nahm meine Pyjamahose auf dem Weg nach unten gleich mit. Im nächsten Augenblick legten sich auch schon seine Lippen um meinen Schaft und ich versank fast bis zum Anschlag in seinem feuchten Mund. Dann begann er zu blasen. Volles Programm. Mit Zunge und schnellen, gleichmäßigen Kopfbewegungen. Rein und raus. Ohne Hände. Es fühlte sich wahnsinnig geil an. Ein zustimmendes Brummen entwich meiner Kehle. „Mhm, fast so gut wie Ficken.“ Er verlangsamte das Tempo ein wenig und ließ mich dann mit einem feuchten Plopp aus dem Mund gleiten. „Nur fast?“, fragte er nach. Im nächsten Moment strich seine Zunge über meine Eier. Ich lächelte leicht. „Na, vielleicht überzeugst du mich ja noch.“ Er grinste und legte die Hände auf meine Oberschenkel. „Setz dich“, verlangte er und ich kam seiner Aufforderung nach. Er drückte meine Beine auseinander und rutschte dazwischen. Ich hörte, wie er auf seine Hand spuckte, die er gleich darauf um meinen harten Schwanz legte. Dann beugte er sich wieder vor. Gleichzeit pumpte er jetzt mit Hand und Mund. Weniger geil als vorher, aber als er den Kopf irgendwann zurückzog, verstand ich, was er gemacht hatte. Meine Latte glänzte vor Speichel. Während er mit der Hand weitermachte, beugte er den schmalen Rücken und ließ seine Zunge einmal quer über meine „Bälle“ wandern. Und noch einmal. Unwillkürlich spreizte ich die Knie noch ein wenig mehr. Das war gut. Und es wurde sogar noch besser, als er erst einen und dann beide Schätze in den Mund nahm. Seine Hand stand dabei nicht still und ich schloss die Augen, um mich ganz auf das Gefühl zu konzentrieren. Scheiße, das war so geil. Definitiv ne andere Hausnummer als meine letzten Blowjobs, obwohl die auch nicht schlecht gewesen waren. Auf jeden Fall leidenschaftlich. Als Leifs Zunge noch tiefer glitt, ließ ich ihn machen. Ich hatte nicht darum gebeten, aber die Massage, die er mir da verpasste, war nicht von schlechten Eltern. Ich spürte, wie mein Höhepunkt näher und näher kam. Mein Herz wummerte gegen meine Rippen, es rauschte in meinen Ohren und mein Gesicht begann zu kribbeln. Ich wollte jetzt kommen. Ich musste. Das oder ich würde ohnmächtig werden. Ein letztes Mal noch nahm er mich in den Mund und saugte. Hart. Schnell. Sein Kopf bewegte sich auf und ab. Es war heiß und eng. Fast schon zu viel. Und doch machte er unbarmherzig weiter, bis ich es nicht mehr aufhalten konnte. „Jetzt“, keuchte ich atemlos, was er zum Anlass nahm, sich zurückzuziehen und mich die letzten paar Zentimeter mit der Hand weiterzuschubsen. Und endlich, endlich kam ich. Dicke, weiße Schübe ergossen sich in seine Hand, die er schützend darüber gelegt hatte. Mit der anderen Hand melkte er noch den letzten Rest Saft aus meinen Eiern, sodass ich mit einem Zucken noch ein letztes Mal kam, bevor es endgültig vorbei war. Völlig erledigt ließ ich mich auf den Rücken fallen und versuchte, meine pfeifende Lunge unter Kontrolle zu kriegen. Scheiße, war das geil gewesen. Zu k.o. um auch nur einen Muskel zu rühren lag ich da und konnte einfach nicht glauben, wie gründlich er mir das Gehirn rausgesaugt hatte. Beinahe Wortwörtlich. Ganz am Rande nahm ich wahr, dass er mich immer noch nicht losgelassen hatte. Seine Hand lag weiterhin auf meinem Schwanz. Die andere jedoch war zwischen seinen eigenen Beinen verschwunden. Ich ließ meinen Kopf herumrollen und sah ihm zu, wie er vor meinem Bett kniete, mich ansah und es sich selbst machte. Ab und an entkam im ein kurzes Keuchen. Anscheinend baute er sich gerade seine ganz persönliche Wichsfantasie mit mir in der Hauptrolle. Ich gönnte ihm ein träges Grinsen. „Brauchst du Hilfe?“, fragte ich und erhob mich halb, bevor ich zu ihm nach vorn rutschte. Er wollte protestieren, aber ich nahm seine Hand von meinem Bauch und fuhr dann mit meiner eigenen durch den Glibber, den er noch übriggelassen hatte. Ohne den Blicktontakt zu brechen, zog ich seinen Hosenbund nach vorn, schob seine Hand beiseite und griff selber zu. „Fuck!“, entwich es ihm, bevor er die Kiefer aufeinander presste. „Gut?“, fragte ich, während ich meine glitschige Hand an seinem Schwanz auf und ab bewegte. Er biss sich auf die Lippen und sog scharf die Luft ein, als ich mit dem Daumen über die Spitze fuhr. Sie war nicht besonders ausgeprägt. Schlank und lang. Wahrscheinlich hatte er sich vorgestellt, wie er mich damit ficken würde. Aber das würde nicht passieren. Nicht, bevor ich ihn gehabt hatte. Ich beute mich noch ein Stück vor. „Das nächste Mal blas ich dir einen“, versprach ich ihm leise in sein Ohr, während ich ihn weiter wichste. „Warum nicht jetzt?“, brachte er hervor. Seine Stimme war heiser. Sein Mund bestimmt trocken. „Weil ich nicht auf Wichse im Mund stehe“, erklärte ich kategorisch, bevor ich meine Anstrengungen verdoppelte. Ich wollte, dass er kam. Jetzt. Leif atmete wieder scharf ein, unterdrückte ein Stöhnen. Er war leise, das war gut. Noch einmal wurde ich schneller. Mein Sperma gab mir den nötigen Drive. Es konnte nicht mehr lange dauern. „Ja … ja“, keuchte er leise. „Oh Gott, ja.“ Ich verkniff mir den Spruch, dass er mich ruhig Manuel nennen konnte, und erhöhte noch einmal den Druck. Er stand so stramm, bis zum Bersten gefüllt. Er musste jeden Moment explodieren. Und dann tat er es. Mit einem Laut, der fast schon einem Wimmern gleichkam, kam er in meiner Hand. Er zuckte und zuckte, sein ganzer Körper wurde gebeutelt von einem Schub nach dem anderen, bis er schließlich an meiner Schulter zusammenbrach. Ich konnte fühlen, wie er atmete. Heiß und rau gegen meine nackte Haut. Seine Stirn war nassgeschwitzt. Sein Hals direkt vor mir. Hätte ich meine Lippen auf seine pulsierende Schlagader gelegt, hätte ich wohl seinen hämmernden Herzschlag gefühlt. Aber ich tat es nicht. Ich zog lediglich meine Hand aus seiner Hose und wischte die Bescherung an meinem Bettzeug ab. „Das werd ich wohl waschen müssen.“ Er lachte leicht und richtete sich auf. „Ich bring nächstes Mal ein Handtuch mit.“ „Dann pass aber auf, dass du Svens erwischst.“ Er lachte noch einmal und es klang gut. Gelöst. Besser als noch vor ein paar Stunden, als er sich eine Reaktion auf einen Witz abgerungen hatte, den irgendwer erzählt hatte. Lange hielt es jedoch nicht an. Ich hatte kaum meine Hand zu Ende abgetrocknet, als er sich bereits erhob. „Ich … ich geh dann mal wieder rüber, bevor Henning uns noch erwischt. Er macht gegen 12 immer noch eine Runde, bevor er schlafengeht.“ „Okay.“ Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen, also ließ ich es dabei bewenden. Leif tappte auf nackten Sohlen zur Tür, öffnete sie und schlüpfte ebenso lautlos hindurch, wie er gekommen war. Das Letzte, was ich von ihm sah, war seine Silhouette, die sich gegen das Flurlicht abzeichnete. Dann zog er die Tür hinter sich ins Schloss und ließ mich allein im Dunkeln zurück.   Kapitel 6: Unerkannt -------------------- Der nächste Morgen begann ebenso wie der vorangegangene. Mit Henning, der neben meinem Bett stand und verlangte, dass ich aufstand. Allerdings war er dieses Mal gefühlt zwei Stunden früher dran. Oder ich war einfach zu spät ins Bett gegangen. Obwohl … im Bett war ich ja schon. Der Gedanke ließ mich grinsen. Allerdings nur so lange, bis ich aus dem Bad wiederkam und roch, was Henning mit Sicherheit auch gerochen hatte. Mein Zimmer stank nach Sex und das nicht zu knapp. Scheiße! Ich riss das Fenster auf – so das denn möglich war – und zog noch schnell mein Bett ab, bevor ich mich beeilte, um in die Küche zu kommen. Dort warf ich einen prüfenden Blick auf Henning, während ich die Teller aus dem Schrank holte. Hatte er was gemerkt? Der rote Riese hob den Kopf und sah mich an. „Ist was?“ Schnell schüttelte ich den Kopf und drehte mich weg. „Nein, alles gut.“ Ich machte, dass ich den Tisch deckte und nahm mir vor, beim nächsten Mal vorsichtiger zu sein. Das nächste Mal … Der Gedanke gefiel mir. Nicht, dass ich mich nicht selber darum hätte kümmern können, aber eine fremde Hand an meinem Schwanz war alle mal besser als meine eigene. Als wäre das sein Stichwort gewesen, tauchte Leif in diesem Moment in der Küche auf. Hinter ihm polterten bereits die anderen die Treppe hinunter, aber für einen kurzen Augenblick waren wir unbeobachtet. Nahezu allein. „Morgen“, sagte ich und sah ihn an. „Morgen“, grüßte er zurück. Sein Blick irrte an mir vorbei in Richtung Frühstückstisch. „Hast du alles oder brauchst du noch Hilfe?“ „Nein, ist alles schon fertig.“ „Gut.“ Ein kurzes Nicken von ihm war alles, was ich noch bekam, bevor der Rest in die Küche stürmte. Während wir aßen, schaute ich immer mal kurz zu Leif hinüber. Er aß. Heute zwei Toastbrote mit Butter und Marmelade. Als er jedoch bemerkte, dass ich ihn beobachtete, senkte ich schnell den Kopf und vermied es für den Rest der Mahlzeit, noch einmal zu ihm rüberzusehen. Ich hielt mich fern, während wir zur Schule gingen, und auch auf dem Rückweg machte ich dieses Mal, dass ich mit Sven und den anderen zurück zum Wohnheim kam. Selbst Tobias ließ ich stehen, um nicht mit Leif zusammen gehen zu müssen, und ignoriere das Gefühl, dass das in meinem Bauch machte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir sogar beim Mittagessen einen anderen Platz gesucht. Aber da die Sitzordnung nun einmal feststand, blieb mir nichts anderes übrig, als an seiner Seite auszuharren, bis wir uns endlich für die Mittagsruhe verabschieden konnten. Kaum war die jedoch vorbei, landete ich wieder an diesem dämlichen Tisch und damit an Leifs Seite. Es war zum Verrücktwerden. „Also Leute“, begann Thomas und sah sich in der Runde um. „Heute steht unsere wöchentliche Gruppensitzung an. Bevor wir mit unseren Punkten anfangen, dürft ihr aber erst mal. Hat irgendwer von euch was auf dem Herzen?“ Niemand reagierte auf die Frage, bis Nico sich schließlich erbarmte. „Wir könnten mal wieder schwimmen gehen. Ich mein, es ist Sommer und so.“ Zustimmendes Nicken aus der Runde. Lediglich ich und Leif hielten uns dabei zurück. Tobias notierte den Vorschlag auf einem Zettel. Danach sah er jeden von uns an. „Sonst noch was?“ Keiner sagte etwas. Tobias nickte leicht. „Na okay. Dann werde ich mal.“ Er räusperte sich, bevor er weitersprach. „Also zum einen war schon wieder eine der Toiletten drüben im Schulhaus verstopft. Gemeldet hat es natürlich mal wieder keiner, bis die Suppe dann übergelaufen ist. Ich sag’s ja nicht gerne, aber das war echt scheiße. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn das nochmal vorkommt, werdet ihr alle kollektiv zum Aufwischen verdonnert. Ist das klar?“ „Aber wir waren das nicht“, rief Sven sofort, während der Rest von uns zustimmend murrte. „Das waren garantiert die Pisser aus der anderen Gruppe.“ „Sven! Wortwahl!“, Thomas warf ihm einen tadelnden Blick zu, aber Sven reagierte nur mit einem Schnauben. „Na ist doch wahr. Die bauen Scheiße und wir kriegen den Ärger.“ „Die kriegen den gleichen Ärger wie ihr“, berichtigte ihn Tobias. „Außerdem hätte ja einer von euch was sagen können, als er es entdeckt hat. Ich will einfach, dass ihr versteht, dass das etwas ist, was echt Arbeit macht. Und wenn das nur passiert, indem ich euch den Mist selbst wieder wegmachen lasse, dann ist das eben so.“ Daraufhin wagte keiner mehr zu widersprechen und Tobias machte einen Haken auf seinen Zettel. „Und jetzt zum zweiten Punkt. Es ist schon wieder eine Rolle Klebeband verschwunden. Hat die einer von euch genommen?“ Schweigen breitete sich am Tisch aus. Tobias sah von einem zum anderen, aber niemand meldete sich. Er seufzte. „Ehrlich, Jungs. Wenn ihr Klebeband braucht, könnt ihr fragen. Oder euch welches von eurem Taschengeld kaufen. Ist ja nicht so, dass ihr hier auf dem Trockenen sitzt. Wer immer es also genommen hat, legt es bitte wieder zurück. Ich verlasse mich darauf. Sonst müssen wir in Zukunft die Zimmer auf den Kopf stellen, bis wir es finden, und das wird sicher keiner von euch wollen. Wir erwarten hier Ehrlichkeit und Klauen geht gar nicht.“ Immer noch sagte niemand ein Wort. Insgeheim fragte ich mich, warum wohl irgendwer Klebeband klauen sollte, aber da ich es nicht hatte, machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber. Ich hatte da nämlich noch etwas auf dem Herzen und wollte, dass diese Veranstaltung möglichst schnell vorbei war, damit ich Tobias danach fragen konnte. Es kam allerdings noch ein Punkt, der vermutlich längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Ich stöhnte innerlich auf. „Dann wollen wir am Wochenende anfangen, die Flure zu streichen. Habt ihr euch inzwischen Gedanken über Motive gemacht?“ Wieder war Sven der erste, der den Mund aufriss. „Kann der nicht einfach weiß bleiben? Ist doch prima so. Ich versteh gar nicht, warum wir uns da jetzt nochmal die Arbeit machen sollen.“ Tobias lächelte leicht. „Weil das hier euer Zuhause ist. Zumindest für eine Weile. Und das soll schließlich schön sein, oder nicht? Findest du nicht, dass du ein schönes Zuhause verdienst?“ Sven wollte wohl noch etwas erwidern, aber dann klappte er den Mund einfach wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Von ihm war offenbar kein Vorschlag zu erwarten. „Hat denn keiner eine Idee?“ Tobias sah auffordernd in die Runde. „Niemand?“ Plötzlich hob Dennis die Hand. Ich dachte erst, mich verguckt zu haben, aber anscheinend hatten es auch die anderen gesehen, denn alle Köpfe wandten sich jetzt zu ihm um. „Wir könnten … die Wände ja mit Spraydosen anmalen. Das dauert nicht so lang und macht außerdem mehr Spaß.“ Tobias schürzte die Lippen, während er nachdachte. „Eigentlich keine schlechte Idee. Leider kenne ich mich mit dem Sprayen nicht wirklich aus und ich fürchte, die meisten von uns auch nicht. Aber vielleicht kann ich da was drehen, damit wir Unterstützung von jemandem kriegen, der uns dabei anleiten kann. Sonst noch Vorschläge? Vielleicht zur Gestaltung an sich?“ Wieder hallte Tobias nur Schweigen entgegen. Was sollte man denn da auch sagen? Was immer es war, würde von den anderen garantiert in der Luft zerrissen werden. Schlug man eine Unterwasserwelt vor, witzelte garantiert irgendwer darüber, ob man auch Arielle und den komischen Fisch mit reinmalen wollte. Beim Dschungel, ob man noch in den Kindergarten ginge. Und irgendwelche Landschaften wären einfach nur megaöde gewesen. Wenn ich mir Sven so ansah, würde er vermutlich irgendwelche Horrorzombies an die Wand malen. Nicht, dass ich was dagegen gehabt hätte. Ich mochte Zombies. „Wie wäre es mit einer Stadt?“, fragte Leif plötzlich. Ich war ganz verblüfft, dass er auch etwas zur Diskussion beitrug. „Ne Stadt? Was soll das denn für Schwachsinn sein?“, kam sofort von Sven, aber Tobias brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Er wandte sich an Leif. „Wie meinst du das?“ Leif zuckte mit den Schultern. „Ja, keine Ahnung. So ne Art Skyline. Dabei könnte man die Türen mit einbinden als Gebäude oder so.“ Sven gab ein unanständiges Geräusch von sich. „Voll lame. Da ist das mit dem Sprayen echt sinnvoller.“ „Man könnte ja auch die Skyline sprayen.“ „Nee, wenn, dann sollen das ein paar fette Tags werden und nicht irgendsoein Spießerkram.“ Als jetzt auch noch die anderen Sven zustimmten, zog Leif den Schwanz ein. Er sagte gar nichts mehr und senkte den Blick. Keine Ahnung, warum er diesen dämlichen Vorschlag überhaupt gemacht hatte. War doch klar, dass der nach dem von Dennis schlecht abschnitt. Aber ich tat auch nichts, um ihn zu verteidigen. Warum hätte ich das auch tun sollen? Je eher das hier zu Ende war, desto besser. „Na schön, dann verschieben wir die Motivwahl erst mal auf später. Aber wenn keine weiteren Vorschläge kommen, malen wir da ne Stadt an die Wand.“ Lautes Protestgeheul begleitete diese Ankündigung, woraufhin Tobias lachend sagte, dass es doch nur ein Spaß gewesen sei. „Wir machen hier nichts, mit dem ihr nicht einverstanden seid. Ist schließlich euer Wohnheim.“ Damit schloss er die Sitzung. Während die anderen sich größtenteils nach draußen trollten, machten Leif und Dennis sich beide auf den Weg zu ihren Zimmern. Als Tobias ihnen nachrief, reagierten sie beide nicht. Ich hörte ihn seufzen, bevor er merkte, dass ich noch da war. „Manuel? Ist was?“ Ich gönnte ihm ein kurzes Lächeln. „Na ja, ich … also ich müsste wohl mal meine Bettwäsche waschen und wollte fragen …“ Tobias’ Mundwinkel zuckten. „Dann lass dir am besten von Jason zeigen, wo alles ist. Der kennt sich damit bestens aus.“ Ich sah zu Boden. „Könntest du nicht … ?“ Tobias lächelte und schüttelte den Kopf. „Sorry Kumpel, ich hab heute Nachmittag noch eine Einzelsitzung mit Leif. Der braucht noch ein bisschen Aufbautraining.“ „Für seine Muskeln?“ „Für seine Psyche.“ Ich presste die Lippen aufeinander. War ja klar, dass das vorging, aber … „Ist es wegen der Sache mit dem Essen?“ Ich wusste nicht, warum ich das fragte. Tobias sah mich an. „Hast es also gemerkt.“ Ich zuckte mit den Achseln. „War ja schwer zu übersehen. Was hat er denn?“ Tobias lächelte leicht. „Wenn du das wissen willst, solltest du ihn vielleicht selber fragen.“ Ich schnaubte nur. „Er wird mir bestimmt nicht antworten.“ Und ich will’s eigentlich auch gar nicht wissen. Noch immer lächelte Tobias. „Wer weiß. Manchmal braucht es vielleicht einfach nur jemanden, der zuhört.“ Damit ließ er mich stehen und sagte mir noch, dass Jason und ich den Schlüssel zum Haushaltsraum von Thomas bekommen würden. Dann ging er. Zu Leif. Und ich stand da und hatte entweder die Wahl, nochmal in meiner angewichsten Bettwäsche zu schlafen, oder mir von Jason eine Einweisung zu holen. Hätte ich gewusst, was mich erwartete, hätte ich das Erste genommen. „Und dann musst du hier noch die Temperatur einstellen und …“ Ich schnitt dem Strahlemann mit der fetten Kette das Wort ab. „Danke, aber ich weiß, wie eine Waschmaschine funktioniert.“ Jeder andere hätte das wohl als Aufforderung zum Gehen verstanden. Jason nicht. Der blieb. „Echt? Woher das denn?“ Ich verkniff mir ein Knurren. Mit diesem Idioten in der winzigen Waschküche zu stehen, in der es außer einem Regal, einer Waschmaschine und dem Trockner nicht viel zu sehen gab, war schon nicht ohne. Mich dabei noch volllabern zu lassen, sprengte echt den Rahmen. „Hab ich mir selbst beigebracht“, antwortete ich trotzdem. Immerhin hatte er mir was von seinem Waschmittel angeboten. Hier hatte jeder sein eigenes. Ich würde mir also welches besorgen lassen müssen, wenn ich mich nicht weiter durchschnorren wollte. „Warum das?“ Jason war anscheinend immer noch nicht fertig mit seiner Fragerunde. „Weil ich saubere Sachen brauchte.“ Jason runzelte die Stirn. „Hat das nicht deine Mama für dich gemacht? Ich musste zu Hause nie waschen. Oder aufräumen. Wenigstens nicht, bis ihr komischer Macker bei uns eingezogen ist. Ab da hieß es nur noch die ganze Zeit 'Jason mach dies' und 'Jason mach das' und 'Nimm deinen fetten Arsch vom Sofa hoch'. Dabei hab ich da gerade was geguckt. Echt mal.“   Er zuckte mit den Schultern und schlug sich auf den Bauch. „Hab aber schon ordentlich abgenommen. Bald werden sich die Mädels die Finger nach mir lecken.“ Ich hob die Augenbrauen, sagte aber nichts. Wenn er meinte, dass er ein Aufreißertyp war, würde ich ihn nicht aufklären. „Hast du ne Freundin?“ Ich schloss die Klappe der Waschmaschine und stellte das Kurzprogramm ein. Für das bisschen Wichse würde das wohl reichen. „Und? Hast du?“, bohrte Jason weiter nach. „Nein“, gab ich schlicht zurück. Warum und weshalb ging ihn schließlich nichts an. „Sven hat eine, sagt er. Und Nico auch. Die hab ich sogar schon mal gesehen. Ist voll hübsch. Wenn er hier raus ist, will er mit ihr zusammenziehen, hat er gesagt.“ „Schön für ihn.“   Die Waschmaschine hatte angefangen, sich unter meinen Fingern zu drehen. Dreimal rechts herum, dreimal links herum. Einfach aber effektiv. Es sollte mehr Dinge geben, die auf Knopfdruck so reibungslos funktionieren. Oder sich abschalten ließen. „Weißt du schon, was du machen willst, wenn du hier rauskommst?“   Mein pummeliger Freund hatte immer noch nicht aufgegeben, sich mit mir unterhalten zu wollen. Ich zuckte mit den Schultern.   „Keine Ahnung. Bin ja grad mal den dritten Tag da.“   Jason verzog das Gesicht. „Ich bin am Anfang hier immer voll ausgerastet, weil ich wieder nach Hause wollte. Deswegen haben sie mich überhaupt hierher gebracht. Weil ich immer abgehauen bin von wo sie mich hingebracht haben.“ Er lachte plötzlich.   „Du bist auf jeden Fall viel gechillter als ich.“   Noch während ich überlegte, ob das jetzt ein Kompliment war, steckte Thomas den Kopf durch die Tür. „Alles okay hier bei euch?“ „Ja klar. Hab Manuel nur alles gezeigt mit dem Waschen und so. Der kennt sich aber schon aus.“   Thomas schenkte mir einen Blick und ein Lächeln. „Sehr schön. Soll ich dir vom Einkaufen heute was mitbringen?“ „Ja, ich … ich hätte gerne Waschmittel.“ „Kein Problem. Schreib einfach auf, was für welches. Wir bringen das dann mit. Oder Jason?“ „Klar.“   Das Grinsen, das danach auf Jasons Gesicht erschien, zusammen mit Thomas’ Aufforderung an ihn, Nico zu holen, weil sie gleich loswollten, machte mir klar, was hier gerade abging. Die beiden, Nico und Jason, würden mit zum Einkaufen gehen.   Thomas, der meinen Blick bemerkte, lächelte noch einmal aufmunternd. „Keine Bange. Wenn du dich hier eingewöhnt hast und dich an die Regeln hältst, darfst du auch wieder raus. Erst begleitet, später auch alleine. Wir üben mit euch ja auch so Sachen wie Einkaufen, Bus fahren und so weiter.“ „Ich kann Bus fahren“, knurrte ich. Thomas lachte. „Fein. Dann können wir die Lektion ja auslassen. Na komm, ich schließ hier ab, solange deine Wäsche läuft. Wenn sie fertig ist, macht dir Tobias dann wieder auf.“   Widerwillig folgte ich Thomas’ Aufforderung. Kaum, dass ich vor der Tür stand, hatte ich auf einmal das Gefühl, hier vollkommen falsch zu sein. Alle, wirklich alle wussten, was sie jetzt zu tun hatten, und ich? Ich stand wie Falschgeld in der Gegend herum. Ohne Plan, ohne Ziel. Ohne Vorstellung davon, wie meine Zukunft aussehen sollte. Ich schaff das nie, hämmerte es in meinem Kopf. Die Schule, die ganzen Regeln und selbst wenn, was kommt dann? Wo soll ich denn dann hin?   Wie von selbst setzten sich meine Füße in Bewegung. Durch die Küche nach draußen, in den Hof und von dort in den Park. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen steuerte ich auf den Baum zu. Den, der so nah an der Mauer stand. Als ich kurz davor war, blieb ich stehen. Die Gelegenheit war günstig. Thomas war abgelenkt wegen des Einkaufens, Tobias noch nicht mit Leif zurück. Niemand würde merken, wenn ich verschwand. Niemand würde mich vermissen. Das würde mir einen Vorsprung verschaffen. Mindestens eine halbe Stunde. Eine ganze, wenn ich Glück hatte.   Langsam legte ich die letzten Schritte zum Baum zurück, doch statt hinaufzusteigen, ließ ich mich neben dem Stamm zu Boden sinken. Wegzulaufen war doch genauso sinnlos. Ich wusste es; hatte doch gerade gestern erst beschlossen, es nicht zu tun. Warum stand ich dann schon wieder hier?   „So allein, schöner Mann?“ Ich schreckte hoch und sah genau in Leifs grinsendes Gesicht. Er nickte mit dem Kopf in Richtung Haus. „Hab gesehen, dass du hier draußen bist und dachte, ich schau mal nach dir.“   Ich antwortete nicht. Wusste er, warum ich hier war? Hatte er auch das gesehen?   Er deutete auf den Boden neben mich. „Darf ich?“   Ich rückte ein symbolisches Stück zur Seite und er ließ sich neben mir auf dem Rasen fallen. Erst, als er neben mir saß, fiel mir auf, dass er heute ein T-Shirt trug. Keine langen Ärmel. Das war neu. Seine Arme waren dünn und weiß, aber kräftiger als ich gedacht hatte. „Wie war’s mit Tobias?“, fragte ich und versuchte dabei gelangweilt zu klingen. Als er antwortete, hörte ich ihn grinsen. „Prima. Hab mich von ihm flachlegen lassen, jetzt geht’s mir besser.“   Ich wusste, dass er mich verarschte, also reagierte ich nicht, bis mich ein spitzer Ellenbogen zwischen die Rippen traf. „War nur Spaß. Der fischt nicht an unserem Ufer.“   Ich schnaubte kurz. „Woher willst du das wissen?“ „Hab ihn gefragt. Er hat ne Freundin. Seit Ewigkeiten glücklich und so. Ist wirklich ein Jammer.“   Bei seinem verzweifelten Klagen, konnte ich nicht anders. Ich musste lachen. Als ich zur Seite sah, grinste er ebenfalls. „Was? Meinst du etwa, dass ich nicht gesehen habe, wie du ihn abgecheckt hast. Ist schon nicht übel gebaut. Dann die Tattoos und so. Wer würde da nicht genauer hingucken.“   Sein Lächeln wurde ein wenig weicher und er sah mir intensiv in die Augen. „Wenn du noch ein bisschen trainierst, kommst du aber bestimmt bald an ihn ran.“   Ich spürte meine Mundwinkel zucken und drehte den Kopf weg. „Tja, nur wachsen werd ich wohl nicht mehr.“ „Och, ich find deine Größe eigentlich ganz gut.“   Sein Tonfall machte klar, dass er dabei nicht von der Entfernung meines Scheitels zum Erdboden sprach. Ich spürte erneut ein Lächeln an meinen Mundwinkel zupfen. „Was soll das werden? Willst du mich in die nächste Besenkammer zerren und vernaschen?“   Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wenn wir eine hätten, würde ich’s wohl in Erwägung ziehen.“   Ich sah zu ihm rüber und er schaute zurück. Irgendwas an ihm war heute anders, aber ich konnte den Finger nicht darauf legen, was es war. Mein Blick glitt kurz zu seinen Lippen, bevor ich ihm wieder in die Augen sah. „Heißt das, wir haben heute Abend eine Verabredung?“   Er verschob den Mund zu einem schmalen Lächeln.   „Das heißt es wohl. Wenn du hierbleibst, versteht sich. Ich würde mich dafür auch erkenntlich zeigen.“   Er leckte sich kurz über die Unterlippe. Die Feuchtigkeit, die seine Zunge hinterließ, glänzte im Sonnenlicht. Ganz plötzlich hatte ich das Verlangen, sie zu kosten. Einen kurzen Augenblick nur, bevor ich mich wieder von dem Anblick losriss und in eine andere Richtung blickte.   „Bin ich nicht eigentlich dran?“, fragte ich und bemühte mich dabei, fest und sicher zu klingen. Die Vorstellung, nochmal einen von ihm geblasen zu bekommen, ließ meinen Schwanz zucken. Leif machte ein unbestimmtes Geräusch.   „Ach, ich nehm’s da nicht so genau. Solange wir beide auf unsere Kosten kommen, ist das schon okay.“   Ich wusste, dass er log. Trotzdem nach ich mir vor, ihn beim Wort zu nehmen. „Gut“, meinte ich leichthin, lehnte den Kopf wieder an den Stamm, schloss die Augen und versuchte, das Pochen zwischen meinen Beinen zu ignorieren. „Dann darfst du heute Abend gerne nochmal ran. Und wer weiß … vielleicht revanchiere ich mich heute ja doch.“   Das leichte Lachen neben mir mischte sich in den Gesang irgendeines Vogels, der in der Baumkrone über uns saß. Das Vieh hatte mit Sicherheit keine Ahnung, was hier unten gerade vor sich ging. Dieses Schicksal teilte er sich allerdings mit einer nicht gerade unerheblichen Anzahl an Menschen und wenn es nach mir ging, würde das auch noch eine ganze Weile so bleiben.   Kapitel 7: Happy Birthday ------------------------- Es klopfte an meiner Tür, ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und im nächsten Moment steckte Tobias seinen Kopf herein. „Hey, bist du fertig?“ „Ja, gleich.“   Ich schloss den letzten Knopf an meinem Hemd und strich es über der Brust glatt. Es hatte ein paar Falten, aber ich hatte keine Zeit mehr gehabt, es zu bügeln. Tobias maß mich mit einem prüfenden Blick. „Siehst schick aus. Ist ein besonderer Tag heute, oder?“   Ich sagte nichts dazu. Die Wahrheit wäre gewesen, dass mir mein Herz wie blöd gegen die Rippen hämmerte und ich kurz davor war mich zu übergeben. Aber ich ließ es mir nicht anmerken, trat in den Flur und sah zu, wie Tobias meine Tür abschloss. Im Haus war es ruhig. Man hörte keine Musik, keine Stimmen, nichts. Nur die Vögel, die draußen vor dem Fenster sangen. „Na dann los“, sagte Tobias und wies auf die Tür. „Gehen wir.“   Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich Tobias die Treppen hinunter folgte. Er schloss die Haustür auf und ließ mich nach draußen treten. Danach schloss er ab. „Mein Auto steht auf dem Parkplatz.“   Nebeneinander gingen wir über den Weg, der auch am Schulhaus vorbeiführte. Durch die offenen Fenster waren Stimmen zu hören. Die anderen saßen jetzt dort und lernten. Eine Tatsache, die mir am Morgen noch jede Menge dumme Sprüche eingebracht hatte. Am liebsten hätte ich mit einem von ihnen getauscht. „Ist offen“, sagte Tobias überflüssigerweise. Ich hatte das Klacken der Verriegelung schon gehört. Ohne irgendwelche Gedanken im Kopf öffnete ich die Tür, stieg ein und schnallte mich an. Dann legte ich meine Hände auf meine Oberschenkel und wartete, dass Tobias den Motor startete. „Hey“, kam von meiner Seite. „Keine Bange. Wird schon gut gehen.“   Ich hoffte es. Ich hoffte es so sehr.     Die Fahrt durch die Stadt verlief unspektakulär und endete an einem grau betonierten Gebäude mit unzähligen Fenstern und weißen Gardinen. Eine Anzeigetafel im Foyer schickte uns in den ersten Stock. Nadelfilz zu meinen Füßen, Infopakate an den Wänden und kleine Sitzgruppen mit Tischen, auf denen Broschüren ausgelegt waren. Themen wie ungewollte Schwangerschaft, Krisenmanagement und der Kindernotruf. Was man halt so fand in einem Jugendamt.   Tobias ging direkt zu einer Tür und klopfte dort. Als von drinnen ein leises „Herein“ zu hören war, drückte er die Klinke nach unten.   „Hallo Frau Täubert. Sind Sie schon für uns bereit?“ „Na klar. Kommen Sie rein.“   Tobias winkte mir und ich folgte ihm in das Büro. Es war klein, aber hell. Eine Verbindungstür ins nächste Zimmer war nur angelehnt. Die Fenster waren geöffnet. Zwei Zimmerpflanzen, Schreibtisch und Aktenschrank. Dahinter eine blonde Frau, die mich freundlich anlächelte. „Hallo! Du musst Manuel sein. Komm herein.“ Sie stutzte kurz. „Oder soll ich lieber Herr Heuser sagen?“   Ich schüttelte den Kopf. Sie lächelte erneut. Ihre Lippen waren geschminkt und sie trug eine helle Bluse. Ihre Gardinen bewegten sich im Wind. „Dann setz dich mal und wir unterhalten uns ein bisschen. In Ordnung?“ Die Frage war reine Formsache. Immerhin hatten wir einen Termin und dass ich dafür die Schule schwänzen durfte, sagte doch eigentlich schon genug. Das hier war kein Höflichkeitsbesuch.   Frau Täubert griff nach einem Pappordner und schlug ihn auf. Darin jede Menge Zettel. Mindestens die Hälfte davon hatte ich bestimmt schon mal in der Hand gehabt. Unverständliches Kauderwelsch, das mit jeder Menge unnötiger Worte ausdrückte, dass ich in einem Heim gut aufgehoben war. Nun sollte ich das bitte auch noch bestätigen. Damit alles seine Richtigkeit hatte. Frau Täubert blickte auf. „Also, Manuel. Zuerst einmal möchte ich von dir wissen, wie es dir geht.“   Sie lächelte, während sie das fragte. Ihre Augen ruhten auf mir. Graublau waren sie. Die Haare aschblond. So nannte man das wohl. Dazu silbergrauer Lidschatten, der sich in den kleinen Falten um ihre Augen gesammelt hatte. „Manuel?“   Ich schrak zusammen.   „Gut. Es geht mir gut“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich bin gerne in Thielensee. Die Leute sind nett. Besonders die Erzieher. Sie machen einen tollen Job. Ich lerne sehr viel dort.“   Ich hörte Tobias neben mir einen unbestimmten Laut von sich geben. Hatte ich es etwa übertrieben? Die Vorstellung war auf jeden Fall nicht meine beste gewesen. Frau Täubert jedoch schien zufrieden zu sein mit dem, was sie zu hören bekommen hatte. Sie machte sich ein paar Notizen. Dann seufzte sie leicht. „Herr Ritter hat dir ja sicher schon mitgeteilt, warum du hier bist, nicht wahr?“   Ich nickte leicht. Ja, das hatte Tobias mir gesagt. Sie sprach es trotzdem noch einmal aus. „Deine Eltern haben Widerspruch gegen deine Unterbringung eingelegt. Sie möchten, dass du wieder nach Hause kommst.“   Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Das erste Mal, als ich diesen Satz gehört hatte, war etwas passiert in meiner Brust. Wie ein kleiner Vogel hatte es sich angefühlt. Einer, der rasend schnell mit den Flügeln schlug. Dieses Mal blieb der Vogel still sitzen. Er wusste, dass er nichts zu erwarten hatte. „Ich will da nicht wieder hin.“ Der Satz hatte es irgendwie an dem Ding in meinem Hals vorbei geschafft. Frau Täubert nahm es zur Kenntnis. Schrieb es auf. Dann sah sie mich erneut freundlich an. „Ich denke, in Anbetracht der Umstände können wir damit rechnen, dass der Widerspruch abgelehnt werden wird. Trotzdem muss der Antrag natürlich geprüft werden. Deine Eltern haben das Recht darauf zu bestimmen, was mit ihrem Kind passiert.“   Und was ist mit meinen Rechten, hätte ich am liebsten geschrien. Aber ich tat es nicht. Ich biss mir auf die Innenseite der Wange und schluckte all die bösen Worte hinunter, die ich hätte sagen können. Wie Schnecken und Würmer krochen sie in meinem Bauch umeinander. Mir wurde wieder übel. „Aber ich bin … ich bin seit heute 16. Da darf ich doch ausziehen.“   Frau Täubert sah auf ihren Zettel. Dann lächelte sie. „Ja, tatsächlich. Du hast heute Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!“   Ich registrierte ihre Glückwünsche kaum. Ich wollte wissen, wie das mit dem Ausziehen war. Frau Täubert legte den Zettel beiseite und ihre Hände auf den Schreibtisch. „Tatsächlich ist es so, dass du mit 16 von zu Hause ausziehen darfst. Allerdings haben deine Eltern ein Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das heißt, sie legen fest, wo du wohnen darfst. Im Normalfall sind sie es dann auch, die den Mietvertrag und solche Sachen unterschreiben müssen, da du noch nicht volljährig bist. Allerdings liegen in deinem Fall die Dinge natürlich etwas anders.“   Sie sah mich an und bekam so einen Ausdruck im Gesicht, der mich an diese Mütter im Fernsehen erinnerte. Die, die für ihr Baby nur das Beste wollten und deswegen natürlich nur Marke XY kauften. „Du musst dir erst einmal keine Sorgen machen. Dein Aufenthalt in Thielensee wird mindestens sechs Monate betragen. Wahrscheinlich sogar länger. Danach wirst du vermutlich in eine offene Wohngruppe wechseln können, in der du weiter betreut wirst. In welcher Form das geschehen kann und wird, werden wir dann noch klären müssen. Ich kann dir natürlich keine hundertprozentige Zusage machen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass so ziemlich jedes Gericht zu deinen Gunsten entscheiden wird. Wenn du jetzt noch zeigst, dass du dich wirklich anstrengst, vielleicht sogar deinen Abschluss machst, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass deinen Plänen nichts mehr im Wege steht. Herr Ritter wird mich weiter über deine Fortschritte informieren und dann schaffen wir das schon.“   Sie lächelte wieder und ein Blick nach rechts zeigte mir, dass auch Tobias optimistisch dreinsah. Die beiden schienen sich ihrer Sache sicher zu sein. Das machte den schleimigen Stein in meinem Magen ein bisschen kleiner, auch wenn er nicht ganz verschwand.   „Gut“, verkündete Frau Täubert und schlug die Mappe zu. „Dann würde ich sagen, dass du es überstanden hast und dir jetzt noch einen schönen Tag machen kannst. Hast du schon Pläne?“ „Wir machen Pizza zum Mittag“, murmelte ich. Mir war so gar nicht nach Feiern zumute. „Pizza, wie lecker! Na, dann wünsche ich guten Appetit und wir sehen uns dann in etwa drei Monaten wieder.“   Tobias erhob sich und ich folgte ihm, indem ich mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. Draußen im Flur blieb er stehen. „Alles in Ordnung?“, fragte er mit Sorge in den Augen und der Stimme.   „Ja ja, alles prima“, log ich und beschleunigte meine Schritte, um hier endlich rauszukommen. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Schlinge um den Hals, die mich nicht atmen ließ. Ich wollte sie endlich abstreifen. Draußen vor der Tür blieb ich stehen und holte erst einmal tief Luft. Ich hörte Tobias leise lachen. „Du magst Ämter so gar nicht, hab ich recht?“ „Ich kann sie nicht ausstehen“, knurrte ich. „Diese Sesselfurzer, die mit einem Stempel über dein Wohl und Wehe entscheiden, ohne dir überhaupt einmal in die Augen zu schauen. Ich hasse sie.“   Tobias lachte noch einmal, dieses Mal lauter. „Oh, da tust du Frau Täubert aber unrecht. Sie ist wirklich sehr engagiert und arbeitet eng mit uns zusammen. Wir schauen ganz genau hin, das kannst du mir glauben. Wir wollen, dass es dir gutgeht. Dazu sind wir da.“   Im nächsten Moment hatte ich eine Hand in meinen Haaren, die sie gründlich verwuschelte. „Na los, Großer. Wir sind hier fertig.“ „Hey!“, rief ich und schlug nach Tobias’ Arm. Er wich mir aus und grinste. „Na komm. Zeit für den Rückweg.“   Ich unterdrückte ein Seufzen. Mein erster Tag in Freiheit und den verbrachte ich in einem Amt. Es war einfach nicht fair.     Wieder im Auto merkte ich gleich, dass irgendwas nicht stimmte. Die Straße, durch die wir fuhren, war nicht die, durch die wir gekommen waren. „Wo fährst du hin?“, wollte ich wissen, bekam aber nur ein Grinsen zurück und die wenig informative Antwort, dass ich das wohl abwarten müsse. Als wir hielten, sah ich nur wenige Meter entfernt den See in der Sonne glitzern. „Wir sind da.“   Ich stieg aus und folgte Tobias, der zielstrebig auf ein kleines Holzhäuschen zuging und dahinter verschwand. Ich runzelte die Stirn und folgte ihm zögernd. Als ich um die Ecke kam, bezahlte er gerade an einem kleinen Kiosk zwei Eistüten. Immer noch grinsend kam er auf mich zu und hielt sie mir hin. „Hier. Große Auswahl hast du nicht, aber immerhin gibt es Erdbeer und Vanille. Alles Gute zum Geburtstag.“   Ich sah die verpackten Tüten an. Es war eine Billigmarke, die man hier offenbar einfach aus den Kartons nahm und einzeln verkaufte. Auch der Rest der Bude wirkte eher spartanisch. Kaffee, Cappuccino, Softdrinks und heiße Würstchen. Mit Brötchen. Mehr gab es nicht. Trotzdem war es, als würde mir Tobias gerade ein Stück Freiheit entgegenhalten. Wann hatte ich das letzte Mal Eis gegessen? „Danke“, sagte ich und nahm Tobias das Vanilleeis ab. Wir entledigten uns der Verpackungen und stießen mit den Eistüten an, als wären es Bierflaschen. Als Tobias dann in sein Eis biss, verzog ich das Gesicht. „Waf?“, fragte er, den Mund voller Erdbeereis.   „Ich wusste nicht, dass du ein Beißer bist“, gab ich lachend zurück. „Das sind ganz schreckliche Menschen.“   „Ach echt?“ Tobias musterte sein Eishörnchen, an dem eine große Ecke fehlte. „Wie soll man das denn sonst essen?“ „Na lecken!“, gab ich zurück und führte es ihm vor. Fast schon verführerisch fuhr ich mit der Zunge an dem Gebilde aus Eis, Schokolade und Nussstückchen entlang. Tobias lachte auf. „Alles klar, ich versuche es mal.“   Gespannt beobachtete ich, wie er dieses Mal langsam mit der Zunge über die Spitze des Eises fuhr. Es sah fast schon komisch aus. Nicht im Geringsten wie das, was Leif manchmal mit mir anstellte. Auch Tobias war unzufrieden. „Nee, das geht gar nicht“, stellte er naserümpfend fest. „Da kommt ja gar nichts bei rum. Also ich beiß weiter ab.“   Sprach’s und machte seine Eiswaffel ein ganzes Stück kleiner. Ich schüttelte den Kopf und widmete mich wieder meiner eigenen kalten Köstlichkeit. Es schmeckte gigantisch. Genau wie früher.   „Komm. Wir gehen runter zum See.“   Tobias zeigte auf ein Stück sandiges Ufer, das gleich unterhalb der Bude lag. Am Wasser angekommen, ließ er sich einfach zu Boden fallen. „Setzen. Eis essen“, kommandierte er. Dass er nicht noch „Spaß haben“ dazu befahl, wunderte mich fast. Ich ließ mich trotzdem neben ihm nieder und sah von dort auf den See hinaus. Man konnte das gegenüberliegende Ufer noch gut erkennen. Es stand voller Bäume und der Schilfgürtel, der an dieser Seite des Sees durchbrochen war, bildete dort eine durchgehende, grüne Wand. Das dunkle Wasser wurde vom Wind in leichte Wellen versetzt und ein Stück weiter draußen tauchten zwei Vögel immer wieder unter, nur um kurz darauf an anderer Stelle wieder an der Oberfläche zu erscheinen. „Das sind Blässhühner“, erklärte Tobias und wies mit den Resten seiner Waffel auf die komischen Tauchvögel. „Ich find die putzig.“ „Putzig?“, fragte ich nach und schob die Augenbrauen in Richtung Haaransatz. „Na wenn du meinst.“ Wir schwiegen. Ich verdrückte mein Eis und sah auf das Wasser hinaus. Wenn man so in die Weite schaute, konnte man fast vergessen, was einen gleich wieder erwartete. Leider galt das nicht für Tobias. Nachdem wir eine Weile so da gesessen hatten, sah er auf die Uhr. „Die anderen haben bald Schulschluss. Dann sollten wir zurück sein.“ Trotz dieser Ankündigung machte er keine Anstalten, sich zu erheben. Im Gegenteil ließ er sich noch ein Stück tiefer in den Sand sinken. Fragend sah ich ihn an. Er blickte zu mir hoch und blinzelte, weil ihm die Sonne in die Augen schien. „Eigentlich hatte ich mir noch eine kleine Ansprache überlegt. So ne aufbauende Rede und so. Aber grad bin ich mir nicht sicher, ob du die überhaupt hören willst.“   Ich sah auf meine Füße hinunter. Die Turnschuhe hatte ich heute Morgen noch geputzt. Jetzt klebte der leicht feuchte Sand daran. „Was denn für eine Rede?“   Tobias machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du deine Sache echt gut machst. Ich mein, du bist jetzt knapp vier Wochen da und es läuft einfach toll. Ja wirklich. Ich hab lange niemanden mehr erlebt, der sich so schnell eingefügt hat. Du kümmerst dich um deine Sachen, übernimmst deine Dienste meist ohne zu meckern, machst kaum Stress, du strengst dich im Unterricht an, du duschst regelmäßig.“   Ich schnaubte. „Das findest du erwähnenswert?“   Tobias grinste mich an.   „Wenn du wüsstest, wie viel Überzeugungsarbeit wir da bei einigen leisten müssen. Du würdest dich schütteln.“   Sein Grinsen wich einem weicheren Lächeln.   „Aber ich mein das wirklich so. Du machst das richtig, richtig gut. Ich bin stolz auf dich.“   In dem Moment, in dem er das sagte, konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich drehte den Kopf weg und sah wieder den Hühnern beim Tauchen zu. In meiner Nase kribbelte es ein bisschen und Tobias’ Worte schienen in meinem Kopf widerzuhallen.   Ich bin stolz auf dich.   „Und du rauchst nicht mehr. Ist dir aufgefallen, dass ich dir seit drei Tagen schon keine neuen Kaugummis mehr besorgen musste.“   Meine Mundwinkel wanderten ein Stückchen nach oben. Es stimmte. Gerade in so Momenten wie diesen hier hatte ich zwar immer noch das Verlangen, mir eine anzustecken, aber die meiste Zeit dachte ich nicht daran. Die Mittagspause überbrückte ich mit den Kaugummis, den Rest der Zeit gab es fast immer was zu tun, um mich abzulenken. Manchmal sogar nachts. Nur dass davon niemand was wissen durfte.   „Na komm, Geburtstagskind. Wir wollen Pizza backen.“   Tobias war aufgestanden und hielt mir die Hand hin. Ich ergriff sie und ließ mich nach oben ziehen. Das T-Shirt spannte über seinen Oberarmen. Wie er sich wohl anfühlte? Eine Frage, die nicht nur mich beschäftigte.     „Wo wart ihr?“   Leif stand neben mir und verteilte Paprikastreifen auf seinem Stück der Pizza. Als er damit fertig war, kamen Pilze dran.   „Musste zum Amt was klären. Und danach war ich mit Tobias Eis essen. Am See.“   Leifs Kopf ruckte herum. Seine Augen waren groß geworden. „Im Ernst? Und? Wie war’s?“   Ich verzog die Lippen zu einem genüsslichen Lächeln. „Ich hab ihn dazu gebracht, dass er mit seiner Zunge an seinem Eis rumspielt. Sah geil aus.“ Leif entwich ein Stöhnen.   „Scheiße, hör bloß auf. Die Vorstellung allein!“   Ich versetzte ihm einen kleinen Stoß und griff nach der Salami. Großzügig verteilte ich einige Scheiben auf meiner Pizzahälfte. Danach hielt ich Leif die Schüssel hin. „Du auch?“ „Nein. Aber gib mir mal den Käse.“   Er verteilte eine winzige Menge auf seinem Gemüse. Ich zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Er aß die Pizza, das war die Hauptsache. Nach welchen Regeln er dabei vorging, war seine Sache. Trotzdem sah ich Probleme auf uns zukommen. „Wenn meine Pizzahälfte fertig ist, ist deine verbrannt“, orakelte ich und besah mir meinen fast schon überladen wirkenden Teil. „Das geht doch nicht gut.“   „Dann hättest du dir eben ein Blech mit Jason teilen müssen“, kam prompt zurück. „Der hat sein Teil ebenso fett belegt wie du.“   Ich streckte Leif die Zunge raus, bevor ich mir das Blech griff und es vom Tisch zum Küchentresen trug. Dort warteten bereits die anderen Pizzen auf ihren Einsatz.   „Seid ihr endlich fertig?“, nölte Sven prompt.   „Kann ja nicht jeder zum Trog stürzen wie ne besengte Sau“, würgte ich ihm rein, sah dann aber zu, dass ich außer Reichweite kam, bevor er den Spruch kapierte. Das konnte bei Sven schon mal länger dauern. „Na los, schieb die Dinger endlich rein“, verlangte Nico. „Der Ofen ist längst heiß“.   „Eile mit Weile“, gab Thomas lachend zurück, öffnete aber tatsächlich den Backofen, um die Bleche darin zu versenken. „So, und jetzt wird aufgeräumt. Sonst haben wir nachher keinen Platz zum Essen.“   Allgemeines Gemurre brach aus, aber dann schnappte sich doch jeder irgendeine Schüssel und brachte sie wieder in die Küche. Tobias nahm alles in Empfang und stellte es auf die Arbeitsfläche „für den Fall, dass nachher noch jemand Hunger hat“. In Anbetracht der Pizzagröße hielt ich das für ein Gerücht. „Dennis ist mit Tischdecken dran“, verkündete Nico als Nächstes und verzog sich mit Sven in Richtung Wohnzimmer. Die Uhr auf dem Backofen zeigte an, dass wir noch knapp 20 Minuten Zeit hatten. Ich sah Leif an.   „Wollen wir mitgehen oder …“   Ich ließ ungesagt, was ich damit meinte. Ich wusste, dass er mich auch so verstand. Er fuhr sich leicht mit der Zunge über die Lippen, bevor er sich vorbeugte und mir ins Ohr flüsterte: „Das heben wir uns lieber für heute Abend auf. Geburtstagsüberraschung.“   Er zwinkerte mir zu und ich wusste, dass ich mich sehr über mein Geschenk freuen würde. Sehr sehr sehr.   Die restliche Zeit bis zum Essen verbrachten wir im Wohnzimmer. Nico hatte ein Kreuzworträtsel begonnen und wir überboten uns dabei, schwachsinnige Begriffe zu erfinden, die nie und nimmer in die Kästchen passten. Mitten in unser Gelächter hinein klopfte es. Ich hob den Kopf und sah Herrn Steiner im Türrahmen stehen.   „Hallo ihr vier. Ich hoffe, ich störe nicht.“   Sein Blick richtete sich auf Leif. „Leif, da ist Besuch für dich. Deine Eltern.“   Von jetzt auf gleich war das Grinsen aus Leifs Gesicht verschwunden. Stattdessen wurde er blass und seine Augen groß. „Aber sie … sie wollten doch erst morgen kommen.“   Herr Steiner sah offenbar ebenfalls, was hier abging. Er nickte leicht.   „Soll ich ihnen sagen, dass sie wieder gehen sollen?“   Mein Blick glitt zu Leif zurück. Wie würde er reagieren. Er schluckte. Ich sah den Adamsapfel in seinem Hals hüpfen. Als versuchte er, ihn herunterzuschlucken. „Nein“, krächzte er. „Ich komme.   Mit steifen, ungelenken Bewegungen erhob er sich. All die Leichtigkeit, die ihn gerade noch erfüllt hatte, war verschwunden. Stattdessen schienen jetzt Bleigewichte an seinen Gliedern zu hängen. Jeder Schritt war ein Kampf.   Herr Steiner ging derweil in die Küche. Ich hörte, wie er Tobias und Thomas über den unerwarteten Besuch informierte. Was Thomas dazu zu sagen hatte, konnte ich nicht hören. Dafür war Tobias umso lauter. „Das kommt gar nicht infrage“, stellte er fest. „Es war vereinbart, dass sie Leif erst morgen abholen. Noch dazu ist jetzt Essenszeit.“   „Herr Ritter, bitte beruhigen Sie sich“, antwortete Herr Steiner bemüht diplomatisch. „Ich habe den Johannsens bereits gesagt, dass wir dieses Vorgehen nicht tolerieren werden. Aber Sie wissen, dass sie immer noch diejenigen sind, die Leif hierher geschickt haben. Sie können ihn auch jederzeit wieder aus der Einrichtung nehmen.“   „So ein Bullshit!“, fluchte Tobias und irgendetwas klirrte. Vermutlich der Löffel in seiner Teetasse. Im nächsten Augenblick sah man ihn an der Tür vorbeilaufen, Herr Steiner hinterher. Was danach im Flur gesprochen wurde, verstand ich nicht mehr, aber es war ziemlich laut und wütend. Leif stand immer noch da wie bestellt und nicht abgeholt. In der Küche begann eine Uhr zu piepsen. „Die Pizza ist fertig“, rief Sven und sprang auf. Er und die anderen liefen an Leif vorbei, aber ich sah, dass sie sehr wohl mitbekommen hatten, was hier gerade abging. Der eine oder andere Blick streifte Leif, doch dann waren sie alle raus und wurden von Thomas angewiesen, die Untersetzer auf den Tisch zu legen, damit die Backbleche das Holz nicht versengten. Leif und ich blieben allein zurück. Er sah zu mir rüber.   „Tja, sieht so aus, als müsstest du noch ein bisschen auf dein Geschenk warten“, sagte er leise. „Meine Eltern sind da, um mich abzuholen.“ Ich wusste, dass ich in dem Moment etwas hätte sagen sollen, aber kein Laut kam über meine Lippen. Stattdessen sah ich zu, wie Leif sich umdrehte und den Raum verließ. Erst, als er weg war, sprang ich auf und lief zur Tür.   Im Flur hörte man die anderen in der Küche lärmen. Ich jedoch schlich mich in Richtung Treppenhaus. Die Glastür stand offen und von draußen vernahm man Stimmen. Darunter zwei, die ich nicht kannte. Mit angehaltenem Atem blieb ich stehen und lauschte. „Ah, Leif, da bist du ja“, sagte ein Mann. Vermutlich Leifs Vater. „Dann können wir ja los.“   „Ich habe noch nicht gepackt“, wandte Leif ein.   „Ach, du brauchst doch nichts mitzunehmen. Wir haben alles zu Hause“, hörte ich eine Frauenstimme. Seine Mutter offenbar.   „Aber wir wollten gerade essen“, erklärte Tobias. „Einer der anderen Jungen hat Geburtstag. Sie sollten später noch einmal wiederkommen.“   Ein abfälliges Schnauben machte deutlich, was Leifs Mutter von diesem Vorschlag hielt.   „Wenn Leif darauf Wert gelegt hätte, an dieser Feierlichkeit teilzunehmen, hätte er uns ja darüber informieren können. Wir haben ihm schließlich gesagt, dass wir ihn dieses Mal früher abholen. Und ihn gebeten, Ihnen das auszurichten. Es ist also nicht unsere Schuld, wenn er das versäumt hat.“   „Na ja, das kann ja mal vorkommen“, versuchte Herr Steiner einzulenken. „Zur Sicherheit sollten Sie solche Absprachen immer mit mir oder einem der Erzieher treffen.“ „Ja, das wäre wohl besser“, gab Leifs Vater zurück. „Auf unseren Sohn ist in dieser Beziehung wohl kein Verlass. Wie bei so vielem anderen.“ „Papa, bitte!“   Leif klang jetzt gereizt. Sein Vater nahm das jedoch kaum zur Kenntnis. Er verkündete lediglich, dass sie jetzt gehen und Leif am Sonntag zurückbringen würden. Danach klappte die Tür und die Stimmen – auch die von Herrn Steiner – entfernten sich. Schritte kamen den Flur entlang und bevor ich reagieren konnte, war Tobias um die Ecke gebogen. Auf seinem Gesicht stand nur mühsam unterdrückte Wut. „Was …? Oh. Manuel.“ Er stockte und blieb stehen. Holte tief Luft. Ich wies mit dem Kopf in Richtung Treppenhaus. „Sie haben ihn mitgenommen, oder?“ „Ja. Leifs Eltern holen ihn einmal im Monat ab.“   Da war noch mehr, was er nicht aussprach. Weil es mich nichts anging. Aber ich spürte es. Ich spürte, dass es da eine ganze Menge Dinge gab, die Tobias zu dieser Sache zu sagen hatte. Doch keiner von uns verlor auch nur ein Wort darüber. „Na komm, deine Pizza wird kalt.“   Er legte mir den Arm um die Schultern und schob mich sanft in Richtung Küche. Dort hatte die kalte Schlacht am heißen Buffet gerade ihren Höhepunkt erreicht. Jason und Sven hatten beide bereits mehr als die Hälfte ihrer Pizza verdrückt und wetteiferten nun darum, wer von ihnen nun auch noch den Rest am schnellsten hinunterschlingen konnte. Thomas saß mit amüsiertem Gesicht daneben, tat jedoch nichts, um es zu verhindern. Nico feuerte die beiden an, während Dennis nur stumm seine Pizza mümmelte. Als ich mich neben ihn setzte, sah er auf. „Haben sie ihn wieder abgeholt?“, fragte er. Tobias nickte und ich war erstaunt, dass Dennis überhaupt eine Bemerkung dazu gemacht hatte. Eine weitere Reaktion kam jedoch nicht. Ich blickte auf das Pizzablech hinab, das Leif und ich zusammen belegt hatten. Auf meiner Hälfte war der Käse gerade mal geschmolzen, während Leifs Seite schon deutlich gebräunt war. „Du kannst ruhig seine Hälfte nehmen“, sagte Dennis auf einmal und deutete auf das Blech vor mir. „Wenn er wiederkommt, wird er das eh nicht mehr essen wollen.“   Mir lag auf der Zunge zu fragen, wie er das meinte, aber ich schluckte die Frage herunter. Ich wollte nicht darüber reden.   „Nein, ich werde sie ihm aufheben“, bestimmte ich und machte mich daran, mir ein Stück von meiner Seite der Pizza abzuschneiden. So viel war ich Leif schuldig. Dass er die Pizza bekam, die er sich ausgesucht hatte.   Kapitel 8: Wiedersehen macht Freu(n)de -------------------------------------- Wir saßen gerade beim Abendessen, als draußen im Flur die Tür aufging. Da waren eine Stimme und Schritte. Im nächsten Moment trat Herr Steiner in die Küche. An seiner Seite Leif. „Hallo ihr alle! Schon beim Essen, wie ich sehe. Da kann sich Leif ja gleich zu euch setzen. Ihr habt doch für ihn mitgedeckt?“ „Ja, natürlich“, erwiderte Maik, der Erzieher, der seit gestern Tobias’ Schicht übernommen hatte. Er war ein großer, blonder Kerl mit einem Mondgesicht und kräftiger Statur. Als er aufstand und zur Tür ging, konnte ich Leif hinter seinem Rücken kaum erkennen. Die beiden wechselten ein paar Worte. Ich sah, wie Leif den Kopf schüttelte, aber Maik nahm ihn am Arm, dankte Herrn Steiner noch einmal, und führte Leif dann in unsere Abendbrotrunde. Erst jetzt konnte ich sehen, wie blass der war. Dunkle Ringe unter seinen Augen verrieten mir, dass er die letzten zwei Nächte nicht viel geschlafen hatte.   Leif setzte sich auf seinen üblichen Platz an meiner Seite. Mich würdigte er dabei keines Blickes. Nicht einmal die Jacke hatte er ausgezogen. Dunkelblauer Sweatshirtstoff. Ein bisschen zu groß wie eigentlich alle seine Sachen. Manchmal fragte ich mich, ob er wohl irgendwann mal hineingepasst hatte.   Ich schluckte die Begrüßung hinunter, die ich schon auf der Zunge gehabt hatte. Tat so, als wäre nichts Besonderes passiert. Als ich jedoch nach dem Brotkorb griff, hielt ich ihn Leif hin. „Willst du auch?“   Er schüttelte den Kopf, aber als Maik sagte, dass er auch etwas essen müsste, griff er gehorsam nach einer Brotscheibe. Als sie auf seinem Teller lag, musterte er sie, als wäre sie sein persönlicher Feind. Die Haut über seinen Fingerknöcheln schimmerte weiß, als er die Hand fest um das Messer schloss und die Scheibe schließlich hauchdünn mit Butter bestrich. Danach teilte er sie in der Mitte durch und dann noch einmal, sodass er vier etwa gleich große Stücke hatte. Mit einem tiefen Einatmen, nahm er eines in die Hand. Er führte es zum Mund, seine Lippen teilten sich und …   „Hast du was?“   Leif starrte mich böse an und ließ das Stück Brot wieder sinken. Mein Mundwinkel zuckte. „Ich … ich hab dir Pizza aufgehoben. Die, die du Freitag belegt hast. Ich dachte, du möchtest vielleicht … wenn das erlaubt ist.“   Ich blickte zu Maik hinüber, der zuerst mich und dann Leif ansah. Seine Augenbrauen hoben sich. „Na, an mir soll es nicht scheitern. Wenn du willst, kannst du sie noch essen.“   Leif schluckte. Ich konnte den Knoten in seinem Hals förmlich selber fühlen. „Nein, danke. Ich … ich bleibe beim Brot.“ Er senkte den Blick wieder auf seinen Teller und ich hatte verstanden. Enttäuscht wandte ich mich wieder meinem eigenen Abendbrot zu, doch zum ersten Mal konnte ich Leif verstehen. Mir war gerade der Appetit vergangen.     Nach dem Essen verzog ich mich in mein Zimmer. Ich hätte mich natürlich ins Wohnzimmer setzen können, wo die anderen sicher gleich zum abendlichen Fernsehen eintrudeln würden, aber mir war nicht nach Gesellschaft. So gar nicht.   Ich schmiss mich also auf mein Bett und lauschte den Geräuschen, die durch das gekippte Fenster hereindrangen. Autos, die irgendwo jenseits der Mauer vorbeifuhren, und Vögel, die im Garten sangen. Nichts Spannendes. Tobias hatte mir versprochen, mir ein kleines Radio zu besorgen, mit dem ich wenigstens ab und an Musik hören konnte. Zimmerlautstärke versteht sich. Kopfhörer waren verboten.   Während ich noch darüber nachdachte, warum das so war, vernahm ich draußen auf dem Flur Schritte. Sie kamen den Gang entlang, direkt auf meine Tür zu. Kurz davor drehten sie jedoch ab und gingen in Richtung der beiden anderen Räume weiter. Eine Tür wurde geöffnet und ich hörte genau, dass es nicht Svens war. Als sie sich kurz darauf schloss, drehte ich mich auf den Bauch und machte die Augen fest zu. Der dämliche Sack konnte mir gestohlen bleiben.     Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich einfach liegengeblieben und irgendwann eingeschlafen. Leider kannte Henning diesbezüglich keinerlei Hemmungen. Um halb zehn kam er in mein Zimmer. „Du bist ja noch angezogen. Los, hopp! Umziehen. Zähne putzen.“ „Wozu?“, grummelte ich in mein Kissen. Henning lachte. „Das erkläre ich dir nicht noch einmal. Na los, Manuel, mach hinne. In zehn Minuten ist Licht aus.“   Ich fügte mich in mein Schicksal. Es war ohnehin sinnlos, sich mit dem Bären herumzustreiten. Er saß eindeutig am längeren Hebel und ich hatte keine Lust, mir irgendwelchen Ärger einzuhandeln. Der würde Montagmorgen schon ganz allein zu mir kommen in Form von Frau Schmidt und ihrem dummen Dreisatz. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich angenommen, dass sie sich diesen Scheiß extra ausgedacht hatte, um mich zu ärgern.   Ich schrubbte meine Zähne und wollte gerade ausspucken, als auf einmal die Badtür aufging. In meinem Ärger hatte ich wohl vergessen abzuschließen. Ich wollte eben rummotzen, dass derjenige, der da in der Tür stand, doch sah, dass hier besetzt war, als mich ein Blick aus dunkel umrandeten Augen im Spiegel traf. Es war Leif. „Entschuldige“, sagte er leise. Mehr nicht. Danach drehte er sich um und verschwand wieder in seinem Zimmer. Ich stand da, die Zahnbürste im Mund, und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Wofür hatte er sich denn jetzt entschuldigt? Dafür, dass er einfach reingeplatzt war? Oder für was anderes?   Scheiße!   Ich beeilte mich, um endlich fertigzuwerden, doch nachdem Henning mir eine gute Nacht gewünscht und das Licht gelöscht hatte, lag ich hellwach in meinem Bett und starrte die Decke an. Von Müdigkeit keine Spur mehr. Stattdessen hatte ich diesen dämlichen Blödmann im Kopf. Als wenn ich mir an diesem Wochenende nicht schon genug Gedanken um ihn gemacht hätte. Nicht, dass ich nun dauernd an ihn gedacht hatte. Aber jedes Mal, wenn sein Stuhl beim Essen leer geblieben war, war es irgendwie eigenartig gewesen. Nicht einmal Tobias war da gewesen. Ich verstand ja, dass der auch mal frei haben musste, aber diese Tage waren immer etwas ätzender als die anderen.   Noch einmal drehte ich mich vom Bauch auf den Rücken und wieder zurück. Schlafen konnte ich jedoch nicht. Stattdessen hatte ich das Bedürfnis, meine Zimmertür aufzureißen, zu Leif rüberzustürmen und ihn zu fragen, wofür seine beschissene Entschuldigung gewesen war. Aber natürlich tat ich das nicht. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen und wartete darauf, dass ich endlich einschlief. Irgendwann, nach einer kleinen Unendlichkeit, hörte ich vor meiner Tür ein leises Geräusch. Erst dachte ich, dass ich mich getäuscht hatte, aber dann klopfte es noch einmal. Da draußen stand jemand. Mit einem Sprung war ich aus dem Bett. Mit der Hand an der Türklinke atmete ich erst einmal tief durch. Leif sollte nicht denken, dass ich auf ihn gewartet hatte. Hatte ich schließlich auch nicht. Ich hatte mir nur ausgemalt, ihm eine reinzuhauen. Das war etwas anderes.   Betimt langsam öffnete ich die Tür einen Spalt breit. „Was willst du?“, knurrte ich so unfreundlich ich es fertigbrachte. „Kann ich reinkommen?“, flüsterte er zurück. Ängstlich sah er sich um, ob Henning irgendwo hinter einer Ecke lauerte. Ich hatte nicht übel Lust, ihn auflaufen zu lassen, aber so wie ich ihn kannte, hätte er sicher irgendeine Ausrede parat gehabt. Am Ende bekam ich noch mit Ärger. Darauf hatte ich ja mal so gar keinen Bock. „Okay“, sagte ich und drehte mich um, um zum Bett zurückzugehen. Dort abgekommen blieb ich stehen und hörte zu, wie er leise die Tür schloss. Danach tappten seine nackten Füße auf mich zu. Im nächsten Moment stand er hinter mir. So nah, dass ich mir einbildete, seine Körperwärme fühlen zu können. „Und? Was willst du nun?“, fragte ich noch einmal ein bisschen lauter.   „Ich … ich hab gedacht, du möchtest vielleicht dein Geschenk haben.“   Diese Eröffnung überraschte mich. Er war hergekommen, um mir einen zu blasen? Sein Ernst? Mit einem Schnauben drehte ich mich um. Im nächsten Moment hatte ich eine Hand zwischen meinen Beinen. „Es tut mir leid, dass ich das Freitag nicht mehr erledigen konnte“, sagte er, während er mich durch den Stoff meiner Schlafhose hindurch massierte. Es fühlte sich gut an, aber das, was er gesagt hatte, nicht. Ich griff nach seinem Handgelenk und hielt es fest.   „Erledigen? Ist es das, was das hier für dich ist? Eine Erledigung?“   Mein Ton war absolut ätzend. Ich hörte es selbst, aber ich fand, dass ich auch alles Recht dazu hatte. Immerhin war es Leif gewesen, der das hier vorgeschlagen hatte, auch wenn ich sein Angebot nur zu gerne angenommen hatte. „So hab ich das nicht gemeint“, versuchte er einzulenken, aber ich hatte genug. Genug von ihm. Genug von dem hier. „Danke, aber ich verzichte“, sagte ich mit der kältesten und abweisendsten Stimme, die ich aufbringen konnte. „Du brauchst hier nichts mehr zu erledigen.“   Ich hörte ihn schlucken. „Ich verstehe“, sagte er kaum hörbar. Im schwachen Licht sah ich, wie er den Kopf hängen ließ. Bei dem Anblick zog sich in meiner Brust irgendwas zusammen. Gerade war ich doch noch so wütend gewesen und jetzt? Jetzt war da auf einmal ein riesiger, schwarzer Stein in meinem Magen, der mich nach unten zog.   Leif wollte sich abwenden, aber ich war schneller. Mit der gleichen Hand, mit der ich ihn eben noch weggestoßen hatte, griff ich nach ihm und hielt ihn fest. „Warte. Wenn … wenn du jetzt gehst, erwischt dich Henning noch. Das fällt doch auf, wenn hier dauernd das Licht angeht.“   Leif stand da, den Kopf weiter gesenkt, und sah mich nicht an. „Und was schlägst du vor, soll ich stattdessen machen? Mich in die Ecke stellen und schämen?“   Der Satz hätte sarkastisch sein können. Voller beißendem Spott, der mir vor Augen führte, wie lächerlich meine Reaktion war. Aber er war es nicht. Er klang irgendwie … resigniert. „Nein“, erwiderte ich und wusste selbst nicht so recht, was wir jetzt machen sollten. Normalerweise kam Leif immer nur zu einem Zweck hier rüber. Da das nicht stattfinden würde, fehlte mir irgendwie die Idee, was wir stattdessen machen konnten. „Wir … wir könnten uns setzen“, schlug ich vor und hätte mir am liebsten selbst mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Ich klang wie ein Vollidiot.   „Gern“, erwiderte Leif jedoch und setzte sich doch tatsächlich auf das äußerste Ende meines Bettes. Ich stöhnte genervt auf. „Man, nun hab dich nicht so. Ich war sauer, okay? Weil du mir heute so die kalte Schulter gezeigt hast. Und den dummen Spruch gebracht hast. Nur deswegen.“ „Okay“, sagte Leif wieder und rückte ein winziges Stück näher. „Tut mir leid, dass ich … dass ich die Pizza nicht gegessen habe. Ich … ich konnte nicht. Okay?“   „Mhm“, machte ich und zog die Füße aufs Bett. Ich wusste, was er mir damit sagen wollte, aber ich verstand es nicht. Pizza ging doch eigentlich immer.   Ich lächelte halb, als mir etwas einfiel. „Das nächste Mal kann ich es ja mal mit Bratkartoffeln probieren.“   Ich konnte es im Dunkeln nicht erkennen, aber ich bildete mir ein, dass er lächelte. Wenigstens ein bisschen. Ob ich ihn nach seinen Eltern fragen sollte? „Anstrengendes Wochenende gehabt?“   Das war immerhin ein Anfang. Einer, auf den er eingehen konnte oder nicht. Ich hörte ihn seufzen. „Ja, ziemlich. Meine Eltern sind …“ „Arschlöcher?“   Jetzt lachte er leicht. „Ja, so könnte man das sagen.“   Ich schwieg einen Augenblick und überlegte. Eigentlich hatte ich wenig Bock darauf, ihn weiter auszufragen. Er vermutlich auch nicht. Außerdem war mir nicht nach Reden. Mir war eher nach was anderem.   „Komm her“, sagte ich ein bisschen versöhnlicher und zog schon wieder an seinem Arm. Er folgte meiner Aufforderung und rückte an mich heran. Nun saßen wir nebeneinander auf dem Bett. Immer noch total bescheuert. „Los, leg dich hin“, befahl ich und wieder gehorchte Leif. Er krabbelte hinter mich aufs Bett und legte sich an die Wand mit dem Gesicht zu mir. „Umdrehen“, knurrte ich und wieder tat er, was ich verlangt hatte. Als er dann so da lag, legte ich mich zu ihm, robbte noch ein Stück an ihn heran und schmiegte mich dann ganz vorsichtig an seinen Rücken. Ich fühlte, wie er zunächst zögerte, sich jedoch dann ein Stückchen zurücksinken ließ. Kurzentschlossen parkte ich meinen Arm auf seiner Hüfte und wollte meine Hand gerade auf seinen Bauch senken, als mir einfiel, dass er das manchmal nicht mochte. „Darf ich?“, fragte ich deswegen vorsichtig. Er nickte leicht und ich senkte meine Handfläche auf den Stoff des T-Shirts, das er zur Nacht trug. Dann zog ich ihn noch einmal näher, bis wirklich keinerlei Abstand mehr zwischen uns war. „Besser“, murmelte ich und bettete meine Kopf neben ihm auf dem Kissen. Ich wusste, wie es sich anfühlte, so gehalten zu werden. Bambi hatte das manchmal gemacht. Es war … ungewohnt gewesen. Jemand in meinem Rücken zu haben, der nicht die Absicht hatte, früher oder später ein Messer dort hineinzurammen. Ob es sich für Leif auch so anfühlte, wenn ich das jetzt tat?   Meine Nase stieß an seinen Hals und ohne darüber nachzudenken, fuhr ich damit sachte über die kurz geschorenen Haare in seinem Nacken. Es kitzelte ein bisschen und ich wiederholte es. Und dann, dann streiften meine Lippen auf einmal seine Haut. An einer Stelle, an der sie es noch nie getan hatten. Einfach, weil sich mein Mund noch nie oberhalb seiner Gürtellinie befunden hatte.   Ich spürte, wie er unter mir kurz erschauerte. Noch einmal platzierte ich einen winzigen Kuss auf seinem Nackenwirbel, bevor ich den nächsten ein Stück weiter in Richtung Schulter setzte. Und dann noch einen, sodass ich irgendwann mein Gesicht in seine Halsbeuge drücken konnte, die er mir mehr als willig darbot. Ich hörte, wie Leif leise seufzte. Ein Geräusch, das mir direkt zwischen die Beine fuhr. Trotzdem beschränkte ich mich darauf, den schmalen Streifen Haut zu küssen, der oben aus seinem T-Shirt herausragte. „Es war doof ohne dich“, murmelte ich und kam mir dabei selten bescheuert vor. Leif gab ein kleines, amüsiertes Schnaufen von sich. „Hast du mich etwa vermisst?“, fragte er. Ich antwortete nicht darauf. Was sollte ich auch sagen? Natürlich hatte ich ihn nicht vermisst. Mir war nur langweilig gewesen und die anderen noch ein bisschen blöder als sonst. Zumal, wenn man niemanden hatte, mit dem man über sie lästern konnte. Und ohne Tobias.   „Nee“, knurrte ich schließlich und ruckelte mich ein bisschen auf dem Bett zurecht, damit meine beginnende Latte nicht allzu sehr gegen seinen Hintern presste. „Mir war nur langweilig.“ Die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit. „Okay“, sagte Leif schon wieder. Der konnte einen aber auch echt zur Weißglut bringen. „Kannst du nicht mal was anderes sagen?“, murrte ich und erntete ein Lachen. Im nächsten Augenblick drehte er sich in meinem Arm, sodass wir uns Nase an Nase gegenüberlagen.   „Was möchtest du denn, dass ich sage?“, fragte er mit einem leichten Grinsen in der Stimme. „Gar nichts“, brummte ich. „Am besten hältst du einfach die Klappe.“   Auch dieses Mal tat er, was ich ihm gesagt hatte. Allerdings starrte er mich jetzt die ganze Zeit an. Was ziemlich dämlich war, wenn man es genau nahm. „Drehst du dich wieder um?“, fragte ich deswegen, als es mir zu dumm wurde. „Okay“, kam von ihm, aber ich kommentierte es nicht noch einmal. Ich rückte nur wieder an ihn heran und vergrub meine Nase in seinem Haaransatz. Er roch anders als sonst. Wahrscheinlich hatte er zu Hause ein anderes Shampoo benutzt. „Du musst morgen duschen“, murrte ich. Er versteifte sich, wollte von mir weg, aber ich hielt ihn fest und drückte mich noch näher an ihn. „Nur weil du anders riechst. Gar nicht wie du“, erklärte ich und fuhr wieder mit der Nase seinen Hals entlang. Dass ich ihn dabei schon fast automatisch wieder küsste, fiel mir gar nicht auf. Nicht, bis er sich plötzlich erneut umdrehte. Dieses Mal sagte er nichts. Er legte lediglich die Hand in meinen Nacken, zog meinen Kopf zu sich heran und drückte seine Lippen auf meine.   Ich war wie erstarrt. Nicht, dass ich nicht schon mit Jungs rumgeknutscht hatte. Natürlich hatte ich das. Aber nie mit Leif. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen und mein Mund wurde trocken. Ich schluckte. „Was ist?“, flüsterte er, als ich nicht reagierte. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht.   „Nichts“, versicherte ich schnell. „Absolut gar nichts.“   Und dann küsste ich ihn. Ich küsste ihn, als hätte ich nie was anderes gemacht. Mit Zähnen und Zunge und allem, was dazu gehörte. Sein Mund war weich, seine Lippen ein bisschen rau, aber das störte mich nicht. Ich mochte es. Ich mochte, wie sich unsere Zungen immer wieder berührten. Wie unsere Lippen hungrig nach dem anderen schnappten. Wie sie sich neckten und liebkosten, nur um im nächsten Moment wie wild übereinander herzufallen. Wie sehr mich das anmachte, merkte ich erst, als Leif ein Knie zwischen meine Beine schob und mit ein wenig Nachdruck gegen meinen harten Schwanz presste. Er unterbrach den Kuss mit einem Grinsen. „Doch noch dein Geschenk?“, fragte er, aber ich schüttelte den Kopf. „Fass mich einfach nur an“, verlangte ich und merkte, wie er gleich darauf seine Hand in meine Hose schob. Seine Finger schmiegten sich gegen meine erhitzte Haut. Es tat so gut, sie zu spüren. „Mehr“, murmelte ich in den Kuss und Leif tat mir den Gefallen. Er holte mir nach allen Regeln der Kunst einen runter, während wir uns die ganze Zeit weiter küssten. Bis auf den letzten Schluss, als ich mit einem Keuchen in seinen Armen kam. Als sich seine Lippen danach gegen meine Stirn legten, hob ich das Kinn und verlangte so einen erneuten Kuss. Einen, der dieses Mal sehr viel zärtlicher ausfiel. Ich hörte Leif schlucken. Er zog die Hand aus meiner Hose und wischte die restliche Wichse noch daran ab. Wieder mal ein Fall für die Wäsche. Wenigstens nicht gleich das ganze Bett. „Ich … ich sollte vielleicht langsam mal wieder gehen“, sagte er und seine Stimme klang rau dabei.   Ich grinste schläfrig. „Und was ist hiermit?“, wollte ich wissen und strich über die Beule in seiner Hose. Er atmete tief ein.   „Dafür ist es schon ein bisschen spät, meinst du nicht? Morgen ist Schule.“   Wollte er jetzt wirklich einen auf Musterknabe machen? Nicht mit mir. „Dann komm her“, kommandierte ich und zog ihn in meinen Arm. Sein Körper drückte sich gegen meinen. Alles an ihm war fest und sehnig. Ich konnte es unter meinen Händen spüren, die langsam über seinen Rücken strichen. Nur sein Mund. Der war so unendlich weich. Ich wollte ihn nochmal küssen, aber ich merkte, wie die Müdigkeit, die ich vorhin so herbei gesehnt hatte, mit großen Sprüngen näherkam. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich einfach einpennen.   „Vielleicht solltest du doch gehen“, murmelte ich leise in seine Haare. Sie rochen immer noch komisch. „Ich bin gleich weg.“   „Okay.“   Er wand sich aus meinem Arm und hauchte mir einen letzten Kuss auf die Lippen. „Schlaf gut“, sagte er, bevor er endgültig aus dem Bett kletterte. „Du auch“, erwiderte ich schon halb benebelt. Ich bekam noch mit, wie er sich leise aus dem Zimmer schlich und die Tür hinter sich zuzog. Als er weg war, nahm, ich mir mein Kissen, das nach diesem falschen Leif-Shampoo roch, knuffte es mir zurecht, und schlief dann mit dem Ding im Arm binnen weniger Sekunden ein. Sex war eben immer noch das beste Mittel gegen Schlaflosigkeit. Dagegen kam man einfach nicht an.   Kapitel 9: Kopflos ------------------ Montagmorgen kam und mit ihm zwei unangenehme Feststellungen. Zum einen würde ich duschen müssen, um gewisse Körperregionen wieder vollständig zu entkleben. Zum anderen hatte ich dazu keine Zeit, weil ich verschlafen hatte.   „Fuck!“   Ich sprang aus dem Bett und hatte gerade so die Badtür erreicht, als Henning schon im Flur auftauchte und mich aufhielt. „Wo willst du denn hin? Und warum bist du nicht angezogen? Es ist längst Zeit zum Frühstück.“   „Weiß nicht“, murmelte ich und fuhr mir mit der Hand durch die völlig zerwuschelten Haare. „Bin irgendwie wieder eingepennt. Kann ich nicht noch schnell ins Bad?“   Henning schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Teilnahme an den Mahlzeiten ist Pflicht, das weißt du. Zieh dir halt eben was über und beeil dich dann nach dem Frühstück. Was für einen Dienst hast du?“ „Badezimmer.“ „Mhm. Dann wäre heute Morgen eigentlich Putzen angesagt. Du weißt schon, die Dusche abziehen und so weiter. Hast du einen Vorschlag, wie du das alles noch vor der Schule schaffen willst?“   Ich zog die Nase kraus und versuchte, möglichst hilflos auszusehen. „Kann ich das heute Morgen nicht mal ausfallen lassen?“ „Dienst ist Dienst.“   Ich seufzte. „Wenn ich mich doll beeile? Bitte, Henning. Ich … ich kann so nicht in die Schule.“   Oder zum Frühstück.   Jetzt war es Henning, der seufzte. „Du machst es einem nicht leicht, weißt du das?“   Ich deutete ein Lächeln an. „Fünf Minuten?“   Er knurrte.   „Na schön. Fünf Minuten. Aber erst nach dem Frühstück. Und wenn du nicht fertig bist, musst du nackt in die Schule gehen. Ist mir dann egal.“   Ich lächelte ihm noch einmal zu. „Bist ein Schatz.“   Er zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts und auch ich drehte mich lieber schnell um und sah zu, das sich wenigstens noch ein Shirt überwarf, bevor ich mich zum Frühstückstisch begab. Dort saßen die anderen schon bereit. Als ich dazukam, hob Sven den Kopf. „Oh, ist das die neueste Mode? Schlabberlook frisch aus der Gosse?“   Ich zog die Oberlippe nach oben, um ihm ein Zähnefletschen anzudeuten, bevor ich mich neben Leif auf meinen Stuhl fallen ließ. Der saß bereits mit seinem üblichen Toast da. Ohne Belag, nur mit einem Hauch Butter. „Hey“, warf ich ihm rüber zusammen mit einem kurzen Blick. Er grüßte zurück, ohne eine Miene zu verziehen, bevor er fortfuhr, winzige Stückchen von seinem Toast abzubeißen. Als er merkte, dass ich ihn immer noch beobachtete, meinte er leise: „Ist schon der zweite, okay? Kein Grund zur Panik.“   Natürlich hatte ich mir nicht wirklich Sorgen gemacht, aber dass er das jetzt sagte, fühlte sich trotzdem irgendwie gut an. Ein bisschen so wie gestern.   Mit sehr viel mehr Enthusiasmus als gerade noch, langte ich selber zu und vernichtete meine übliche Portion in maximal der halben Zeit. Als ich fertig war, sah ich bittend zu Henning rüber. „Kann ich schon aufstehen? Ich soll mich doch beeilen.“   Ich sah, dass Henning nicht gerade begeistert war. Es galt die Regel, dass sitzengeblieben wurde, bis alle fertig waren. Oder wenigstens alle außer Leif. Ein vorzeitiges Aufstehen stellte somit einen erneuten Regelbruch dar. Etwas, von dem Henning anscheinend beschlossen hatte, es nicht durchgehen zu lassen. „Nein. Du wartest, bis die Mahlzeit beendet ist.“   Natürlich hatte das genau die gegenteilige Wirkung von dem, was ich mir erhofft hatte. Plötzlich schien es Sven überhaupt nicht mehr eilig zu haben. Er griff noch einmal zu und beschmierte sich genüsslich ein weiteres Brötchen. Auch die anderen hatten auf einmal alle Zeit der Welt. Ich hingegen saß wie auf heißen Kohlen. Im Notfall würde das Duschen halt ausfallen müssen, aber mit wäre mir doch lieber gewesen.   Zum meinem Glück schien auch Henning die Schikane zu bemerken. Nach endlosen Minuten, in denen ich auf meinem Stuhl herumzappelte, sah er auf die Uhr und meinte gönnerhaft, dass ich vielleicht doch schon mal gehen könnte, um meinen Dienst zu verrichten. Ich sprang sofort auf und war aus der Tür, bevor die anderen protestieren konnten. Dass ich außerdem nochmal kurz unter das heiße Wasser springen wollte, mussten sie ja nicht wissen. Ich beeilte mich, um wirklich alles noch hinzukriegen. Lediglich die Putzaktion der Dusche fiel vielleicht ein bisschen weniger gründlich aus als gewollt.   Hole ich heute Mittag nach, nahm ich mir vor und wollte eben nur mit einem Handtuch bekleidet in mein Zimmer huschen, als Leif am Ende des Flurs auftauchte. Er warf mir einen amüsierten Blick zu, während er auf mich zukam und dann aber an mir vorbeiging, ohne etwas zu sagen. Ich blieb stehen und sah ihm nach. Eigentlich hatte ich so gar keine Zeit mehr. Andererseits war das verräterische Klicken seiner Tür ausgeblieben. Er hatte sie also mit Absicht offengelassen.   Ach scheiß drauf!   Sollte mich Henning doch ankacken, weil ich zu spät war. Wäre schließlich das erste Mal diese Woche.   Mit einem Grinsen ging ich zu Leifs Tür und schob sie langsam auf. Er saß an seinem Schreibtisch; vor ihm das Buch, in dem er letztes Mal schon geschrieben hatte. Als ich um die Ecke kam, blickte er auf. „Bin gleich fertig“, sagte er und beendete noch eben seinen Eintrag, bevor er den Stift weglegte und das Buch schloss. Danach drehte er sich zu mir um. Erneut maß er mich mit einem Blick, in dem ein bisschen mehr mitschwang als vorsichtiges Interesse. Ich reckte mich, damit er mehr zu gucken hatte. Ein Wassertropfen fiel durch die Bewegung aus meinen Haaren und rann meinen Brustkorb hinab. Wie hypnotisiert folgte Leif ihn mit den Augen. Unbewusst strich er sich mit der Zunge über die Lippen, bevor er mir wieder in die Augen sah. Etwas, das ihn sicherlich Überwindung kostete anhand meines aufreizenden Aufzugs. Ich wackelte mit den Augenbrauen. „Noch schnell ein Quickie vor der ersten Stunde.“ „Quatschkopf“, erwiderte er grinsend. Ich grinste zurück. Anschließend hätte ich wohl wieder gehen sollen. Mich anziehen und so. Aber ich wollte nicht. Also sah ich mich in seinem Zimmer um. Die Bilder an den Wänden waren tatsächlich Fotos. Ein Typ tauchte mehr als einmal darauf auf. Ich war mir nicht sicher, ob die Posen, in denen er mit Leif zusammen zu sehen war, eher auf „Bro“ oder auf „Lover“ schließen ließen. Während ich noch überlegte, wie ich das wohl rausbekommen könnte, stand Leif auf. „Du … du solltest dich vielleicht fertigmachen. Wir müssen los.“   Ein wenig unschlüssig stand er mit dem Buch in der Hand da. Er sah mich kurz an, dann drehte er sich zum Bett und schob es wieder an seinen Platz unter der Matratze. Ganz und gar öffentlich. Ich beobachtete ihn dabei, wie er sich wieder aufrichtete. Seine Hände öffneten und schlossen sich, bevor er sich gegen den Schreibtisch lehnte und sie dort hinter seinem Rücken verbarg. Noch einmal sah ich zu seinem Bett.   „Ist das ein Tagebuch?“, hörte ich mich fragen. Leif schüttelte den Kopf. Dann lächelte er schmal. „Na ja, eigentlich schon so ein bisschen. Ich … ich schreibe auf, was ich esse.“   Ich brauchte einen Augenblick, um die Information zu verarbeiten. Anschließend runzelte ich die Stirn. „Wozu ist das gut?“   Leif senkte den Blick und presste die Lippen zusammen. Ich war kurz davor ihm zu sagen, dass er es mir nicht verraten musste, als er schließlich doch antwortete. „Wenn ich es nicht tue, muss ich die ganze Zeit daran denken. Ich wiederhole es wieder und wieder in meinem Kopf, damit ich nichts vergesse. Das ist … lästig. Wenn ich es aufschreibe, kann ich mich wieder besser auf andere Sachen konzentrieren. Ich kann es dann besser … kontrollieren.“   Er hob leicht den Blick und sah mich von unten herauf an.   „Ziemlich schräg, oder?“   Ich ließ geräuschvoll die Luft entweichen.   „Na ja, schon ein bisschen. Ich versteh nicht ganz, warum das so wichtig ist. Du bist doch nicht dick oder so.“   Leif zuckte mit den Achseln.   „Ich weiß. Es ist nur …“   Was er sagen wollte, ging in einem lauten Klopfen unter, dass uns beide zusammenschrecken ließ. „Leif? Los jetzt! In zwei Minuten geht es zur Schule. Bisschen zackig, wenn ich bitten darf.“   Hennings schwere Schritte entfernten sich, um an Svens Tür und das gleiche Spiel abzuziehen. Danach würde er zu meiner Tür gehen. Meiner Tür, die nur angelehnt war.   „Scheiße! Wenn er sieht, dass ich nicht in meinem Zimmer bin, wird er mich suchen kommen.“   Leif reagierte sofort. Er schnappte sich seine Schultasche, lief an mir vorbei und auf seine Tür zu. „Versteckt dich“, zischte er.   Sollte das ein Scherz sein? Hier gab es nichts, um mich zu verstecken. Oder sollte ich etwa in den Schrank hüpfen?   Als Leif sah, dass ich nicht reagierte, griff er nach meinem Arm und bugsierte mich hinter die Tür. Danach öffnete er sie und verließ den Raum mit einem lauten „Ich komme ja“. Als er die Tür schloss, vernahm ich seine Stimme, die Henning geschickt in ein Gespräch verwickelte, während er ihn immer weiter von meiner Tür weglockte. Erst, als ich hörte, dass sie bereits das Treppenhaus erreicht hatten, wagte ich wieder zu atmen.   Ich wollte mich gerade auf den Weg nach drüben machen, als mein Blick an Leifs Bett hängenblieb. Das Bett, unter dessen Matratze sein Tagebuch lag.   Bevor ich es mir recht überlegt hatte, hatte ich mir das Teil schon gegriffen und flüchtete damit über den Flur. Ich warf mich in Windeseile in meine Klamotten und verstaute das Buch in meinem Rucksack. Dann schlüpfte ich noch schnell in meine Schuhe und sah zu, dass ich nach unten kam. Am ersten Treppenabsatz begegnete ich Henning. „Du bist zu spät“, brummte er und wirkte dabei wie ein Bär, der eine Fliege in seinem Honigtopf gefunden hatte. „Ja, sorry, tut mir leid. Ich hatte meine Hausaufgaben oben vergessen“, log ich ohne mit der Wimper zu zucken. Henning nickte nur und ich machte, dass ich an ihm vorbei zu den anderen kam. „Na endlich“, maulte Sven. „Standest du zu lange vor dem Spiegel?“   „Nee, ging nicht. Da war ein dicker Sprung drin. Hat deinen Anblick wohl nicht verkraftet.“   Feixend wich ich dem Tritt aus, den Sven in meine Richtung abgab, und hörte zu, wie er dafür einen Rüffel von Henning kassierte. Danach trottete ich brav mit den anderen hinüber zum Hauptgebäude. Leif sah ich dabei nicht einmal an und versuchte auch sonst nicht daran zu denken, dass ich gerade sein Tagebuch geklaut hatte. Ich wusste, dass er es spätestens heute Mittag vermissen würde. Und er würde wissen, wer es hatte.   Was hab ich mir dabei nur gedacht?   Die erste Stunde begann. Frau Schmidt erging sich wieder in ihren dämlichen Mathethemen. Meine Finger trommelten auf der Tischplatte herum, während sie erklärte, was sie schon die drei letzten Stunden bis zum Erbrechen durchgekaut hatte. Meine Gedanken kreisten derweil um das Buch. Ich hatte keine Ahnung, was ich darin zu finden erwartete. Vielleicht ein paar Antworten. Antworten, auf Fragen, die ich niemals gestellt hatte. Oder etwas anderes. Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich Jason gleich eine reinhauen würde, wenn er noch einmal eine so selten dämliche Frage stellte, die Frau Schmidt schon gefühlte acht Mal beantwortet hatte.   Als endlich Stillarbeit angesagt war, und Frau Schmidt sich von ihrem Stuhl zu den einzelnen Plätzen bequemte, griff ich mir das Buch aus dem Rucksack. Es war braun und aus Leder, wenn mich nicht alles täuschte. Die Ecken waren bereits abgestoßen und der Einband hatte mehrere Kratzer. Und einen Fleck. Gerade als ich mich fragte, was ihn wohl verursacht hatte, hörte ich vor mir ein Räuspern. „Und, Manuel, kommst du mit den Aufgaben zurecht?“   Mein Kopf ruckte nach oben und ich sah direkt in Frau Schmidts Augen, die mich aufmerksam musterten. Sie deutete mit dem Kopf auf das Tagebuch. „Ich nehme nicht an, dass das da dein Mathebuch ist.“   Ich schüttelte den Kopf.   „Dann wäre ich dir dankbar, wenn du es jetzt beiseite legen und dich deinen Aufgaben zuwenden könntest.“   Mit zusammengebissenen Zähnen schob ich das Buch beiseite und griff stattdessen nach dem Aufgabenzettel, den Frau Schmidt ausgeteilt hatte. Schon die erste Aufgabe ließ mich stöhnen.   Um eine Baugrube auszuheben, brauchen 4 Bagger 14 Tage. Wie lange würden 7 Bagger für die gleiche Grube brauchen? „Das ist doch Schwachsinn“, murmelte ich. „Niemand würde 7 Bagger anmieten. Das ist doch viel zu teuer. Außerdem haben die da doch gar keinen Platz.“   Frau Schmidt, die das offenbar gehört hatte, schmunzelte. „Da hast du einen wichtigen Punkt gefunden. Sehr umsichtig von dir. Aber würdest du es bitte trotzdem ausrechnen?“   Ich schickte ihr einen Blick unter gerunzelten Augenbrauen hervor, ehe ich mich daran machte, die dumme Baggeraufgabe auszurechnen. Danach mussten Schweinehälften zerteilt werden. Während ich die ersten Zahlen hinschrieb, stellte ich mir vor, wie es wohl war, in so einer Fabrik zu arbeiten. Tag für Tag tote Tiere in Stücke zu schneiden war sicherlich nicht gerade ein Traumjob. Ob ich später auch mal in so was enden würde? An irgendeinem Fließband, wo ich tagein, tagaus wieder und wieder die gleichen Arbeitsschritte wiederholen musste. Wie eine Maschine. Ich würde wohl durchdrehen, wenn es so wäre. „Manuel. Nicht träumen.“   Die anderen kicherten und selbst Jason warf mir einen amüsierten Blick zu, bevor er sich wieder über seinen Zettel beugte und mit großen, runden Buchstaben seine Lösung hinschrieb. Noch so was, das mir auf den Geist ging. Im ganzen Satz antworten. Was für eine Scheiße! Das hier war immerhin Mathe und nicht Deutsch. Ich klierte irgendeine Antwort hin. Keine Ahnung, ob es die richtige war. Ich wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Stattdessen nahm ich mir die nächste Aufgabe vor. Irgendwas von Pumpen und Pools und wie lange es wohl dauerte, bis die gefüllt waren. Als wenn ich jemals auch nur in die Nähe eines Pools gekommen wäre.   Ob Leifs Eltern einen Pool haben?   Aus den Andeutungen der anderen war herauszuhören gewesen, dass seine Eltern Kohle hatten. Sie bezahlten wohl auch den Aufenthalt hier. Warum, wusste ich nicht.   Wie von selbst glitt mein Blick wieder zu dem Buch, das da so unschuldig am Rand meines Tisches lag. Halb verborgen unter dem Arbeitsblatt. Ob ich wohl …   Ein schneller Check verriet mir, dass Frau Schmidt gerade beschäftigt war. Einer der jüngeren Schüler hatte mit dem Stift Löcher in sein Arbeitsblatt gebohrt, statt die darauf stehenden Aufgaben zu lösen. Das würde bestimmt eine Weile dauern, denn er zeigte sich nicht gerade einsichtig.   Ohne aufzusehen schob ich meine Hand zu dem Buch und zog es langsam zu mir heran. Ich öffnete es an irgendeiner Stelle und schob dann das Arbeitsblatt darüber. Dann lehnte ich mich zurück und schielte unter das Papier. Die Seiten des Buches waren in Wochentage eingeteilt. Immer eine Doppelseite für eine Woche. Vier links, drei rechts. Darunter noch ein Feld für besondere Ereignisse und übergreifende Notizen. Dieses Feld war allerdings leer geblieben. Im Rest stand eine erkleckliche Liste. Da war zum Beispiel der Mittwoch. Ein Apfel und eine Scheibe Brot. Mehr hatte er an diesem Tag nicht gegessen? Und am Donnerstag einen Salat. Ohne Dressing. War das sein fucking Ernst? „Manuel?“   Ich hob den Kopf. Schon wieder Frau Schmidt. Dieses Mal sah sie so gar nicht erfreut aus. „Ich hatte dich gebeten, das wegzulegen. Da du das offenbar nicht kannst, werde ich es wohl in Verwahrung nehmen müssen.“   Sie streckte die Hand nach dem Buch aus. Unwillkürlich schob ich meine schützend darüber. „Ich lege es weg. Versprochen!“, gelobte ich in den höchsten Tönen, aber mein Umstimmungsversuch scheiterte. Frau Schmidt blieb unerbittlich. „Du kannst ohnehin während des Unterrichts nicht hineinsehen. Es macht also keinen Unterschied, ob es bei dir oder in meinem Pult liegt.“ „Aber …“ „Und wenn es dort liegt, bist du zumindest nicht weiter in Versuchung, dich davon ablenken zu lassen.“ „Aber …“ „Manuel, gib mir jetzt das Buch!“   Meine Finger krampften sich um den Ledereinband.   „Sie können mir das nicht wegnehmen. Es gehört mir.“   So in der Art zumindest.   „Und deswegen wirst du es auch wiederbekommen, wenn der Schultag vorbei ist. Ich werde Herrn Zimmermann darüber informieren. Ansonsten würde ich es zu schätzen wissen, wenn du es in Zukunft einfach zu Hause lassen würdest. Das macht weniger Probleme für uns beide.“   Ich biss mir auf die Zunge, um sie nicht darauf hinzuweisen, dass das Heim ja wohl kaum mein „Zuhause“ war, aber andererseits hatte ich ja nichts, was sich sonst so bezeichnen ließ. Die Wohnung meiner Eltern war schon lange kein Zuhause mehr für mich.   „Bitte, Frau Schmidt. Ich packe es weg. In meine Tasche. Ich schwöre es.“   Ich versuchte es mit einem Hundeblick. Wenn sie mir das Buch wegnahm, würde ich gar nicht mehr darin lesen können. Nicht mal in der Pause. Wobei wir da ja auch regelmäßig irgendwelche Beschäftigungen bekamen. Puzzle oder Ausmalbilder. Wie im Kindergarten. Es war wirklich ein Witz.   „Ich glaube nicht, dass ich dir da vertrauen kann“, erwiderte sie. „Und jetzt gib mir bitte das Buch. Wir wollen weitermachen.“   Ich schluckte. Entweder ich gab meinen Fund jetzt her oder es würde noch größere Kreise ziehen als ohnehin schon. Schlimm genug, dass alle andere aus der Klasse mich anstarrten wie einen Tiger im Käfig. Würde er den Wärter anfallen, der ihm gerade das stibitzte halbe Hähnchen wieder wegnehmen wollte, oder nicht? Andererseits: Wie sah das aus, wenn ich jetzt klein beigab? Wenn Jason das herumerzählte …   Langsam hob ich das Kinn.   „Wenn Sie es haben wollen, kaufen Sie sich ein eigenes.“ Frau Schmidt sah mich noch einen Augenblick lang an, bevor sie tief einatmete. „Wie du willst. Wir können das auch anders regeln.“   Sie griff nach ihrem Piepser. Damit konnte sie jederzeit die Erzieher herbeirufen. Henning würde kommen oder vielleicht auch Maik. Das Buch würde in ihren Besitz übergehen und dann … dann hatte ich endgültig verkackt. „Okay, okay. Ich hab verstanden. Nehmen Sie es halt.“   Ich schmiss ihr das Buch hin, sodass es mit einem Klatschen auf dem Tisch landete, bis zur Kante schlitterte und von dort zu Boden segelte. Ich hörte, wie es landete. Das flatternde Geräusch der Seiten. Ob ich welche verknickt hatte? „Warum denn nicht gleich so?“, seufzte Frau Schmidt. Sie bückte sich mit einem langen Blick auf mich nach dem Buch, hob es auf und trug es zu ihrem Tisch. In dessen Schublade war schon alles Mögliche gelandet. Flummis, Spielkarten, Taschenlampen, Aufziehtiere. Einmal sogar ein Handy, das einer aus der anderen Gruppe dämlicherweise hierher mitgebracht hatte. Er war natürlich erwischt worden. Ebenso wie ich gerade. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, aber es half nun nichts mehr. Das Buch lag sicher verschlossen in Frau Schmidts Pult und ich würde bis heute Mittag warten müssen, bis ich es wiederbekam. Der Vormittag schlich nur so vor sich hin. Dreisatz, Zeitformen und das bekloppte Sonnensystem. Als wenn mich interessiert hätte, wie irgendwelche Gas- oder Gesteinsklumpen da oben hießen und auf welchen dummen Gott diese Benennung zurückging. Und dieser dämliche Merksatz konnte mich auch mal kreuzweise.   Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel.   So eine Scheiße! Als wenn mein Erzeuger sich auch nur ein einziges Mal die Mühe gemacht hätte, mir irgendwas zu erklären. Für ihn war ich doch nur gut gewesen, um ihm ein frisches Bier aus dem Kühlschrank zu holen oder seinen Scheiß wegzuräumen, wenn ich irgendwo meine Hausaufgaben machen wollte. Im Leben hätte er sich nicht mit mir hingesetzt und hätte sich die Sterne angeguckt. Nicht mal, wenn er sternhagelvoll gewesen wäre.   Endlich fand das Grauen des Schultags ein Ende und ich wartete mit unruhig wippendem Knie darauf, dass die anderen sich endlich verzogen, damit ich Herrn Zimmermann um die Rückgabe des Buches bitten konnte. Als endlich alle verschwunden waren, sah er mich verwundert an. „Ist noch was, Manuel?“ „Ja, ich … ich hätte gerne das Buch wieder, dass mir Frau Schmidt heute Morgen abgenommen hat.“ „Ein Buch? Was denn für ein Buch?“   Ich stöhnte innerlich. Das ging ihn ja nun kaum etwas an. Ich hütete mich jedoch, darüber jetzt einen Streit anzufangen. Wenn ich mich nicht beeilte, würde Leif womöglich …   „Manuel?“   Scheiße!   Leif stand an der Tür und sah zwischen mir und Herrn Zimmermann hin und her.   „Habt ihr noch was zu besprechen? Dann geh ich schon mal vor.“   Ja, bitte!   „Nein, nein. Ich will Manuel nur eben sein Buch zurückgeben. Warte einen Augenblick.“   Fuck, fuck, FUCK!   Mit klopfendem Herzen sah ich zu, wie die Schreibtischschublade geöffnet wurde, Herr Zimmermann hineingriff und dann … dann hatte ich nur noch Augen für Leif. Leif, der bleich wie die weiße Wand wurde, als er das Buch in den Händen meines Lehrers erkannte. Leif, dessen Kopf so heftig zu mir herumruckte, dass ich Angst hatte, dass er abbrechen würde. Leif, in dessen Blick Unglaube und Panik stand. Blanke Panik.   „Danke, Herr Zimmermann“, sagte ich schnell, griff nach dem Buch und drehte mich um. Nur weg von hier. Nur weg. „Leif, kommst du? Bitte?“   Ich konnte das Flehen in meiner Stimme selber hören. Es war ziemlich erbärmlich, aber nicht so schlimm wie der tonnenschwere, schleimige Klumpen, der schon wieder meinen Magen ausfüllte. Wenn ich ihn ausgekotzt hätte, hätte er vermutlich die Größe eines Fußballs gehabt. Aber ich konnte ihn nicht loswerden. Ich konnte nur hoffen, dass …   Leif kam. Er sah mich nicht an. Ich versuchte mit ihm zu reden, aber er ging einfach an mir vorbei. So schnell, dass ich nicht reagieren konnte. Am Ende des Gangs stand schon Maik und trieb uns zur Eile an. Ich wünschte, es wäre Tobias gewesen. Den hätte ich fragen können, was ich tun sollte. Aber Maik? Der nahm mich nie so richtig ernst.   „Leif! Leif, warte!“, rief ich halblaut, aber Leif hörte nicht auf mich. Er stürmte weiter und sogar an den anderen vorbei, ohne sich noch einmal umzusehen oder sich um Maiks Protest zu kümmern. Zum Glück rannte er direkt auf das Wohnheim zu, wo er ungeduldig wartete, bis wir endlich auftauchten. Maik versuchte, ihn zur Rede zu stellen, aber er antwortete nicht. Er stürzte lediglich die Treppe hinauf. Gleich darauf konnte man eine Tür zuschlagen hören. Da die Zimmer alle abgeschlossen waren, konnte es nur die Badtür sein. Maik knurrte unwirsch. „Los, in eure Zimmer und dann runter zum Essen. Thomas wartet schon auf euch. Ich kümmere mich um Leif.“   Mit einem Arsch voll schlechtem Gewissen stieg ich hinter Maik die Treppe hinauf. Ich wusste, dass ich etwas sagen musste, damit Leif keinen Ärger bekam. Immerhin war er nur meinetwegen so durchgedreht. Gleichzeitig konnte ich Maik nicht sagen, was wirklich der Grund war. Er hätte das Buch womöglich sehen oder gar darin lesen wollen. Das konnte ich nicht zulassen. Und schon gar nicht durften die anderen irgendwie Wind davon bekommen. Dann konnten wir uns gleich einsargen lassen. Aber wie, wie sollte ich das wieder geradebiegen? Wie?   „Leif, mach sofort die Tür auf. Oder ich mache sie auf. Du hast die Wahl.“   Maik klopfte noch einmal höchst energisch an die Badtür. Sven war gerade in seinem Zimmer verschwunden und die anderen drei auf der anderen Seite des Treppenhauses. Das war womöglich meine einzige Chance. „Maik, ich … kann ich es mal versuchen?“   Maik sah mich erstaunt an.   „Du? Hast du hiermit was zu tun?“   Ich zuckte mit den Schultern. Die Tatsache, dass er mich gleich verdächtigte, schmeckte mir nicht. Andererseits war niemandem damit gedient, wenn ich es jetzt abstritt. Ich hatte doch keine Zeit.   „Vielleicht. Ich … ich muss da was mit Leif klären. Alleine. Geht das?“   Maik sah nicht besonders überzeugt aus.   „Ich kann euch in so einem Fall nicht allein lassen. Wenn ihr euch was antut …“ „Werden wir nicht. Versprochen.“   Er seufzte. „Na schön. Versuch es meinetwegen. Aber wenn das nicht klappt, hole ich ihn da raus.“ „Okay.“   Ich ließ mich von Maik auf mein Zimmer bringen und wartete ab, bis der Lärm im Flur verklungen war. Dann schlich ich mich zur Badezimmertür und klopfte leise an. „Leif? Kannst du mich hören?“ „Geh weg!“   Er klang trotzig und wütend. Richtig wütend. Allerdings hatte ich etwas, dass ihn wohl dazu bringen würde, die Tür aufzuschließen. „Und dein Buch? Willst du es nicht wiederhaben?“   Ich hörte Geräusche auf der anderen Seite der Tür. Der Schlüssel wurde herum gedreht und die Tür einen Spalt breit geöffnet. „Gib es her!“, schnauzte Leif und ich hielt das Buch so, als wollte ich es ihm geben. Als sich sein Blick darauf senkte, sprang ich jedoch vor, drückte die Tür auf und war im Raum, bevor er wusste, wie ihm geschah. Als ich drinnen war, stürzte Leif sich auf mich. Ich bekam einen Schlag, dann wurde mir das Buch entrissen. „Du bist echt das Letzte“, fauchte er dabei und drückte das Buch gegen seine Brust. Seine Unterlippe zitterte und sein Atem ging stoßweise. „Es … es tut mir leid. Ich … ich hab nicht nachgedacht.“   Er sah mich an. In seinen Augen stand tiefe Enttäuschung. „Du hattest kein Recht, es dir einfach zu nehmen“, flüsterte er, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ. Ich hörte, wie er zuerst in sein Zimmer ging und dann durch den Flur und die Treppe hinablief. Irgendwann brachte ich es fertig, ihm zu folgen.   Als ich nach unten in die Küche kam, saß er bereits auf seinem Platz und hatte sich Nudeln aufgetan. Eine winzige Portion mit einem Hauch Soße. Ich wusste, dass es meine Schuld war, dass er so wenig aß. Ich wusste es einfach.   Weil du eben doch ein Arschloch bist, höhnte es in meinem Kopf, während ich mir selbst von den Nudeln nahm und ordentlich Soße draufklatschte. Sollte ich fett werden, würde es jetzt wohl eh niemanden mehr interessieren. Am allerwenigsten Leif.   Kapitel 10: Ein Schritt zu weit ------------------------------- Ich scheuerte gerade mit einem schon ziemlich abgenutzten Putzschwamm am Wasserhahn des Badezimmers herum, als es hinter mir klopfte. Maik stand in der Tür und sah mich ernst an.   „Manuel? Kannst du mal bitte herkommen?“ Der Ton, in dem er das sagte, verhieß nichts Gutes. Langsam ließ ich den Schwamm sinken, spülte mir die Hände ab und wischte sie an meiner Jeans trocken. Dann erst drehte ich mich zu ihm herum. „Ja?“ „Ich hab heute Morgen die Putzdienste kontrolliert. Du warst nicht gründlich genug. In der Dusche waren noch Schaumreste und die Wände hattest du auch nicht abgezogen. Du weißt doch, dass das anfängt zu schimmeln.“   Ich verdrehte die Augen.   „Jaa, ich hatte es ein bisschen eilig. Hatte verschlafen.“ „Wir haben hier Regeln. Regeln, die für alle gelten. Auch für dich. Dazu gehört, dass man seine Aufgaben erledigt und zwar ordentlich.“   Wollte der mich jetzt echt ankacken? „Man, Maik, ich hab doch geputzt. Und ich mache es jetzt wieder gut, okay? Kein Grund so auszurasten.“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast mich noch nicht erlebt, wenn ich ausraste. Glaub mir, das sieht anders aus.“ „Jaja.“   Konnte der jetzt bitte mal gehen? „Jaja heißt aber was anderes.“ „Na und?“   Echt, der Pisser sollte sich jetzt mal nicht so anstellen. Ich machte doch schon. Was wollte er denn noch? „Du musst wirklich an deinem Ton arbeiten. Heute in der Schule hattest du auch schon Ärger, hab ich gehört.“   Ich drehte den Kopf weg. Darüber wollte ich nun wirklich nicht mit ihm reden.   „Wenn irgendwas ist, kannst du jederzeit zu uns kommen. Das weißt du.“ „Ja, weiß ich.“   Nur dass ich das, was gerade wirklich los war, einfach niemandem erzählen konnte. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich hatte doch nur dieses dämliche Buch mitgenommen. Leif hatte es mir schließlich selbst gezeigt. Wenn es so furchtbar geheim war, dann hätte er eben besser darauf aufpassen müssen. Es stand doch eh nichts Besonderes drin. Warum regte er sich eigentlich so auf? „Kann ich jetzt weiter putzen?“, fragte ich gedehnt. Maik sah aus, als würde er noch etwas sagen wollen, doch dann beließ er es bei einem Seufzen. „Sieh zu, dass du fertig wirst. Hausaufgabenzeit fängt gleich an.“ „Ich wäre schon längst fertig, wenn du mich nicht vollgelabert hättest.“   Maik, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, drehte sich noch einmal zu mir um.   „Wir gehen hier respektvoll miteinander um. Das beruht aber auf Gegenseitigkeit. Also reiß dich ein bisschen zusammen.“   Ich biss mir auf die Zunge, um nicht noch eine dumme Bemerkung zu machen. Stattdessen angelte ich mir die Packung mit den Kaugummis aus meiner Hosentasche. Als ich eines herausschüttelte, stellte ich fest, dass es das letzte war. „Scheiße!“   Für einen Augenblick überlegte ich, es zu halbieren, aber da die Dinger eh nicht besonders groß waren, steckte ich es ganz in den Mund. Meine Hoffnung, das Thomas sich vielleicht bereiterklären würde, mir neue zu kaufen, stellte sich jedoch als falsch heraus. „Woher hast du die?“, wollte er wissen und sah nicht eben begeistert aus. „Die hat mir Tobias gegeben.“ „Die ganze Packung?“ „Ja.“   Thomas murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich runzelte die Stirn. „Ist etwas nicht in Ordnung?“   Thomas seufzte leicht.   „Die Dinger dürfen eigentlich nicht ohne ärztliche Aufsicht an Minderjährige abgegeben werden. Und schon gar nicht unkontrolliert konsumiert werden. Tobias hätte das wissen müssen.“   Ich machte ein zerknirschtes Gesicht.   „Bekommt er jetzt Ärger deswegen?“   Thomas setzte ein schmales Lächeln auf. „Nein. Ist ja zum Glück nichts passiert. Ich muss aber mal mit Herrn Steiner reden, wie wir das in Zukunft machen. Die Dinger werden ja nicht umsonst in der Apotheke verkauft. Möglicherweise müssen wir uns da erst noch ein Okay von einem Arzt holen, bevor du die weiter bekommen kannst. Oder du guckst einfach mal, ob du es nicht ohne aushältst. Ich denke, du könntest das schaffen.“   Ich rang mir ebenfalls ein Lächeln ab, obwohl diese Ankündigung mich innerlich die Faust ballen ließ. Noch eine Prüfung, noch eine Untersuchung. Es musste immer erst alles abgesichert und von acht Leuten unterschrieben werden, bevor mir irgendwas erlaubt wurde. Das fühlte sich scheiße an. „Vielleicht kannst du dir ja heute Nachmittag beim Einkaufen ein paar normale Kaugummis mitnehmen. Das hilft vielleicht schon. Was sagst du?“ „Klar.“   In Wirklichkeit hatte ich total verdrängt, dass ich heute zum ersten Mal mit zum Taschen schleppen sollte. Ich konnte mir kaum was Öderes vorstellen. Als ich allerdings ins Wohnzimmer kam, wäre es mir am liebsten gewesen, wenn wir sofort losgefahren wären.   Leif saß auf dem Sessel, auf dem er immer saß, hatte die Beine angezogen und seinen Schreibblock auf den Oberschenkeln. Möglichst beiläufig ließ ich mich neben ihn auf das Sofa fallen und nahm ebenfalls meinen Schulkram heraus. Als ich das Buch in der Hand hatte, stieß ich ihn unauffällig mit dem Fuß an. Er reagierte nicht. Also stieß ich noch einmal. Er hob den Kopf und sah mich genervt an. „Ist was?“   Sein Gesicht war eine einzige Absage. „Nein. War ein Versehen“, antwortete ich und wandte mich den Knoten in meinem Magen ignorierend meinem eigenen Kram zu. Ich brauchte ihn schließlich nicht. So gar nicht.     Die Mittagspause über lag ich auf meinem Bett und kaute auf dem mittlerweile ausgelutschten Kaugummi herum. Als ich den Geschmack nicht mehr ertragen konnte, nahm ich es aus dem Mund und klebte es an die Unterseite des Bettes. Der Gedanke, dass es dort wohl noch kleben würde, wenn ich schon nicht mehr hier war, ließ mich grimmig lächeln. Wenigstens etwas, dass sie nicht kontrollieren konnten.   Meine Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg bekam allerdings einen gehörigen Dämpfer, als ich sah, wer der zweite Kandidat für die heutige Einkaufstour war. Warum ausgerechnet er? „Warum ausgerechnet der?“, fragte auch Sven, als ich in die Küche kam und Thomas verkündete, dass wir dann ja loskönnten. „Weil Manuel auch mal mit Einkaufen dran ist.“   Die Antwort stellte weder Sven noch mich besonders zufrieden. Natürlich prügelten wir uns fast darum, vorne zu sitzen. Am Ende landeten wir beide auf der Rückbank, wo wir schweigend dasaßen, die Arme vor der Brust verschränkt und in verschiedene Richtungen aus den Fenstern des Wagens starrend, der in die Kategorie quadratisch, praktisch, gut fiel. Komischerweise passte das Ding irgendwie total zu Thomas. Lag vielleicht auch an dieser grinsenden, kleinen Sonne, die in der Ecke meines Fensters klebte. Sven hatte das Gleiche mit einer Wolke. Nur der Regenbogen fehlte. „Haben meine Kinder gemacht“, erklärte Thomas, als wir auf dem Parkplatz ankamen. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Kinder? Wie alt sind die?“   „Inzwischen 17 und 19“, antwortete er lachend. „Na los, jeder von euch holt mal einen Wagen. Wir haben eine lange Liste.“   Die Einkauferei stellte sich, wie erwartet, als absolut nervig heraus. Nicht nur, dass wir jede Menge dumme Blicke auf uns zogen, während wir durch die Gänge schoben, aus den Lautsprechern über uns die neuesten Angebote geplärrt wurden und dazwischen gruselige Popmusik lief. Sven schien es sich obendrein auch noch zur Aufgabe gemacht zu haben, mir den Einkauf gründlich zu vermiesen. Er ließ auf jeden Fall keine Gelegenheit aus, mir an den Karren zu pissen. „Pass doch auf“, schnauzte er mich an, während er mir mal wieder mit dem Wagen direkt vor die Füße fuhr. Er drängelte sich an mir vorbei und versetzte meinem Wagen sogar noch einen Stoß, sodass er fast in die neben mir aufgestapelten Toastbrote donnerte. Dabei sollte ich das Brot holen. Hatte Thomas gesagt. Ich schluckte jedoch eine entsprechende Bemerkung herunter und wandte mich stattdessen an Thomas. „Soll ich noch was anderes besorgen? Sven kümmert sich anscheinend um das Brot.“   Thomas blickte auf seine Liste und schickte mich dann zu den Nudeln. Danach Milch, Joghurt, Käse. Es zog und zog sich und Thomas’ Erklärungen, dass die teuren Sachen immer in Blickhöhe standen und man sich deswegen ein bisschen bücken oder strecken musste, wenn man Geld sparen wollte, machten es auch nicht besser. Bei der Wurst angekommen fingen Sven und Thomas dann an zu diskutieren, was und wie viel sie kaufen wollten. Als sie nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht zu Potte gekommen waren, während ich dumm in der Gegend rumstand und von den vorbeifahrenden Hausfrauen angegafft wurde, reichte es mir endgültig. „Brauchen wir sonst noch was?“   Thomas überlegte kurz. „Du kannst schon mal bei den Süßigkeiten gucken gehen. Pack einfach ein, worauf du Lust hast. Wir treffen uns dann dort.“   Ich nickte und schob langsam mit meinem Wagen an der Fleischabteilung vorbei in Richtung Süßwaren. Gummibärchen, Schokolade und Co stapelten sich hier in mehreren Gängen. Die Kekse und ähnlicher Kram kamen noch dahinter und dann gab es noch ein riesiges Regal mit Chips. Dem gegenüber standen gerade zwei Mädchen vor endlosen Reihen von Wein- und Sektflaschen. Sie hielten irgendeine rosa Plörre in der Hand und lasen sich das Etikett durch. Als sie mich mit dem Einkaufswagen kommen sahen, kicherten sie und steckten die Köpfe zusammen. Schnell ging ich noch einen Gang weiter und landete bei den harten Sachen. Schnaps, Wodka, kleiner Feigling. Alles, was bei Pascals Freunden früher rumgegangen war. Auch ich hatte davon getrunken. Bis zum Kotzen.   Ich ließ meinen Wagen stehen und ging um das Regal herum. Hier lachten mich lauter ach so glückliche Haustiere an. Es gab Tierfutter in Tüten, Dosen, Säcken. Daneben Spielzeug, Hundeleinen, Kauknochen und dann … die Kassen.   Ich sah den freien Durchgang sofort. Die Kasse war noch nicht besetzt, aber die Kassiererin hatte schon mal die Barriere zur Seite geschoben und war gerade dabei, dieses Metallding mit dem Wechselgeld an Ort und Stelle zu bugsieren. Wie aufgezogen kam ich näher. Es war, als hätten meine Füße ein Eigenleben entwickelt. Als ich fast am Kassenband angekommen war, blickte sie auf. „Ich bin gleich so weit. Du kannst deine Sachen schon mal hinlegen.“   Mein Herz wummerte gegen meinen Brustkorb. Es brauchte nur noch ein, zwei Schritte, dann war ich draußen. Vor den Kassen gab es mehrere gläserne Eingangstüren. Menschen gingen dort ein und aus. Wenn ich mich unter sie mischte, würde ich gar nicht auffallen. Ich wäre wie einer von ihnen. „Ich hab leider mein Geld vergessen“, sagte ich und hielt zum Beweis meine leeren Hände hoch. Pokerface. Ich war cool. Ich hatte nichts zu verbergen. Nur ein ganz normaler Kunde, der nochmal nach draußen musste, bevor er hier einkaufen konnte. Die Kassiererin nickte und beachtete mich nicht weiter und ich … ich ging einfach an ihr vorbei, durch die Tür und immer weiter. Erst, als ich am Ende des Parkplatzes angekommen war, fing ich an zu rennen.   Ich rannte und rannte, bis meine Lunge pfiff und ich Seitenstechen bekam. Doch erst, als ich mir sicher war, genug Abstand zwischen mich und den Supermarkt gebracht zu haben, wurde ich langsamer. Im gleichen Moment fing mein Gehirn an zu arbeiten.   Mir war klar, dass ich hier so schnell wie möglich weg musste. Da ich kein Geld hatte, fielen Bus und Bahn mehr oder weniger flach. Die Gefahr, dort erwischt zu werden, war viel zu groß. Leidige Erfahrung aus Anfängerfehlern. Blieb also nur, auf eine Mitfahrgelegenheit zu hoffen. Eine, die mich weit, weit von hier wegbrachte.     Eine gute, halbe Stunde stand ich am Zubringer der Bundesstraße, bis endlich ein kleines Auto neben mir hielt. Die Fahrerin, eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren, ließ die Scheibe herunter. „Wo soll’s denn hingehen?“, wollte sie wissen. „Eigentlich nach Hamburg, aber ich nehm alles, was irgendwie in die Richtung geht.“ „Na dann, steig ein. Ich bin gerade auf dem Weg nach Bremen, da liegt das auf der Strecke.“   Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Ich pflanzte mich auf dem Beifahrersitz und schnallte mich pflichtschuldig an. Im Radio lief „Highway to hell“. Wie passend. „Bist du fertig?“ „Ja, kann losgehen.“ Sie setzte den Blinker und fuhr los. Eigentlich wartete ich darauf, dass sie fragen würde, was ich in Hamburg wollte und ob ich nicht zur Schule musste und all solche Sachen. Aber sie fragte nicht und ich sagte nichts. Stattdessen sah ich aus dem Fenster und versuchte mir sämtliche Gedanken an das, was ich gerade tat, zu verbieten. Als wir auf die Autobahn wechselten, atmete ich auf. Jetzt konnte nicht mehr viel passieren. Für irgendwelche Radiodurchsagen oder Suchmeldungen war es noch zu früh. Wahrscheinlich suchten Thomas und Co erst mal die nähere Umgebung ab. Ob sie Tobias anriefen? Und was Leif wohl dazu sagen würde, dass ich abgehauen war? Wahrscheinlich war es ihm egal. Er war bestimmt froh, dass ich weg war.     Eine gute Stunde später setzte mich die Autofahrerin auf einem Parkplatz an der Autobahn ab. Sie verabschiedete sich und brauste davon, während ich mir die Arme um den Oberkörper legte, um mich zu wärmen. Hier war es merklich kühler als dort, wo wir losgefahren waren. Es war heute nicht so warm wie die Tage zuvor und ich hatte meine Jacke in Thomas’ Auto liegenlassen. Was absolut dämlich war, wenn man es genau nahm. Aber ich hatte das hier ja auch nicht geplant.   Als ich mich umdrehte, ahnte ich bereits, was mich erwartete. Die Hochhäuser, die man in der Ferne sah, kannte ich nur allzu gut. Wie weiße Felsen standen sie in der Abendsonne und warfen lange Schatten. Ich brauchte mich nur in die Büsche zu schlagen und gleich darauf stand ich in einer der Straßen, in denen ich früher mit dem Fahrrad herumgefahren war. Da war die Bushaltestelle, der Supermarkt, der Brunnen, der nie funktionierte, was vielleicht daran lag, dass wir immer allen möglichen Mist in die Öffnungen stopften. Auf dem Platz, auf dem manchmal Floh- oder Wochenmmärkte veranstaltet wurden, lungerten ein paar Jugendliche herum. Für einen Moment war ich versucht, zu ihnen hinüberzugehen. Vielleicht kannte ich noch jemanden von ihnen. Ich war immerhin gerade mal ein halbes Jahr von hier weg. Genug, um Gras über einige Dinge wachsen zu lassen.   Doch dann entschied ich mich dagegen und ging lieber weiter. Immer am Kanal entlang, bis ich zu der Straße kam, die ich früher mein Zuhause genannt hatte. Ich wusste nicht, was mich hierher getrieben hatte. Ich zwang mich, nicht darüber nachzudenken. Stattdessen setzte ich unbeirrt einen Fuß vor dem anderen, bis ich irgendwann vor der gläsernen Haustür von Block B stand. Die linke Scheibe hatte ein Loch, nur verdeckt von einem Stück Folie, das jemand mit gelbschwarzem Klebeband dort befestigt hatte. Unzählige Namen standen auf dem metallenen Türschild, aber mein Blick galt nur einem bestimmten Klingelknopf. Wie oft hatte ich das Ding wohl bis zum Anschlag ins Klingelbrett gedrückt und mir dafür einen Anschiss abgeholt. Ich sollte gefälligst draußen bleiben und spielen. Irgendwann war es meinen Eltern zu bunt geworden und sie hatten mir einfach einen eigenen Schlüssel gegeben. Damals war ich fünf oder sechs gewesen. Es hatte sich angefühlt wie ein Stück Freiheit.   Den Schlüssel hatte ich noch. Er lag in meinem Koffer im Wohnheim. Gut versteckt in einer geheimen Seitentasche. Tobias hatte vergessen, ihn mir abzunehmen.   Nur nicht dran denken.   Entschlossen streckte ich die Hand aus und klingelte. Es dauerte, bis mir ein mürrisches „Ja“ aus der Sprechanlage entgegenschallte. Ich öffnete den Mund um zu antworten, aber kein Ton kam über meine Lippen. Wäre nicht in diesem Moment ein Mann aus dem Haus gekommen, hätte ich mich wohl auf dem Absatz herumgedreht und wäre geflohen. So jedoch schlüpfte ich kurzerhand in den Hausflur und wartete, bis die schwere Tür hinter mir ins Schloss gefallen war. Erst dann ging ich Schritt für Schritt auf den roten Fahrstuhl mit dem vergitterten Sichtfenster zu. Ich drückte den Rufknopf. Ein Klappern und Summen war zu hören. Kurz darauf öffneten sich die inneren Türen und ich konnte einen Blick in die winzige Kabine werfen. Sie war leer, wenn man von dem Schmierereien absah, die überall das abgeschabte, beige Metall bedeckten. Mit einiger Mühe wuchtete ich auch die Fahrstuhltür beiseite und stieg ein. Drinnen atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich den Knopf für den siebten Stock drückte. So wie früher. Die Metalltüren schlossen sich und der Fahrstuhl setzte sich langsam in Bewegung. Als ich oben ankam, war mir schlecht vor Angst.   Ich trat aus dem Fahrstuhl, die Hose gestrichen voll. Da waren die Türen der Nachbarn, die ich zur Genüge kannte. Eine ausländische Familie, die kaum Deutsch sprach und ungefähr hundert Kinder hatte, und eine ältere Frau, die immer zur Jahreszeit passende Dekorationen vor der Tür stehen hatte. Als ich noch kleiner war, hatte sie mir manchmal ein bisschen Geld gegeben, damit ich für sie Milch oder etwas anderes aus dem Supermarkt holte. Den Rest hatte ich immer behalten dürfen. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Warum wusste ich selbst nicht genau.   Der Gang mit dem schwarzweißen Fußboden bog ab und dann stand ich vor der Tür mit dem Türspion, durch die ich schon so viele Male gegangen war. Von drinnen hörte man den Fernseher dröhnen. Ich zögerte. War das wirklich eine gute Idee? Sollte ich nicht lieber die Beine in die Hand nehmen und laufen? Aber wohin? Und vielleicht … vielleicht war es dieses Mal ja anders. Vielleicht.   Ich streckte meine Finger nach dem Klingelknopf aus. In meinem Kopf schrillten tausend Alarmglocken. Sie verstummten, als sie von der Klingel übertönt wurden. Ein durchdringendes Geräusch, das sogar lauter als der Fernseher war. Von drinnen konnte ich meinen Vater brüllen hören, dass meine Mutter gefälligst aufmachen sollte. Schlurfende Schritte und dann …   „Manuel!“   Die Tasse, die meine Mutter in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. Sie zerschellte auf dem abgetretenen, orangefarbenen Teppich und hinterließ einen großen, dunklen Fleck. Kaffee vermutlich. Oder etwas anderes. Ich wusste es nicht. Ich hatte nur Augen für meine Mutter, die mich unverwandt anstarrte. Sie sah schlecht aus. Fleckige Haut, stumpfe Haare, das Gesicht eingefallen und mit mehr Falten, als ich es in Erinnerung hatte. Ihre Tränensäcke waren dunkel und geschwollen. Sie sah aus wie ein Gespenst. „Wo kommst du denn her?“   Die Frage war eigentlich dumm, denn immerhin wussten sie doch, wo ich war. Oder wussten sie es nicht? Hatte man ihnen verheimlicht, wo man mich untergebracht hatte?   „Ich bin abgehauen“, antwortete ich. „Kann ich reinkommen?“   Eigentlich wollte ich nicht. Ich wusste doch genau, was mich da drinnen erwartete. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte. Aber jetzt war es zu spät zum Umkehren. „Ich will mir nur eben eine Jacke holen“, sagte ich und drängte mich an meiner Mutter vorbei. Im Wohnzimmer konnte ich den Fernseher sehen. Mein Vater saß davor, ein Bier in der Hand und die Lautstärke auf Anschlag. „Wer war das?“, fragte er, doch bevor meine Mutter antworten konnte, hatte ich mich schon umgedreht und war in den kleinen Flur gegangen, von dem mein und Pascals Zimmer abgingen. Die Luft roch verbraucht und abgestanden. Ich öffnete die erste Tür und fand den Raum so vor, wie ich ihn verlassen hatte. Schnell ging ich zum Schrank, griff mir ein altes, schwarzes Sweatshirt und war schon wieder auf dem Weg nach draußen, als die Wohnzimmertür aufging und mein Vater herauskam. Er glotzte mich mit ebenso großen Augen an wie meine Mutter. Im Gegensatz zu ihr war sein Gesicht jedoch rot und wurde noch röter, als er mich sah. „Du?“, knurrte er. „Na du hast vielleicht Nerven, hier einfach so aufzutauchen. Haben sie dich rausgeschmissen, oder was?“   „Ich bin abgehauen.“   Es fühlte sich falsch an, das zuzugeben. Als würde ich ihm damit das Messer in die Hand geben. Und natürlich enttäuschte mein Vater nicht. „Tzz, als wenn ich es nicht gewusst hätte. Du machst überall nur Ärger. Nach all dem, was du uns und Pascal angetan hast, war es ja nur eine Frage der Zeit …“   Ich hörte ihm nicht mehr zu. Hatte er gerade gesagt, was ich Pascal angetan hatte?   „Er hat mich fast abgestochen“, platzte ich heraus. „Euer feiner Sohn, mein Bruder, hat mich zusammengeschlagen und wollte mit einem Messer auf mich losgehen. Ich war im Krankenhaus. Ist euch das eigentlich klar?“   Meine Mutter zog den Kopf ein. „Natürlich wissen wir das. Die Polizei hat es uns ja gesagt. Wir wollten immer mal vorbeikommen, aber …“   „Erzähl nicht so einen Schwachsinn“, unterbrach sie mein Vater. „Als wenn wir den auch noch besucht hätten. Er hat sich ein paar gefangen. Mein Gott, das kommt vor. Soll sich nicht so anstellen. Er lebt doch noch.“ „Was nicht euer Verdienst ist.“   Ich sah die Schelle kommen, aber ich war zu langsam, um zu reagieren. Erst, als mein Kopf zur Seite flog und meine Wange zu brennen begann, realisierte ich, dass mein Vater mich gerade geschlagen hatte. „Sei nicht so undankbar“, raunzte er mich an. „Wir haben dir schließlich ein Dach über dem Kopf gegeben. Was zu Essen. Haben dich in die Schule geschickt. Und zum Dank dafür müssen wir jetzt aus unserer Wohnung raus. Sie ist zu groß, haben die gesagt. Weißt du, was das heißt? Ich wohne seit 20 Jahren hier. Länger, als du überhaupt auf der Welt bist. Und jetzt muss ich hier ausziehen, nur weil du so ein jämmerlicher Waschlappen bist.“   Ich sah ihn an. Versuchte zu begreifen, was er gerade gesagt hatte. Die Erkenntnis, die mir das brachte, war bitterer, als ich gedacht hatte. „Ach deswegen der Aufstand“, sagte ich abfällig. Ich schob die Mundwinkel nach oben. „Ihr wollt mich wieder hier haben, damit ihr die Wohnung behalten könnt. Aber darauf könnt ihr lange warten. Ich komm nicht mehr zurück.“ Schneller als mein Vater reagieren konnte, brachte ich mich aus seiner Reichweite und war aus der Tür, bevor meine Mutter auch nur ein Wort an mich gerichtet hatte. Doch was immer sie hatte sagen wollen, wäre ohnehin im Gebrüll meines Vaters untergegangen.   „Fein!“, schrie er mir nach und seine Stimme donnerte durch das Treppenhaus. „Hau bloß ab! Ich hoffe, du landest in der Gosse. Dann wirst du dich dran erinnern, wie gut du es hier hattest. Du undankbares Stück! Hörst du mich? Du wirst noch darum betteln, dass wir dich wieder zurücknehmen. Du wirst darum betteln!“   Ich glaube, er schrie noch mehr, aber die Metalltür des Treppenhauses schluckte seine Stimme und ließ sie zu einem dumpfen Murmeln herabsinken. Meine Füße flogen die Treppen hinunter. Mein Herz raste. Wieder einmal war ich auf der Flucht, aber dieses Mal war es die richtige Entscheidung. Ich gehörte nicht mehr hierher. Als ich vor die Tür trat, waren Wolken aufgezogen. Der Wind war aufgefrischt und ich war froh, dass ich mir wenigstens was zum Anziehen geholt hatte. Eilig zog ich das Sweatshirt über den Kopf und ließ die Kapuze gleich oben. Es machte die Geräusche leiser und die Blicke, die mich trafen. Es machte alles leiser.   Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und fing an zu laufen. Den Blick gesenkt wusste ich, wo ich jetzt hinwollte. Dorthin, wo es besser war als hier. Zumindest war es das früher gewesen. Ich hoffte, dass es das jetzt immer noch war.   Kapitel 11: Auf der Suche ------------------------- Als ich den U-Bahnhof verließ, empfing mich leichter Nieselregen. Perfekt für das, was ich vorhatte. Nicht. Die Autos rasten zischend an mir vorbei und hätte ich nicht gewusst, dass ich hier richtig war, ich hätte es nicht geglaubt.   Fröstelnd schlug ich die Kapuze hoch und machte mich auf den Weg über die vielspurige Kreuzung. Auf der anderen Seite erwartete mich nicht nur der Eingang zur „sündigsten Meile der Welt“, sondern zudem auch noch die hell erleuchtete Glasfront eines großen Restaurants. An unzähligen Tischen saßen die Gäste über ihren gut gefüllten Tellern, während Kellner zwischen ihnen hindurch flitzten, um für Nachschub an Essen und Getränken zu sorgen. Aushänge warben mit Steaks und Cocktails. Mein Magen knurrte.   Hab mich wohl schon zu sehr an regelmäßige Mahlzeiten gewöhnt.   Mit einem letzten Blick auf das riesige Stück Fleisch mit dem Fitzelchen Petersilie daneben zog ich den Kopf ein und ging weiter. Leif hätte mich sicherlich ausgelacht, wenn er es mitgekriegt hätte. Mister „nur ein Salat am Tag ohne Dressing“. Wobei er im Heim ja schon mehr aß. Zumindest, wenn ich neben ihm saß. Was ich heute Abend nicht getan hatte. Wie spät es wohl war? Die anderen waren bestimmt schon mit dem Essen fertig und sahen sich irgendwelchen Mist im Fernsehen an. Ob wohl einer von ihnen an mich dachte?   Und wenn schon. Es ist mir egal.   Ich setzte weiter einen Fuß vor den anderen. Die Leuchtreklamen der Bars und Clubs, Spielotheken und Erotikshops warfen abwechselnd rote, grüne, blaue und orangefarbene Lichter auf mich und die anderen Passanten. Immer auf der Suche nach Kunden, die sich für das jeweilige Angebot interessierten. Wobei es ruhig war. Zu ruhig für meinen Geschmack. Doch zum einen war es noch früh und zum anderen Montag. Einen schlechteren Tag hätte ich mir kaum aussuchen können. Maximal noch Dienstag oder Mittwoch.   Das nächste Mal laufe ich an einem Freitag weg, nahm ich mir vor und grinste bei dem Gedanken. Irgendwie war die ganze Sache eine ziemliche Schnapsidee gewesen.   Der Regen nahm zu und mein Sweatshirt begann an den Schultern durchzuweichen. Ich merkte die Kühle, die aus dem feuchten Stoff bis auf die Haut durchdrang. Auch meine Schuhe würden nicht lange durchhalten bei dem Wetter. Ich brauchte einen Unterschlupf.   Als ich auf der Suche nach einem passenden Platz den Kopf hob, sah ich auf der anderen Straßenseite die Fassade der berühmten Davidwache. Ein rotes Haus mit weißen Fenstern. Streifenwagen standen davor und drinnen saßen bestimmt jede Menge Beamte. Die Polizei, dein Freund und Helfer. Wenn ich da jetzt reinging und sagte, dass ich abgehauen war, was würde wohl passieren? Würden sie meine Eltern anrufen? Oder das Heim? Immerhin lebte ich jetzt ja eigentlich da.   Um mich herum sammelten sich die Leute an der Ampel und als sich der Pulk in Bewegung setzte, lief ich einfach mit. Immer auf das Haus zu, das meine Rückfahrkarte hätte sein können. Eine, für die ich nicht mal Geld brauchte. Ich musste nur meinem Mund aufmachen und irgendwer würde mich abholen kommen. Oder?   Nein, ich geb noch nicht auf. Ich krieg das auch alleine hin!   Schnell wandte ich mich ab und zog die Kapuze ein bisschen tiefer ins Gesicht. Die Gefahr, dass mich jemand erkannte, war zwar nicht besonders groß, aber man konnte nie wissen. Vielleicht wusste ja auch die Polizei, wie man das Internet benutzte.   Ganz automatisch überquerte ich auch hier wieder die Straße und stand plötzlich vor einem der vielen Fast-Food-Tempel. Das weiße Eckhaus, das wohl irgendwann mal ziemlich reichen Pinkeln gehört hatte, war im Untergeschoss zu einer Burgerbude umgebaut worden. Auch hier warben wieder große, bunte Plakate für saftiges Fleisch, knackigen Salat und krosse Pommes frites. Ich wusste zwar, dass das „Restaurant“ im Inneren ein ziemlicher Saftladen war, in dem Personal ebenso rar war wie saubere Toiletten, aber in diesem Moment stellte das Ding für mich vor allem eines dar: eine Möglichkeit, meinen leeren Magen zu füllen.   Ich betrat den Fresstempel mit dem amerikanischen Touch und bewegte mich in Richtung Tresen. Im Vorbeigehen griff ich mir dabei einen Kaffeebecher aus dem Wagen für die benutzten Tabletts. In dem Ding war sogar noch ein Rest drin, aber ich hatte nicht vor, ihn zu trinken. Er war nur mein Alibi, mit dem ich mich an einer Säule ganz in der Nähe postierte und so tat, als würde ich auf einen freien Tisch oder einen Freund oder was auch immer warten. Dabei beobachtete ich die Leute, die ihren Müll wegbrachten, und versuchte abzuschätzen, auf welchem Tablett sich wohl noch einigermaßen essbare Reste befanden. Zum meinem Unglück schienen die Ärsche hier heute Abend mit einem ziemlichen Appetit gesegnet zu sein. Fast nichts Verwertbares fand seinen Weg in den Abfall und ich stand somit immer noch mit knurrendem Magen da. Als ich schon überlegte, ob ich mich doch noch einmal woanders hinbegeben sollte, kamen doch glatt zwei Frauen auf mich zu. Sie waren zurechtgemacht und im Grunde viel zu aufgetakelt für einen Burgerschuppen wie den hier. Viel wichtiger war jedoch, dass sie bestimmt die Hälfte ihrer Bestellung hatten liegenlassen.   „Ich weiß wirklich nicht, was alle an dem Zeug finden“, sagte die eine gerade und rümpfte die Nase. „Das kann doch keiner essen.“   „Ja, wirklich ekelhaft“, fiel die andere mit ein. „Mein Burger war noch halb roh. Das nächste Mal gehen wir wieder zum Chinesen.“   Ich verfolgte das Gespräch und obendrein, wie die beiden unter weiterem Genöle und Gezeter ihre Tabletts in die Halterungen schoben. Als sie davonstöckelten, wollte ich mir gerade ihre Reste schnappen, als eine Gestalt in meinem Sichtfeld erschien. Sie trug eine Uniform der Burgerkette und machte sich daran, die Verriegelung der Wagenräder zu lösen.   Scheiße! Der Idiot will hier abräumen.   „Hey, Moment, ich bin doch noch nicht fertig“, rief ich und griff nach dem Tablett, dass die beiden Schnalzen gerade weggestellt hatten. Der Typ, eine dünne Pickelfresse, bestimmt nicht viel älter als ich, sah mich zweifelnd an. „Du hast aber gar nichts bestellt.“ „Was?“ Er wirkte plötzlich nervös. Seine Hände zappelten herum und er trat von einem Fuß auf den anderen. „Na ja, ich … ich hab dich beobachtet. Du hast hier nur rumgestanden und …“   Er brach ab und bekam rote Ohren. Ach, okay, alles klar. Beobachtet also. Ich setzte ein Grinsen auf. „So so, ich bin dir also aufgefallen.“   Er schluckte und seine Ohren glühten mit der Leuchtreklame an der Wand um die Wette.   „Ja, ich … ich hatte die Kasse. Und ich muss gleich weiterarbeiten. Meine Chefin guckt schon.“   Ich riskierte einen Blick über seine Schulter und sah eine ziemlich grantig aussehende Matrone hinter dem Tresen stehen. Sie hatte ihr Handy am Ohr, statt zu bedienen, und sah genervt in Pickelfresses Richtung. „Tja, also … ich bring das hier mal kurz weg.“   Für einen Moment war ich in Versuchung, mein Ausweichquartier gleich hier und jetzt klarzumachen. Wenn ich ein bisschen nett zu Pickelfresse war, spendierte er mir vielleicht einen Burger und was zu trinken. Eine Möglichkeit, die sich ausbauen ließ, indem ich ihm versprach, bis nach seinem Schichtende auf ihn zu warten. Problem war nur, dass Pickelchen vermutlich noch bei seiner Mami zu Hause wohnte und sich das bestimmt nicht traute. Außerdem hatte seine Chefin bereits ein Auge auf die Sache geworfen. Vermutlich würde es da nicht lange dauern, bis sie einen der Sicherheitsleute auf mich hetzte. Die waren zwar nicht die Polizei, aber auffallen wollte ich trotzdem keinem von ihnen. Sicher war sicher. „Na schön, dann arbeite mal weiter. Vielleicht sieht man sich ja noch.“   Ich klaute mir eine einzelne Pommes und zwinkerte ihm zu, während ich sie mir in den Mund steckte und dann möglichst lässig von dannen schlenderte. Dass sein Blick dabei auf meinen Arsch gerichtet war, war mir dabei vollkommen klar. Als ich wieder draußen stand, atmete ich tief durch. Das war ja mal ein Reinfall gewesen. Und zu essen hatte ich auch immer noch nichts.   Ich schlug die Kapuze hoch, obwohl es inzwischen nicht mehr regnete, und machte mich wieder auf den Weg. Irgendwie würde ich die nächsten zwei Stunden schon rumbringen. Dann war es vermutlich sicher genug, um mich an den eigentlichen Ort des Geschehens zu begeben und mir dort ein passendes Nachtlager zu suchen.     Die Straße, in der ich an einer dreckigen Hauswand lehnte, war anders als die breite, bunte Amüsiermeile, auf der sich die Touristen tummelten. Hier gab es keine Anwerber, keine Security, keine blinkenden Leuchtreklamen. Nur einfache, beleuchtete Schilder, mehr oder weniger schmuddelige Kneipen und jede Menge Sexkinos. Dass die Dinger in Zeiten von Internetporno noch nicht zugemacht hatten, wunderte mich zwar, aber vielleicht war es der Kick hierherzukommen, den die Leute suchten. Vielleicht standen sie aber auch auf den Pissegestank, der ihnen von allen Ecken entgegenwehte. Möglich war’s immerhin.   Mein Interesse galt auch weniger der Filmbude in meinem Rücken, sondern vielmehr der Location auf der anderen Straßenseite. Davor hatten sich so langsam Träubchen von Gästen gebildet, die mit Flaschen in der Hand herumstanden und sich über Gott und die Welt unterhielten. Das Publikum war jung, alternativ und vermutlich wegen der billigen Preise hier. Studenten und solche, die es werden wollten, mischten sich mit denen, die dazu zu blöd, zu schlau oder zu pleite waren. Aus der geöffneten Tür dröhnte Indie-Rock, zwischen den der DJ immer mal die eine oder andere Hitnummer schmiss, um noch mehr Leute auf die ohnehin schon recht eng bemessene Tanzfläche zu locken. Im Inneren hatte der Laden maximal die Ausmaße eines großzügigen Wohnzimmers mit Oma-Tapeten an der Wand und einem dazu passenden Hirschgeweih über der Theke. Voll war es hier eigentlich trotzdem immer. Am Wochenende, weil die Leute Zeit hatten zum Feiern, unter der Woche, weil andere Schuppen nicht offen waren. Als das Gedränge endlich groß genug geworden war, stieß ich mich von der Wand ab und machte mich auf den Weg. Hier gab es zwar so was wie Türsteher, aber wenn man ins Bild passte und keinen Ärger machte, kam man eigentlich immer rein. Und da ich nicht vorhatte, irgendwelche Shots zu bestellen und nicht zu bezahlen …     Feuchte Wärme umfing mich gemischt mit dem Geruch nach Diskonebel, Zigaretten, Bier und dem was man erhielt, wenn man zu viele Körper in einen Raum presste. Es war dunkel hier drinnen. Kaum Beleuchtung sorgte für eine eigenartige Atmosphäre in der man aufpassen musste, dass man nicht dauernd wem auf die Füße trat.   Ich schlängelte mich durch die Menge. Beobachtete. Tat so, als würde ich irgendwo hinwollen, während ich die Lage checkte. Im schummrigen Licht war es schlecht, etwas zu erkennen. Dafür hätte ich an die Bar gemusst, was aus ersichtlichen Gründen ausfiel.   Wenigstens kann ich hier mal pissen gehen.   Die Beleuchtung bei den Toiletten war etwas besser, aber nichts, was sich wirklich in Richtung „hell“ bewegte. Auf dem Weg fiel ich daher fast über ein Pärchen, das sich offenbar auf der Couch direkt gegenüber die Wartezeit vertrieb. Warum auch in eine enge Kabine gehen, wenn es hier draußen viel gemütlicher war. Die beiden kriegten zumindest nicht viel von den Kommentaren mit, mit denen sie bedacht wurden. Oder es war ihnen egal.   Ich tat, weswegen ich gekommen war, aber unter den Typen rechts und links war nichts Passendes dabei. Ich wusch mir also die Hände und verzog mich wieder nach draußen. Das Pärchen war ebenfalls weg und auf der Tanzfläche wogte die Menge zu „Zombie“ von den Cranberries. Ich schnappte mir eine stehengelassene Bierflasche, die noch halb voll war, und bezog damit Posten in der Nähe der Sofaecke im vorderen Teil des Ladens. Hier saßen ebenfalls Gruppen zusammen, tranken, philosophierten und taten so, als würden sie allein in dieser Nacht die dringendsten Probleme der Welt lösen. Mit einem müden Lächeln wandte ich mich ab. Die meisten von denen hatten ja keine Ahnung. So gar keine.   Ich ließ meinen Blick erneut über die Menge schweifen. Die getragene Musik mit den eindringlichen Lyrics sorgte bei einigen für wilde Kopfschüttelattacken, bei anderen für eher langsame Tanzbewegungen. Ich sah mir das Ganze an, bis ich auf einmal mit den Augen an einem Typen hängenblieb. Er trug Schwarz, jede Menge davon. Nieten, kariertes Hemd und dazu die Haare machten mir schnell klar, dass ich da ein Emoschätzchen auf dem Radar hatte. Die Sache war die, dass er sich irgendwie … sexy bewegte. Die fließenden Bewegungen und die enge Jeans, von der ich weniger zu sehen bekam, als mir lieb war, ließen auf was Nettes unter der Verpackung schließen. Er tanzte allerdings mit geschlossenen Augen wie in Trance. Keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Ich würde mich also näher ranwagen müssen, wenn ich wissen wollte, ob ich eine Chance hatte. Mit einem letzten Schluck vernichtete ich den Rest des geklauten Biers und stellte die Flasche einfach irgendwo ab. Danach stürzte ich mich ins Getümmel.   Die Enge und die sich aneinander drängenden Leiber machten es einfach, sich mitten in seine Komfortzone hineinzubewegen. Ich ging also ran. So nah, dass er mich vor sich spüren musste. Und tatsächlich öffnete er die Augen. Welche Farbe sie hatten, konnte ich nicht erkennen. Nur, dass sie dunkel waren. Er lächelte. Wir bewegten uns miteinander, die Blicke nicht vom anderen lassend. Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde, doch ich beschwerte mich nicht. Stattdessen kam ich noch ein Stück näher, als ich plötzlich jemanden hinter mir spürte. „Gefällt er dir?“, raunte jemand in mein Ohr. Ich fuhr herum und stand vor dem weiblichen Gegenstück meines Emos. Sie war in das gleiche Schwarz gekleidet, nur mit mehr Haut und weniger Nieten. Dafür zierten ihre Unterlippe zwei Snakebites. Ebenfalls schwarz genau wie ihre Haare, die in dünnen Dreads nach unten hingen. Auf dem Arm hatte sie ein halbkreisförmiges Tattoo. Sie grinste mich an. „Und?“, fragte sie noch einmal. „Gefällt er dir nun?“ „Wer?“, fragte ich dämlicherweise nach.   Sie lachte.   „Na Tom hier. Kannst auch Tomtom zu ihm sagen. Ich nenn ihn immer mein kleines Navi. Mein Name ist übrigens Kiki.“   Kiki und Tomtom also. Die beiden schienen sich zu kennen. Nicht gut. „Ich glaube, ich lasse euch mal wieder alleine“, sagte ich und wollte schon gehen, als Kiki mich aufhielt, indem sie mir einfach die Arme um den Hals legte. „Warum denn, mein Hübscher? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt. Da willst du schon wieder gehen?“   „Sorry, ich hab noch ne Verabredung“, sagte ich und wollte ihre Arme wegschieben, als sich jemand von hinten an mich lehnte. „Bist du wirklich verabredet oder ist das nur ne Ausrede, weil du uns gruselig findest?“   Tomtoms Stimme war warm und dunkler, als ich gedacht hatte. Ich drehte mich wieder zu ihm herum. Kikis Arme lagen immer noch auf meinen Schultern. Tom lächelte leicht. „Sorry, falls das eigenartig rüberkam, aber du bist uns vorhin schon aufgefallen.“   „Aufgefallen?“ Ich runzelte die Stirn. „Wo denn?“   „Als du über meine Füße gestolpert bist.“   Wieder lächelte er. Es war ein angenehmes, offenes Lächeln und ich verstand. Das Pärchen bei den Toiletten. Das mussten die beiden gewesen sein. Dem leicht süßlichen Geruch, der ihn umgab, nach zu urteilen, wusste ich auch, warum die beiden nichts aus der Ruhe gebracht hatte.   „Rauchst du?“ „Hab aufgehört.“ „Lust wieder anzufangen?“   Ich schluckte. Der Drang, gerade jetzt eine zu rauchen, war stark und wurde mit jedem Moment stärker. Das Bier hatte Lust auf mehr gemacht. Und die Aussicht, mir von Tom eine schnorren zu können, ohne dass es billig wirkte, klang ebenfalls nicht übel. Ich wusste zwar noch nicht, wo das Ganze hinführen würde, aber eine Kippe war schon mal ein Anfang.   Als ich draußen den ersten Zug tat, brannte mein Mund, mein Hals, meine Lunge. Trotzdem sog ich den Rauch tief ein, während ich genießend die Augen schloss. Tom, der mir gerade Feuer gegeben hatte, lächelte schon wieder. Das gefiel mir. „Gut?“, fragte er. „Oder brauchst du was Stärkeres?“ Er ließ kurz den Joint sehen, den er in seinem Tabakpäckchen versteckt hatte. Seine kurzen Fingernägel waren schwarz lackiert. Ich schüttelte den Kopf. „Später vielleicht.“ „Okay, dann später.“   Er kam näher auf eine Weise, die ich nicht falsch verstehen konnte. Ich hatte zwar immer noch die Zigarette in der Hand, aber die Vibes, die er aussandte, waren eindeutig. Zu eindeutig dafür, dass seine Freundin doch offenbar neben ihm stand. „Seid ihr beide … ein Paar?“   Er sah mich an und nicht etwa Kiki, die hinter ihm stand und uns beobachtete. „Könnte man so sagen. Wobei wir das nicht so genau definieren. Wenn einer von uns mal Lust auf was anderes hat, ist das vollkommen in Ordnung. Du verstehst, was ich meine?“   Ich verstand. Ich verstand sogar ziemlich gut. Er war jetzt so nahe, dass ich aufpassen musste, ihn nicht mit der heißen Asche zu verbrennen. Seine Gürtelschnalle streifte meinen Schritt. Es war wie ein Stromschlag, der die Lampen angehen ließ.   „Hier auf der Straße ist vielleicht ungünstig“, gab ich zu bedenken. Er lachte leise. „Stimmt. Wollen wir reingehen?“ „Sofa?“ „Gern.“   Ich beendete noch schnell die Zigarette und merkte, wie das Nikotin sich zu dem Alkohol mischte, der bereits durch meine Adern kreiste. Die lange Auszeit machte sich bei beidem bemerkbar. Anders war es wohl nicht zu erklären, dass ich kurz darauf auf dem abgeranzten Sofa vor den Bartoiletten saß, mit Tom auf meinem Schoß und seiner Zunge in meinem Hals. Immerhin hatte ich so ziemlich schnell herausgefunden, dass er ebenfalls ein Piercing hatte und zwar in der Zunge. Es klickte gegen meine Zähne beim Küssen. „Stimmt es eigentlich, was man sagt?“, fragte ich und biss ihm leicht in die Unterlippe, während meine Hände über seinen Hintern wanderten. Er war fest und klein.   „Was meinst du?“   Sein Atem vermischte sich mit meinem und sein Gewicht lag genau auf den richtigen Stellen. „Dass es sich geil anfühlt, wenn man mit einem Zungenpiercing einen geblasen bekommt.“ Er grinste und beugte sich vor, um mir ins Ohr zu flüstern.   „Möchtest du es ausprobieren?“ „Jederzeit.“   An diesem Punkt beschlossen wir, die Party zu Tom und Kiki nach Hause zu verlegen. Die zwei wohnten einen Fußmarsch vom Kiez entfernt in einer ziemlichen Bruchbude, soweit ich das mit meinem benebelten Kopf noch erkennen konnte. Kiki hatte dafür gesorgt, dass wir während der Couchaktion nicht auf dem Trockenen saßen, während sie sich ansonsten diskret zurückgehalten hatte. Mir war das recht gewesen, denn ich hatte nicht unbedingt Bock auf ihre Möpse in meinem Gesicht gehabt. Auch wenn sie nur klein waren. Ich stand nun mal nicht drauf. Auf Toms Hintern dafür umso mehr.   Wir rauchten, wir tranken, wir kifften. Irgendwann war ich so weit, dass es mir nicht mal mehr was ausmachte, dass Kiki sich zu uns legte, während Tom es mir mit dem Mund besorgte. Das Piercing fühlte sich wirklich interessant an und beanspruchte fast meine gesamte Aufmerksamkeit. Ich fand es sogar praktisch, dass sie ihn vorbereitete, damit ich ihn kurz darauf ficken konnte. Ich hatte keine Arbeit, aber ich hatte Sex. Guten Sex. Und wenn ihm dabei einer abging, seine Freundin zu lecken, während mein Schwanz in seinem Arsch steckte, dann sollte mir das doch egal sein. Ich machte einfach die Augen zu und ignorierte die fiependen Laute, die sie dabei machte. Lieber konzentrierte ich mich auf das Stöhnen, das Tom von sich gab, während ich ihn immer stärker stieß. Er schien drauf zu stehen, dass ich ihn so richtig durchnahm. Also griff ich mir seine schmalen Hüften und verdrängte, an wen sie mich erinnerten. Nur nicht darüber nachdenken.   Irgendwann kam ich. Mit pfeifender Lunge und Schweiß auf der Stirn zog ich mich aus ihm zurück und entsorgte das Kondom, nur um gleich darauf Zeuge zu werden, wie Kiki ihn auf den Rücken rollte und ihn bestieg. Sie ritt ihn, während sein Kopf auf meinem Schoß lag, die sorgfältig geglätteten Haare ein unordentlicher, klebriger Mob. Als die beiden fertig waren, schliefen wir ein, wo wir gerade lagen. Unsere Körper ein wirrer, befriedigter Haufen.     Ich erwachte mit Kopfschmerzen. Zu viel Rauch, Gras und Alkohol befanden sich in meinem Kopf und auch im Rest von mir, der sich in einer innigen Umarmung mit Toms Rücken befand. Kiki war von der anderen Seite gegen ihn gekuschelt. Dass wir so hatten schlafen können, grenzte an ein Wunder.   Vollkommen breit, schoss es mir durch den Kopf und hinterließ auf seinem Weg schmerzhafte Striemen. Alles an mir war roh und wund, obwohl ich doch gar nicht derjenige gewesen war, der … oder doch?   Ich überlegte kurz, doch eigentlich war ich mir sicher, dass ich nicht der passive Part gewesen war. Immerhin so weit war ich mir im Klaren über den Ablauf. Was den Rest anging, waren es mehr so Bruchstücke, die sich sicherlich zu einer ziemlich schrägen Nacht hätten zusammensetzen lassen, wenn ich denn gewollt hätte. Ich wollte aber nicht. Ich wollte pissen. Und kotzen. Je nachdem was auf dem Weg zur Kloschüssel dringlicher wurde.   Mein Körper entschied sich fürs Kotzen.   Als mein Mageninhalt in der Schüssel gelandet war und mir die saure Spucke vom Mund tropfte, hörte ich die Badtür gehen. Verdammt, ich hatte nicht abgeschlossen. „Oha, rückwärts gefrühstückt?“   Es war Tom. Tom, der ziemlich gute Laune hatte. „Arschloch“, maulte ich ihn an und bereute es im gleichen Augenblick, in dem er mir einen nassen Lappen reichte und die unrühmlichen Überreste meines Anfalls ohne Kommentar runterspülte. Ich wischte mir über den Mund und das Gesicht, bevor ich mich kurzerhand neben dem Porzellanaltar zu Boden sinken ließ. Das Pinkeln musste warten, bis ich wieder stehen konnte. „Ich dachte, du verträgst mehr“, meinte er und lächelte mich zaghaft an. „Alles gut?“ „Jaja, ich … ich bin nur ne Weile nicht drauf gewesen. Das ist alles.“ „Mhm, verstehe. Auch duschen? Wir könnten zusammen, wenn du willst.“   Er zwinkerte mir zu und ließ dann die Shorts fallen, die er sich offenbar ohnehin nur alibilhalber übergestreift hatte. Erst jetzt sah ich das Tattoo, dass er ein Stück neben seinem Hüftknochen hatte. Eine schwarze Rose. „Nett“, sagte ich und ließ offen, ob ich das Tattoo oder das Ding ein Stück weiter links meinte. Er nahm es trotzdem als Kompliment. „Danke. Bist auch nicht übel gebaut. Hat sich gut angefühlt.“ Er stieg in die Badewanne und zog den weißen Vorhang zu. Für einen Moment war ich versucht, mich tatsächlich dazuzugesellen, aber mein Körper signalisierte mir deutlich, dass er eine Pause brauchte. Zwischen meinen Beinen regte sich nichts. Ob das am Gras lag?   Bevor ich zu einem Schluss kam, ging schon wieder die Tür auf und Kiki kam rein. Sie grinste, als sie mich am Boden sitzen sah. Auch sie war bis auf ihre Unterwäsche nackt. „Hey, unser kleiner Loverboy! Hast Tomtom ja ordentlich zum Stöhnen gebracht. Respekt.“   Immer noch grinsend kam sie zu mir rüber und machte Anstalten, ihr Höschen runterzuziehen. „Woah, mach mal halblang. Ich steh nicht so auf … das da.“   Ich wedelte mit der Hand ungefähr in Richtung ihres Unterleibs. „Autsch, so schlimm?“, fragte sie mit echter Sorge im Gesicht. „Könntest du dann bitte rausgehen? Ich muss dringend pinkeln.“   Ich tat ihr den Gefallen und verließ das Bad, während Tom immer noch duschte. Das Wasserrauschen riss nicht ab und kurz darauf kamen meine beiden Bettgefährten mit feuchten Haaren aus der Dusche. Offenbar hatte Kiki Toms Angebot mehr zugesagt als mir. Ich nutzte das leere Badezimmer, um nun endlich pissen zu gehen. „So, ihr, Süßen, ich muss dann mal. Die Uni ruft“, verkündete Kiki kurz darauf, verschwand im Schlafzimmer und kam zehn Minuten später komplett angezogen und geschminkt wieder heraus. Möglicherweise hatte sie die Tunke vom Abend zuvor aber auch einfach nur nicht richtig runtergewaschen. So genau hatte ich nicht hingesehen.   „War nett mit dir, äh … Manuel?“   Meinen Namen hatte ich offenbar irgendwann genannt. Und sie hatte ihn behalten. „Wäre schön, wenn wir uns mal wiedersehen. Bis dann.“ Sie küsste Tom noch auf die Wange, dann war sie fort und wir beide blieben allein zurück. „Kaffee?“, fragte Tom und ich konnte nur noch nicken. Ich folgte ihm in die winzige Küche, wo er eine uralte Kaffeemaschine zum Röcheln brachte, bevor er sich gegen die Arbeitsfläche lehnte und mich ansah. Sein Körper steckte inzwischen immerhin in einem schwarzen T-Shirt mit passender Hose. Ich hatte derweil an dem wackeligen Küchentisch Platz genommen, der gerade mal Platz für zwei Leute bot. Zwei wohlgemerkt, nicht drei.   „Und? Was machst du heute so? Für die erste Stunde bist du wohl ein bisschen spät dran.“ „Wohl wahr.“   Ich lachte, bis mir auffiel, dass ich gerade indirekt zugegeben hatte, dass ich noch zur Schule ging. Als ich dabei offenbar ein ertapptest Gesicht machte, lachte nun Tom. „Keine Bange, ich verrat keinem, dass du schwänzt. Auf welcher Schule bist du?“   Ich nuschelte irgendwas Unverständliches und das Lächeln auf Toms Gesicht wurde etwas weniger hell. „Verstehe. Keine Fragen, keine Verpflichtungen. Ist okay für mich. Ich hab die Nacht trotzdem genossen.“   Ich blickte zu Boden und kam mir mit einem Mal furchtbar schäbig vor. Mochte ja sein, dass es eigentlich Tom und Kiki gewesen waren, die mich aufgegabelt hatten, aber immerhin hatte mein ursprünglicher Plan vorgesehen, Sex gegen eine Unterkunft für die Nacht einzutauschen. Im Nachhinein fühlte sich das ein bisschen an wie auf den Strich gehen. Ob das wohl als Nächstes kam? Ich hörte Tom mit den Tassen klappern und kurz darauf stellte er eine dampfende Tasse vor meine Nase.   „Milch oder Zucker?“ „Nein danke. Ich trinke schwarz wie meine Seele.“   Ich nahm einen ersten Schluck des heißen Gebräus und merkte, wie mein Magen schon gleich wieder dagegen rebellierte. Aber die Tasse war heiß und mir irgendwie kalt, sodass sich sie in der Hand behielt, aber Tom immer noch nicht ansah. „Deine Seele ist also schwarz?“, wollte Tom wissen. Er griff sich den zweiten Stuhl, der nicht zu meinem passte, und setzte sich zu mir. Eine Kippe rollte in meine Richtung und ich griff danach, bevor sie zu Boden fiel. Toms Feuerzeug schnickte und ich hob notgedrungen den Kopf, um mir Feuer geben zu lassen. Tom musterte mich aufmerksam. Ich sah, dass seine Haare sich leicht kräuselten. Sie so glatt zu kriegen wie gestern Abend, musste ne Menge Arbeit sein. Ich sog den Rauch ein und blies ihn durch die Nase wieder aus. Die Wirkung setzte fast sofort ein. „Ja“, gab ich endlich zur Antwort. „Ist sie. Rabenschwarz sogar.“   „Warum?“ „Weil …“   Ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge, bevor ich was Dummes sagte. Stattdessen nahm ich noch einen Zug aus der Zigarette. Ein Tabakkrümel blieb zwischen meinen Lippen hängen. Ich pulte ihn heraus und ließ ihn fallen. In dem Moment knurrte mein Magen.   „Oh“, rief Tom und sprang auf, bevor ich reagieren konnte. „Fuck! Scheiße! Ich bin so ein furchtbarer Gastgeber. Hast du Hunger? Ich hab nicht dran gedacht, dass nicht alle Leute morgens nichts essen.“   Er wuselte zum Kühlschrank und steckte den Kopf hinein. An der Tür klebten Zettel. Ein Fotostreifen von Tom und Kiki, Rechnungen, ein Zahnarzttermin. Irgendwie verrückt. „Oh man, hier ist nur Mist drin. Ich muss echt wieder einkaufen. Kiki köpft mich, wenn sie das sieht. Bis dahin hast du die Auswahl zwischen Frühlingszwiebeln, eingelegten Oliven und Erdbeerjoghurt. Ist auch nur ne Woche abgelaufen.“   Er hielt den Becher hoch und sah dabei so herzzerreißend verzweifelt aus, dass ich lachen musste. „Kein Problem. Ich hol mir unterwegs was.“ „Unterwegs? Unterwegs wohin?“   Wieder hätte ich beinahe geantwortet, dass ich das noch nicht wusste. Argwöhnisch nahm ich Tom ins Visier. „Du stellst ganz schön viele Fragen“, knurrte ich und zog an der Kippe. Das Ding war schon fast ausgebrannt und ich spürte die Hitze an meinen Fingerknöcheln. „Oh, sorry. Berufskrankheit.“ „Wieso, was bist du denn?“ „Ich studiere noch. Oder hab ich zumindest. Jetzt fehlt mir gerade das Geld. Hab meinen Bafög-Antrag versemmelt. Derzeit jobbe ich mal hier mal da.“   Er setzte sich wieder zu mir an den Tisch und ich stellte mir zum ersten Mal die Frage, wie alt Tom eigentlich war. Älter als ich, so viel stand fest. Aber wie viel, konnte ich einfach nicht einschätzen.   Tom lächelte jetzt wieder, wurde dann aber ernster. „Ich will später mal was mit Menschen machen. Ihnen helfen und so. Ich mag Menschen, weißt du.“   „Mhm“, machte ich und wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. An mir gab es nicht viel zu mögen. „Deswegen bist du mir aufgefallen. Du sahst aus, als wenn du auf der Suche wärst. Verrätst du mir, auf der Suche wonach?“   Ich drückte meine Kippe in den gläsernen Aschenbecher auf dem Tisch und starrte in meine Kaffeetasse. Sie war inzwischen nur noch lauwarm. „Eigentlich hab ich nur ne Unterkunft für die Nacht gesucht“, gab ich ehrlich zu. Es würde den Abschied sicherlich unangenehmer, aber auch schneller machen. „Dann würde ich sagen, du bist fündig geworden. Aber glücklich scheinst du nicht zu sein.“   Ich zog die Nase hoch und stellte die Tasse ab. „Ich glaube, ich sollte gehen“, verkündete ich und stand auf. „Ich … war nett mit euch, ja wirklich. Aber ich muss dann mal.“   Tom sagte nichts dazu. Er begleitete mich nur zum Schlafzimmer, wo er in der Tür stand, während ich in dem muffigen, nach Sex und Gras riechenden Raum meine Sachen zusammensuchte. Als ich fertig war, verstellte er mir auf einmal den Weg. „Was soll das? Ich muss los.“ „Und wohin?“ Wieder stellte er diese Frage. Die Frage, auf die ich keine Antwort hatte. „Kann dir doch egal sein“, fauchte ich ihn an. „Ich hab dich gefickt. Ich hatte nicht vor, dich zu heiraten.“   Tom zuckte nicht einmal mit der Wimper, als ich ihn so anschrie. Er lächelte bloß ein bisschen traurig. „Weil ich mir Sorgen um dich mache“, erklärte er ruhig. „Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich mich letzte Nacht nicht strafbar gemacht habe, aber ich bin mir nicht sicher, ob du schon alt genug für FSK18 bist. Also, Manuel, lass mich dir helfen.“ „Warum?“, grollte ich. „Damit du deinen beschissenen Helferkomplex an mir ausleben kannst?“ „Nein. Damit ich nachts ruhig schlafen kann, weil ich weiß, dass es dir gutgeht. Du bedeutest mir was.“   Ich starrte ihn an. Hatte ich mich gerade verhört? Da stand dieser dürre, zungengepiercte Emo-Kiffer vor mir und erklärte mir allen Ernstes, dass ich ihm was bedeutete? Das konnte doch nur ein Scherz sein.   „Ich brauch dein Mitleid nicht.“ „Es ist kein Mitleid. Das sagte ich doch gerade. Ich will dir helfen. Du musst mir nur sagen, was ich machen soll.“   Ich wandte den Blick ab. „Du kannst da nichts machen. Niemand kann das. Nicht mal ich.“ „Bist du sicher?“   Ich hörte, wie er etwas aus seiner Tasche kramte. Als ich aufsah, war es sein Handy, das er mir hinhielt. „Wenn du dir von mir nicht helfen lassen willst, dann ruf jemanden an, der es kann. Bitte, Manuel. Geh da nicht raus, nur weil dein Stolz dir sagt, dass es schwach wäre, Hilfe anzunehmen. Niemand muss die Welt allein auf seinen Schultern tragen. Einiges schafft man nur zusammen.“   Ich blickte Tom an und sah, dass seine Augen blau waren. Blau wie die von Tobias. Nicht braun wie Leifs. Er lächelte wieder. „Ruf ihn an!“, wiederholte er. Ich konnte nur ahnen, was für eine Geschichte er sich gerade in seinem Kopf zusammenspann. Vermutlich irgendwas über einen Streit mit meinem Lover, vor dem ich davongelaufen war oder was auch immer. Dabei war es das nicht. Es war doch ganz anders. Aber vielleicht … vielleicht hatte Tom mit dieser einen Sache recht. Dass ich jemanden anrufen sollte. Ob er kommen würde?   „Okay“, sagte ich schließlich. „Ich … ich muss da aber mal was googeln. Darf ich?“ „Mi casa es su casa. Tob dich nur aus.“   Ich bedankte mich, drehte mich von ihm weg und rief die Suchmaschine auf. Langsam tippte ich Buchstabe für Buchstabe ein, bis ich schließlich „Thielensee“ zu Ende geschrieben hatte. Als die Ergebnisse erschienen, prangte gleich unter der Adresse ein blauer Hörer. Ich schluckte. Wenn ich da draufdrückte, würde ich zurückkommen. Oder sie würden mich rausschmeißen. Würden sie? Bekam ich noch eine Chance? Hatte ich die überhaupt verdient?   „Na los, gib dir einen Ruck. Du schaffst das. Ich bin da.“   Tom trat einen Schritt näher und legte leicht den Arm um mich. Es war eine tröstende Geste, aber sie kam von der falschen Person. Von der völlig falschen.   Ich schloss die Augen, atmete tief durch und schickte einen stummen Wunsch irgendwo nach draußen in den Äther, bevor ich sie wieder öffnete und endlich die Nummer wählte. Am anderen Ende begann es zu klingeln.   Kapitel 12: Katerstimmung ------------------------- Als Tobias’ Auto in Sicht kam, wurde ich nervös. Ich saß jetzt schon eine ganze Weile zusammen mit Tom vor der Tür seines Hauses und wartete, dass mich jemand abholte. Die Reaktion auf meinen Anruf war … routiniert gewesen. Natürlich war Frau Hansen, die Sekretärin, rangegangen, aber als sie mitbekommen hatte, wer dran war, hatte sie schnell Bescheid gegeben und ich hatte nur Augenblicke später Tobias am Ohr gehabt. Er hatte nicht lange gefackelt und nur gefragt, wo ich war und ob er mich abholen sollte. Ich hatte ihm Toms Adresse genannt und mich nach dem Auflegen erst einmal setzen müssen. Tom hatte mich mitleidig angesehen. „Ich hol uns mal was zum Frühstück“, hatte er verkündet und war kurz darauf mit einer Tüte vom Bäcker wieder gekommen. Wir hatten gegessen, Kaffee getrunken und an dem winzigen Küchentisch zusammen geraucht. Geredet hatten wir nicht. Ich hatte nicht gewusst, worüber, und Tom hatte mein Schweigen akzeptiert. Vielleicht war sein Kopf aber auch mit der gleichen Watte gefüllt gewesen wie meiner. Als jetzt jedoch Tobias auf der anderen Straßenseite parkte und ausstieg, blickte Tom interessiert auf. „Ist er das?“   Ich nickte nur, obwohl ich wusste, dass Tom das sicherlich falsch verstehen würde. Ich war nicht in der Stimmung, die ganzen Umstände zu erklären. Warum ihn damit belasten, wenn er doch eh nichts daran ändern konnte.   Tobias sah sich um und überquerte die Straße. Am besten wäre ich wohl aufgestanden, hätte mich von Tom verabschiedet und wäre ihm entgegengegangen. Aber ich tat es nicht. Ich wartete, bis Tobias zu mir kam. Er blieb etwa einen halben Meter vor mir stehen und sah auf mich herab.   „Hallo Manuel.“ Sein Ton war ein wenig reserviert. Bildete ich mir zumindest ein. Sein Gesicht sagte mir nichts. Ich konnte nicht einschätzen, woran ich war; das trieb meinen Puls in die Höhe. Jetzt würde es also Ärger geben. Langsam, viel langsamer, als angemessen gewesen wäre, erhob ich mich.   „Hi“, kam es gerade noch so aus meinem Mund. Meine Kehle war wie zugeschnürt.   „Hey, ich bin Tobias“, sagte Tobias jetzt und hielt Tom die Hand hin.   „Tom“, antwortete der und stand jetzt ebenfalls auf. Er hatte immer noch die schwarzen Sachen an und seine Füße steckten in ausgetretenen Chucks ohne Schnürsenkel.   „Du hast also Manuel heute Nacht Unterschlupf gewährt?“ „Klar. War ja keine große Sache. Wir haben genug Platz.“ Das war eine Lüge. In der winzigen Einzimmerwohnung war nun wirklich nicht „genug Platz“, aber Tobias nahm es so hin. Er nickte Tom zu. „Danke. Das hätte nicht jeder gemacht.“   „Man tut, was man kann“, gab Tom zurück und lächelte. Danach wandte er sich an mich.   „Ich werd mal hochgehen. Meine Schicht fängt bald an. War schön dich kennenzulernen.“   Bevor ich etwas dagegen tun konnte, trat er zu mir und legte die Arme um mich. Ich war viel zu perplex, um die Geste zu erwidern, aber Tom schien das nichts auszumachen. „Pass auf dich auf, ja?“, sagte er, bevor er sich noch von Tobias verabschiedete und sich dann nach drinnen begab. Plötzlich war ich mit Tobias allein.   „Komm, wir gehen zum Auto.“   Ich folgte Tobias, immer noch nicht sicher, worauf das Ganze jetzt hinauslaufen würde. Auf offener Straße eine Szene machen würde er sicherlich nicht. Im Auto dann? Als ich einstieg, schwitzten meine Handflächen. Ich wischte sie unauffällig an meiner Jeans ab. Der, die ich bereits seit gestern Morgen trug und die ebenso wie der Rest meiner Sachen nach Rauch und Kneipe roch. Ich wünschte, es wäre anders gewesen.   Tobias ließ sich auf den Fahrersitz sinken, schnallte sich aber nicht an. Stattdessen legte er die Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch. Erst dann begann er zu sprechen. „Also … bevor wir losfahren, will ich noch eben eine Bestandsaufnahme machen. Dass du geraucht hast, riech ich bis hierher. Dass es nicht nur Zigaretten waren, seh ich an deinen Augen. Ich gehe recht in der Annahme, dass du auch was getrunken hast?“   Ich war versucht zu antworten, dass ich heute Morgen drei Tassen Kaffee hatte, aber ich verkniff mir den Scherz und nickte nur. Tobias atmete noch einmal tief durch. Dieses Mal klang ein wenig erleichert. „Gut. Sonst noch was, das ich wissen sollte? Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung?“   Mein Kopf ruckte herum. „Nein! Natürlich nicht!“   Wie kam er nur darauf?   „Gut. Dann muss ich also keine Reparationszahlungen leisten oder mit dir nochmal zur örtlichen Polizei gehen. Du weißt, dass wir die das eigentlich hätten regeln lassen müssen, oder?“ Ich wollte ihn nicht mehr ansehen. Ich wollte nicht sehen, wie er mich voller Abscheu musterte. Was er nicht tat. Er war ernst aber nicht … weg. Er war hier, bei mir, obwohl er es nicht musste. Vielleicht auch gar nicht durfte. Ich wusste es nicht. Aber ich verstand, dass er ganz schön was für mich riskierte. Für mich. Obwohl ich mich so scheiße verhalten hatte. Scheiße und unheimlich dumm. Wie ein kleines Kind. „Tut mir leid“, sagte ich und wandte jetzt doch den Blick ab. „Ich hätte nicht … na ja.“   „Nicht abhauen sollen? Ja, das wäre gut gewesen.“ Tobias seufzte.   „Aber es ist nun mal passiert. Lass uns einfach das Beste daraus machen.“   Seine Hand bewegte sich in Richtung Zündschlüssel. „Noch was, das ich wissen sollte?“   Er sah mich fragend an. Ich ahnte, worauf er hinauswollte, aber ich wollte nicht mit ihm darüber reden. „Ich … ich hab mir gestern in der Bar ein herrenloses Bier geschnappt. War noch halbvoll. Und ich bin schwarzgefahren. S- und U-Bahn. Und bei BK hab ich ne Pommes mitgehen lassen, die ich nicht bezahlt hatte.“   Tobias lächelte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Du weißt, dass ich das nicht meine. Brauchst du einen Arzttermin.?“ „Nee. Hab aufgepasst.“ „Das reicht nicht.“ „Man, ich hab vorgesorgt, okay? Bin ja nicht blöd.“   Dass ich diese Umsicht mehr Kiki und Tom zu verdanken hatte, ließ ich wohlweislich unter den Tisch fallen. Tobias musste ja nicht alles wissen. Zum Glück ließ er das Thema auf sich beruhen. „Wie bist du überhaupt hierher gekommen?“ „Per Anhalter.“   Er runzelte die Stirn. „Dir ist schon klar, dass das gefährlich ist?“ „Ja, aber … ich hab nicht nachgedacht.“ „Das hab ich gemerkt.“   Tobias seufzte wieder.   „Noch was?“   Ich schluckte. Da war noch was, das ich ihm sagen wollte. Weil es irgendwie rausmusste. Ich wusste nur nicht …   „Ich war bei meinen Eltern:“   Für einen Moment herrschte Stille.   „Und?“, fragte Tobias schließlich. Ich zuckte mit den Achseln. „Mein Vater hat mir eine gelangt, meine Mutter den Kopf eingezogen. Also alles wie immer.“   Ich schnaubte halb amüsiert, halb bitter.   „Aber immerhin weiß ich jetzt, warum sie mich zurückhaben wollen. Sie müssen aus ihrer Wohnung raus. Ist zu groß für die beiden.“   Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Tobias etwas erwidern wollte. Irgendwas Beruhigendes, Nettes. Aber vermutlich fiel selbst ihm zu dieser Scheiße nichts mehr ein. „Ich werde das mal an Frau Täubert weiterleiten“, sagte er am Ende und ich nickte nur. Was das bringen sollte, verstand ich zwar nicht, aber wenn er meinte, dass das eine gute Idee war, sollte er machen. „Ich denke, wir sollten langsam mal los. Die anderen warten sicher schon.“ „Okay.“   Während Tobias den Motor startete und den Wagen aus der engen Parklücke bugsierte, schaute ich aus dem Fenster. Ich blickte auf die abgewrackten Häuser und neu errichteten Paläste, die breiten Straßen und kleinen Gassen, die Bäume und Parks und natürlich die Elbe mit ihren zig Kanälen und Seitenarmen. Es war die Stadt, in der ich aufgewachsen war und von der ich sicherlich nur einen Bruchteil kannte. Doch jetzt, wo sie im Eiltempo an mir vorbeizog, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass ich eine sehr lange Zeit nicht mehr hierher kommen würde. Und vielleicht auch nicht sollte. Um Abstand zu gewinnen von dem, was ich zwischen den Lichtern und Häuserschluchten gesucht, aber nie wirklich gefunden hatte. Vielleicht, weil es nicht existierte.     Irgendwann erreichten wir den Kreisel und damit die Autobahn. Hier draußen hatte man schon gar nicht mehr das Gefühl, in Hamburg zu sein. Es gehörte nicht mehr dazu. Rechts und links der Straßen gab es nur noch Bäume und Lärmschutzwände. Grün und Grau im stetigen Wechsel. Als die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben wurde, beschleunigte Tobias noch einmal und wir waren endgültig unterwegs.   „Und?“, fragte er irgendwann mit einem Seitenblick auf mich „Willst du mir jetzt vielleicht sagen, was gestern los war? Im Heim, meine ich.“   Ich verzog das Gesicht. „Das hat Maik dir doch bestimmt schon alles erzählt.“ „Ja, aber ich will es von dir hören.“   Ich atmete tief durch. Das musste wohl sein. Also fing ich an. „Ich hatte Zoff mit Maik. Weil ich nicht richtig geputzt hab.“ „Und warum nicht?“ „Hatte verschlafen.“   Tobias reagierte nicht darauf. Brauchte er auch nicht. Ich wusste auch so, was er sagen wollte. „Jaa, schon klar“, stöhnte ich und starrte wieder aus dem Fenster. „Das ist allein meine Schuld und ich hätte eben früher aufstehen müssen. Ich hab’s kapiert.“   Ein Lächeln zupfte an Tobias’ Mundwinkeln. „Schön, dass wir uns da einig sind. Und weiter? Was war in der Schule los?“ „Nichts besonderes. Hab mich mit Frau Schmidt angelegt. Du weißt doch, wie sie ist.“   Ich hoffte, dass Tobias sich damit zufrieden geben würde, aber leider wurde meine Bitte nicht erhört.   „Und was war mit Leif? Maik hat gesagt, ihr beide hattet Stress. Was war da los?“ „Nichts“, sagte ich viel zu schnell, als das Tobias mir hätte glauben können. Ich sah weiterhin stur geradeaus. „Also nichts Wildes. Ich … ich hab was Dämliches gemacht und er war sauer deswegen.“   „Und was?“   Ich schwieg daraufhin und Tobias fragte zum Glück nicht weiter nach. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich konnte Tobias ja schlecht von dem Tagebuch erzählen. Schlimm genug, dass ich es hatte mitgehen lassen, aber Leif auch noch zu verraten? Nein. Das würde ich nicht tun.   „War das alles?“, hakte Tobias nach einer Weile nach. Ich zuckte mit den Schultern. Erst, als er einen Blick auf meinen Schoß warf, fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit mit dem Bein wackelte. Ich hielt die Bewegung sofort an, aber die Nervosität blieb. Das Kribbeln, das Verlangen, mich irgendwie runterzukriegen, wurde mit jedem Moment stärker und bewirkte doch das genaue Gegenteil. Tobias nahm das zum Anlass, das Gespräch auf ein neues Thema zu lenken.   „Ich hab gehört, dass deine Kaugummis alle sind.“   „Ja“, sagte ich und tat, als ob mir das nichts ausmachte. „Gab es Ärger deswegen?“   „Nein. Aber leider darf ich dir auch keine mehr mitbringen, wenn wir nicht das Okay von einem Arzt bekommen. Vielleicht sollten wir also doch mal einen Termin machen. So für alle Fälle.“   Ich wusste, dass er damit auch auf die andere Sache anspielte, aber sei’s drum. Dann würde ich mich eben durchchecken lassen. War ja nicht so, dass ich was zu verbergen hatte. „Und was sonst noch?“, wollte ich wissen und betrachtete eingehend die Landschaft. „Bekomme ich jetzt Stubenarrest? Elektronische Fußfesseln? Nachteinschluss? “   Tobias lachte auf.   „Quatsch! Thielensee ist doch kein Gefängnis. Wenn wir dich nur wegsperren wollten, könnten wir das auch einfacher haben.“ „Du meinst so mit Zäunen und Mauern? Abschließbaren Fenstern und Türen ohne Klinken? So was etwa?“   Wieder lachte Tobias. Es klang, als hätte er Spaß.   „Die sind doch nur dafür da, um dir die Flucht zu erschweren. Dir die Möglichkeit zu geben, noch einmal darüber nachzudenken, ob du das wirklich tun willst. Du weißt doch selbst, dass du jederzeit rauskommen würdest. Es wird immer wieder Gelegenheiten dafür geben, früher oder später.“   Ich sagte nichts dazu. Natürlich war es naiv gewesen anzunehmen, dass die Erzieher nichts von dem Baum im Park wussten. Und garantiert war ich nicht der Erste, der einfach von seinem Ausgang oder einer Einkaufstour nicht zurückgekommen war. Die Idee hatten sicherlich schon andere vor mir gehabt.   „Das eigentliche Ziel ist, dass du nicht mehr weg willst. Und damit meine ich nicht irgendwelche psychologischen Tricks, sondern tatsächlich die Einsicht, dass wir für dich da sind und dir helfen wollen. Vielleicht sogar können. Das ist nämlich unser Job, schon vergessen?“   „Nein“, brummte ich. „Natürlich nicht.“   „Dann lass uns unseren Job auch machen. Rede mit uns! Wir finden eine Lösung. Nicht für dich, sondern mit dir zusammen.“   Tobias machte eine kurze Pause, um einen Lkw zu überholen, bevor er wieder zu reden begann.   „Also jetzt mal Butter bei die Fische. Warum bist du weggelaufen?“   Die Frage kam so plötzlich, dass ich Tobias einfach nur anstarren konnte. Irgendwann zuckte ich – mal wieder – mit den Schultern.   „Ich weiß nicht. In dem Moment schien es mir einfach das Richtige zu sein.“ „Das Richtige oder das weniger Falsche?“   Ich schnaufte, statt zu antworten. Natürlich wusste ich, dass es falsch gewesen war wegzulaufen. Das musste er mir nicht die ganze Zeit unter die Nase reiben.   „Keine Ahnung“, sagte ich schließlich, als die Stille zu lang wurde. „An dem Tag ist irgendwie so viel Scheiße passiert. Da wollte ich einfach weg.“   „Warum hast du nicht versucht, die Probleme zu lösen?“ „Wie denn?“   Meine letzte Frage hatte verzweifelter geklungen, als ich gewollt hatte. Tobias schickte mir einen kurzen Blick.   „Wie denkst du denn, dass du sie hättest lösen können?“   Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. Diese ganze Fragerei regte mich tierisch auf. „Ich sagte doch schon, dass ich das nicht weiß. Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich ja nicht … Dann wäre ich nicht weggelaufen.“ „Siehst du? Genau das ist der Punkt.“ Tobias grinste, als hätte ich gerade eine bahnbrechende Erkenntnis gehabt. Ich dagegen kam mir einfach nur dumm vor.   „Was denn für ein Punkt?“ „Der Punkt, an dem du ansetzen kannst. Wenn du weißt, wie du deine Probleme aus der Welt schaffen kannst, musst du nicht mehr vor ihnen davonlaufen. Wäre doch praktisch, oder?“   Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich sechzehn und nicht sechs war, aber dann ließ ich es bleiben. Es hätte noch lächerlicher geklungen, es auch noch auszusprechen. „Ja, wäre es“, gab ich murrend zu. Denn natürlich wäre es besser gewesen, wenn ich pünktlich aufgestanden wäre. Es wäre besser gewesen, Leifs Buch nicht zu klauen und schon gar nicht hätte ich es mit in die Schule nehmen dürfen. Ich hätte Maik nicht so anpampen sollen und vor allem hätte ich mich von Sven nicht so provozieren lassen sollen. Und schon gar nicht hätte ich einfach aus diesem Supermarkt abhauen sollen. Damit hätte ich dann eine ganze Liste an Dingen, die ich besser nicht getan hätte. Doch wo waren jetzt die Alternativen? Tobias schien zumindest nicht daran zu zweifeln, dass es sie gab. „Na gut, dann halten wir das mal als Plan fest. Ich und Thomas haben uns auch schon ein bisschen was überlegt. Du wirst sehen, wir kriegen das hin. Du kriegst das hin.“     Trotz dieser Versicherung, wurde mir leicht mulmig, als das Heim endlich in Sichtweite kam. Wie die anderen wohl reagieren würden, wenn ich wieder zurückkam? Ob sie mich auslachten, weil ich so schnell den Schwanz eingekniffen hatte? Oder weil ich überhaupt weggelaufen war? Aber Tobias hatte gesagt, dass eigentlich fast jeder irgendwann mal ausgerissen war. Und dass ich jederzeit zu ihm kommen konnte, wenn ich mal wieder das Gefühl hatte, es nicht auszuhalten.   „Und wenn du dann wieder freihast?“, hatte ich gefragt und erst danach gemerkt, dass sich das wie ein Vorwurf anhörte. Auch Tobias hatte mich ein bisschen merkwürdig angesehen. „Dann sind doch noch die anderen Betreuer da.“ „Ja, aber …“   Ich hatte mich unterbrochen, weil ich selbst gemerkt hatte, wie armselig sich das anhörte. Tobias hatte leicht gelächelt. „Ich freue mich ja, dass du mir ein bisschen mehr vertraust als den anderen. Aber glaub mir, die wissen auch, was sie tun. Vielleicht sogar besser als ich. Thomas hat, wie du ja inzwischen weißt, selber Kinder und den totalen Überblick. Henning ist immer sehr besonnen in seinen Entscheidungen und hat ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Und Maik hat den Kram sogar studiert. Die kennen sich aus. Glaub mir. Und manchmal ist es besser, sich mehr als eine Wahrheit anzuhören, bevor man sich für etwas entscheidet.“ Daraufhin hatte ich nichts mehr gesagt. Ich hatte lediglich aus dem Fenster gestarrt und mich dagegen gewehrt zu glauben, was er gesagt hatte. Vielleicht auch, weil ich es nicht hatte glauben wollen. Jetzt waren wir wieder hier und der Klumpen in meinem Magen hatte erneut angefangen zu wachsen.     „Sieh an, der verlorene Sohn“, begrüßte Thomas mich in der Küche des ansonsten wie ausgestorben wirkenden Wohnheims. Tobias hatte ihn zwischendurch angerufen, um ihm zu sagen, dass wir auf dem Rückweg waren. Ich hatte im Auto gewartet, während Tobias telefoniert hatte, aber ich nahm an, dass Thomas vollkommen im Bilde war, was und wo ich mich rumgetrieben hatte.   „Hi“, grüßte ich zurück. Während ich noch überlegte, wie ich mich jetzt am besten verhalten sollte, wandte Thomas sich schon an Tobias.   „Seid ihr gut durchgekommen?“ „Klar. Um die Zeit ist ja kaum Stau. Ging alles glatt.“ „Und hast du Manuel schon von den zusätzlichen Maßnahmen erzählt?“   Ich horchte auf.   „Zusätzliche Maßnahmen?“   Ich mochte nicht, wie sich das anhörte. Thomas sah mich an.   „Du sollst ein paar Sitzungen bei einem Psychologen bekommen. Hat Tobias dir das nicht erzählt?“ „Nein. Hat er wohl vergessen.“   Ich schoss einen Blick in Tobias’ Richtung ab. Er lächelte entschuldigend. „Wir haben erst mal über die konkreten Probleme gesprochen.“ „Okay, dann nochmal in Kürze. Ausgang ist erst mal wieder gestrichen. Nicht, weil wir dich bestrafen wollen, sondern um dir die Flucht beim nächsten Mal ein bisschen schwerer zu machen. Du darfst allerdings weiter mit zum Einkaufen.“ „Ich darf was?“   Gefühlt fielen mir gerade die Augen aus dem Kopf. „Ja, aber du wirst dabei ein bisschen mehr unter Beobachtung stehen. Es war nicht gerade toll festzustellen, dass mir auf einmal einer meiner Schützlinge fehlt. Ich würde das gerne beim nächsten Mal vermeiden.“   Als Thomas das sagte, wurde mir erst so richtig bewusst, wie das wohl für ihn gewesen sein musste. Immerhin hatte er mit Sven im Supermarkt gestanden, zwei Wagen voller Einkäufe und ich auf einmal weg. Das war bestimmt scheiße gewesen.   „Tut mir leid“, murmelte ich und senkte den Blick. „Ich hab nicht nachgedacht.“   „Ja, das dachten wir uns schon. Kurzschlussreaktionen kommen vor. Wir werden daran arbeiten. Außerdem wollen wir ein regelmäßiges Sportprogramm auf die Beine stellen. Tobias hat da schon ein paar Ideen, die dir bestimmt gefallen werden. Und du wirst ein individuelles Konfliktmanagement-Programm bekommen. Ich hab das Gefühl, dass du in den Gruppenveranstaltungen noch nicht so ganz mitbekommen hast, worum es geht.“   Wieder sah ich Thomas nicht an. Diese Stunden, in denen wir in irgendwelchen Rollenspielen Streits simulieren und lösen sollten, waren einfach nur ätzend. Allein deswegen, weil ich immer das Gefühl hatte, dass Sven und Nico nur darauf warteten, dass ich mir irgendeine Blöße gab. „Hast du noch irgendwelche Fragen?“   Ich schüttelte den Kopf.   „Okay. Da du das Mittagessen verpasst hast, kannst du dir gerne noch ein Brot machen, wenn du möchtest. Deinen Dienst kannst du dann nach der Mittagsruhe ableisten. Die Schulaufgaben musst du ebenfalls noch nachholen. Die Arbeitsblätter liegen in deinem Zimmer. Wenn du willst, helfen ich oder Tobias dir nachher dabei.“   Ich nickte, froh darüber, dass das offenbar alles gewesen war. Es gab kein Geschrei, keine Vorwürfe, kein Gemecker. Nur die Aufforderung, alles nachzuholen und in Zukunft besser zu machen. Mit Hilfestellung. Ein ganz schöner Brocken.   „Kann ich dann gehen?“   Eigentlich hatte ich noch Hunger, aber mir schwirrte im Moment einfach zu viel im Kopf herum. „Natürlich. Wir sehen uns dann um drei.“ Tobias brachte mich zu meinem Zimmer. Nachdem er mich reingelassen hatte, sah er mich fragend an.   „Kommst du klar? Wenn nicht, sag es lieber gleich, bevor du hier alles kurz und klein schlägst.“   „Nein, schon okay“, versicherte ich schnell. „Ich denke, ich werde mich noch ein bisschen hinlegen.“   „Gut. In ner halben Stunde ist ja auch schon wieder Zeit zum Kaffee trinken.“   Ich nickte und lächelte, aber als Tobias die Tür geschlossen hatte, fiel das alles von mir ab. Nun war ich also wieder hier. Im Heim. Und irgendwie fühlte sich das komisch an. So wie am Anfang, als ich noch ganz neu hier gewesen war. Der Drang, sofort wieder zu verschwinden, kam auf. Schon lag meine Hand an der Türklinke, aber ich hielt mich selbst gerade noch rechtzeitig zurück.   Du kannst nicht raus, sagte ich mir selbst und versuchte mich zu beruhigen. Die Türen sind zu, die Fenster sind zu. Du kannst nicht raus.   Minutenlang stand ich so da, bis ich es endlich schaffte, die Hand wieder von dem blauen Plastik zu lösen. Plötzlich war ich unheimlich müde. Als wäre ich wirklich gerannt. Weit, weit, weit gerannt.   Ich schaffte es noch bis zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Kaum hatte mein Kopf jedoch das Kissen berührt, stieg mir ein ganz bestimmter Duft in die Nase. Leifs Shampoo. Das Zeug, das nicht zu ihm gehörte und mich trotzdem an ihn erinnerte.   Mein Herz begann schneller zu schlagen und gleichzeitig wurde es schwieriger zu atmen. Ich wusste nicht, was das war, aber es fühlte sich eigenartig an. Schmerzhaft. Komisch. Meine Finger krallten sich in den Stoff, als wollten sie ihn nie wieder loslassen. War es wirklich erst gestern gewesen, dass er mich so angesehen hatte, als wolle er nie wieder ein Wort mit mir sprechen?   Ich muss dass mit dem Tagebuch mit ihm klären. Heute noch!   Auf einmal konnte ich es gar nicht mehr abwarten, bis die Mittagspause endlich vorbei war.   Kapitel 13: Steine und Scherben ------------------------------- In dem Moment, in dem ich Schritte auf dem Flur hörte, sprang ich aus dem Bett. Ich war bereits seit einer halben Ewigkeit umgezogen und startklar, aber die Zeit hatte einfach nicht vergehen wollen. Zäh wie mein nicht vorhandenes Kaugummi hatten sich die Minuten hingezogen. Als Tobias nun endlich bei mir klopfte und die Tür aufschloss, war ich kurz davor zu schreien. „Alles okay hier?“, fragte er und ließ einen argwöhnischen Blick durch mein Zimmer schweifen. Ich fragte mich, was er wohl zu finden hoffte? Drogen? Ein Feuer? Einen halbnackten Gogo-Tänzer? „Ja, alles bestens“, gab ich zurück und bemühte mich, nicht allzu offensichtlich herumzuzappeln. Ich musste Leif erwischen, bevor wir nach unten gingen. Ich musste.   Leider hatte das Schicksal andere Pläne. „Sieh an, wer wieder angekrochen gekommen ist.“   Svens nervtötende Stimme war gepaart mit einem abschätzigen Grinsen.   „Hast es wohl nicht ohne uns ausgehalten.“   Ich entblößte die Zähne. „Halt doch einfach die Klappe!“ „Halt du deine!“ „Jungs!“   Tobias trat zwischen uns und sah von einem zum anderen. „Keine Stänkereien, haben wir uns verstanden. Wenn ihr ein Problem miteinander habt, können wir das gerne vernünftig klären.“   „Ich hab kein Problem mit dem“, meinte Sven sofort. „Er fängt doch immer Streit an.“   „Ich?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Du lässt mir doch keine Ruhe, lästerst ständig über mich rum, versteckst meine Sachen …“   Ich unterbrach mich, als mir klar wurde, was ich gerade gesagt hatte.   „Er macht was?“ Tobias sah erst mich und dann Sven an. „Stimmt das?“ „Was weiß denn ich“, murrte der und schob den Unterkiefer vor. „Der bildet sich wohl ein, dass er wichtig ist.“   Tobias wandte sich wieder an mich. „Warum hast du nichts davon gesagt?“   Ich fühlte förmlich die Wand in meinem Rücken. Warum hatte ich wohl nichts gesagt? Weil das nichts brachte. Weil es dadurch nur noch schlimmer wurde. Weil man demjenigen, der einen verpfiff, hintenrum nur noch mehr eine reinwürgen wollte, und auch immer Wege fand, um das zu tun. Ich kannte mich aus. Ich hatte das selber schon zur Genüge gemacht. „Weil …“ „Weil’s nicht stimmt. Der lügt doch, wenn er den Mund aufmacht.“ Sven war rot angelaufen und hatte die Fäuste geballt. Ich wusste, wenn er gekonnt hätte, hätte er mir jetzt eine reingehauen. Aber das musste er gar nicht. Ich wusste auch so, was ich tun musste.   Ein Lächeln hob meine Mundwinkel in die Höhe. „Ja“, gab ich zu und zuckte mit den Schultern. „Sven hat recht. Ich hab mir das nur ausgedacht, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Tut mir leid.“   Ich sah Tobias an, dass er mir nicht glaubte, aber er seufzte nur und schüttelte leicht den Kopf.   „Na schön. Dann ab mit euch nach unten. Ich hole Leif.“ Damit drehte er sich um und ging zum Ende des Flurs. Sven warf mir einen merkwürdigen Blick zu, bevor er an mir vorbei in Richtung Treppe ging. Dass er mir dabei eins mit der Schulter verpasste, wunderte mich gar nicht. Ich atmete tief durch und folgte ihm.   Nach der Hälfte der Stufen blieb er plötzlich stehen, drehte sich zu mir um und starrte mich an.   „Warum hast du das gemacht?“   Ich verstand nicht, was er meinte. „Du hättest mich eben verpfeifen können. Warum hast du’s nicht gemacht?“   Ich hob die Schultern ein wenig an.   „Was soll das bringen? Ich sitze hier ebenso fest wie du und ich will keinen Stress. Keine Ahnung, warum du so ein Problem mit mir hast, aber ich hab nicht vor, dir in die Quere zu kommen. Ich will einfach nur meine Ruhe.“   Ich erwartete nicht, dass er noch etwas dazu zu sagen hatte, und das tat er auch nicht. Er drehte sich einfach nur um und ließ mich stehen. Während ich noch dastand und überlegte, was das jetzt gerade gewesen war, hörte ich über mir Schritte und Stimmen. Leif und Tobias kamen den Flur entlang. Als sie auf dem Treppenabsatz erschienen, warf ich einen Blick nach oben. Leif erwiderte ihn. Er war blass und um seine Augen lagen tiefe Schatten. Er sah echt scheiße aus. „Ist was?“, wollte Tobias wissen. Ich schüttelte schnell den Kopf. „Ich brauch nur einen Kaffee, das ist alles.“   Ich trollte mich in die Küche, wo ich mit einigem Hallo begrüßt wurde. Besonders Jason konnte es gar nicht abwarten, mich auszuquetschen. Als Thomas und Tobias gerade nicht hinsahen, raunte er mir zu: „Und? Wo warst du?“   Ich grinste.   „In Hamburg. Hab die Nacht mit Ficken und Saufen verbracht.“ „Wow. Echt jetzt?“ „Klar! Glaubst du mir etwa nicht?“   Mein Grinsen wurde breiter. Als Jason sich jedoch bewegte, gefror es auf meinem Gesicht. Gleich hinter ihm stand Leif. Seine Augen bohrten sich in meine. „Und woher hattest du die Kohle?“, wollte Jason jetzt wissen. Ich hatte für einen Augenblick vergessen, dass er da war. Mit einiger Anstrengung riss ich mich von Leifs Anblick los und blickte wieder zu Jason, der kurz davor war, wie ein übermütiger Welpe vor Aufregung auf den Teppich zu pinkeln. „Hör zu, ich hab … ich hab geschwindelt, okay? Es war gar nicht so toll. Eigentlich war es sogar ziemlich Scheiße. Ich hatte kein Geld, nichts zu essen und wusste nicht, wo ich schlafen sollte. Es war ne dämliche Aktion.“   Ich sah, wie Jasons anfängliche Begeisterung abflachte und sich dann in Luft auslöste. „Tut mir leid, Mann“, sagte er und hieb mir mit der Pranke gegen den Arm. Ich nickte ihm zu und tat so, als hätte der Schlag nicht weh getan. Nur keine Blöße geben. Als ich mich jedoch an den Tisch setzen wollte, blieb ich wie angewurzelt stehen.   Leif hatte sich bereits hingesetzt und tat so, als sähe er mich nicht. Das allein wäre noch nicht das Problem gewesen, wenn er nicht auf Tobias’ Platz gesessen hätte.   Binnen Sekunden war der Stein wieder da. Dieser schleimige Klumpen, dessen Gewicht mich in die Knie zwingen wollte. Das brennende Gefühl in meiner Brust. Ich schluckte und schluckte, aber es wollte nicht weggehen. Mein Körper reagierte nur noch. Ich griff nach meiner Stuhllehne, zog sie zurück. Nahm auf der Sitzfläche Platz. Als Tobias mich fragte, ob ich Kaffee wollte, schob ich ihm meine Tasse rüber. Mein Kopf blieb unten. Ich schüttete die schwarze Brühe in mich hinein und stopfte irgendwelche Kekse hinterher, die so trocken waren, dass sie vermutlich noch aus der Steinzeit stammten. Etwas, das auch den anderen auffiel. „Man, was ist das denn?“, fragte Nico angewidert. „Die schmecken ja wie Hundekuchen.“   „Woher weißt du, wie Hundekuchen schmecken?“, wollte Sven wissen und grinste. „Ich hab die früher wirklich gegessen. Waren eigentlich ganz lecker. Besonders die gelben, die aussehen wie kleine Knochen.“ „Boah, ist das widerlich.“   Jason und Sven begannen zu bellen und zu hecheln, woraufhin Nico mit einem halben Keks nach ihnen warf. Lachend fing Sven ihn und warf zurück. Der Keks flog durch die Küche und zerschellte an der Tür des Kühlschranks.   „Tor! Eins zu Null für mich!“, grölte Sven und die anderen fielen lachend mit ein, während Thomas anfing zu schimpfen und Tobias verkündete, dass Sven den Dreck gefälligst wegmachen würde. „Und deine Trefferquote solltest du lieber beim Basketball verbessern. Habt ihr Lust auf ne Runde. „Klar.“ „Immer.“ „Bin dabei.“   Tobias’ Blick richtete sich auf mich. Die Tatsache, dass er jetzt zwischen mir und Leif saß, hatte er nicht weiter kommentiert. „Und du?“, fragte er. „Machst du auch mit?“   Ich nickte brav. „Klar. Kann mir nichts Besseres vorstellen.“   In Wirklichkeit fielen mir eine Menge Sachen ein, die ich sehr viel lieber gemacht hätte als das. Leif gefragt, was die Scheiße mit dem Umsetzen sollte zum Beispiel. Aber ich kam nicht dazu. Nach dem Essen wurde ich zunächst zum Putzen abkommandiert und dann von Tobias abgeholt, damit ich mit zum Ballspielen kam. „Schulaufgaben machen wir dann danach“, verkündete er noch und ich ahnte, dass er mich wohl vorerst nicht mehr aus den Augen lassen würde. Dann muss das mit Leif eben bis heute Abend warten, nahm ich mir vor, aber auch damit hatte ich kein Glück. Möglicherweise lag es daran, dass ich mich beim Basketball heute nicht ganz so dämlich anstellte wie sonst. Möglicherweise hatte Sven durch unser Geplänkel im Flur irgendeine Art von Erleuchtung gehabt, die ihn fortan zu einem besseren Menschen machen würde. Möglicherweise hatte das Schicksal aber auch nur beschlossen, mich heute so richtig zu ficken. Was immer es war, dass für diese Scheiße verantwortlich war: Ich kam den ganzen Tag nicht dazu, ein Wort alleine mit Leif zu wechseln. Entweder wurde ich von Tobias auf Trab gehalten, von meinen neuen Freunden belagert oder er wich mir aus. Als er sich dann auch noch früher vom Fernsehen verabschiedete, war ich kurz davor ihm zu folgen, als Tobias mich zurückrief.   „Wo willst du denn hin?“   Ich blieb in der Tür stehen und verzog das Gesicht. War ja klar, dass ich nicht so einfach davonkam. „Bin müde“, antwortete ich und gähnte demonstrativ. „Ich denke, ich sollte heute früher ins Bett gehen. Damit ich morgen ausgeschlafen bin.“   „Okay, dann bring ich dich noch eben hoch. Hab sowieso gleich Feierabend.“   Ich versicherte ihm, dass das nicht notwendig war, aber Tobias ließ sich nicht davon abhalten. Die ganze Zeit während ich im Bad war und mir die Zähne putzte, blieb er wie ein Wachhund draußen stehen und wartete, dass ich fertig wurde. Als ich wieder rauskam, besah er sich gerade die Wände. „Ich sollte vielleicht mal wegen des Termins nachfragen. Du weißt ja. Der Sprayer, der uns helfen will.“ „Ja, ich weiß.“   Tobias starrte noch einen Augenblick die Wand an, bevor er sich wieder mir zuwandte. Er bemühte sich um ein Lächeln. „Hab ich dir schon von dem Sportraum erzählt, den wir einrichten wollen? Maik hat einen alten Boxsack von einem Kumpel besorgt, Thomas bekommt von seinem Nachbarn ein paar Hanteln und dann kriegen wir vielleicht noch zwei alte Fitnessräder. Die müssen zwar noch ein bisschen auf Vordermann gebracht werden, aber dann geht auch Training in der Halle. Außerdem hab ich überlegt, ob wir vielleicht öfter mal Laufen gehen sollten. Nico würde da bestimmt mitmachen und vielleicht können wir ja auch noch wen von den anderen motivieren. Was meinst du?“   „Klingt gut“, gab ich zurück. Tat es wirklich. Ich hatte nur gerade keinen Sinn dafür. „Was ist los?“, fragte Tobias nun auch noch nach. „Du bist den ganzen Tag schon so komisch. Brennt dir noch was auf der Seele?“   Ja! Ja, das tut es, schrie es in meinem Kopf. Trotzdem schüttelte ich ihn nur. „Nein, alles okay.“ „Wirklich?“ „Ja, Mann!“ Dass ich mir damit selbst widersprach, war mir klar. Dass er nicht gehen würde, bevor er eine befriedigende Antwort hatte, allerdings auch. Ich seufzte.   „Ich bin einfach müde, okay? Lass mich mal ne Nacht über alles schlafen.“ Tobias sah aus, als wenn er noch was sagen wollte, doch dann nickte er nur leicht. „Okay. Aber wirklich schlafen und keinen Unsinn machen, klar?“ „Geht klar.“   Er brachte mich noch in mein Zimmer und wünschte mir eine gute Nacht, bevor er leise die Tür hinter sich zumachte. Ich hörte, wie er zu Leif hinüberging, anklopfte und dann aufschloss. Sie wechselte einige Worte miteinander. Wahrscheinlich waren es die gleichen Ermahnungen, die auch ich zu hören bekommen hatte. Und dann, endlich, zog Tobias ab und die Bahn war frei.     Ich wusste, dass ich nicht viel Zeit hatte. Da morgen Schule war, würden die anderen nicht ewig vor der Glotze sitzen bleiben. Wenn ich das mit Leif klären wollte, musste ich jetzt zuschlagen. Entschlossen drückte ich meine Türklinke nach unten und spähte in den Flur. Es war niemand zu sehen, nur das Licht brannte noch. Der Bewegungsmelder würde erst später angeschaltet werden, wenn alle im Bett waren. Meine Flurüberquerung würde somit, zumindest was das anging, nicht weiter auffallen. Mehr Sorgen machte ich mir um meine Zimmertür. Wenn ich sie offen ließ, würde das auf den ersten Blick auffallen. Wenn ich sie schloss, kam ich nicht wieder hinein, ohne einen Erzieher zu bitten, dass er mir aufschloss. Das hieß, wenn ich mich jetzt entschloss zu gehen, gab es kein Zurück.   Ich muss Leif unbedingt fragen, wie er das immer macht, schoss es mir durch den Kopf, während ich die Tür mit klopfendem Herzen ins Schloss zog. Ganz kurz, bevor der Schnapper einrastete, bekam ich noch einmal Panik. Was, wenn Leif mich nicht reinließ. Wenn er nicht mit mir sprechen wollte?   Dann behaupte ich eben, dass ich nochmal auf dem Klo war und der Wind die Tür zugeschlagen hat.   Es war eine dumme Lüge, aber eine, von der mir niemand das Gegenteil beweisen konnte. Abgesehen davon, dass es hier kein Zug gab. Und ich gerade erst auf dem Klo gewesen war. Und es ungefähr tausend Gründe gab, warum mir Henning, der wieder zur Nachtschicht erschienen war, nicht glauben würde. Es war also ein verdammt hohes Risiko, aber eines, das ich eingehen musste, wenn ich wollte, dass …   Ich verbot mir sämtliche Gedanken darüber, was genau ich nun eigentlich von Leif wollte. Ich würde ihm nochmal sagen, dass es mir leidtat, was ich gemacht hatte, und danach war hoffentlich wieder alles beim Alten. Hoffentlich.   Vor Leifs Tür angekommen, zögerte ich noch einmal. Von drinnen war nichts zu hören. Ob er schon schlief? Er hatte ausgesehen, als wenn er ebenfalls eine viel zu kurze Nacht gehabt hatte. Meinetwegen?   Mach dich nicht lächerlich. Er war sicher froh, dass du weg warst.   Mit einem Mal war ich mir gar nicht mehr so sicher, dass ich das hier wirklich wollte. Warum sollte ich mich eigentlich so klein machen? Ich hatte mich doch schon entschuldigt. Und wie es aussah, hatte Leif beschlossen, den Beleidigten zu spielen. Vielleicht sollte ich ihn da einfach schmollen lassen. Immerhin hatte ich ja jetzt Anschluss bei den anderen gefunden. Ich brauchte ihn nicht mehr, wenn man mal vom Sex absah. Und da standen meine Chancen doch eigentlich gar nicht so schlecht, dass er irgendwann wieder bei mir angekrochen kommen würde, wenn ich ihn einfach links liegen ließ. Oder etwa nicht?   Noch während ich versuchte, diesen Streit mit mir selbst auszumachen, ging auf einmal die Tür auf. Leif stand plötzlich vor mir und schrak zusammen.   „Fuck! Scheiße! Was soll das? Was machst du hier?“   In seiner Aufregung hatte er so laut gesprochen, dass ich ihm am liebsten den Mund zugehalten hätte. Stattdessen zischte ich ihn nur an. „Psst, sei doch leise. Die hören uns noch.“ „Na und?“, gab er patzig zurück. „Sollen sie doch mitkriegen, dass du dich hier draußen rumtreibst. Vielleicht bekommst du dann ja doch noch ein großes Schloss an deine Tür. Oder vielleicht an deinen Hosenstall. Besser wär’s wohl.“   Er drängte sich an mir vorbei und ging in Richtung Bad. Kurz vor der Tür holte ich ihn ein und riss ihn zurück. „Wie meinst du das?“, fragte ich scharf. Er funkelte mich wütend an.   „Wenn du das nicht weißt, musst du dein Spatzenhirn eben mal ein bisschen anstrengen. Oder hast du dir heute Nacht so gründlich das Hirn rausgevögelt, dass das nicht mehr geht?“   Mit einer ruppigen Bewegung machte er sich von mir los und stürmte ins Badezimmer. Er wollte die Tür schließen, aber ich war schneller. Mein Fuß wurde zwischen Tür und Rahmen zusammengequetscht und ich atmete scharf gegen den Schmerz an, um nicht laut loszuschreien. Das hätte nämlich mit Sicherheit jemand gehört.   „Ah scheiße, bist du verrückt?", winselte ich und presste die Kiefer aufeinander. Nur nicht zu laut sein.   „Schade, dass es nicht dein Schwanz war“, fauchte er und holte aus, um die Tür noch einmal gegen meinen Fuß zu schlagen. Ich ließ es nicht so weit kommen und versetzte ihm einen Stoß, der ihn rückwärts ins Bad taumeln ließ. Schnell folgte ich ihm, schloss die Tür und sicherheitshalber auch noch ab. Danach drehte ich mich zu ihm herum. „Jetzt beruhige dich mal“, schnaufte ich und versuchte, das Pulsieren meines mittlerweile blau angelaufenen Fußes zu ignorieren. „Warum regst du dich eigentlich so auf?“   „Weil … ach vergiss es.“ Er drehte sich um und wandte mir demonstrativ den Rücken zu. „Du bist einfach ein Idiot. Das ist alles.“   Der Anblick, wie er so da stand in seinem zu großen T-Shirt, die Beine in weiten Boxershorts steckend, die Arme um den Körper geschlungen, als würde er frieren … das alles ließ ihn seltsam klein wirken. Dabei war er das nicht. Eigentlich war er sogar noch ein Stückchen größer als ich. Etwas, das auf ziemlich viele Kerle zutraf. Aber diese anderen Kerle waren jetzt nicht hier, sondern er.   „Hör zu, ich … ich wollte dir noch was sagen. Wegen gestern.“   Leif hob den Kopf, als er das hörte, aber er drehte sich nicht um.   „Was?“, fragte er abweisend. „Was willst du denn noch?“   Plötzlich war da wieder dieser Stein in meinem Magen. Er wuchs und wuchs mit rasender Geschwindigkeit, drückte mein Zwerchfell nach oben und machte das Atmen schwer. Mein Hals war wie zugeschnürt und ich brachte keinen Ton heraus. Alles, was ich Leif hatte sagen wollen, war wie weggeblasen. Stattdessen waren da nur noch Steine. Überall. In meinem Kopf, meinem Bauch, meinem Mund. Sie lähmten mich, machten mich krank und stumm.   Denn was sollte ich auf diese Frage antworten? Was konnte ich antworten? Was konnte ich wollen? Doch nicht mehr, als das alles wieder so wurde wie vorher. Ein paar geklaute Minuten in der Nacht, eine warme Hand an meinem Schwanz und vielleicht einen kurzen Augenblick, in dem wir … zusammen waren. Mehr gab es da doch nicht. Mehr hatte er nicht zu bieten und ich auch nicht. Aber nicht einmal das brachte ich heraus. Das Einzige, was ich konnte, war schweigen.   Irgendwann hatte er offenbar genug vom Warten.   „Wenn das alles war, könntest du dann gehen? Ich muss pinkeln.“   Ich wollte einen Scherz machen. Ihm sagen, dass ich ihm schon nichts abgucken würde oder dass ich das alles schon gesehen hatte, aber auch das kam mir nicht über die Lippen. „Gehst du jetzt endlich?“ Ich schluckte. Wenn ich es jetzt nicht hinbekam, meinen Mund aufzumachen, würde es vorbei sein. Endgültig vorbei. Noch eine Chance würde er mir nicht geben. „Es tut mir leid“, brach es schließlich aus mir heraus. Mir war, als würden sich die Worte mit Gewalt aus meiner Kehle zwängen. Als würden sie sich ihren Weg nach oben mit Zähnen und Klauen freikämpfen und dabei alles in blutige Fetzen reißen. Szenen wie aus einem Horrorfilm. Wahrscheinlich würde ich gleich meine Lunge rauskotzen. Oder ein Alienbaby. Es würde einmal niedlich quieken und dann würde es uns fressen. Eine wunderbare Vorstellung im Vergleich zu dem Blick, den Leif mir zuwarf.   Ich konnte sehen, dass etwas darin lag. Etwas, das vorher nicht da gewesen war. Oder vielleicht doch, aber ich hatte es nicht bemerkt. Jetzt war es kaputt und die Splitter ragten mir scharfkantig und anklagend entgegen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie begannen, in der steigenden Flut zu versinken. Schnell wandte Leif den Kopf ab, damit ich nicht sah, dass ihm die Tränen in die Augen gestiegen waren. Aber es war zu spät. Ich hatte es bereits gesehen. Warum zum Henker fing er denn jetzt an zu heulen? Ich hatte doch gesagt, dass es mir leidtat.   „Geh bitte.“   Leifs Stimme war nur noch ein Flüstern. All die Spannung, die gerade noch in seinem Körper gewesen war, war gewichen. Er sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Ich konnte es nicht ertragen. „Man, Leif“, begann ich und merkte, wie mir die Situation zusehends entglitt. „Ich … ich hab doch nicht gewusst, dass dieses blöde Buch so wichtig für dich ist. Ich dachte, es …“ Er lachte auf. Plötzlich waren die Tränen verschwunden und die überhebliche Maske schnappte an ihrem Platz zurück. „Ja“, schnarrte er und verzog den Mund zu einem Grinsen. „Ich hätte wissen müssen, dass du das nicht verstehst. Du bist eben einfach nur dumm. Aber dumm fickt ja bekanntlich gut. Hätte mir klar sein müssen.“   „Ich bin nicht dumm“, knurrte ich und meine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten. „Und wenn es so wichtig für dich ist, warum hast du es mir denn eigentlich gezeigt? Hättest es doch weiter geheim halten können. Dann wäre das alles nicht passiert“   Leif lachte auf. Es war ein hässliches Geräusch „Ja, das hätte ich wohl tun sollen. Aber vielleicht bin ich auch dumm. Nicht so dumm wie du, aber immer noch dumm.“ Wieder lachte er. Es war wie ein gläsernes Messer, das er in meine Brust rammte und dann die Klinge abbrach, nachdem er sie weit genug hineingetrieben hatte. „Ich hätte wissen müssen, dass du es gegen mich verwenden wirst. Hast ja nicht lange gefackelt, bevor du es herumgezeigt hast. Und es hat anscheinend geklappt. Die anderen und du, ihr seid jetzt ja best buddies.“   Ich hörte es, aber ich begriff nicht, was er gerade gesagt hatte.   „Was?“   Leifs Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Fratze. „Bist du jetzt nicht nur dämlich, sondern auch noch taub? Ich sagte, du hast ja nicht lange gefackelt, bevor du es herumgezeigt hast.“ „Aber ich … ich habe es niemandem gezeigt. Ehrlich nicht. Ich wollte … nur mal reingucken.“   Ich sah Leif an, dass er mir nicht glaubte, aber immerhin war das Lachen verschwunden. „Und was hast du gedacht, was du da drinnen findest?“ „Ich … ich weiß nicht.“   Wusste ich wirklich nicht. Ich wusste ja nicht mal, warum ich es mitgenommen hatte. Es war einfach so passiert. Leif schnaubte. „Wenn du es nicht … warum hatte es dann dein Lehrer?“ „Frau Schmidt hat es einkassiert, weil ich drin gelesen habe, statt Mathe zu machen. Sie hat es dann in ihrem Tisch eingeschlossen und Herr Zimmermann hat es mir nach Schulschluss zurückgegeben. Das war alles. Es hat niemand außer mir hineingesehen.“   Leif atmete hörbar aus. War es das, was ihn so aufgeregt hatte? Dass er gedacht hatte, dass ich das Buch rumgezeigt hatte. Ich schluckte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Ich habe es wirklich niemandem gezeigt oder davon erzählt. Nicht mal Tobias. Niemandem.“   Leifs Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. Er lachte. Ganz kurz nur. „Warum lachst du?“ „Weil das witzig ist.“ „Was?“   Er sah mich an. „Tobias weiß von dem Buch. Er … er kontrolliert es manchmal. Also ich gebe es ihm, damit er sehen kann, dass ich genug esse.“ „Du meinst so was wie einen Apfel am Tag?“   Leif schlug die Augen nieder.   „Das ist lange her. So schlimm ist es nicht mehr. Ich … ich kann essen. Meistens jedenfalls.“   Er schwieg, sprach nicht weiter, und ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Die Eröffnung, dass Tobias von dem Buch wusste, hatte mich auf dem falschen Fuß erwischt. Dann war es doch eigentlich gar nicht so was Besonderes, dass Leif es mir gezeigt hatte, oder? Hatte ich gedacht, dass es das gewesen war?   „Warum hast du es mir gezeigt?“   Die Frage hatte ich ihm vorhin schon einmal gestellt, aber er hatte sie nicht beantwortet. „Sagte ich doch schon. Weil ich dumm bin“, wich er mir erneut aus. Ich glaubte ihm nicht. „Du lügst.“ Die Feststellung hatte ein Schulterzucken zur Folge.   „Vielleicht. Ist doch auch egal. Es war dumm. Ein Missverständnis. Schwamm drüber.“   Er setzte ein Lächeln auf, das so falsch war wie die Zähne meiner Oma. Ich sah es, aber ich sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen? „Dann … dann treffen wir uns wieder?“, fragte ich langsam. „Morgen Abend oder so?“   Er blickte an mir vorbei in Richtung Tür. „Willst du das wirklich? Immerhin hattest du doch gerade erst … wen anders.“   Ich schluckte. Das hatte er also mitbekommen. „Ich hab aufgepasst. Es ist bestimmt nicht passiert.“   Er sollte nicht denken, dass er sich bei mir was wegholte. Das hatte mir schon mal jemand gesagt und es war damals genauso scheiße gewesen wie jetzt. Leif schien jedoch was ganz anderes zu meinen.   „Wir sollten trotzdem noch etwas warten damit. Du wirst erst mal unter Beobachtung stehen. Ist immer so, wenn einer getürmt ist. Wenn wir erwischt werden, gibt das richtig Stress.“   „Verstehe“, sagte ich schnell.   Natürlich verstand ich das. Was ich nicht verstand war das Gefühl, das ich dabei hatte. Als würde etwas mein Herz zusammenquetschen.   „Dann sind wir immer noch … Freunde?“ Leifs Lächeln bekam einen harten Zug. „Natürlich. Freunde.“ Das Zittern, das dabei in seiner Stimme lag, hatte ich mir mit Sicherheit eingebildet. Auch das Zucken seiner Hand, als wolle er mich berühren, das kurze Zögern, als er schließlich an mir vorbei nach draußen ging. Im nächsten Moment war ich allein im Bad. Der Stein in meinem Magen war zurück und ich hatte das Gefühl, es vermasselt zu haben. So richtig. Ich wusste nur nicht, warum das so war. Kapitel 14: Tiefe Gräben ------------------------ Tobias steckte den Kopf ins Wohnzimmer, wo ich mit als Einziger noch über meinen Hausaufgaben brütete. „Manuel? Denkst du dran, dass wir in zehn Minuten loswollen? Du solltest also so langsam zusammenpacken.“ „Klar.“ Tobias verschwand wieder und ich wandte mich wieder meinen Mathehausaufgaben zu, die heute irgendwie besonders zäh waren. Thomas hatte mich mehrmals gefragt, ob er mir helfen sollte, aber es lag nicht daran, dass ich die Aufgaben nicht verstand. Es lag daran, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Kaum hatte ich das gedacht, drifteten meine Gedanken schon wieder ab. Unter anderem zu dem Termin, der vor mir lag. Er machte mir fast noch mehr Magenschmerzen als der, zu dem Tobias mich letzte Woche noch geschleppt hatte. Dr. Dubanski hatte mich gründlich durchgecheckt und mich am Ende als gesund und mit der Empfehlung, mir eine andere Ablenkung zwecks Rauchentwöhnung zu suchen, entlassen. Nun war ich im Besitz eines Monatsvorrats an normalen Kaugummis und eines grünen Stressballs. Den ich nicht gegen die Wand werfen durfte, wie Tobias mir mehrmals eingeschärft hatte. Zumindest nicht während der Mittagspause. Aber die fiel ja heute aus. „Du kannst dich im Sportraum abreagieren“, hatte er gesagt. Seit ich von meiner Tour wiedergekommen war, ließ er mich tatsächlich kaum noch aus den Augen. An manchen Tagen hatte ich so viel zu tun, dass ich abends einfach nur noch ins Bett fiel und einschlief. Ich ging zur Schule, absolvierte meine Dienste, arbeitete im Haus oder Garten, machte Sport, bekam Nachhilfe. Es war kaum auszuhalten. Wie im Militärcamp. Und heute hatte er mich dann beim Psychologen angemeldet. Demselben, zu dem Leif auch ging. Und das war noch nicht mal das Schlimmste. „Na los, ihr beiden.Wir wollen nicht zu spät kommen.“ Mit einer auffordernden Geste hielt Tobias uns die Tür auf. Leif sah kurz zu mir rüber, bevor er Tobias’ Aufforderung als Erster nachkam. Ich folgte ihm zögernd. Als ich draußen war, puffte Tobias mir in die Seite. „Hey, nun mach doch nicht so ein Gesicht. Dr. Leiterer wird dich schon nicht fressen.“ Ich grinste schwach. „Tja, aber ich vielleicht ihn.“ „Das würde ich dir nicht raten. Er sieht zäh aus.“ Tobias lachte und ich schaffte es irgendwie den Eindruck zu erwecken, das ich das auch tat. Doch in mir sah es ganz anders aus. Als wir am Auto ankamen, stand Leif bereits neben der hinteren Tür auf der Fahrerseite. Der Anblick erinnerte mich unangenehm an den Vorfall eine Woche zuvor. Damals hatte ich mich mit Sven um die Sitzplätze gestritten. Jetzt stand ich hier und hätte am liebsten keinen von ihnen gehabt. Konnte ich bitte wieder zurückgehen? „So, rein mit euch. Es ist offen.“ Ich warf Leif einen Blick über das Wagendach zu. Er erwiderte ihn kurz, bevor er den Kopf senkte, die Tür öffnete und einstieg. Für einen Moment war ich versucht, mich neben ihn zu setzen. Einfach nur, weil … Aber mir war klar, dass das keine gute Idee war. Seit einer Woche herrschte zwischen uns so gut wie Funkstille, wenn man von so Sachen wie „gibst du mir mal die Butter“ absah. Es hätte also nichts gebracht, mich zu ihm zu setzen, nur um uns dann anzuschweigen. Außerdem hätte Tobias es bestimmt komisch gefunden, wenn ich mich nach hinten verkrümelt hätte. Also griff ich mit einem lautlosen Seufzen nach der Beifahrertür und stieg neben ebenfalls ein. Die Praxis von Dr. Leiterer befand sich im zweiten Stock eines Wohnhauses in der Innenstadt. Lediglich ein Schild an der Hauswand wies darauf hin, dass sich hier mehr als nur Müllers, Meiers und Schulzes tummelten. Mit schweren Schritten folgte ich Leif und Tobias die Treppen hinauf. Wir klingelten schrill an einer der Türen und wurden nur Sekunden später summend eingelassen. Drinnen erwartete uns eine umgebaute Wohnung mit einem langen Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Am Ende war eine von ihnen ausgehängt worden. „Wartezimmer“ stand auf einem Schild darüber. Der Raum dahinter wirkte merkwürdig kahl. Als hätte jemand die Hälfte der Möbel daraus entfernt und vergessen, neue reinzustellen. Es gab nur eine Reihe mit Stühlen und einen wackeligen Tisch mit Zeitschriften. „Du kannst übrigens zuerst gehen“, sagte Leif auf einmal zu mir. Ich war so erstaunt, dass er mich ansprach, dass ich fast über meine eigenen Füße stolperte. Irritiert sah ich ihn an. „Warum? Ich dachte, dein Termin ist vor meinem.“ „Ist doch egal“, gab er mit einem Achselzucken zurück. „Wir müssen eh warten, bis der andere fertig ist. Du kannst ruhig zuerst.“ Damit ließ er sich auf einem Stuhl nieder und nahm sich was zu lesen. Ich hingegen wusste nicht recht, was ich tun sollte. „Setz dich doch. Wir haben noch Zeit“, meinte jetzt auch Tobias und wies auf einen der Stühle. Ohne hinzusehen nahm ich dort Platz. Die Arme auf die Oberschenkel gestützt saß ich da und wartete, dass die Zeit verging. Schräg neben mir konnte ich aus den Augenwinkel Leifs Knie sehen. Auf seinem Schoß lag sein Tagebuch. Wahrscheinlich würde er es Dr. Leiterer zeigen, um mit ihm seine Fortschritte zu besprechen oder etwas in der Art. Wir beide hatten nicht mehr über das Buch geredet, aber als ich einmal unauffällig nachgesehen hatte, war es von seinem Platz unter der Matratze verschwunden gewesen. Wo er es jetzt aufbewahrte, wusste ich nicht und wollte es auch nicht wissen. Die Botschaft war angekommen. Eine halbe Ewigkeit später öffnete sich endlich die Tür am anderen Ende des Ganges. Ein großer, grauhaariger Mann begleitete eine dunkel gekleidete Frau zur Wohnungstür. Sie verabschiedeten sich bis nächste Woche, bevor er sie hinausließ und anschließend zu uns ins Wartezimmer kam. „Ah, die beiden Thielenseer“, sagte er mit einem Lächeln. „Sehr schön. Wer von euch kommt denn zuerst zu mir?“ „Manuel“, sagte Leif, bevor ich antworten konnte. Dr. Leiterer sah mich auffordernd an. „Gut, dann mal rein mit dir. Und keine Angst, ich beiße nicht.“ Ich warf Tobias einen vielsagenden Blick zu, doch der grinste nur und so blieb mir nichts anderes übrig, als Dr. Leiterer in sein Sprechzimmer zu folgen. Es war ein karger Raum mit hohen, weißen Wänden. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, daneben ein Regal mit Büchern und einem Drucker. Direkt neben der Tür standen zwei Sessel an einem kleinen Tisch. Dr. Leiterer forderte mich auf, mich zu setzen, während er auf dem anderen Stuhl Platz nahm und nach einem Notizblock griff. Er zog einen Stift aus der Rückseite der schwarzen Mappe, klickte den Kugelschreiber heraus und sah mich freundlich an. „Na dann, Manuel, wo drückt denn der Schuh?“ In dem Moment wäre ich am liebsten wieder aufgestanden und gegangen. Allein die Tatsache, dass Tobias und Leif draußen saßen und ein solcher Auftritt noch peinlicher gewesen wäre als dieser Spruch, ließen mich sitzenbleiben. Ich verzog die Lippen zu einer Art Lächeln. „Danke, aber die passen eigentlich ganz gut.“ Dr. Leiterer lachte und offenbarte dabei noch mehr Falten als ohnehin schon. Wenn ich hätte schätzen müssen, hätte ich gesagt, dass er bestimmt schon so um die 60 war. Allerdings wirkte er fit. Wie eine von diesen Werbungen für glückliche Rentner. Vermutlich spielte er Golf oder etwas in der Art. Er sah aus, wie jemand der Golf spielte. Lag vielleicht an seinem hellblauen Poloshirt. „Gut, ich werde meine Frage anders formulieren. Hast du eine Vorstellung, warum du hier bist?“ Ich schnaubte leise. Jetzt ging die Tour wieder los. „Weil ich aus dem Heim abgehauen bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber ich wusste, dass es sowieso irgendwann zur Sprache kommen würde. Also konnten wir auch gleich zur Sache kommen. „Ah ja, Herr Ritter hat mir davon erzählt. Möchtest du darüber reden?“ Okay, damit war es amtlich. Der Typ hatte einen Katalog für dumme Fragen zum Frühstück gehabt und beabsichtigte offenbar, mir eine nach der anderen wieder vor die Füße zu kotzen. Aber nicht mit mir! „Nein, eigentlich nicht“, gab ich lässig zurück und ließ mich in dem Sessel nach unten sinken. Es war einer von diesen Stoffdingern, in denen man ein bisschen wippen konnte. Ich probierte es aus und stieß prompt mit der Stuhllehne gegen die Wand. „Oh, dafür ist es wohl etwas eng hier“, meinte Dr. Leiterer und hob die Hand. „Vielleicht wenn du den Stuhl etwas von der Wand wegrückst. Dann hast du mehr Platz.“ Für einen Moment war ich versucht, die Lehne noch einmal gegen die Wand zu stoßen, doch dann stand ich halb auf und zog den Sessel ein Stück nach vorn, bevor ich mich wieder darauf setzte. Nach Wippen war mir jetzt allerdings nicht mehr zumute. „Also“, begann Dr. Leiterer erneut, „wenn du nichts Konkretes auf dem Herzen hast, würde ich dir einfach mal ein paar Fragen stellen und wir sehen, wohin wir kommen. Ist das in Ordnung?“ Ich nickte stumm. Weg konnte ich hier ja eh nicht. Sollte er halt fragen. Ich musste ja nicht antworten. „Sag mir mal, Manuel, warum bist du in Thielensee? Hast du Schwierigkeiten zu Hause gehabt?“ Beinahe hätte ich gelacht. Darum waren wir doch alle dort, oder nicht? Weil wir zu Hause nicht bleiben konnten. Entweder, weil unsere Familien es nicht mit uns aushielten oder umgekehrt. Oder sogar beides. In Svens Fall war ich mir sicher, dass es so war. Aber weil Dr. Leiterer so interessiert guckte, tat ich ihm den Gefallen. „Meine Eltern haben sich nicht ausreichend um mich gekümmert und irgendwann hat das Jugendamt beschlossen, dass ich nicht mehr bei ihnen wohnen sollte.“ Dr. Leiterer quittierte das mit einem Nicken. „Das klingt nicht gerade erfreulich. Aber da es sich um eine geschlossene Unterbringung handelt, nehme ich an, dass du vorher schon in anderen Einrichtungen gewesen bist. Ist das richtig?“ „Ja. Bin aber immer wieder abgehauen. Deswegen bin ich jetzt hier.“ „Mhm“, machte Dr. Leiterer und notierte sich etwas. „Das heißt, dass es dir dort, wo du warst, nicht gefallen hat?“ Ich zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte es mir nicht gefallen. Wem gefiel so etwas schon. „Und jetzt in Thielensee. Gefällt es dir dort?“ Ich schnaufte. Das war echt anstrengender, als ich gedacht hatte. So viele dämliche Fragen auf einmal. „Doch, es gefällt mir“, antwortete ich, nur um mal was anderes zu sagen. „Also nicht alles. Das Aufstehen nervt. Und das ständige Putzen und Aufräumen. Und die Schule. Und dass ich nicht rauchen kann. Das hat vorher noch nie jemanden interessiert. Aber die sind da echt pingelig.“ Wieder notierte sich Dr. Leiterer etwas. Mich hätte ja interessiert, was er da schrieb, aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als zu fragen. „Kommen wir doch nochmal zu deinen Eltern. Was kannst du mir denn so über sie erzählen?“ Ich wendete den Blick ab und sah aus dem Fenster. „Nichts“, gab ich einsilbig zurück. Ich hatte keine Lust, über meine Eltern zu reden. Wozu auch. Ich war mit ihnen fertig. Endgültig. „Hast du noch Geschwister?“ Ich presste die Kiefer aufeinander und antwortete nicht. Über Pascal wollte ich noch viel weniger reden. „Manuel?“ „Was?“, fauchte ich. „Sie wissen doch sicher schon, dass ich einen Bruder habe. Er sitzt im Knast, weil er versucht hat, mich abzustechen. Sonst noch Fragen?“ Dr. Leiterer antwortete nicht. Ich starrte weiter auf das Fenster mit diesem … Rahmen. Wie man sie in alten Häuser sah. So in der Mitte zum Aufklappen. Die Bude hier musste schon ganz schön alt sein. Sicher zog es im Winter tierisch. „Bist du wütend auf deinen Bruder?“ „Was?“ Ich blinzelte und drehte den Kopf zu Dr. Leiterer. Er saß in seinem Stuhl und musterte mich vollkommen entspannt. „Ich habe gefragt, ob du wütend auf deinen Bruder bist. Nach dem, was er dir angetan hat, wäre das durchaus verständlich.“ Ich drehte wandte den Kopf ab. Ich wusste nicht, ob es wirklich Wut war, was ich fühlte, wenn ich an Pascal dachte. Es war eher das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. „Manuel?“ „Ich will nicht darüber reden.“ „Ich verstehe. Allerdings möchte ich dir noch sagen, dass alles, was wir hier besprechen, vertraulich behandelt wird. Niemand erfährt etwas davon. Auch nicht deine Erzieher oder deine Eltern oder dein Bruder.“ Ich lachte auf. Das war ja ein ganz großer Trost. Ja wirklich. Ein ganz. Großer. Trost. Es folgte eine kleine Stille, die durch nichts unterbrochen wurde als die leisen Geräusche, die aus dem Hof zu uns hoch drangen. Anscheinend warf da unten gerade jemand Flaschen in den Müll. War das überhaupt erlaubt? „Gut, dann versuchen wir etwas anderes. Wie steht es mit deinen Freunden?“ „Hab keine.“ Auch dieses Wie und Warum würde ich ihm sicherlich nicht auseinandersetzen. „Warum nicht?“ Kotz! Dr. Leiterer sah mich abwartend an. Aber da konnte er lange gucken. Ich würde ihm bestimmt nichts darüber erzählen, wie es war, in der Schule ständig Spießrutenlaufen zu machen. Die Blicke, die dummen Sprüche hinter meinem Rücken oder die ganzen mit Edding auf meinen Tisch geschmierten Sprüche. Mich hatte zwar nie jemand angerührt, das hatten sie sich nicht getraut, aber sie hatten so getan, als wäre ich gar nicht da. Das war absolut beschissen gewesen. „War das schon immer so?“ Ich warf ihm einen grollenden Blick zu. „Was?“ „Na, dass du keine Freunde hast. Du wirkst auf mich nicht wie jemand, der …“ „Ich hatte Freunde, klar?“, knurrte ich. Leider prallte meine Wut an Dr. Leiterer ab wie ein zu lasch geworfener Ball an einer weißen Wand. Ich sah in die andere Richtung. Wenigstens hatte ich immer gedacht, dass ich welche hatte. Wir hatten früher immer zusammen abgehangen. Gespielt, gerauft, die Umgebung erkundet, am Kanal Brücken gebaut und so was. Dass ich keinen Bock auf Fußballspielen im Verein hatte, hatte niemanden gestört. Wir hatten auf der Straße gekickt. Ohne Regeln. Das hatte mir besser gefallen. „Hast du jetzt noch Kontakt zu ihnen?“ Ich schnaubte wieder. „Nein. Wie denn auch? Ich krieg ja mein Handy nicht.“ Dass da eh nur noch wenige Nummern drin standen, musste er ja nicht wissen. „Wie geht es dir damit?“, hörte ich Dr. Leiterers Stimme irgendwo am Rand meiner Wahrnehmung. Er versuchte immer noch, mich auszuquetschen. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich komm klar.“ Wieder schrieb er etwas auf. Das machte mich rasend. Ich wollte nicht noch eine Akte über mich. Nicht noch jemand, der mich aushorchte, mich kontrollierte, mir sagte, was ich tun oder lassen sollte. Ich wollte hier weg. „Vielleicht erlaubst du mir noch eine Frage zu deinem Bruder. Wie war euer Verhältnis vor dem Angriff?“ Ich hätte am liebsten gestöhnt. Was hatte der nur mit meinem Bruder? „Normal“, gab ich zurück. „Was bedeutet das?“ Ich verdrehte die Augen. „Na, normal halt. Wie zwei Brüder eben.“ „Habt ihr miteinander gespielt?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil er fünf Jahre älter war als ich. Er hat sich nicht für meinen Kram interessiert.“ Wieder Notizen. Es regte mich auf. „Und du? Hast du dich für seinen Kram interessiert.“ „Manchmal.“ „Und hat er dich mitmachen lassen?“ „Nein.“ Ich zog die Nase hoch und sah wieder aus dem Fenster. „Meistens nicht. Bis ich mal einen bei mir aus der Schule verdroschen habe. Das fand er cool und hat mich seinen Freunden vorgestellt.“ „Und weiter?“ „Wie weiter?“ Dr. Leiterer ließ den Stift sinken. „Hat sich euer Verhältnis dadurch geändert? Ich könnte mir vorstellen, dass er sich dann mehr um dich gekümmert hat.“ „Er hat sich auch vorher gekümmert!“ Dr. Leiterer schaute interessiert. „Ach ja? Wie das?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, er hat mir… Sachen gekauft. Oder zumindest dachte ich, dass er sie gekauft hat. Hat sich rausgestellt, dass er das Meiste davon nicht bezahlt hatte.“ Ich grinste schwach und Dr. Leiterer schrieb sich etwas auf. „Und wie fandest du das?“ „Was?“ „Na, dass er dir geklaute Sachen geschenkt hat.“ „Ich wusste es ja nicht.“ Und manchmal wünschte ich heute noch, dass ich es nie erfahren hätte. Dann wäre vielleicht alles etwas anders gelaufen. „Das heißt also, dass sich dein Bruder mehr oder weniger um dein Wohlergehen gekümmert hat. Hat er auch gekocht? Eingekauft?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil ich das selber gemacht habe.“ „Verstehe.“ Wieder schrieb er was auf. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Vielleicht hätte ich das nicht sagen sollen. Dass ich „Weiberkram“ gemacht hatte, wie mein Vater es manchmal genannt hatte. Er hatte sich oft darüber lustig gemacht. Meine Mutter war immer froh gewesen, wenn ich ihr was abgenommen hatte. Sie hatte dann manchmal gelächelt. „Nun gut. Dann wenden wir uns vielleicht mal deiner aktuellen Situation zu. Wie kommst du denn mit deinen Betreuern klar.“ „Es geht.“ „Die anderen Mitbewohner?“ „Es geht.“ „Schule?“ „Geht.“ Dr. Leiterer lächelte. „Du machst es dir gerne schwer, oder?“ „Jeder Mensch braucht ein Hobby.“ Dr. Leiterer machte sich eine Notiz. „Möchtest du vielleicht über etwas anderes reden?“ „Nein.“ Ich erwartete, dass er mir sagte, dass wir aber reden müssten. Dass es seine Aufgabe war herauszufinden, was mit mir nicht stimmte und wie man das abstellte. Aber er sagte gar nichts. Er saß einfach nur da und wartete. Na gut, konnte er haben. Im Anschweigen war ich Weltmeister. Wir schwiegen also um die Wette, während meine Zeit hier drinnen verstrich. Das wurde erst in dem Moment ätzend, als mir einfiel, dass ich ja während Leifs Termin auch noch da draußen sitzen und warten musste. Noch eine weitere Stunde Schweigen. Wie aufregend. „Machen Sie das mit Leif eigentlich auch so?“, fragte ich, ohne Dr. Leiterer anzusehen. „Was meinst du?“ „Na, schweigen Sie den auch einfach an, wenn er nicht reden will. Immerhin hat er ja wirklich eine Schraube locker.“ Ich hörte Dr. Leiterer schmunzeln. Er antwortete jedoch nicht. Als ich zu ihm rübersah, lächelte er entschuldigend. „Ich habe dir gesagt, dass alles, was zwischen mir und einem Patienten passiert, vertraulich ist. Das gilt auch für die anderen.“ Gegen meinen Willen wollten sich meine Mundwinkel ein bisschen nach oben bewegen. Der Kerl war vielleicht doch gar nicht so schlecht. Dachte ich wenigstens, bis zu dem Moment, als er schon wieder anfing, mir Fragen zu stellen. „Warum denkst du, dass Leif, wie du so schön sagst, 'eine Schraube locker hat'?“ Ich schnaubte. „Na weil er nicht isst. Also manchmal. Ist doch nicht normal, oder?“ Wieder bekam ich keine Antwort. War ja klar. Mich konnte man ausfragen, aber wenn ich mal was wissen wollte … Dr. Leiterer klappte auf einmal seine Mappe zu. Ich sah ihn erstaunt an. „Was ist los?“ Er lächelte leicht. „Nun, deine Zeit ist fast um. Ich habe gleich meinen nächsten Patienten.“ Ja. Leif. Hatte ich nicht vergessen. Ich war ja nicht blöd. Unsicher biss ich mir auf die Lippe. „Kriegen Sie ihn wieder hin?“ „Wie meinst du das?“ Ich sah zu Boden. „Na ja. Das mit dem Essen und so. Das wird doch wieder, oder?“ „Ich bin überzeugt, dass wir auf einem guten Weg sind.“ „Also geht es ihm besser?“ Dr. Leiterer seufzte. „Ich sagte doch, dass ich dir darüber keine Auskunft geben kann. Warum interessiert dich das eigentlich so?“ Ich hob erneut die Achseln. „Weiß nicht. So halt. Ich wohne immerhin mit ihm zusammen.“ „Du magst ihn also?“ Bei dieser Frage wurde mir ein bisschen warm. So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Aber ja, es stimmte wohl. Ich mochte Leif. Ich mochte es, mit ihm zusammenzusein. Aber momentan ging das nicht. Ich hatte Hausverbot. Sozusagen. „Ja“, antwortete ich ein wenig zu spät. „Er ist … nicht so ein Idiot wie die anderen.“ Dr. Leiterer lächelte schon wieder. „Wie wäre es, wenn du ihn diese Dinge selber fragst? Wenn er möchte, kann er dir ja von unseren Sitzungen erzählen.“ „Und wenn er nicht möchte?“ Es folgte ein kurzes Schweigen. „Hast du Angst davor, dass er das nicht will?“ Mein Kopf ruckte nach oben. Wütend funkelte ich Dr. Leiterer an. „Ich habe vor gar nichts Angst!“ Er lächelte sanft. „Na dann würde ich vorschlagen, dass du ihn fragst.“ Ich wollte noch etwas erwidern, aber Dr. Leiterer wies auf die Uhr, die an der Wand hing. „Tut mir leid, die Zeit ist um. Aber vielleicht können wir uns nächstes Mal darüber unterhalten, wie es war. Viel Glück, Manuel.“ Ein wenig unsicher stand ich auf. Das war quasi ein Rausschmiss. Ich erkannte einen, wenn ich ihn sah. „Ja, dann … geh ich mal.“ „Bis nächste Woche.“ Draußen vor der Tür merkte ich, dass ich geschwitzt hatte. Am liebsten hätte ich geduscht. Ich hatte das Gefühl zu stinken. Trotzdem bemühte ich, mir nichts anmerken zu lassen. „Du kannst rein“, sagte ich zu Leif und ließ mich ohne einen weiteren Blick in seine Richtung auf einen der Stühle fallen. Ich hörte, wie er aufstand, die Zeitung weglegte und durch den Flur in das Sprechzimmer ging. Als sich die Tür hinter ihm schloss, atmete ich auf. Erst danach bemerkte ich, dass da ja auch noch Tobias war. Ich hatte ihn vollkommen vergessen. „Anstrengend?“, fragte er nur. Ich machte eine Kopfbewegung, die sowohl“ Ja“ wie auch „Nein“ heißen konnte. „Es ging“, schob ich noch hinterher. Tobias sollte nicht denken, dass ich ein Weichei war, dass bei der Erwähnung seiner Mutter in Tränen ausbrach oder so. „Wollen wir rausgehen?“ Ich blinzelte Tobias erstaunt an. „Raus?“ „Ja. Ne Runde um den Block gehen oder so. Bis Leif fertig ist.“ Ich zuckte. Es lag mir auf der Zunge zu sagen, dass er das bei mir wohl nicht gekonnt hatte, aber ich ließ es bleiben. Ich stand eben immer noch unter Beobachtung. „Okay.“ Tobias fragte nicht weiter, worüber ich mit Dr. Leiterer geredet hatte. Er sagte einfach gar nichts. Stumm gingen wir nebeneinander her im Sonnenschein spazieren. Dabei sah ich kaum, wo wir langliefen. In Gedanken war ich immer noch bei dem, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Dass ich Leif einfach nach den Sitzungen fragen sollte. So einen ähnlichen Rat hatte ich von Tobias auch schon mal bekommen. Aber was, wenn er sagte, dass mich das nichts anging? Wenn er mir sagte, dass ich mich verpissen sollte. Aber hatte er nicht gesagt, wir wären Freunde? Blödsinn! Freunde quatschen nicht über so was. Die machen was zusammen, hängen ab. Nur waren die Möglichkeiten dafür momentan ziemlich eingeschränkt. Wie sollte ich das anstellen? „Er scheint ja einen ziemlichen Eindruck gemacht zu haben“, hörte ich plötzlich Tobias von schräg links hinter mir. Verwundert blieb ich stehen und sah mich um. Tobias stand vor einer Eisbude und grinste. „Wer?“, fragte ich und kam mir dämlich vor. Hatte er mit mir gesprochen? „Na, Dr. Leiterer. Seit du bei ihm raus bist, hast du kaum zwei Worte gesagt. Und du grübelst die ganze Zeit vor sich hin. Also hab ich mir gedacht, dass er dir wohl irgendwas Wichtiges gesagt hat.“ Ich verzog den Mund zu einem halben Lächeln. „Tja, weiß nicht. Vielleicht. Ich muss noch drüber nachdenken.“ Tobias Grinsen wurde breiter. „Kannst du das auch, während du Eis isst?“ „Auf jeden Fall.“ Ich bekam ohne weitere Nachfrage zwei Kugeln Vanilleeis in die Hand gedrückt, während Tobias sich für Erdbeer entschied. Als ich probierte, breitete sich ein wunderbar cremiger Geschmack in meinem Mund aus. Süß, aber nicht zu süß, und voll mit diesen kleinen, schwarzen Pünktchen. Echte Vanille, wie Tobias mir sagte. Nicht dieses nachgemachte Zeug. Die beste Eisdiele der ganzen Gegend. „Mhm, das ist wirklich gut“, meinte ich zustimmend und leckte noch einmal an meinem Eis. „Hab ich ja gesagt“, erwiderte Tobias mit vollem Mund. Das musste wohl der Teil sein, den ich verpasst hatte. „Ob wir Leif eins mitbringen sollen?“, überlegte ich laut, bevor ich darüber nachgedacht hatte, was ich da sagte. Tobias schenkte mir einen merkwürdigen Blick. „Wir können ihn ja fragen, wenn wir ihn abholen. Ich würde auch noch eins essen.“ „Ich auch“, erwiderte ich grinsend. Das Eis war wirklich hervorragend. Und es half ein bisschen gegen das Nachdenken. Außerdem wollte ich sehen, wie Leif auf die Idee reagierte. Immerhin gab es niemanden, der kein Eis mochte, oder? Da würde bestimmt nicht mal er Nein sagen. Kapitel 15: Abgeblitzt ---------------------- „Nein.“   Leifs Antwort traf mich wie eine Ohrfeige. Er sah mich geradeheraus an, wie ich da vor seiner Tür stand. Am Samstagmorgen. In Sportklamotten. Wir hatten den Vormittag zur freien Verfügung und da die anderen draußen waren, hatte auch ich die Erlaubnis bekommen, mich ein bisschen auszutoben. Eine Runde mit dem Boxsack wäre mir lieber gewesen, aber Thomas hatte gemeint, dass ich lieber mit an die frische Luft sollte. Da Tobias heute nicht arbeitete, hatte ich mir einen anderen Laufpartner für mein Training suchen wollen. Nur dass Leif meine Wahl nicht unbedingt begrüßte. So gar nicht.   „Warum nicht?“   Immerhin hatte Leif mich und Tobias schon mal bei unserer Joggingrunde begleitet. Das war mit ein Grund, warum ich jetzt hier stand. Leif hingegen schien entschlossen zu sein, mich am langen Arm verhungern zu lassen. Ich sah, wie er die Tür ein Stück schloss. „Ich kann nicht“, antwortete er und wich meinem Blick aus.   Er konnte nicht? Was sollte das denn für ein Schwachsinn sein?   „Warum nicht?“, wiederholte ich.   Er atmete angestrengt. „Es geht einfach nicht.“   „Und warum nicht?“, fragte ich jetzt schon zum dritten Mal. Ich kam mir langsam vor wie ein Papagei.   „Weil …“   Leif stockte. Mir war klar, dass er nicht antworten wollte. Aber ich hatte ein Recht auf eine Erklärung. Wenigstens das. „Weil was?“, blaffte ich ihn an, bevor ich es verhindern konnte.   Verdammt! Ich hatte doch nett sein wollen. Meine Hand ballte sich zur Faust. Der Wunsch, gegen die Wand zu schlagen und ihn anzuschreien, wurde einen Moment lang übermächtig. Ich hatte mich doch angestrengt. Hatte all meinen Mut zusammen genommen, um an diese verdammte Tür zu klopfen. Und jetzt? Jetzt sagte er Nein. Das war einfach nicht fair!   Ich schluckte.   „Ich geh dann mal wieder“, presste ich mühsam heraus. Ich musste hier weg, bevor ich etwas Dummes tat. Etwas noch Dümmeres als bei ihm angekrochen zu kommen. Mit steinernem Gesicht drehte ich mich um und schickte mich an, nach draußen zu stürmen.   „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht enttäuschen.“   Leifs Stimme war leise. Trotzdem hallten die Worte in meinem Kopf wieder. Meine Schritte stockten, bis ich schließlich stehenblieb. Der Impuls wegzurennen war immer noch da. Ich wollte nicht mit ihm reden. Mich nicht entschuldigen oder Entschuldigungen von ihm hören. Es sollte einfach so sein wie früher. „Hast du nicht“, gab ich endlich zurück, als es dafür eigentlich schon viel zu spät war. Ich sah ihn nicht an dabei.   „Ich … ich dachte nur … Thomas hat auch gesagt, dass du rauskommen sollst und deswegen …“   Die Worte zerbröselten in meinem Mund. Da war etwas, das ich hätte sagen können. Sagen sollen. Aber es auszusprechen?   Es war, als würde ich wieder zum ersten Mal an der Kante des Fünf-Meter-Turms stehen. Vollkommen allein, die Blicke der anderen auf mich gerichtet. Ich hatte nach unten gesehen und gewusst, dass es nur einen Weg gab, hier mit erhobenem Kopf wieder rauszugehen. Ich musste springen. Damals hatte ich nicht lange gezögert. Ich hatte es einfach gemacht. War gesprungen und nur Sekunden später im Wasser gelandet, wo mich, als ich nach oben kam, die bewundernden Blicken und der Applaus meiner Klassenkameraden empfangen hatten. Doch anders als damals wusste ich dieses Mal nicht, was mich unten erwartete. Der Stein in meinem Magen schwoll an.   Ich hab vor gar nichts Angst.   Das hatte ich zu Dr. Leiterer gesagt. Trotzdem wäre ich lieber noch tausend Mal von diesem Turm gesprungen, als zuzugeben, warum ich tatsächlich hier war. Denn was, wenn er Nein sagte? Wenn er mich auslachte? Wenn ich mich hier umsonst zum Affen machte?   Mein ganzer Körper schrie danach, von hier zu verschwinden. Normalerweise liebte ich diesen Nervenkitzel. Das Gefühl bei einem Horrorfilm, wenn man genau wusste, dass gleich etwas Furchtbares passierte. Aber das hier war anders. Es war echt und es drehte mir den Magen um. Aber ich war doch schon so weit gekommen. Ich war bis zur Spitze des Turms geklettert. Es wäre feige gewesen, die Leiter wieder hinabzusteigen. Das konnte ich nicht machen. Ich musste springen.   Noch einmal schluckte ich. Dann öffnete ich den Mund. „Ich … ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“   Da. Ich hatte es gesagt. Ich hatte ausgesprochen, was eigentlich hinter dieser schwachsinnigen Idee steckte, mit Leif joggen zu gehen. Die Aussicht, stumm neben ihm Runde um Runde zu drehen, war besser gewesen als die Vorstellung, noch ihn noch einen weiteren Tag lang heimlich zu beobachten. Ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen und doch das Gefühl zu haben, dass da etwas zwischen uns stand. Eine unsichtbare Mauer, die keiner von uns überwinden konnte oder wollte. Eine Mauer, an der ich schuld war. „Oh.“   Das war alles, was Leif dazu sagte. Es war ihm also nicht einmal in den Sinn gekommen, dass wir zusammen abhängen könnten. Es war dumm gewesen zu kommen. Ich war dumm. Hätte ich doch Jason geschickt, um ihn zu holen. Dann würde ich jetzt hier nicht stehen mit diesem Stein im Magen und schmerzenden Kiefern, weil ich meine Zähne so fest aufeinander presste, dass sie fast zersplitterten. Ich sollte gehen. Sofort!   Aber meine Füße weigerten sich zu gehorchen. Wie festgenagelt stand ich in dem immer noch kahlen Flur. Ein bisschen dunkel war es hier, weil tagsüber der Bewegungsmelder abgeschaltet war. Rechts von mir lag Svens Tür. Der spielte gerade mit den anderen Fußball. Er hatte gefragt, ob ich mitmachen wollte, aber ich hatte verneint. Ich hatte mich ja unbedingt lächerlich machen müssen. Zu Leif gehen. Jetzt hatte ich den Salat.   „Du könntest … reinkommen.“   Mein Herz setzte einen Schlag aus. Hatte er das jetzt gerade wirklich gesagt? Oder hatte ich mir das nur eingebildet?   „Ich kann aber auch mit rauskommen. Wie du willst. Ich könnte dir zuschauen. Wenn du das möchtest.“ Er hatte schnell gesprochen. Abgehackt. Als wären die Worte zu schnell für seinen Mund.   Langsam drehte ich mich zu ihm herum. Leif hatte die Tür jetzt wieder etwas weiter geöffnet. Im Gegenlicht sah er anders aus als sonst. Ein bisschen weichgezeichnet. Wie auf einem bearbeiteten Foto. Selbst sein Blick wirkte weniger kühl.   „Und?“   Ich begriff, dass ich auch mal wieder irgendwas sagen musste. Mein Mundwinkel bewegte sich.   „Ja, ich … du kannst gerne mitkommen.“   Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.   „Gut, dann pack ich nur noch eben meine Sachen weg. Warte kurz.“   Er drehte sich um und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich hörte ihn mit Papier rascheln. Stifte, die eilig zusammengerafft wurden, und hektisches Schubladenklappern. Im nächsten Moment erschien er wieder in der Tür. Er hatte seine Kapuzenjacke in der Hand und wirkte ein wenig außer Atem.   „Sollen wir?“, fragte er und nickte Richtung Ausgang.   „Klar.“   Wir liefen zusammen die Treppe hinunter. Keiner von uns sagte ein Wort, aber ich bildete mir ein, dass er manchmal zu mir herübersah, wenn ich nicht hinguckte. Als wir nach draußen kamen, sah Thomas auf seine Uhr. „Meine Güte, ihr habt ja ewig gebraucht. Alles okay bei euch?“   „Ja“, kam es wie aus einem Mund von uns beiden. Ich schickte noch ein entschuldigendes Lächeln hinterher.   „Leif konnte seine Sportsachen nicht finden, deswegen laufe ich allein. Ist das trotzdem okay?“   „Jaja, macht nur“, kam von Thomas zurück. Natürlich musste er sich keine Sorgen machen. Der Zaun, der den Sportplatz umgab, war noch höher als die Mauer im Park. „Aber beeilt euch ein bisschen. Sieht so aus, als würde es bald regnen.“ „Alles klar.“   Wir bekamen den Schlüssel zum Sportplatz und Leif übernahm es großzügig, mir das Tor aufzuschließen. Metall klimperte auf Metall und dann lud er mich mit einer leichten Verbeugung ein hindurchzuschreiten. Ich zeigte ihm einen Vogel und er grinste.   „Was? Kann ich dir nicht mal die Tür aufhalten?“ „Bin ich ne Pussy, oder was?“   Ich rempelte ihn auf dem Weg an und er tat so, als hätte ich ihn schwer verletzt. Jetzt war ich es, der grinste. „Oh, armes Tüfftüff. Soll ich mal pusten?“ Die Vorlage war steil. Viel zu steil, um sie nicht zu nehmen. Ich sah, wie Leif den Mund öffnete, doch dann besann er sich. Er presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. Es war, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser vor die Füße geschüttet.   „Ich geh dann mal laufen“, meinte ich und machte, dass ich auf die Bahn kam.   Es war kühl heute und ich sah, nachdem ich eine halbe Runde gelaufen war, dass Leif sich seine Jacke angezogen hatte. Seine Beine steckten in langen Hosen und auch sonst war er ziemlich verhüllt. Ich dagegen trug nur Shorts und ein T-Shirt. Und natürlich meine Turnschuhe. Tobias hatte sie mir bestellt. Sie waren weiß und ganz neu. Und bezahlt. Von dem Geld, das für meine Bedürfnisse zur Verfügung stand, wie er mir erklärt hatte. Ich bekam Kleidung, Bücher, das Radio, das inzwischen in meinem Zimmer stand. Dinge, die mir zustanden. Es hatte sich gut angefühlt. Der Wind frischte auf und ich merkte, wie die ersten Tropfen meine Haut trafen. Dabei war ich noch nicht weit gekommen. Aber aufgeben war nicht drin. Auch wenn das Ganze nicht so gelaufen war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Immerhin war Leif hier. Ich sah ihn mich beobachten, während ich an ihm vorbeilief; die Arme angewinkelt, die Füße in einem stetigen Rhythmus. Sogar meine Atmung war einigermaßen gleichmäßig. Es zahlte sich aus, dass ich nicht mehr rauchte. Wenigstens das.   Der Regen wurde stärker. Ich hörte Thomas rufen, dass wir reinkommen sollten, aber ich wollte nicht. Ich wollte hier bleiben. Das bisschen Wasser konnte mich nicht aufhalten. Also lief ich weiter, bis Thomas schließlich am Tor des Sportplatzes erschien. „Manuel. Mach Schluss! Du wirst ja vollkommen nass.“   „Eine Runde noch“, rief ich zurück. Thomas nickte, bevor er sich umdrehte und zum Heim zurückging. Ich wusste nicht, ob er Leif gesagt hatte, dass der reinkommen wollte. Ich wusste nur, dass Leif geblieben war. Als ich schließlich vor ihm stehenblieb, war seine Jacke bereits dunkel an den Schultern und Armen. Auch seine Jeans war an den Schienbeinen und auf den Oberschenkeln vollkommen durchnässt. Die Unterseite war noch trocken. Er sah aus wie zweigeteilt. Ich legte den Kopf schief.   „Ist dir nicht kalt?“   Ich selbst konnte mich da nicht beschweren. Immerhin hatte ich mich bewegt. „Ein bisschen“, gab er zurück, während er zu mir hoch sah. Auch seine Haare waren nass geworden und klebten an seinem Kopf. Ein Regentropfen lief seine Stirn hinab. Er rann an dem Stäbchen in seinem Nasenrücken vorbei weiter nach unten, bevor er sich in seinem Mundwinkel fing. Ich wartete darauf, dass Leif ihn wegleckte, aber er tat es nicht. Stattdessen sah er mich einfach nur an. Ich erwiderte seinen Blick.   „Warum bist du nicht mit mir laufen gekommen?“   Die Frage kam einfach so aus mir heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte. Leifs Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. „Ich … ich hab ein bisschen abgenommen. Nichts Wildes, aber ich sollte besser keinen Sport machen.“ „Oder mehr essen“, schlug ich vor. Er lächelte wieder. „Ja. Ja, das wäre wohl gut.“   Ich zögerte noch kurz, bevor ich mich neben ihn sinken ließ. Der Regen rauschte jetzt auf uns herab und meine Sachen hatten sich binnen Sekunden vollgesogen. Vermutlich war es absolut dumm, noch hier zubleiben, aber ich konnte jetzt nicht gehen. Nicht schon wieder.   „Dr. Leiterer hat gesagt, dass ihr auf einem guten Weg seid.“   Leif warf mir einen Seitenblick zu. „Ihr habt über mich gesprochen?“   Ich zog die Schultern ein wenig nach oben.   „Nein. Ja. Also … nur kurz. Ich wollte nur wissen, ob er dir helfen kann.“   Leif sagte nichts darauf. Ich bewegte den Kopf und sah ihn an. Die Tropfen, die über sein Gesicht rannen, sahen aus wie Tränen.   „Hilft es dir? Mit ihm zu reden, meine ich.“   Leifs Mundwinkel bewegten sich ein Stück nach oben. „Ja, schon. Immerhin weiß ich jetzt, wo meine Probleme liegen. Das ist schon mal ein Anfang.“ „Aber?“   Ich hatte gehört, dass da noch etwas mitschwang. Ich wollte wissen, was es war.   „Ich …“   Er brach ab und senkte den Kopf. Sein Blick richtete sich auf den Boden und ein Tropfen, der über seine Nase gelaufen war, hing für einige Augenblicke daran fest, bevor er zu Boden fiel. Leif würde sich noch erkälten, wenn ich ihn weiter aufhielt. Er musste reingehen. Jetzt.   Trotzdem sagte ich nichts. Ich sah ihn einfach nur an. So lange, bis er endlich den Kopf hob und meinen Blick erwiderte. „Alte Gewohnheiten lassen sich leider nur schwer ablegen.“ „Dann helfe ich dir.“   Noch einen Augenblick sah er mir direkt in die Augen, bevor er den Kopf abwandte und lachte. Ja wirklich, er lachte. Warum lachte er?   „Ich wünschte, das würde funktionieren“, hörte ich ihn noch leise sagen, bevor Thomas’ Stimme über den Platz brüllte, dass wir uns endlich nach drinnen bewegen sollten und zwar pronto.   Leif erhob sich, ohne mich anzusehen, und ging mit bedächtigen Schritten in Richtung Wohnheim zurück. Ich sah ihm nach und hatte wieder einmal das Gefühl, das vollkommen Falsche gesagt zu haben. Dabei stimmte es. Ich wollte ihm helfen. Aber vielleicht hatte er recht. Vielleicht war ich wirklich nicht der Richtige dafür.   Mit gesenktem Kopf trabte ich zurück zur Terrassentür. Es regnete immer noch in Strömen. Thomas empfing mich mit einem Gewittergesicht und einer Gardinenpredigt. „So eine Unvernunft!“, schimpfte er. „Na los, raus aus den nassen Klamotten und ab in die Dusche. Leif hab ich auch schon geschickt. Seht zu, dass ihr wieder warm werdet.“   Ich sah ihn kurz an und entdeckte echte Sorge in seinen Zügen Er hatte anscheinend wirklich Angst, dass uns was passierte. Ich lächelte breit. „Keine Bange, uns haut so schnell nichts um.“ „Dich vielleicht nicht. Aber Leif. Also macht keinen Mist, okay?“   Ich nickte nur und bemühte mich, die Küche und das Treppenhaus nicht allzu sehr vollzutropfen auf meinem Weg nach oben. Als ich am Badezimmer ankam, hörte ich drinnen Wasser rauschen. Offenbar duschte Leif noch. Unwillkürlich blieb ich stehen um zu lauschen. Fast hätte ich meine Hand nach der Klinke ausgestreckt um zu sehen, ob er abgeschlossen hatte, als ich Schritte hinter mir hörte. Sven war im Flur aufgetaucht und lachte mich aus. „Du siehst aus wie ne aus dem Wasser gezogene Katze.“ „Immer noch besser als der Golfplatz, den du dein Gesicht nennst.“ Er grinste und ich ebenfalls, bevor wir die Fäuste gegeneinander schlugen. Als er jedoch hörte, dass nebenan geduscht wurde, verschwand sein Grinsen schlagartig.   „Was findest du eigentlich an dem Spinner?“, wollte er wissen und deutete mit dem Kopf auf die Tür. Ich zuckte die Achseln. „Weiß nicht. Ich find ihn ganz nett.“ „Nett? Nett ist der kleine Bruder von scheiße.“   Ich machte ein abfälliges Geräusch wegen des platten Spruchs. Andererseits war ich auch nicht viel besser gewesen. Aber die Wahrheit konnte ich Sven schließlich kaum erzählen. „Kommst du mit?“, fragte er als Nächstes. „Wir dürfen ne Runde unsere sozialen Fähigkeiten unter Beweis stellen.“   „Ach ja? Wie das?“ „Brettspiele.“   Ich stöhnte und Sven hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste. „Hey, immer noch besser, als wenn er wieder die Klampfe rausholt. Singen? Im Ernst? Ich dachte echt, der will mich verarschen.“ „Ja, geht gar nicht.“   Ich tat so, als wenn es nichts Schlimmeres gäbe. Dabei lauschte ich gleichzeitig auf das Wasserrauschen, das jetzt verstummt war. Leif war also fertig mit Duschen. Wenn ich ihn noch erwischen wollte, musste ich Sven loswerden und das zügig. „Na gut, ich komm gleich runter. Warte nur noch auf mein Handtuch, um mich trockenzulegen.“ Ich wies mit dem Daumen auf die Badtür. „Klar, mach mal. Aber lass dir nichts abgucken.“ „Logisch.“   Damit entließ er mich und ich atmete innerlich auf. Das war gerade nochmal gut gegangen. Als ich mich umdrehte, sah ich direkt in Leifs Gesicht.   „Äh, hi“, machte ich. Was Besseres fiel mir gerade nicht ein. Leif reagierte nicht.   „Ich … ich soll noch duschen. Hat Thomas gesagt.“   Ich klang vollkommen bescheuert, aber ich wollte nicht, dass er dachte, dass ich auf ihn gewartet hatte. Was ich ja irgendwie hatte, aber …   „Das Bad ist jetzt frei.“   Seine Stimme war rau. Ich kannte diesen Ton. Ich sah seinen Blick, der an mir herabglitt. An meiner Brust, an der immer noch mein nasses T-Shirt klebte, und weiter nach unten. Mein Puls beschleunigte sich. Mein Mund wurde trocken. Das war doch Folter. Alles, was ich wollte, so nahe vor mir und ich konnte es nicht haben. Oder konnte ich?   Schnell sah ich mich um. Der Flur war leer. Mit einer Bewegung packte ich Leif und schob ihn zurück ins Bad. Ich schloss die Tür und gleich noch ab. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen. Er sagte nichts, aber er wehrte sich auch nicht. Er stand einfach nur da, das Handtuch um die Hüften. So wie ich an dem Tag, an dem ich sein Tagebuch geklaut hatte. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Nicht, wenn er hier halbnackt vor mir stand.   Mit angehaltenem Atem trat ich einen Schritt näher. „Darf ich?“, fragte ich leise. Er antwortete nicht. Nur seine riesigen Augen sahen mich unverwandt an. Die Pupillen groß und dunkel, die Wimpern lang und gebogen. Seine vollen, leicht spröden Lippen in dem sonst so schmalen Gesicht. Die blasse Haut über seinen Wangenknochen gerötet von der Hitze des Wassers. Ich wollte ihn küssen.   „Leif.“   Mehr brauchte es nicht. Nur seinen Namen, den ich flüsternd hervorstieß. Im nächsten Moment verschloss er meine Lippen mit einem Kuss. Stürmisch war er. Hungrig. Ich legte meine Hände auf seine Hüften, zog ihn zu mir heran. Ich hatte ihn so vermisst. So sehr vermisst.   Ich öffnete den Mund und er folgte meiner Einladung sofort. Seine Zunge strich über meine. Sie umschlangen sich. Das hier war gut, so gut. Ich spürte die Wand in meinem Rücken, den rauen Stoff unter meinen Händen, den ich beiseiteschob, um dann nur noch glatte Haut zu spüren. Nein, nicht glatt. Ich fühlte die Knochen und Sehnen, die feinen Haare, die ihn bedeckten. Er war fest und hart. Überall.   Seine Finger stahlen sich unter mein Shirt. Zerrten es über meinen Kopf, bevor wir uns zu einem erneuten Kuss fanden. Lippen, Zähne und Zunge. Forschende, fahrige Berührungen, die überall zugleich waren. Schon verabschiedete sich meine Hose in Richtung Boden. Ich stöhnte, als ich seinen Schwanz an meinem fühlte. Meine Hände krallten sich in seinen Hintern. Er zischte, aber ich ignorierte es. Stattdessen küsste ich ihn. Wieder und wieder, während er sich an mich presste und ich mich an ihn. Für einen Moment blitzte die Idee in mir auf, mich umzudrehen und mich von ihm nehmen zu lassen. Jetzt und hier an dieser verdammten Wand. Mich einfach ficken zu lassen. Ich war so geil. Ich wollte ihn. Jetzt. „Ich will dich“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Meine Zunge fuhr über seinen Hals. Er roch ganz leicht nach seinem Duschgel. Irgendein grünes Zeug mit Kräutern. Meine Finger fanden seinen Hintern. Ich fasste zu und zog die Backen auseinander. Das Ergebnis war ein Keuchen und ein Zucken in seinem Schwanz, das mir deutlich zeigte, dass er das mochte. Ich drückte in einer aufreizenden Geste mein Becken gegen seines. Knochen und feste Muskeln beantworteten meine Bewegung. Sein Schwanz stand wie eine Eins. Ich konnte die Spitze leuchten sehen. Sie fast schon zwischen meinen Lippen spüren. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf durcheinander. Blasen. Ficken. Alles. Alles wollte ich und das jetzt. Sofort. Mit ihm.   „Ich will dich“, wiederholte ich noch einmal und saugte an der Haut, die sich über seinem Schlüsselbein spannte. „Jetzt. Hier. Ich will dich ficken.“ Er keuchte noch einmal und lehnte sich nach hinten. In seiner linken Brustwarze hatte er noch ein Piercing. Ich überlegte nicht lange und legte meine Lippen darüber. Saugte, knabberte, leckte. Er machte so wundervolle Geräusche. Ich wollte ihn zum Schreien bringen. „Halt!“, rief er plötzlich und stieß mich wieder gegen die Wand. Irritiert hob ich den Blick. In meinem Kopf war nur noch Platz für den Gedanken daran, ihn umzudrehen und es ihm zu besorgen. Ihm und mir. Ich wollte, dass er kam, während ich noch in ihm steckte. Ich wollte ihn dabei spüren. Das Zucken seines Körpers. Seine Muskeln, die sich eng und enger um mich zusammenzogen. Seine Lippen auf meinen, wenn es passierte. Ich wollte …   „Wir sollten das nicht tun.“   Ich hörte die Worte, aber ihr Sinn erschloss sich mir nicht. Was sollten wir nicht tun? Ficken? Oh doch, das sollten wir. Das sollten wir unbedingt.   Ich griff nach ihm, zog ihn wieder näher. Sanfter als vorher. Ich wollte, dass er es genoss.   „Keine Angst“, wisperte ich in sein Ohr. Meine Lippen spielten mit dem baumelnden Ohrring. Fingen ihn ein und zogen leicht daran. „Es wird niemand was merken.“   „Ich werde es merken.“   Ich lächelte und küsste noch einmal seinen Hals. Meine Lippen auf seiner Haut. Meine Nase in seinem Geruch. „Ich werde vorsichtig sein. Ich will dir nicht wehtun.“   Noch ein Kuss. Sein Puls unter meinen Lippen. Ich hörte ihn atmen. Dann ließ er mich auf einmal los und trat von mir weg. In seinen Augen sah ich Lust und Traurigkeit. Er verzog den Mund zu einem kleinen, schmerzhaften Lächeln.   „Ich weiß“, sagte er und ich brauchte einen Augenblick bis ich begriff, dass das eine Antwort gewesen war. Aber worauf? Was hatte ich gesagt? Es war mir entfallen in dem Moment, als ich ihm zum ersten Mal ganz sah. Vollkommen nackt wie noch nie zuvor.   Er war wirklich schlank. Ein bisschen zu sehr. Seine Oberarme waren dünner als seine Unterarme. Ich sah seine Schlüsselbeine, den unteren Ansatz seines Brustkorbs, das Becken. Es hätte besser ausgesehen, wenn er ein bisschen mehr auf den Rippen gehabt hätte. Wortwörtlich. Aber gleichzeitig war er … schön. Auf eine unheimliche, zarte Weise. Ich wollte ihn anfassen. Berühren. Streicheln. Ihn in den Arm nehmen und ihn küssen. Ihm durch das Haar streichen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass wir es schaffen würden. Er lächelte noch einmal.   „Ich sollte gehen. Die anderen werden sonst misstrauisch.“ Er beugte sich nach seinem Handtuch und hob es auf. Dabei konnte ich noch einmal seinen Rücken bewundern. Auch hier zu viele Knochen, aber die schmale Linie turnte mich an. Ich verstand es nicht. Ich hatte noch nie auf so was gestanden und jetzt wollte ich nichts mehr als das. Warum? „Bis nachher.“   Er ging an mir vorbei und ließ mich schutzlos zurück. Nackt. Wie hatte er das geschafft? Ich war verdammt nochmal geil und gleichzeitig hätte ich heulen können. Ich zog geräuschvoll die Nase hoch.   Ich werd mir einen runterholen und dann nach unten gehen. Sollen sie doch blöde Sprüche machen. Ist ja nicht so, dass die anderen nicht auch manchmal länger duschen würden.   Mit diesen Gedanken machte ich mich daran, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Die Tür ließ ich offen. Sollte er doch hören, was er verpasste. Was er hätte haben können. Ich würde mich nicht vor ihm verstecken. Ich nicht.   Doch als ich schließlich kam, war es mit seinem Namen auf den Lippen. Die Lust, die in dicken, weißen Schüben aus mir herausschoss, schrie ihn. Sie sang. Doch ich, ich fühlte mich stumm und zerschlagen, als ich schließlich das Wasser abdrehte. Ich hörte Thomas draußen nach mir rufen und antwortete, dass ich noch duschte. Er blieb an der Tür stehen und klopfte. „Du solltest langsam mal kommen. Die anderen sind schon alle unten.“ „Ja, bin gleich soweit.“   Als ich aus der Dusche stieg, fiel mein Blick auf einen dunklen Haufen unter dem Waschbecken. Leifs Sachen, die er bei seiner Flucht vergessen hatte. Ich lachte bitter auf. Denn genau das war es gewesen. Eine Flucht. Eine Flucht vor mir. Vor dem, was wir hätten haben konnten. Aber er wollte es nicht. Er konnte nicht. Es fühlte sich scheiße an, das zu hören. Es tat weh.   Trotzdem hob ich seine Sachen auf. Ich trug sie in mein Zimmer und hängte sie über dem Stuhl zum Trocknen auf. Für meine eigenen war kein Platz mehr, aber das machte nichts. Die mussten ohnehin in die Wäsche. Ich ließ sie am Boden liegen und zog mich an.   Mit einem letzten Blick auf die Hose, die Jacke und das Shirt drehte ich mich herum, zog die Tür hinter mir zu und ging nach unten. Alles so, wie es erwartet wurde. Alles so, wie Leif es wollte. Doch in mir drin war nichts, wie es sein sollte. Dort herrschte Chaos. Eine Sturmflut, die mich zu verschlingen drohte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich empfing das Gelächter und die Sprüche der anderen mit weit ausgebreiteten Armen. Ich machte mit. Tat, als könnte mich nichts verletzen. Als wäre ich hart wie Eis. Als glitte alles an mir ab wie ein einer glatten, kalten Wand. Weil das das Einzige war, was mir jetzt noch übrigblieb. Das Einzige, was mich jetzt noch rettete. Das Einzige, das vielleicht dafür sorgte, dass ich irgendwann über ihn hinwegkam.   Kapitel 16: Fragen und Antworten -------------------------------- „Manuel? Hast du mir zugehört?“ Ich schreckte hoch. Schon wieder saß ich auf diesem merkwürdigen Schaukelstuhl, der keiner war, und sollte mich darin üben, mein Inneres zu erforschen oder irgendwelchen Quatsch. Ich hasste es, hier zu sein. Aber noch viel mehr hasste ich die Tatsache, dass ich meine Gedanken einfach nicht von der Person lösen konnte, die draußen im Wartezimmer saß. Vor einigen Wochen hätte ich noch gewettet, dass es Tobias sein würde, der mir mal schlaflose Nächte bereitete. Im positiven Sinne natürlich. Doch stattdessen war es Leif, um den sich alles drehte, und ich kam darauf einfach nicht klar. „Nein. Nein, hab ich nicht“, gab ich zu. Dr. Leiterer hatte diese Wirkung irgendwie. Dass man ihm die Wahrheit sagte. Warum das so war, wusste ich nicht, aber es war beängstigend und anstrengend und so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich wollte. Besonders als ich die nächste Frage hörte. „Was beschäftigt dich denn so, dass du meinen Ausführungen nicht folgen kannst? Wir können uns durchaus auch um akute Probleme kümmern, wenn du das möchtest. Auch dafür bin ich da.“ „Wie beruhigend“, knurrte ich. Dann würden wir heute also nicht in der Scheiße herumwühlen, die bisher in meinem Leben passiert war, sondern in der, die noch an meinem Hintern klebte. Ganz großartig. Ja wirklich. „Also, dann schieß mal los. Was geht dir gerade durch den Kopf?“ 'Nichts!', hätte ich am liebsten gesagt. Aber das wäre eine dicke, fette Lüge gewesen. Eigentlich war da oben eine ganze Menge los. Nicht alles davon hatte mit Leif zu tun. Da war zum Beispiel der Test, den ich heute Morgen wiederbekommen hatte. Volle Punktzahl. Frau Schmidt war darüber wohl ebenso erstaunt gewesen wie ich. Trotzdem hatte sie gelächelt und gemeint, dass ich 'das Klassenziel wohl bald erreicht hätte'. Das hieß, ich kam in die größere Gruppe. Wie auch immer ich es geschafft hatte, den ganzen Kram nachzuholen. Wenn ich mich konzentrierte, war es eigentlich auch gar nicht schwer. Auch wenn sich mir der Sinn nicht immer erschloss. War mir doch egal, wie sich Blumen vermehrten. Die würden schon nicht aussterben, wenn ich mich da raushielt. Hauptsache sie wussten, was sie zu tun hatten. Das „Fortpflanzungsverhalten“ von Menschen war es, das mir da größere Schwierigkeiten machte. Vor allem, wenn man einen gewissen Leif mit in die Gleichung einbezog, der sich verhielt wie 33 Unbekannte auf einmal. Echt zum Kotzen. „Es ist nichts“, brummte ich trotzdem. Weil ich nicht mit Dr. Leiterer darüber reden wollte, dass schon wieder Funkstille zwischen mir und Leif herrschte. Im Gegensatz zu unserem ersten Streit machte er seit dem Wochenende aber nicht mal mehr den Versuch, sich um ein normales Verhältnis zu bemühen, und ich auch nicht. Ich hing mit den anderen ab und ließ ihn ebenso wie der Rest der Truppe links liegen. Es fühlte sich falsch an, aber hatte ich denn eine Wahl? „Hast du Probleme mit einem deiner Mitbewohner?“ Volltreffer! Ich hätte echt gerne gewusst, wie er das machte. Ob Leif ihm was von uns erzählt hatte? Dieser Verräter! Ich setzte ein herablassendes Lächeln auf. „So wie ich Sie kenne, wissen Sie das doch schon längst.“ Ich wartete darauf, dass Dr. Leiterer sich mal wieder eine Notiz machte, aber er blieb ruhig sitzen und blickte mich nur an. „Was denkst du denn, das ich schon weiß?“, fragte er freundlich. „Vielleicht kommen wir ja so deiner derzeitigen Missstimmung auf die Schliche.“ Missstimmung. Ich hätte beinahe gelacht. Ja, so konnte man das wohl nennen. Selbst Tobias hatte bemerkt, dass ich scheiße drauf war. Ich kriegte zwar meistens noch die Kurve, bevor es richtig Ärger gab, riss mich in der Schule zusammen und so, aber sobald es um irgendwelche Gruppenaktivitäten ging, hielt ich mich möglichst raus. Ich suchte mir einen Platz weit weg von Leif und brütetet dort vor mich hin, bis ich wieder in mein Zimmer gehen konnte. Dort lag ich stundenlang auf dem Bett und starrte die Wand an, während ich Musik hörte. Nun ja, nicht stundenlang. Schließlich war Tobias immer noch damit beschäftigt, mich zu beschäftigen. Eine Aufgabe, die er durchaus ernst nahm. Auch ihm hatte ich nicht erzählt, was los war. Und jetzt sollte ich das Ganze mit Dr. Leiterer durchkauen? Einem Typen, den ich kaum zwei Wochen lang kannte? Zumal das eh nichts an der Situation geändert hätte. Wenigstens weiß ich jetzt, wo meine Probleme liegen. Das hatte Leif über seine Therapie hier gesagt. Gequirlte Hühnerkacke. Vor allem, weil ich ja schon wusste, was mein Problem war. Ich wollte Leif, aber ich konnte ihn nicht haben. Weil er mich nicht wollte. Um das zu erkennen, brauchte ich keinen Doktortitel und keine schicke Praxis. Dr. Leiterer lehnte sich zurück. Er trug heute einen dunkelblauen Pullover mit einem V-Ausschnitt. Darunter ein hellblaues Hemd. Der oberste Knopf war offen. Vermutlich, um das Ganze ein bisschen lockerer zu gestalten. Oder sein Hals war zu dick für den Kragen. Ich grinste bei diesem Wortspiel. „Worüber freust du dich gerade?“ „Ach nichts. War ein dummer Gedanke.“ „Oh, ich denke nicht, dass Gedanken dumm sein können. Manchmal muss man sie nur in das richtige Licht setzen, damit sich ihr Sinn offenbart.“ Ich prustete. „Sie waren noch nie besoffen, oder?“ Dr. Leiterer schmunzelte. „Das tut jetzt nicht zur Sache.“ Ich grinste. „Aber Sie müssen zugeben, dass einem da schon ziemlicher Stuss durch den Kopf gehen kann.“ Jetzt seufzte er. „Ist dir eigentlich bewusst, dass du mir die ganze Zeit ausweichst?“ Er sah mich an und erwartete anscheinend tatsächlich, dass ich diese Frage beantwortete. Ich drehte den Kopf weg. „Ein bisschen.“ Er kommentierte das nicht, sondern wartete lediglich darauf, dass ich wieder anfing zu sprechen. Das Spiel kannte ich ja inzwischen schon. Natürlich hätte ich jetzt mit irgendeinem anderen Thema anfangen können. Mit meinen Eltern zum Beispiel. Oder meinem Bruder. In der Beziehung lief ich mit Sicherheit auch nicht so ganz rund. War vielleicht normal, wenn der versucht hatte, einen umzubringen, aber trotzdem. Mit mir stimmte so einiges nicht. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Leif vor mir davonlief. Weil ich einen an der Klatsche hatte. Ich gab mir einen Ruck. Vielleicht gab der Doc ja endlich Ruhe, wenn ich ihm erzählte, was mich beschäftigte. „Es geht um Leif“, sagte ich, ohne eine weitere Erklärung dazu zu liefern. Dr. Leiterer nickte. „Schön. Und wie genau sieht das Problem aus, dass du mit ihm hast?“ Ich schnaubte. „Ich dachte, ich bin hier, damit Sie mir das sagen.“ Dr. Leiterer lachte. „Oh, da bist du aber falsch informiert. Ich bin lediglich dafür da, dass du das selbst erkennen kannst.“ Ich atmete tief ein und rutschte ein Stück tiefer in meinen Sitz. So ein Mist! Das andere wäre mir deutlich lieber gewesen. Und einfacher. Aber einfach schien es irgendwie nicht zu geben. Nur den Weg mitten hindurch durch die größten Scheißhaufen. Ich wollte diesen Weg nicht gehen. „Sagen Sie mir wenigstens, ob Leif Ihnen schon was erzählt hat? Ich mein, wenn ich nochmal bei Null anfange, obwohl Sie die Geschichte eigentlich schon kennen, wäre das doch irgendwie Zeitverschwendung.“ Dr. Leiterer lächelte leicht. „Wie ich dir bereits mehrmals erklärt habe, darf ich dir dazu keine Auskunft geben. Aber vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ein und dieselbe Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven vollkommen unterschiedlich aussehen kann. Einfach weil verschiedene Menschen die gleiche Sache mitunter unterschiedlich erleben und beurteilen. Also fühl dich nicht davon befangen, dass es sein könnte, dass ich einen Teil dessen, was du mir erzählen willst, schon einmal gehört habe. Selbst wenn es so wäre, wäre ich trotzdem an deiner Sicht der Dinge interessiert.“ Ich sah zu Boden. Da unten lag ein Teppich mit einem hellen Muster. Er war schon ziemlich abgetreten und nicht mehr ganz sauber. So wie eigentlich alles hier schon ein bisschen gebraucht aussah. Selbst der Doc. Aber hieß das nicht vielleicht, dass ziemlich viele Leute hierherkamen, weil er ihnen helfen konnte? Ich atmete tief durch. Ein Versuch konnte ja nicht schaden. „Angefangen hat das mit mir und Leif eigentlich schon an dem Tag, als ich in Thielensee ankam. Wir haben … rumgemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Ich schielte zu Dr. Leiterer rüber, ob er irgendwie darauf reagierte, aber er saß nur da mit seinem Schreibblock und wartete, dass ich weitererzählte. Ich sah wieder nach unten und fuhr fort. „Irgendwann ist er dann mal nachts zu mir gekommen. Ich … ich war heiß auf ihn und er auf mich. Wir hatten Spaß zusammen. Ganz unverbindlich. Doch dann …. dann war da mein Geburtstag. Seine Eltern sind an dem Tag aufgetaucht und haben ihn abgeholt. Als er wiederkam, war er ziemlich fertig. Er hat nicht gegessen, wissen Sie? Daran merkt man das meistens. Er wollte nicht mal die Pizza, die ich extra für ihn aufgehoben hatte.“ Dr. Leiterer bewegte die Hand, um sich eine Notiz zu machen. Als er sah, dass ich es bemerkt hatte, lächelte er leicht. „Lass dich durch mich nicht stören. Ich muss mir nur ab und an mal was aufschreiben, damit ich es nicht vergesse. Du bist ja nicht mein einziger Patient.“ Ich nickte und überlegte, wie ich am besten weitermachen sollte. Was an der Geschichte war wichtig? Was davon hatte Leif wohl bereits erzählt? Er hat gesagt, dass es egal ist. Ich schluckte und sprach weiter. „An dem Abend kam er dann noch zu mir. Wir haben uns erst ein bisschen gezofft und dann … dann haben wir uns geküsst.“ „Und das war etwas Besonderes für dich?“ Ich zuckte die Achseln. „Nein, eigentlich nicht. Ich hab schon einige Kerle geküsst, aber …“ Ich hielt inne. Dr. Leiterer sah mich fragend an. „Aber?“, wiederholte er auffordernd. „Ich … mir ist einfach aufgefallen, dass wir das vorher nicht gemacht haben. Keine Ahnung, wieso. Es hat sich nicht ergeben.“ „Soso, nicht ergeben“, murmelte Dr. Leiterer und schrieb sich noch etwas auf. „Und wie ging es dann weiter nach eurem Kuss.“ Ich versuchte ein Grinsen zu verbergen, aber es gelang mir nicht ganz. „Er hat mir einen runtergeholt“, platzte ich schließlich heraus. „Als Geburtstagsgeschenk.“ Dr. Leiterer machte sich eine Notiz. „War das das erste Mal, dass ihr intim wart?“ Ich blinzelte ihn an. „Äh, nein. Hab ich doch schon gesagt. Er hat mir vorher auch schon ein paar Mal einen geblasen und ich ihm. Manchmal war es auch nur Handarbeit. Je nachdem, worauf wir Lust hatten.“ „Aha“, machte Dr. Leiterer und schrieb sich das auf. Danach blickte er hoch. „Hast du eigentlich schon mal Probleme wegen deiner Homosexualität bekommen?“ Ich sah ihn verständnislos an. „Was? Sie meinen, ob ich schon mal blöde Sprüche kassiert habe oder vor irgendwelchen Schlägern flüchten musste, damit die mich nicht aufmischen?“ „Ja, so etwas zum Beispiel. Aber auch innerhalb deiner Familie oder deines Freundeskreises.“ Ich sah zur Seite. „Die wissen es nicht und das soll auch so bleiben.“ „Warum?“ „Weil es Arschlöcher sind. Deswegen.“ Na toll. Jetzt waren wir also doch wieder bei meiner Familie gelandet. Ich hätte es wissen sollen. Die Sache mit Leif ging ihm vollkommen am Arsch vorbei. „Gut. Entschuldige bitte, dass ich das gefragt habe. Ich finde es nur bemerkenswert, dass du damit so gut umgehen kannst. Oftmals geht es einem ja doch ziemlich nahe, wenn geliebte Menschen einen so wichtigen Teil der Persönlichkeit ablehnen oder man ihn ständig verstecken muss.“ Ich verzog den Mund. Geliebte Menschen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Eltern wirklich darunter fielen. Oder mein Bruder. Ich hatte nicht das Gefühl, sie zu lieben. Das beruhte vermutlich auf Gegenseitigkeit. „Ist schon okay. Ich hab kein Problem damit, schwul zu sein. Gibt ne Menge heiße Typen da draußen. Die wollen wir doch nicht enttäuschen.“ Ein kleines Lächeln glitt über Dr. Leiterers Gesicht „Dann erzähl mir doch mal, wie es mit dir und Leif weiterging. Ihr habt also Zärtlichkeiten ausgetauscht. Euch geküsst. Und dann?“ Ich senkte den Kopf. „Dann hab ich Scheiße gebaut.“ Dr. Leiterer sah auf. „Und welche Art von Scheiße?“ Ich schluckte. Auf den Teil der Geschichte hatte ich so gar keinen Bock. Aber es musste wohl sein. „Ich … ich hab sein Tagebuch geklaut. Sie wissen schon. Das, wo er aufschreibt, was er isst. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Und dann war es passiert und er war sauer und ich bin abgehauen. Nach Hamburg. Und als ich wiederkam, da war er immer noch sauer. Aber nicht wegen des Buches. Also schon, aber irgendwie auch nicht. Ich hab das nicht so richtig kapiert. Und am Ende hat er gesagt, dass wir Freunde sind. Aber irgendwie funktioniert das auch nicht so richtig. Weil am Wochenende da haben wir erst geredet und das war okay, aber dann … dann haben wir uns wieder geküsst. Ich wollte mehr und er auch, aber dann hat er plötzlich einen Rückzieher gemacht und ist abgehauen. Seitdem sprechen wir nicht mehr miteinander.“ Ich war gegen Ende immer schneller geworden und jetzt, da ich fertig war, hatte ich das Gefühl kurz vor einem Abgrund stehengeblieben zu sein. Das war einerseits nervenaufreibend, andererseits gab es da doch diesen Spruch. Heute stehe ich vor dem Abgrund, morgen bin ich schon einen Schritt weiter. Natürlich wusste ich, wie das gemeint war – ich war ja nicht blöd – aber vielleicht … vielleicht hatte Dr. Leiterer ja noch eine Idee, wie man aus diesem Schlamassel herauskam. Anders als sich von einer Klippe zu stürzen. Was ich ohnehin nicht vorhatte. Aber wie ich von hier wieder wegkam, wusste ich auch nicht. Dr. Leiterer hingegen reagierte nicht auf meine heruntergehaspelte Erklärung. Er saß da mit einer kleine Falte zwischen den Augenbrauen und schrieb etwas auf. Das war neu. Das hatte er vorher noch nie gemacht. Warum tat er es jetzt? Hatte ich irgendwas Wichtiges gesagt? Und wenn ja, was war es gewesen? Endlich hob er wieder den Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdig zufriedener Ausdruck. Das gefiel mir nicht. „Was?“, fragte ich ärgerlich. Der sollte endlich aufhören zu grinsen und mit seiner Weisheit rausrücken und mich erleuchten. Was hatte ich gerade gemacht? „Lass uns doch noch einmal zu diesem Tag zurückkommen, an dem du weggelaufen bist. Magst du mir mal schildern, was an dem Tag alles passiert ist.“ Ich stöhnte innerlich. Also ging es doch darum. Aber meinetwegen, dann rollte ich das eben nochmal von vorne auf. Ich erzählte wahrheitsgemäß noch einmal den ganzen Tag und Dr. Leiterer hörte mir aufmerksam zu. Als ich fertig war, fragte er: „Und welches dieser Ereignisse, würdest du als am schwerwiegendsten einschätzen. Wenn du sie mal gewichten solltest auf einer Skala von eins bis zehn.“ Ich überlegte. Die Sache mit den Kaugummis war schon ziemlich scheiße gewesen, aber eigentlich nur, weil der Rest so blöd gelaufen war. Also vielleicht eine Vier. Dass Tobias nicht da gewesen war, eine Fünf. Bei ihm hätte ich mich vielleicht darüber auskotzen können oder es wäre gar nicht erst zu diesem blöden Streit mit Maik gekommen. Der pochte immer nur auf die Einhaltung der Regeln ohne Wenn und Aber. Ich verstand ja, dass die wichtig waren, aber manchmal kotzte es mich einfach nur an. Tobias war da viel lockerer und vor allem hatte ich bei ihm das Gefühl, dass er ir auch wirklich zuhörte.Trotzdem bekam der Streit mit Maik auch nur eine Vier. Sven dagegen war bestimmt ne Fünf oder sechs. Obwohl ich inzwischen eigentlich gar nicht mehr verstand, warum wir uns beide immer so auf den Sack gegangen waren. Immerhin saßen wir ja im gleichen Boot. Blieb nur noch die Sache mit Leif. Seine Enttäuschung darüber, dass ich ihn bestohlen hatte. Die Tatsache, dass er so sauer gewesen war. Dass er meinetwegen nicht richtig gegessen hatte. Einfach alles. Das war mindestens eine Sieben. Wenn nicht sogar eine Acht. Ich schluckte. „Das mit Leif war am schlimmsten“, sagte ich tonlos. Der Rest hatte irgendwie nur so am Rand rumgekratzt. Nervig, aber es würde nicht lange vorhalten. Das mit Leif jedoch, das war irgendwie … anders. „Du hast gesagt, dass du ihn magst. Ist das richtig?“ Ich nickte stumm. Ja, ich mochte ihn. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Ich war nämlich wirklich nicht so der Typ für … so was. Aber irgendwie hatte dieser komische Frosch mit dem breiten Mundwerk und den dünnen Beinen es geschafft, sich bei mir einzunisten. Obwohl Frösche doch noch nicht mal Nester bauten. Glaubte ich jedenfalls. Die waren in Bio noch nicht dran gewesen. „Und hast du eine Erklärung dafür, warum das so ist?“ Ich zuckte mit den Schultern.. „Nein. Er war halt … er war der einzige Freund, den ich hatte. Da fühlt es sich halt scheiße an, wenn man sich mit dem in die Wolle kriegt.“ „Also seid ihr nur das. Freunde?“ Die Art und Weise, in der er die Frage stellte, ließ mich aufhorchen. „Wieso wollen Sie das wissen? Hat Leif was gesagt?“ Dr. Leiterer hub an, mir zu antworten, aber ich winkte ab. „Jaja, ich weiß. Sie können mir nichts dazu sagen. Aber das ist wichtig. Bitte!“ Normalerweise hätte ich mich wohl geschämt, ihn so zu beknien, aber in diesem Moment war mir das herzlich egal. Ich hatte mich nämlich daran erinnert, dass Leif das ebenfalls gesagt hatte und dabei genauso komisch geklungen hatte wie Dr. Leiterer gerade. Da musste es doch einen Zusammenhang geben. Oder nicht? Dr. Leiterer ließ jetzt seinen Block sinken. Ich riskierte einen Blick darauf, musste aber feststellen, dass er eine ziemliche Sauklaue hatte. Das oder er schrieb mit Absicht so, dass man nichts erkennen konnte. Was für ein Arsch! „Ich darf dir tatsächlich nichts zu dem Thema sagen.“ „Weil Sie mit Leif darüber gesprochen haben?“ „Vielleicht. Aber was ich dir noch einmal ans Herz legen möchte, ist, ihn selbst danach zu fragen. Denn so, wie es sich anhört, findet ihr ja durchaus Gefallen aneinander. Aber du sagst selbst, dass Leif neuerdings vor körperlicher Intimität mit dir zurückschreckt. Vielleicht wäre es eine gute Idee herauszufinden, warum das so ist.“ Ich blieb einen Augenblick lang still. Jetzt, wo Dr. Leiterer es sagte, kam es mir tatsächlich komisch vor. Leif hatte so lange mitgemacht, bis ich angefangen hatte, ihn zu küssen. Und andere Sachen. Aber eigentlich hatte er doch mich zuerst geküsst. Das musste doch was heißen. Aber dann hatte er aufgehört. Weil er nicht konnte. Das hatte er gesagt. Nicht, weil er nicht wollte. Hieß das, dass er doch wollte? Ich schnaufte und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Das war so verdammt kompliziert. Warum war es nur so scheiße kompliziert? Es lief doch am Anfang. Warum jetzt nicht mehr? Was hat sich geändert? „Du siehst ein bisschen verzweifelt aus.“ Ach ja. Dr. Leiterer war ja auch noch da. Ich sah zu ihm rüber. „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Der Doc zog fragend die Augenbrauen nach oben. Anscheinend sollte ich weiter sprechen. Aber in meinem Kopf herrschte gerade absolute Leere. Dafür hatte ich den Bauch voll mit lauter … Dingen. Dingen, die mich verwirrten und zittern ließen und die ich am liebsten nicht gehabt hätte. Dinge, die nur weggehen würden, wenn ich das mit Leif in Ordnung brachte. Aber wie? Wie? „Wie ich dir schon sagte, wäre es vielleicht der richtige Weg, das Gespräch mit Leif zu suchen.“ Ich lachte auf. „Ja klar. Und was soll ich da sagen? 'Ey, entschuldige mal, aber warum willst du eigentlich nicht mit mir ficken?' Meinen Sie wirklich, dass er mir darauf antworten würde?“ Dr. Leiterer schmunzelte. „Die Wortwahl ist vielleicht etwas ungeschickt.“ „Und was soll ich dann sagen?“ „Was möchtest du denn sagen?“ Ich knurrte ihn an. „Müssen Sie eigentlich alles mit einer Gegenfrage beantworten?“ Er lächelte leicht. „Also schön, dann versuche ich dir mal ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Lass uns doch nochmal zu dem Tag zurückgehen, an dem du Leifs Tagebuch mitgenommen hast. Was genau hast du dir denn davon versprochen?“ Ich schnaubte. „Ich hab doch schon gesagt, dass ich das nicht weiß. Es war einfach eine total dämliche Idee.“ Dr. Leiterer nickte jetzt. „Da möchte ich dir zustimmen. Aber auch für die dümmste Entscheidung gibt es doch immer einen Grund. Oder wenigstens einen Auslöser. Denkst du nicht?“ Ich senkte den Kopf. Einen Auslöser. Für das Weglaufen hätte ich ihm den vielleicht noch nennen können. Aber das mit dem Tagebuch? Ich schüttelte frustriert den Kopf. „Da ist nichts. Ich … ich hab einfach die Gelegenheit genutzt.“ „Die Gelegenheit wofür?“ Ich blickte auf. Dr. Leiterer hatte sich ein wenig vorgebeugt und sah mich intensiv an. Ich musste da irgendwas auf der Spur sein. Aber was? WAS? „Ich weiß es nicht“, fuhr ich ihn an. „Ich weiß nicht, warum ich das blöde Ding haben wollte. Es stand ja nicht mal was Spannendes drin. Nur das mit dem Essen. Dabei ist mir das vollkommen egal. Mir ist egal, wie er aussieht. Ich will nur …“ „Ja?“ Ich ballte die Fäuste und hielt die Tränen zurück, die sich mit Macht nach vorne drängten. Scheiße! Ich wusste, was ich wollte. Ich wollte bei ihm sein. Mehr nicht. Aber das ging nicht und das fühlte sich an, als hätte jemand ein Loch in meine Brust gerissen. Ein scheißriesiges fucking Loch! Der Raum begann sich um mich zu drehen. Mir wurde heiß und kalt. Ich schwitze und mir war schlecht. Mein Puls dröhnte durch meinen Kopf. Ich wollte hier nur noch weg.Weg, weg, weg. „Möchtest du etwas trinken?“ Dr. Leiterers Worte rissen mich zurück in die Realität. Wahrscheinlich gab ich gerade ein ziemlich jämmerliches Bild ab. Schnell setzte ich mich wieder – wann war ich aufgesprungen? – und zwang ein schiefes Lächeln auf mein Gesicht. „Wenn Sie Whiskey haben.“ Ich mochte das Zeug nicht, aber der Spruch allein zählte. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Dr. Leiterer lachte. „Nein, nur Wasser. Möchtest du etwas?“ Ich zögerte. Meine Kehle war wie ausgedörrt, aber ich wollte mir nicht die Blöße geben, das zuzugeben. Es war schwach und wer schwach war, kam unter die Räder. Ich fuhr lieber oben mit. Dr. Leiterer wartete meine Antwort jedoch gar nicht ab. Er stand auf, ging zum Regal und holte von dort eine Flasche Mineralwasser und ein Glas. Anschließend goss er es halbvoll und reichte es mir. Ich nahm es und trank einen vorsichtigen Schluck. Obwohl mir eigentlich danach war, alles hinunterzustürzen. Danach stellte ich das Glas wieder auf den Tisch. Erst da fiel mir auf, dass er auch so eine Box mit Taschentüchern dorthin gestellt hatte. Oder hatte die da vorher schon gestanden? Ich wusste es nicht, aber ich würde sie mit Sicherheit nicht benutzen. „Also, lass uns doch mal über das sprechen, was da gerade passiert ist. Du schienst mir sehr … aufgewühlt zu sein. Magst du mir erklären, warum?“ Nein. Natürlich wollte ich das nicht. Zumal ich es auch nicht wusste. Ich hatte Leif doch auch schon gesagt, dass ich ihn wollte. Sogar, dass ich einfach nur so ein bisschen mit ihm zusammen sein wollte, auch wenn wir keinen Sex hatten. Obwohl ich das auch wollte. Es war wirklich zum Verrücktwerden. Ich kam mir vor wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagte. Wobei ich das schon mal ausprobiert hatte. Wenn man gelenkig genug war, gab es da durchaus Möglichkeiten … „Manuel?“ Ich schüttelte den Kopf. Jetzt lenkte ich mich schon selber ab. „Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, warum ich das Tagebuch genommen habe. Ich weiß es nicht.“ Dr. Leiterer presste die Lippen aufeinander. Anscheinend hatte ich das Kunststück, das er mich vollführen lassen wollte, immer noch nicht hinbekommen. Tja, tut mir leid. Ich bin eben nur ein dummer Hund. Er seufzte. „Na schön, dann werde ich dir jetzt mal eine kleine Hausaufgabe mitgeben. Du hast bis nächste Woche Zeit, sie zu erledigen. Einverstanden?“ Ich nickte Was blieb mir auch anderes übrig? Andererseits: Was wollte er tun, wenn ich sie nicht machte? Mich rausschmeißen? „Ich möchte dass du eine Liste mit Dingen machst, die du in dein Tagebuch schreiben würdest.“ „Aber ich habe kein Tagebuch.“ „Dann stell dir vor, du hättest eines. Du musst die Punkte nicht ausformulieren. Ich möchte nur, dass du einmal darüber nachdenkst, was aus deinem Leben du wohl aufschreiben wollen würdest. Natürlich kannst du es auch gerne tatsächlich aufschreiben, aber eine einfache Liste würde mir erst einmal genügen.“ Dr. Leiterer sah mich fragend an. „Meinst du, du schaffst das?“ „Ich versuch’s mal.“ So richtig klar war mir zwar nicht, was das bringen sollte, aber wenn er meinte, dass das notwendig war, dann würde ich den Stuss eben aufschreiben. So schwer konnte das ja nicht sein. Ein schrilles Klingeln ertönte und Dr. Leiterer drückte auf einen Knopf an der Wand. Ich hörte ein Summen und die Wohnungstür wurde geöffnet. Anscheinend war der nächste Patient angetanzt, um sich hier auszukotzen. Ich erwartete, dass Dr. Leiterer mir sagen würde, dass wir fertig waren, aber er tat es nicht. Stattdessen betrachtete er mich, als würde er irgendetwas suchen. Etwas, das man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte. „Weißt du, Manuel, ich glaube, dass du dich manchmal sehr, sehr gründlich vor dem versteckst, was du fühlst. Vielleicht weil du Angst hast, erneut verletzt zu werden. Aber wenn man nicht für den Rest seines Lebens allein bleiben möchte, muss man eine solche Verletzung manchmal riskieren. Damit will ich nicht sagen, dass du loslaufen und dein Herz zum Abschuss freigeben sollst. Aber vielleicht denkst du mal darüber nach, die Menschen um dich herum einen kleinen Blick hinter die Fassade werfen zu lassen. Ich glaube, sie wären erfreut über das, was sie vorfinden würden.“ Mit diesen Worten schloss er das Gespräch und entließ mich nach draußen. Ich ging durch den langen Flur bis zum Wartezimmer, wo Leif und Tobias auf mich warteten. Letzterer sprang auf, als er mich sah. Leif hingegen blieb sitzen und tat, als habe er mich nicht bemerkt. Tobias kam auf mich zu. „Na, Großer, alles klar bei dir? Du bist ein bisschen blass um die Nase.“ Ich war versucht, mein übliches Grinsen aufzusetzen. So zu tun, als wäre nichts passiert. Dann jedoch dachte ich an das, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Es klang vollkommen blöd und lächerlich, aber vielleicht … „Wir haben heute über ein schwieriges Thema gesprochen. Jetzt bin ich ganz schön platt.“ Ein kleines Lächeln breitete sich auf Tobias’ Gesicht aus. Kein fröhliches Lachen, das mir einer meiner üblichen Sprüche eingebracht hätte, sondern etwas anderes. Wahrscheinlich hätte es mich stören sollen, aber in dem Moment, als er die Hand auf meinen Oberarm legte, vergaß ich meine Bedenken. Die Wärme drang durch den Stoff. „Das klingt trotzdem gut. Ich freu mich für dich.“ Danach forderte er mich und Leif auf, uns zu beeilen, weil wir am Nachmittag noch mit einem Projekt beginnen wollten. Thomas und Tobias hatten das bereits gestern großzügig angekündigt und machten ein großes Gewese darum. Ich hatte keinen Bock dazu, aber es würde mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Als mein Blick auf Leif fiel, war der gerade dabei, die nächste Seite in der Illustrierten aufzuschlagen. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu erheben. Langsam ging ich zu ihm hin und wartete, dass er zu mir hoch sah. Als er es tat, war sein Gesicht abweisend. „Was guckst du so?“, fragte er gereizt. Ich lächelte. „Tja, weiß nicht. Vielleicht schau ich dich einfach gerne an.“ Leif starrte mich noch einen Augenblick lang an, bevor er hastig den Kopf senkte und so tat, als würde er sich nur für den Artikel interessieren. Aber er war dabei nicht schnell genug gewesen. Ich hatte gesehen, dass er gelächelt hatte. Kapitel 17: Bilder ------------------ Wir waren kaum auf den Parkplatz des Wohnheims eingebogen, als Tobias bereits einen freudigen Laut von sich gab. Als ich nach dem Grund fragte, begann er zu grinsen. „Ich hatte ein bisschen Sorge, ob meine Überraschung gelingt. Aber wie es aussieht, hat er es doch noch rechtzeitig geschafft.“ Was genau er damit meinte, erklärte er nicht, aber als wir ausstiegen fiel mir ein Wagen auf, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich war normalerweise kein Autofreak, aber das Ding machte nicht allein durch die knallig blaue Farbe auf sich aufmerksam. Es hatte obendrein auch noch ein gelbes Kennzeichen und das Lenkrad auf der falschen Seite.   Ich warf Tobias einen fragenden Blick zu. „Wer ist das?“ „Lass dich überraschen.“   Ohne noch weiter auf meinen Protest einzugehen, schob er mich und Leif in Richtung Haustür. Kaum dass wir drinnen waren, ließ er uns jedoch stehen und steuerte direkt die Küche an.Ein großes Hallo folgte und eine unbekannte Stimme mischte sich in die Geräuschkulisse. Als Leif und ich schließlich um die Ecke bogen, stockte mir ein bisschen der Atem. Der Typ war groß, muskulös und braungebrannt. Ein schwarzes Shirt spannte über seinem Oberkörper, während der Rest von ihm in weiten, khakifarbenen Hosen und halb offenen Schnürstiefeln steckte. Ein Käppi, das er mit dem Schirm nach hinten trug, hielt seine langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Über einem sorgfältig getrimmten Bart blitzten wache, braune Augen und sein strahlend weißes Lächeln blendete mich fast, während er versuchte, Tobias die Luft aus den Lungen zu klopfen.   „Hey Kumpel, kommst du auch endlich mal an’n Laden?“ „Klar, hatte erst noch zu tun. Schön, dass du da bist! Wie war die Reise? Wie geht es Andrea?“   Thomas, der den Neuankömmling wohl bisher bewirtet hatte, winkte Leif und mir um das dynamische Duo herum zu.   „Hallo ihr beiden. Wollt ihr noch was essen? Die anderen sind schon drüben im Konferenzraum. Wir wollen gleich anfangen.“   Während Leif den Kopf schüttelte, ließ ich mir von Thomas eine Tasse Kaffee einschenken und schnappte mir dazu ein paar Kekse. Kauend beobachtete ich Tobias und seinen Freund. Die beiden grinsten die ganze Zeit und tauschten Erinnerungen aus. Wie in einer Waschmittelwerbung. Man hätte fast neidisch werden können.   Als Tobias sich endlich genug gefreut hatte, drehte er sich zu uns um. „Das hier sind schon mal zwei unserer derzeitigen Bewohner. Das da drüben ist Leif und das hier Manuel.“ Der fremde Riese lächelte breit. „Freut mich. Ich bin Cedric.“   Ich hätte beinahe losgeprustet. Der Name passte ungefähr so sehr zu ihm wie „Schnuffi“ zu einem Kampfhund. Trotzdem griff ich nach der Hand, die er mir reichte und in der meine fast verschwand. Kohlenschaufeln waren ein Scheiß dagegen. Tobias grinste immer noch. „Dann lasst uns mal rübergehen. Nicht, dass die anderen sich langweilen.“     In dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, in dem wir auch immer unsere Besprechungen abhielten, lümmelte der Rest der Truppe bereits auf ihren Stühlen herum. Als wir eintraten, rief Sven: „Na endlich! Die Spinnerfraktion ist angekommen, wir können anfangen.“ „Sven!“   Thomas warf einen warnenden Blick in seine Richtung, während ich einen zu Leif riskierte. Dessen Gesicht zeigte keinerlei Regung, aber für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er ein bisschen blasser geworden war. Kurzentschlossen trat ich einen Schritt näher. „Kommst du?“   Ich wies auf zwei freie Plätze direkt vor uns.   Leif musterte mich mit leichtem Erstaunen, gemischt mit einer guten Portion Misstrauen. Fast so, als könne er nicht glauben, dass ich das gerade gefragt hatte. Und eigentlich konnte ich ihm das auch nicht verdenken. Ein Teil von mir war ja ebenfalls der Meinung, dass das mit uns Zeitverschwendung war. Dass ich ihn einfach abhaken sollte. Und doch konnte ich es nicht. Nicht solange ich nicht sicher wusste, dass ich absolut keine Chance bei ihm hatte.   Auf der anderen Seite des kreisförmigen Tisches klatschte Tobias jetzt in die Hände. „Also Leute, dann hört mal zu. Wie ihr mitbekommen habt, haben wir heute einen Gast. Cedric ist ein alter Freund von mir und gerade für zwei Wochen in der Gegend. Er hat sich bereit erklärt, uns ein bisschen bei unserem Projekt zu unterstützen. Eigentlich wollten wir ja mit euch einen Drogen-Workshop machen …“   „Geil, mit ner Anleitung zum Meth kochen und so? Kriegen wir Gratisproben?“   Sven sonnte sich im aufkommenden Gelächter, aber Thomas fand das offenbar so gar nicht komisch.   „Drogen sind nichts, worüber man Scherze machen sollte“, erklärte er mit ernstem Gesicht. „Das Zeug ist lebensgefährlich.“   Sven winkte ab. „Ja ja, Mann, wissen wir doch. 'Keine Macht den Drogen' und so. Es sollte doch nur ein Joke sein.“ „Spar dir deine Witze lieber und pass auf.“ „Aye-aye, Käpt’n.“   Sven legte die Hand an die Stirn und grüßte lässig. Thomas schüttelte den Kopf und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Cedric rüber. „Bist du dir sicher, dass du das hier machen willst?“ „Aber absolut.“   Cedric lachte und entblößte dabei erneut seine perfekten Zähne. Der Typ sah echt verboten gut aus. Dagegen stank sogar Tobias ab. Ich stupste Leif unauffällig an. „Lecker, oder?“, wisperte ich. Ein winziges Lächeln zupfte an Leifs Mundwinkeln. „Ja, schon. Ein bisschen zu groß vielleicht. Ich hab es lieber etwas handlicher.“   Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, zauberte ein Grinsen auf mein Gesicht. Ich beeilte mich, wieder nach vorne zu sehen, aber die Tatsache, dass Leif neben mir saß, spukte trotzdem weiter in meinem Kopf herum. Dagegen hatte Tobias es schwer, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Er versuchte es trotzdem.   „Wir haben geplant, endlich mit der Verschönerung des Flurs anzufangen. Ich hatte euch ja gesagt, dass ich versuche, jemand ins Boot zu holen, der sich mit Graffiti auskennt. Und hier ist er. Cedric, vielleicht stellst du dich kurz mal selbst vor.“   Der Hüne hob grüßend die Hand. „Hi! Ich bin, wie schon erwähnt, Cedric. Ihr könnt aber auch Ced zu mir sagen. Ich hab mit dem Spinner hier zusammen gelernt, aber dann hat mich die Liebe nach London verschlagen. Da lebe ich jetzt seit drei Jahren zusammen mit meiner Freundin. Sie arbeitet als Grafikdesignerin und konnte mich leider wegen eines Auftrags nicht nach Deutschland begleiten. Deswegen stehe ich jetzt hier und werde euch mal ein bisschen über mein zweitliebstes Hobby erzählen. Das Sprayen.“ „Und was ist dein liebstes Hobby?“, rief Nico dazwischen. Cedric lächelte.   „Ich bin im Ruderverein. Zweimal die Woche Training und Regatta am Wochenende.“   Ich lehnte mich zu Leif hinüber und flüsterte: „Das erklärt dann die Oberarme.“ Leif grinste verhalten. Cedric, der von all dem nichts mitbekommen hatte, redete weiter. „Ich erspare euch jetzt mal die geschichtlichen Hintergründe des Graffiti, weil ihr mir da sowieso nicht zuhören würdet. Wahrscheinlich könnt ihr es gar nicht abwarten, eine Farbdose in die Hand zu nehmen und loszusprühen. Aber ganz so einfach ist das nicht, deswegen werden wir uns erst einmal ein bisschen mit den Grundlagen beschäftigen, damit ihr später mehr zustande bringt als einen verlaufenen Smiley.“ Er schmunzelte und ließ sich auf einem der Tische nieder, bevor er weiter sprach. „Wände anzumalen hat natürlich schon unendlich lange Tradition. Wer kennt nicht die schicken Höhlenmalereien mit Mammuts, Jägern und all dem Krempel. Aber auch im täglichen Leben begleiten uns mehr oder weniger gekonnte Schriftzüge auf allen möglichen Oberflächen. Damit kommen wir aber auch gleich schon zu einem Problempunkt, den ich leider ansprechen muss. Graffiti an sich ist nicht illegal. Genauso wenig wie Häkeln, Stricken oder Mobiles basteln. Aber wenn ihr hingeht und mit euren Werken das Eigentum anderer beschmiert, erfüllt das den Strafbestand der Sachbeschädigung. Je nachdem, wie schwer das Vergehen ist, drohen dafür etliche Stunden gemeinnützige Arbeit oder sogar Gefängnisstrafen. Das ist jedoch noch nicht mal das Schlimmste daran. Viel härter können einen die Schadensersatzforderungen treffen, die schnell ins Sechs- oder Siebenstellige gehen können. Das ist richtig, richtig viel Asche. Damit verschuldet ihr euch in wenigen Minuten für den Rest eures Lebens. Also Hände weg von Flächen, die nicht zum Sprayen freigegeben sind. Es gibt immer Möglichkeiten, das legal zu machen. Vergesst das nicht.“ Keiner reagierte auf seine mahnenden Worte. Sven und Nico guckten gelangweilt, Dennis pulte an irgendwas auf dem Tisch herum, nur Jason schien vollkommen begeistert. Cedric bemerkte die Stimmung wohl ebenfalls. Er lächelte schmal.   „Mir ist klar, dass sich das dann weniger Gansta und nicht ganz so cool anfühlt. Aber um Beachtung zu finden, müsst ihr keine Gesetze übertreten. Benutzt lieber euer Werk, um euch Respekt zu verschaffen. Dann könnt ihr mit Fug und Recht sagen, dass ihr wirklich etwas geleistet habt. Weil ihr was aufgebaut habt, nicht etwas kaputtgemacht.“   Wieder kam wenig Reaktion. Ich selbst hatte mich noch nie damit beschäftigt, mich auf irgendwelchen Wänden zu verewigen. Trotzdem musste ich zugeben, dass der Gedanke ein kleines bisschen interessant klang. Immerhin war Graffiti schon irgendwie cool. „Und was malen wir nun an die Wände?“, wollte Nico wissen. Cedric verzog das Gesicht. „Sag bitte nicht malen. Immerhin verwenden wir keine Pinsel und solchen Kram. Allenfalls die Grundierung könnte man mit ner Rolle auftragen.“ „In Schwarz?“, ließ sich Dennis auf einmal vernehmen. Cedric schüttelte den Kopf.   „Zu dunkel dürfen die Farben nicht werden, weil euch sonst in dem engen Gang buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt. Auch wenn Graffitis natürlich Aufmerksamkeit erregen sollen, ist es doch nie gut, es zu übertreiben und das Bild zu überladen. Es spricht sicherlich nichts gegen schwarze Akzente, aber im Prinzip sollten wir auf der hellen Seite der Macht bleiben. Außerdem hatte ich vor, mit euch eher ein bisschen in Richtung Streetart zu gehen. Also Motive statt Schriftzügen. Ihr dürft eure Werke natürlich signieren.“   Er griff jetzt nach einer Tasche und zog dort einige Zeitschriften und Bücher hervor, die er locker in die Runde verteilte. „Damit ihr mal eine Vorstellung davon bekommt, wie so etwas aussehen könnte, habe ich euch mal ein paar Beispiele mitgebracht. Ich hab außerdem ein Tablet mit, mit dem ihr im Internet nach Anregungen suchen könnt. Aber gebt euch keine Mühe, das Ding hat eine Kindersicherung. Pornos gucken ist also nicht.“   Er lachte und ignorierte das Protestgeheul, das von uns allen kam. Immerhin waren wir keine Kinder mehr. Aber vielleicht hatte er bei der Sache mit den Pornos nicht ganz unrecht.   Ich nahm mir eines der Bücher und blätterte lustlos darin herum. Eigentlich hatte ich so gar keine Vorstellung, was ich malen – oder vielmehr sprayen – wollte. Ich hatte noch nie besondere Noten in Kunst gehabt oder mich mit Bildern beschäftigt. Außer, wenn halbnackte Kerle drauf waren. Aber irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass das etwas war, das ich hier im Wohnheim an die Wand bringen sollte.   Ein Bild von einem Tierskelett, das jemand auf eine Schuppenwand am Hafen gesprüht hatte, tauchte auf. Ich hätte nicht sagen können, was genau es darstellte. Am ehesten sah es aus wie eine Kreuzung aus einer Eidechse, einem Seehund und einem Käfer mit riesigen Beißzangen. Seine leere Augenhöhle starrte mich an. Es war makaber aber gleichzeitig auch irgendwie geil. Als würde es gleich von der Wand ins Wasser springen und davon schwimmen. Ohne darüber nachzudenken, stieß ich Leif an. „Hey, guck mal“, sagte ich und schob ihm das Bild rüber. „Das da gefällt mir.“   Er sah in mein Buch und schob dabei unauffällig das zur Seite, das er sich gerade angesehen hatte. Ich nickte mit dem Kopf in seine Richtung. „Zeigst du mir deins? Immerhin hab ich dir meins gezeigt.“   Ich grinste, Leif zögerte. Sein Blick huschte unruhig hin und her.   „Ich … ich hab noch nichts gefunden“, wich er mir aus und versuchte, das Buch noch ein wenig weiter wegzuschieben. Ich schnaubte belustigt.   „Na los, zeig schon. Ich lach auch nicht.“   „Nein. Es ist nichts“, beharrte er und schloss das Buch ein wenig zu heftig, um glaubhaft zu wirken. Ich wollte ihn gerade fragen, was das sollte, als sich ein Schatten über mich legte. Cedric war zu uns gekommen. Als er meinen Wal, oder was immer es war, entdeckte, hellte sich seine Miene auf. „Ah, Roa. Da hast du dir ja gleich einen der ganz Großen rausgesucht. Was hat dir daran gefallen?“   Ich sah nochmal auf das Skelett. „Weiß nicht“, antwortete ich achselzuckend. „Es war irgendwie … keine Ahnung. Vielleicht wegen der Knochen. Es sah interessant aus.“   Cedric nickte.   „Und du?“, fragte er an Leif gewandt. „Wobei bist du hängengeblieben?“   Er zog das Buch zu sich rüber, das Leif vor mir hatte verstecken wollen, und nahm es in die Hand. „Ah, Bansky. Anders als Roa arbeitet er viel mit Schablonen. Das unterscheidet die beiden grundlegend voneinander. Allerdings bevorzugen beide Schwarz-Weiß-Bilder.“   „Es gibt aber auch viele Bilder, wo er mit Farben gearbeitet hat, oder?“, hakte Leif nach.   Cedric nickte.   „Einige von Banskys bekanntesten Werken setzen darauf. Zum Beispiel das Ballonmädchen.“   Der Hüne suchte eine Seite heraus. Er legte sie vor uns auf den Tisch und ich erkannte, dass es die Seite gewesen war, die Leif sich angesehen hatte. Zu sehen war das Bild eines kleinen Mädchens, das die Hand nach einem herzförmigen, roten Ballon ausstreckte. An ihrem Kleid und den Haaren sah man, dass sie im Wind stand. Er trug den Ballon von ihr fort.   Fragend sah Cedric uns an.   „Und? Wie findet ihr es?“   Ich legte den Kopf schief. „Das kommt darauf an.“ „Worauf denn?“ „Na, ob sie den Ballon mit Absicht hat fliegen lassen oder ob er ihr aus der Hand geweht wurde.“   Ein zufriedener Ausdruck erschien auf Cedrics Gesicht. „Gar nicht schlecht. Was denkst du denn, was passiert ist?“   Wieder betrachtete ich das Mädchen. Da man es nur von der Seite sah und es sich obendrein nur um ein angedeutetes Bild handelte, war ich mir nicht sicher. „Ich glaube, sie hat ihn verloren“, meinte Leif plötzlich. „Ihr Gesicht sieht traurig aus.“   Ich schob die Augenbrauen zusammen.   „Ja, aber wenn sie ihn wiederhaben will, warum läuft sie ihm dann nicht nach, sondern bleibt einfach stehen. Das ist doch dumm.“   Leif wollte gerade noch etwas erwidern, als Cedric endgültig zu grinsen begann. „Seht ihr? Und schon diskutiert ihr darüber. Genau so funktioniert diese Kunst. Sie verbirgt sich nicht hinter irgendwelchen Türen und Toren, sondern kommt dorthin, wo die Menschen sind. Sie rüttelt sie wach, bringt sie zum Nachdenken. Manchmal sogar dazu, miteinander zu sprechen. Das ist Streetart.“   Er nickte uns noch einmal zu, bevor er weiter zu den anderen ging und sich ansah, was sie sich ausgesucht hatten. Das Bild mit dem Mädchen blieb zwischen mir und Leif liegen. Ich sah zu ihm rüber. Sein Blick klebte immer noch an der Buchseite. Fast schon ein wenig ehrfürchtig strich er über die Abbildung. „Vielleicht weiß sie, dass sie ihn sowieso nicht zurückbekommen wird“, sagte er plötzlich ohne mich anzusehen. Erst, als ich nicht darauf reagierte, hob er den Kopf. „Du hast gesagt, dass sie dumm ist, weil sie dem Ballon nicht nachläuft. Aber vermutlich weiß sie einfach, dass sie eh keine Chance hätte.“   Ich blickte von Leif zu dem Bild. Plötzlich wurde ich auf eine Aufschrift aufmerksam, die auf der Wand ein Stückchen neben dem Bild angebracht war. Ich begann zu grinsen. „Siehst du?“, fragte ich und wies triumphierend auf den Schriftzug, den jemand mit Kreidestrichen daneben gemalt hatte. „Der da sagt, dass ich recht habe.“   Auch Leif beugte sich wieder über das Bild. Seine Lippen bewegten sich, als er den Spruch las. „There is always hope“, wisperte er. In meinen Ohren klang es wie ein Versprechen.     Tobias und Thomas hatten in der Zwischenzeit Papier und Stifte ausgeteilt. „Damit könnt ihr erst mal ein bisschen rumprobieren“, erklärte Cedric. „Es muss kein fertiger Entwurf sein, aber wenigstens eine grobe Skizze. Darin haltet ihr Motiv, Proportionen, Farben und so weiter als Idee fest. Manches davon kann sich während der Fertigstellung noch ändern, weil es dann in groß auf der Wand doch anders aussieht. Aber wie bei einem Haus braucht ihr als Erstes ein Gerüst; ein Fundament, auf dem ihr aufbauen könnt. Nur so kann später ein ausgewogenes Bild entstehen.“   Nach diesen aufmunternden Worten sah ich eine Weile auf das leere Blatt hinab. Mir wollte einfach nichts einfallen, das ich malen konnte. Irgendwas Cooles, Gefährliches sollte es sein. Ein Tier vielleicht. Das Problem war nur, dass ich nicht malen konnte. So gar nicht. Also musste es was einfaches sein. Am besten was ohne Beine.   Ne Schlange! Ja, das ist gut.   Ich versuchte mich daran, eine zischende Kobra mit weit aufgerissenem Maul und gespaltener Zunge zu zeichnen. Das Ergebnis sah aus wie kotzendes Sperma. Ich wollte das Blatt gerade zerknüllen, als Cedric zu mir rüberkam. „Oh, cool. Ein Wurm?“   Ich verzog das Gesicht. „Sollte eigentlich ne Schlange werden, aber das sieht voll dumm aus.“   „Mhm“, machte Cedric „Darf ich mal?“   Er streckte die Hand nach meinem Stift aus. Bereitwillig rückte ich ihn raus und beobachtete, wie er meine missglückte Schlange in einen coolen Wurm verwandelte. Mitsamt Schirmmütze, Halskette und fettem Joint. „Siehst du? Schon viel besser.“   Ich grinste. „Die Tüte müssen wir aber weglassen, sonst kriegt Tobi einen Herzinfakt.“ „Was für ein Spießer!“   Cedric grinste und ging rüber zu Leif, der über einer Zeichnung saß. Viel konnte ich nicht erkennen, weil er den Arm darüber gelegt hatte, aber als Cedric ihn ansprach, erkannte ich, dass er einen Käfig gemalt hatte. Darin saß ein Vogel und ließ den Kopf hängen.   Cedric nahm das Bild und betrachtete es. „Ziemlich speziell. Die Umsetzung an der Wand könnte schwierig werden. Zwar kann man beim Sprayen im Gegensatz zu anderen Techniken Farben wunderbar überlagern, aber das Motiv ist reichlich filigran. Da müsste man auf jeden Fall mit dem richtigen Cap drangehen, sonst war alles umsonst.“   Leif presste die Lippen aufeinander. „Ich … ich hatte gedacht, dass ich vielleicht den Vogel mache und den Käfig danach mit einer Schablone aufsprühe.“   Cedric zog die Augenbrauen nach oben und nickte langsam.   „Nicht schlecht. Das könnte funktionieren. Echt kreativ!“   Er lächelte Leif zu und der erwiderte mit einem Grinsen, das immer noch bestand, als er sich wieder zu mir umdrehte. „Was?“, fragte er gespielt empört und versuchte erfolglos, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu bringen.   „Ach nichts. Ich find deine Idee gut. Viel besser als meinen Spermawurm.“ „Spermawurm? Zeig her!“   Ich wollte ihm gerade meine Skizze rüberschieben, als zwei Tische weiter großes Getöse ausbrach. Jason hatte Dennis’ Bild entdeckt und es ihm weggezogen. Dennis protestierte schwach, aber Jason beachtete ihn gar nicht. „Wow, der Hammer!“, krakeelte er und hielt das Blatt hoch. „Seht mal!“   Alle Blicke richteten sich auf das Blatt, auf dem ein Tintenfisch zu sehen war. Er hielt eine Spraydose in jedem seiner acht Arme. Das Bild wirkte total plastisch und man erwartete jeden Moment, das das Vieh loslegte. Jason wedelte damit herum. „Das ist einfach total krass. Ich bin dafür, dass Dennis uns die Motive zeichnet. Der hat’s voll drauf.“ Dennis, dem das Ganze unangenehm zu sein schien, rutschte ein bisschen tiefer in seinen Sitz.   „Ich hab doch nur schnell was hingekritzelt“, murmelte er. Cedric war da anderer Meinung. „Quatsch, das ist ne richtige Komposition. Du hast wohl Erfahrung damit?“ „Ein wenig. Ich hab schon ein bisschen getaggt und so.“ „Und die Farben?“   Dennis zog die Nase kraus. „Ich hatte an orange gedacht. In Kombi mit rot und grün für die Spraydosen.   „Nicht übel. Gar nicht übel“, urteilte Cedric und machte sich dann daran, Svens Bulldogge anatomisch korrekt zu gestalten. Währenddessen bekniete Jason Dennis, ihm ebenfalls ein Motiv vorzuzeichnen. „Nur die Außenlinien. Ausmalen kann ich dann selber. Biiiittteeee!“   Dennis sah erst so aus, als wenn er nicht wollte, doch dann ließ er sich endlich erweichen. „Na schön. Was willst du denn haben?“ „Weiß nicht. Auch irgendein Tier. Einen Wolf vielleicht. Oder einen Tiger!“   Ich sah ein Grinsen in Dennis’ Gesicht aufblitzen, bevor er sich daran machte, einen Tiger aufs Papier zu bringen. Als er fertig war, hielt er Jason ein Bild unter die Nase, das mehr an Winnie Puh erinnerte als an einen Tiger. „So etwa?“, fragte er feixend. Jason schob beleidigt die Unterlippe vor. „Nee, Mann. Ich bin doch kein Baby mehr. Was Krasseres.“ Dennis grinste wieder. „Na, ich schau mal, was ich machen kann.“   Mit schnellen Strichen skizzierte er einen neuen Tiger. Er stand aufrecht und hatte eine Spraydose in der Hand. Dass sich das Shirt ziemlich über seinem Bauch spannte, war vermutlich kein Zufall. Es sah trotzdem geil aus.   „Besser?“, fragte Dennis und hielt Jason das Blatt hin. Der war völlig aus dem Häuschen. „So geil! Ich könnte dich knutschen.“   Damit sprang er davon, um Cedric sein Motiv unter die Nase zu halten. Dennis blieb allein zurück. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, nickte er kurz in meine Richtung. Danach wandte er sich wieder seinem Tintenfisch zu, um dessen Schattierungen zu vertiefen und noch einige Details zu ergänzen. Leif hatte währenddessen begonnen, ein zweites Bild zu zeichnen. Es war wieder ein Vogel, eine Taube oder so, aber dieses Mal ohne Käfig. Dafür mit einer Spraydose in der Hand oder vielmehr dem Flügel. Ich stieß ihn an. „Hey, ich dachte, du wolltest was anderes machen?“   Leif sah nicht auf. „Es hätte nicht zu den anderen gepasst“, meinte er lapidar. „Immerhin sollen die Bilder doch alle in einen Flur. Da fand ich es besser, wenn ich es auch so mache wie der Rest.“   Die Art, wie er das sagte, gefiel mir nicht. Bevor ich ihn jedoch danach fragen konnte, kam Tobias zu uns. Wir zeigten ihm unsere Motive und sprachen über Farben und Platzierungen. Die Begeisterung, die er und Cedric für das Ganze an den Tag legten, sprang nach und nach auch noch auf den letzten über und am Ende diskutierten wir alle gemeinsam, wo wer welches Motiv hinsprayen würde und wie man sie in ein Gesamtbild einbinden konnte. Wir waren so beschäftigt, dass wir beinahe vergessen hätten, dass es Zeit zum Abendessen wurde. „Na los, Leute“, rief Thomas in die Runde. „Diejenigen, die Küchendienst haben, bereiten drüben alles vor. Der Rest räumt hier auf. Aber nehmt eure Entwürfe mit!“   Da ich diese Woche zum Tischdecken eingeteilt war, nahm ich meinen Spermawurm und wartete dann an der Tür auf Leif, der fürs Teekochen und die restlichen Lebensmittel zuständig war. Als ich sah, dass er nur die Taube mitgenommen hatte, stutzte ich. „Was ist denn mit dem anderen Bild?“ Er zuckte die Schultern. „Ach, das kann in den Müll. War eh nicht so gut.“ Damit ging er an mir vorbei und verschwand in Richtung der Wohnräume. Ich zögerte, bevor ich schnell zu Leifs Tisch trat und unter den dort liegenden Blättern die Zeichnung hervorzog. Schnell faltete ich sie zusammen und stopfte sie in meine Tasche. Erst dann folgte ich ihm in die Küche.     Die Zeichnung schien während des Essens ein Loch in den Stoff meiner Hose zu brennen. Ich wusste, dass es Leif bestimmt nicht recht war, dass ich sie hatte. Das war schon wieder etwas von ihm, dass ich sozusagen geklaut hatte. Gleichzeitig hatte er es ja aber auf den Müll geworfen. Er wollte es also nicht mehr. War es da nicht okay, wenn ich es behalten wollte?   Während ich so dasaß und grübelte, stieß Tobias mich an. „Was machst du denn für ein Gesicht? Ist dir ne Laus über die Leber gelaufen?“ Scheiße! Erwischt. Jetzt musste ich mir schnell was ausdenken. „Nee, ich bin nur nicht so richtig zufrieden mit meinem Bild. Ich finde, es passt nicht zu mir.“ „Wieso. Der Wurm ist doch cool.“   Ich verdrehte die Augen. „Jaa, aber es ist immer noch ein Wurm. Verstehst du? Das ist doch voll lame.“   Tobias nickte verstehend. „Du willst also ein Tier, das besser zu dir passt.“ „Ja.“ „Und was für eins?“   Ich überlegte. Eigentlich fiel mir nicht wirklich was ein. Herausfordernd grinste ich Tobias an. „Was würdest du denn für mich aussuchen?“   Er schürzte die Lippen und überlegte.   „Mhm, keine Ahnung. Einen Hund vielleicht? Oder ne Katze. Die sind auch unberechenbar. Manchmal eigensinnig und hochnäsig, aber manchmal auch ganz kuschelig und schmusig.“   „Ey!“, rief ich empört.   Ich versetzte Tobias einen ordentlichen Rempler, den dieser genauso beantwortete. Wir kabbelten uns noch den Rest des Essens durch, sodass ich ganz vergaß, womit das Ganze eigentlich angefangen hatte. Als sich der Rest jedoch ins Wohnzimmer verzog und auch Tobias sich verabschiedete, weil er Feierabend und obendrein noch eine Verabredung mit Cedric hatte, blieben Leif und ich auf einmal allein in der Küche zurück. Sofort hatte ich das Gefühl, dass die Temperatur um mindestens zwei Grad gefallen war. Oder gestiegen. Ganz sicher war ich mir nicht. Es fühlte sich merkwürdig an.   Während er stumm Käse und Aufschnitt wieder zurück in den Kühlschrank räumte, stellte ich die Teller in die Spülmaschine. Das Ding war allerdings mal wieder vollkommen überfüllt, sodass mir die Hälfte der Teller und fast alle Gläser übrig blieben. Ich stöhnte laut auf. „Was ist los?“ „Die Spülmaschine ist mal wieder voll.“ „Zeig mal.“   Leif kam zu mir und betrachtete sich die Bescherung. Dann begann er, das dreckige Geschirr umzuschichten. Er nahm die zwei Töpfe vom Mittagessen wieder heraus und stellte sie auf die Spüle. Danach passten Teller und Gläser hervorragend hinein und es blieb sogar noch Platz für die Schüsseln und Teller, die Leif mitgebracht hatte. „Siehst du? Die Töpfe nehmen zu viel Platz weg. Du solltest sie mit der Hand abwaschen.“ „Aber ich hab keinen Abwaschdienst.“ „Tja …“   Er zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er sich einen sichtbaren Ruck gab und entschlossen nach der Spülbürste griff. „Dann wasche ich ab und du trocknest. So sind wir schneller fertig.“   Eigentlich hätte ich lieber Jason, der diese Woche fürs Abwaschen zuständig war, wieder zurückgeholt, aber dann schnappte ich mir doch ein Geschirrtuch und wartete darauf, dass Leif mit dem ersten Topf fertig wurde. Er schrubbte jedoch ewig daran herum und fand anscheinend immer noch eine Stelle, die er mit großer Hingabe bearbeiten musste. Irgendwann reichte es mir. „Sag mal, ist der nicht bald durch? So wie du darauf herumrubbelst …“ „Da ist was angebrannt.“ „Zeig mal.“   Ich drängte mich neben ihn an das Spülbecken und griff nach dem Topf. Er hielt ihn fest, aber ich bekam ihn so weit aus dem Wasser, dass ich sehen konnte, dass der Boden bereits blitzeblank war. Triumphierend funkelte ich ihn an. „Ha, siehste! Der ist sauber.“   Leif lächelte leicht.   „Tja, na ja. Ich schätze, ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“   Ich sah ihm in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und mein Herz begann zu klopfen. Das Verlangen, mich zu ihm zu lehnen und ihn zu küssen, sprengte sämtliche Skalen. Von Null auf Hundert in drei Sekunden. Und doch ging das nicht. Zum einen, weil wir hier in der Küche standen und jederzeit jemand reinkommen konnte. Allein dass wir uns anstarrten wie die Mondkälber, war schon verdächtig genug. Zum anderen war ich mir nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Ich schluckte langsam. „Ich … ich hab dein Bild mitgenommen. Das von dem Vogel. Im Käfig.“   Ich wusste nicht, warum ich das jetzt sagte. Sofort zogen sich die Wolken auf Leifs Gesicht wieder zu. „Was? Warum? Ich hatte doch gesagt, dass es in den Müll kann.“ „Ja, aber … ich mochte das Bild. Deswegen wollte ich dich fragen, ob ich es behalten kann.   Er rang mit sich; ich konnte es sehen. Sein Blick flackerte, während sich der Rest seines Körpers versteifte. Sein Atem wurde schneller, die Pupillen größer. Als würde er jeden Moment davonlaufen. Ich wollte das nicht mitansehen. Also zog ich das schon leicht zerknitterte Blatt wieder aus meiner Tasche und reichte es ihm. „Hier“, sagte ich leise. „Nimm es. Und wenn du es dir noch anders überlegst, kannst du es mir zurückgeben.“   Danach griff ich nach dem Topf und begann ihn abzutrocknen. Ich versuchte meinen hämmernden Herzschlag zu ignorieren und die Tatsache, dass Leif mich eine gefühlte Ewigkeit lang anstarrte, bevor er endlich anfing, den zweiten Topf abzuwaschen. Ich versuchte die Erinnerung daran zu verdrängen, wie es sich angefühlt hatte, so nahe neben ihm zu stehen. Ihn fast zu berühren, aber eben doch nicht ganz. Es brachte mich fast um, aber ich wusste, dass ich abwarten musste. Selbst wenn es die ganze Nacht dauern würde. Oder eine Woche, einen Monat, ein Jahr.   Trottel! In einem Jahr seid ihr beide nicht mehr hier.   Bei diesem Gedanken zuckte ich innerlich zusammen. Ich wusste, dass ich mit Sicherheit noch ein paar Monate bleiben würde. Bis zu meinem Schulabschluss fehlte einfach noch zu viel. Aber Leif? Wie lange würde er noch hierbleiben? Nur so lange, bis er das mit dem Essen wieder sicher im Griff hatte? Und wenn ja, wie lange würde das dauern?     Leif verabschiedete sich von mir, nachdem er den Topf abgewaschen hatte. Ich räumte das Teil noch weg und dachte, dass ich ihn im Wohnzimmer bei den anderen finden würde, aber da war er nicht. Enttäuscht ließ ich mich neben Jason auf einen der Sofaplätze fallen und schaute blicklos auf die flimmernde Mattscheibe. Dort oben reihte sich eine Actionszene an die andere, nur kurz unterbrochen von sinnfreien Dialogen, aber mir war es recht. Dabei musste man wenigstens nicht nachdenken.   Als Henning uns schließlich in unsere Betten scheuchte, war Leifs Zimmertür bereits geschlossen und es sah nicht so aus, als würde er heute noch einmal herauskommen. Ich hörte, wie Henning ihm eine gute Nacht wünschte, während ich noch eben ins Bad huschte zum Zähneputzen. Als ich zurück in mein Zimmer kam, ließ ich mich schwer auf mein Bett fallen. Ich war hundemüde und erwartete, dass mir gleich die Augen zufallen würden. Stattdessen lag ich eine halbe Stunde später immer noch da und wartete darauf einzuschlafen. Genervt warf ich mich in meinem Bett herum, als ich plötzlich etwas hörte. Ein feines Rascheln und Knistern, das ich einfach nicht zuordnen konnte.   Ich erhob mich wieder und tastete auf meinem Bett herum. Unter meinem Kissen fand ich schließlich ein Stück Papier. Ich zog es hervor und entfaltete es. Im spärlichen Licht des kaputten Rollladens konnte ich erkennen, dass es die Leifs Zeichnung war. Das Bild von dem Vogel im Käfig. Auf die Brust des Tieres hatte er ein rotes Herz gemalt.   Kapitel 18: Umwege ------------------ Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Ich bemühte mich stillzuliegen, obwohl ich bestimmt schon seit einer halben Stunde wach war. Es folgte ein Klopfen, dann wurde die Tür aufgeschlossen und Henning streckte den Kopf herein. „Manuel. Aufstehen.“ „Komme.“ Ich tat so, als würde ich mich gerade zum ersten Mal strecken. Er brummte zufrieden und ging weiter, um die anderen beiden zu wecken. Den Geräuschen nach zu urteilen war es Sven, der sich zuerst aus dem Bett quälte und in Richtung Bad tappte. Henning ging derweil rüber in den zweiten Trakt. Das war der Augenblick, auf den ich gewartet hatte. Ich sprang aus dem Bett, vergewisserte mich, dass die Luft rein war, und huschte dann auf leisen Sohlen zur Tür am anderen Ende des Flurs. In Leifs Zimmer war es dunkel. Nur ein heller Streifen mit meinem Schatten darin dehnte sich bis zum Bett. Der Deckenberg, der sich gegen den Hintergrund abzeichnete, rührte sich nicht. „Hey, Leif! Bist du wach?“ Keine Reaktion. Scheiße! Ich nagte an meiner Unterlippe. Es war wichtig, weswegen ich gekommen war. Aber konnte ich riskieren, einfach so in Leifs Zimmer zu platzen? Was, wenn er wieder sauer wurde? Aber er hat dir das Bild gegeben. Das muss doch etwas bedeuten. „Leif!“, rief ich ein wenig lauter. Wieder bekam ich keine Antwort. Ich musste es wohl darauf ankommen lassen. Geräuschlos schob ich mich in die Dunkelheit und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. Danach pirschte ich bis zum Bett. Ich ließ mich davor auf die Knie sinken und lauschte. Unter der Decke war nichts zu hören. Anscheinend schlief Leif tatsächlich noch. Wie er wohl reagierte, wenn er mich hier entdeckte? Das wirst du nicht rausfinden, wenn du hier weiter rumhühnerst. Also los, nun mach schon! Langsam streckte ich die Hand aus. „Leif“, flüsterte ich erneut und rüttelte ihn sanft an der Schulter. „Wach auf! Ich bin’s.“ Der Deckenberg bewegte sich und Leifs Kopf tauchte darunter hervor. Er hatte die Augen noch geschlossen und seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich wollte sie anfassen. „Guten Morgen“, sagte ich leise. Er blinzelte gegen die Helligkeit des Türspalts an. „Wo bin ich? Wie spät ist es?“ Ich grinste. „Du liegst in deinem Bett und Henning hat dich gerade zum ersten Mal geweckt.“ Leif blinzelte noch einmal, bevor ihm langsam zu dämmern schien, dass ich am frühen Morgen vor seinem Bett hockte. Ungläubig stierte er mich an. „Was machst du hier?“ Es klang ein bisschen angespannt. „Ich … ich wollte mich nur bei dir bedanken. Für das Bild. Das mit dem Vogel. Du weißt schon. Ich … ich habe mich sehr darüber gefreut.“ Kaum, dass ich das gesagt hatte, hätte ich mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Das klang so dermaßen bescheuert, dass es strafbar sein sollte. Ich hätte doch nicht kommen sollen. Ich hätte mir eine bessere Ansprache überlegen sollen. Ich hätte … Gerade, als ich aufspringen und aus der Tür stürmen wollte, bewegten sich Leifs Mundwinkel ein winziges Stück nach oben. „Und damit konntest du nicht bis zum Frühstück warten?“ Ich zuckte mit den Achseln und machte ein entschuldigendes Gesicht. „Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest.“ Das war natürlich Blödsinn, wir beide wussten es. Wenn Leif nicht zum Frühstück kam, würde Henning ihn an den Ohren in die Küche schleifen. Teilnahme an den Mahlzeiten war schließlich Pflicht. Leif lächelte leicht und senkte den Kopf. „Freut mich, dass es dir gefällt“, sagte er leise. „Ich … ich hab lange überlegt, aber dann habe ich mir gedacht, ich wage es einfach. Auch wenn es vielleicht ein Fehler ist.“ Als er den Blick wieder hob, lag eine Frage darin. Eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Oder wollte. Noch nicht. Draußen ging die Badtür auf und Sven bölkte über den Flur, dass frei war. Ich verzog das Gesicht. „Du solltest vielleicht als Nächster gehen, dann fällt es nicht so auf, dass ich …“ „Ja. Ja, ist gut.“ Leif beeilte sich, sich von der Bettdecke zu befreien. Seine langen Beine schoben sich neben mich und ich wich zurück, um ihn durchzulassen. Fast schon ein bisschen zu weit trat ich vom Bett weg und stieß im Dunklen mit dem Schreibtisch zusammen. Leif saß immer noch auf der Bettkante und sah zu mir hoch. „Du solltest gehen“, sagte ich noch einmal. Meine Stimme war rauer, als ich mir eingestehen wollte. Er fuhr sich durch die Haare. Glättete sie leidlich. „Ja, das sollte ich wohl.“ Er schenkte mir noch einen kurzen Blick, bevor er sich erhob und zur Tür ging. Im erleuchteten Rahmen blieb er noch einmal stehen und sah zu mir zurück. Unwillkürlich musste ich lächeln. „Na los jetzt! Geh!“ Er grinste, stieß sich vom Türrahmen ab und verschwand aus meinem Sichtfeld. Als er weg war, atmete ich innerlich auf. Als wäre ein Felsen von meiner Brust gerollt. Gleichzeitig wäre ich ihm am liebsten nachgelaufen. Beides war gleich unsinnig. Seufzend rieb ich mir mit den Händen über das Gesicht. Du bist ein verdammter Idiot! Was ich noch war, sprach ich lieber nicht aus. Mit einem letzten Blick auf das Bett, in dem ich mich jetzt zu gerne mit einem gewissen Jemand gewälzt hätte, flüchtete ich aus dem Raum und zurück in mein eigenes Zimmer. Ich schloss gerade noch rechtzeitig die Tür, bevor Henning im Flur auftauchte. Schon hörte ich ihn draußen schnaufen. Im nächsten Moment klopfte es laut und der Schlüssel drehte sich im Schloss. „Manuel! Aufstehen! Du hast Tischdienst.“ Ach du Scheiße! Das hatte ich ja vollkommen vergessen. In Windeseile schmiss sich mich in ein paar Klamotten und sah zu, dass ich in die Küche kam. Mit viel Geklapper und Getöse holte ich aus den Schränken, was wir so brauchten. Henning unterstützte mich ein wenig, brummte dazu aber, dass ich mir endlich angewöhnen sollte, rechtzeitig aufzustehen. „Ich verspreche es. Großes Indianerehrenwort!“ Ich grinste und er lachte, bevor er mich schickte, um die Müslischalen aus dem Schrank zu holen. Als ich sie gerade abstellte, kam Leif um die Ecke. „Brauchst du noch Hilfe?“, fragte er mit Blick auf den Küchentisch. „Nein, alles cool bei mir.“ „Gut.“ Er schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, bevor er sich setzte. Auch die anderen kamen in die Küche. Wir frühstückten. Still und hochkonzentriert. Zumindest war ich das bis zu dem Zeitpunkt, als Leif mich unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß. „Was ist?“, murmelte ich leise. Ich hatte keine Lust, dass einer der anderen mitkriegte, worüber wir redeten. „Gehen wir nachher zusammen rüber?“ Es war im Grunde genommen eine überflüssige Frage. Henning würde uns sowieso alle zusammen zur Schule bringen. Aber ich wusste natürlich, was er meinte. „Klar. Warum nicht.“ Er lächelte leicht. „Schön. Ich freu mich.“ „Ich mich auch.“ Für einen Moment entstand ein merkwürdiges Schweigen zwischen uns. Ich atmete vernehmlich ein und aus. „Ist noch Kaffee da?“, fragte ich ein kleines bisschen zu laut. Ich sah Leif grinsen und musste selbst ein bisschen über mich lachen. Ich benahm mich wirklich wie ein Vollidiot. Der Sand knirschte unter meinen Füßen, während ich neben Leif herging. Die anderen hatten die Änderung wohl bemerkt, aber nicht weiter kommentiert. Anscheinend hing heute jeder seinen eigenen Gedanken nach. „Sag mal“, meinte Leif plötzlich, kurz bevor wir am Schulhaus ankamen, „stimmt es eigentlich, dass du nach den Ferien zu uns rüberkommst?“ „Jepp. Mit dem Stoff fange ich allerdings jetzt schon an.“ „Und warum fragst du dann nicht, ob du gleich kommen kannst?“ Die Frage brachte mich ein bisschen aus dem Konzept. Ich wurde langsamer. „Wieso sollte ich?“ Leif zuckte mit den Schultern. „Ach, war nur so ein Gedanke. Vergiss es einfach.“ Er lächelte, aber ich wusste, dass er es nicht so meinte. Das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Mit ein bisschen mulmigen Gefühl folgte ich ihm nach drinnen. Die Schulstunden zogen sich. Ich bekam von Frau Schmidt und Herrn Zimmermann neue Materialien. Beide bemühten sich redlich, mich an den Stoff ranzuführen. Kommaregeln und englische Vergangenheitsform bei Herrn Zimmermann, Winkel und Dreiecke bei Frau Schmidt. Als sie mir gerade ein Arbeitsblatt für Bio hinlegte, klingelte es zur Pause. „Damit machen wir dann nachher weiter“, erklärte sie lächelnd und ging nach vorne zu ihrem Tisch, um sich einen Kaffee aus ihrer Thermoskanne zu genehmigen. Wie jeden Schultag. Ich sah derweil auf das Blatt hinunter. Darauf prangte die Zeichnung eines menschlichen Verdauungssystems. Na prima. Jetzt würde ich also wirklich was über Scheiße lernen. „Na, du fängst ja früh an“, meinte jemand und ließ sich auf meinen Tisch fallen. „Hey Jason!“, antwortete ich ohne aufzusehen. Mein Blick klebte immer noch an dem Zettel. Da waren die verschiedenen Organe abgebildet und daneben Striche mit den Bezeichnungen. Ich fragte mich, warum ich das alles wissen musste. „Ich dachte, wir lernen dann nächstes Jahr zusammen“, meinte Jason und schnappte sich mein Arbeitsblatt. Die Augenbrauen in seinem rundlichen Gesicht wanderten nach oben, als er die Rückseite betrachtete. „Abgesonderte Säfte“, las er grinsend und gluckste. „Ob damit auch das gute Zeug gemeint ist?“ Ich boxte ihn leicht. „Spinner!“ Sein Grinsen wurde breiter. „Waaas. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“ „Ja ja.“ Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber ich hatte bestimmt keine Lust, mit Jason über Sex zu reden. Dummerweise schien er genau das zu wollen. Er sah sich nach Frau Schmidt um, die ihren Pausenkaffee genoss, bevor er sich neben mich auf den Stuhl setzte und sich zu mir rüberbeugte. „Sag mal …“, begann er und bekam vor lauter Aufregung schon rote Ohren. „Hast du nicht mal ein paar Tipps für mich. Also, wie man ein Mädchen rumkriegt, mein ich. Du weißt schon. Im Bett und so.“ Ich stöhnte innerlich. Wollte er das jetzt wirklich ausgerechnet von mir wissen? „Wieso fragst du das nicht Sven oder Nico?“, fragte ich betont gelangweilt und versuchte, ein Stück von ihm wegzurücken. Er rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. „Die lachen mich doch aus, wenn ich sie frage. Du bist da irgendwie anders.“ Wenn der wüsste, wie anders. Ich atmete angestrengt aus. „Sorry, Alter, aber ich kann dir da nicht helfen.“ „Warum nicht?“, quengelte er. „Komm schon, ich brauch echt Hilfe. Vorgestern hab ich nämlich so ne süße Schnecke am Eisstand kennengelernt. Wir haben uns ein bisschen unterhalten und … na ja. Ich würde sie gerne wiedersehen.“ Ich verdrehte die Augen. „Hör mal Jason, du fragst da echt den Falschen. Ich hab von diesem Beziehungskram überhaupt keine Ahnung, okay?“ Jason sah mich an, als wäre ich ein bisschen plemplem. „Ich will sie doch nicht heiraten. Ich will nur wissen, wie ich sie dazu bringe, dass sie mir einen bläst.“ In dem Moment konnte ich nicht mehr anders. Ich prustete los. Frau Schmidt warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich ignorierte ihn. Auch Jason musterte mich argwöhnisch. „Ey, das ist nicht lustig.“ „Doch, ein bisschen schon“, gab ich zurück, auch wenn er natürlich nicht wusste, was genau daran jetzt so lustig war. „Also was nun? Hilfst du mir oder nicht?“ Ich verdrehte erneut die Augen. „Man, Jason, ich kann dir dabei nicht helfen.“ „Aber dir hat doch schon mal eine einen geblasen, oder?“ „Ja, und?“ Über die Details musste er ja nicht so genau Bescheid wissen. „Wie hast du das hingekriegt?“ Ich stöhnte leise. „Keine Ahnung. Sie hatte halt Bock drauf. Wenn das nicht so ist, kannst du es eh vergessen. Jemanden dazu zu zwingen ist absolut unterste Schublade.“ Jason schrumpfte ein bisschen in sich zusammen. „Hatte ich ja nicht vor“, nuschelte er. „Ich dachte nur, ich könnte irgendeinen Spruch bringen, damit ich sie dazu kriege. Irgendwas, was sie scharf macht oder so.“ Ich seufzte. „Nein, wirklich, keine Ahnung. Ich hatte da bisher noch nie Probleme.“ Jason schnaufte unglücklich. „Hast du ein Schwein.“ Ich grinste. „Tja, wer hat, der hat.“ „Penner!“ Grummelnd machte Jason sich auf den Weg zurück zu seinem Platz. Ich blieb allein zurück und konnte ihm eigentlich nur zustimmen. Ich war wirklich ein Penner. Allerdings war ich mir gerade nicht so ganz sicher, warum ich das war Den Rest des Schultages versuchte ich mich mit Bauchspeicheldrüse und Co abzulenken. Es klappte erstaunlich gut. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Klingel das Ende der letzten Stunde verkündete und ich Leif auf dem Flur wiedertraf. „Hey!“, rief er. „Alles klar bei dir? Du siehst aus wie Grumpy Cat, der jemand auf den Schwanz getreten ist.“ Ich zögerte. Sollte ich ihm verraten, was Jason von mir gewollt hatte? Vielleicht half es, mit ihm gemeinsam darüber zu lachen. Ich hob meine Mundwinkel zu einem Lächeln. „Ach, nichts. Schule war anstrengend heute. Der ganze neue Stoff und so. Halb so wild.“ „Verstehe.“ Auch Tobias, der draußen auf uns wartete, wollte noch einmal wissen, ob mit mir alles in Ordnung war. „Ja, alles bestens“, log ich, obwohl irgendwie so gar nichts in Ordnung war. Warum wusste ich selbst nicht genau. Das Gefühl wurde jedoch nicht besser, je länger der Tag dauerte. Nicht einmal Tobias Ankündigung, dass Cedric am Nachmittag kommen und mit uns die ersten Sprayversuche machen würde, riss es für mich wieder raus. Während die anderen feierten, starrte ich in meine Gemüsesuppe. Tobias, der das bemerkt hatte, stieß mich an. „Ist wirklich alles in Ordnung? Wenn du willst, können wir nachher reden.“ Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was ich zu ihm sagen sollte. Trotzdem blieb ich, während die anderen schon ins Wohnzimmer gingen und sich an ihre Hausaufgaben setzten. Als sie weg waren, lehnte sich Tobias an die Küchenzeile. „Na, dann erzähl mal. Was ist los?“ Ich atmete tief durch. Wo sollte ich da anfangen? Ich wusste ja selbst nicht, was los ist. Vielleicht war es da besser, bei derselben Geschichte zu bleiben, die ich Leif schon erzählt hatte. „Ich hab einfach grad viel um die Ohren. Neue Bücher, Themen … der Wechsel in die andere Klasse.“ Tobias lächelte. „Ach darum geht es. Du hast Schiss, in die Abschlussklasse zu kommen.“ „So ungefähr.“ Er lachte jetzt ein bisschen. Es klang nett. „Dabei hatte ich gedacht, dass du dich freust, endlich bei den Großen mitzumischen. Wenn Sven und Nico nicht mehr da sind …“ „Nicht mehr da?“ Ich hob den Kopf. „Die beiden werden entlassen?“ „Ja, nach den Ferien. Sven wechselt in ein offenes Wohnprojekt und Nico beginnt eine Ausbildung und wird in dem Zuge in eine eigene Wohnung ziehen. Das haben sie doch aber bestimmt erzählt.“ Ich nickte. Natürlich hatten die beiden über ihre Pläne gesprochen. Auch in unseren Sitzungen. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde. „Hey, alles in Ordnung? Du guckst so komisch.“ Ich beeilte mich, meine Mundwinkel zu heben. „Ja, klar. Alles bestens. Wird nur seltsam werden, wenn die beiden nicht mehr da sind.“ Tobias lächelte. „Ja, wird es. Ist es jedes Mal, wenn jemand Neues kommt. Aber es findet jeder seinen Platz. Die einen früher, die anderen später. Aber dafür sind wir ja da. Wir helfen euch dabei, euch zurechtzufinden.“ Er machte eine kleine Pause, bevor er hinzufügte: „Machst du dir Sorgen deswegen? Weil du nicht weißt, wie es weitergehen soll?“ Ich nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Das war es nicht. Eigentlich hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn ich hier wieder rauskam. Ein Leben ohne die anderen konnte ich mir im Moment gar nicht mehr so richtig vorstellen. Nicht einmal ohne Nico und Sven, auch wenn das echt schräg war. Tobias kam auf mich zu und legte seine Hand auf meinen Arm. „Keine Panik. Wir schaffen das, okay? Du kriegst Hilfe bei allem. Wir lassen niemanden im Stich.“ Ich schaffte es, noch einmal zu nicken, obwohl mein Hals eng wurde und mein Herz sich anstrengen musste um weiterzuschlagen. „Ich … ich geh dann mal meine Sachen holen“, murmelte ich. Ich drehte mich um und ging am Wohnzimmer vorbei. Drinnen saßen Leif und die anderen. Als ich an der Tür auftauchte, hob er den Kopf und lächelte. Ich schaffte es, das Lächeln zu erwidern, bevor ich weiter die Treppe hinauf floh. Am liebsten wäre ich gleich oben geblieben. Es half jedoch nichts, ich musste wieder nach unten gehen und mich durch die Hausaufgabenzeit quälen. Dass Leif mir dabei immer wieder unauffällige Blicke zuwarf, machte es nicht unbedingt besser. Ich versuchte zwar, mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren, aber ich brachte die inneren Organe so oft durcheinander, dass Thomas am Ende entnervt seinen Stift auf den Tisch warf. „Diese Schmiererei kann ja keiner mehr lesen. Am besten holst du dir morgen ein neues Blatt und schreibst es nochmal sauber ab.“ Ich nickte gehorsam und verstaute meine Sachen in meinem Rucksack. Anschließend schleppte ich ihn und mich nach oben und war fast froh, als endlich die Mittagsruhe ausgerufen wurde. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett sinken und schloss die Augen. Was war nur heute mit mir los? Am Morgen war ich doch noch so begierig darauf gewesen, zu Leif zu kommen. Und jetzt war ich froh, dass zwei Wände, zwei Türen und ein ganzer Flur zwischen uns lagen. Ich verstand das einfach nicht. Irgendwann hielt ich es im Bett nicht mehr aus. Ich ging zum Schrank und holte das Bild heraus, das ich unter dem untersten Klamottenstapel verborgen hatte. Vorsichtig faltete ich es auf und betrachtete es. Ein Vogel in einem Käfig. Ja, genau so fühlte ich mich gerade. So hilflos und ausgeliefert. Ich hasste es, mich so zu fühlen. Gleichzeitig war da dieses Herz. Dieses kleine, rote, warme Herz, das in meiner Brust schlug, wann immer ich an Leif dachte. Was das bedeutete, wusste ich natürlich. Ich war schließlich nicht dämlich. Aber kam ich auch mit dem Rest davon klar? Auf diese Frage hatte ich keine Antwort. Ich legte das Bild wieder weg und trat ans Fenster. Draußen schien heute die Sonne, auch wenn der Wind Wolken über den Himmel jagte. Wann hatte ich das letzte mal dagelegen und in den Himmel gesehen Du weißt wann. Du willst dich nur nicht daran erinnern. Nein, das wollte ich nicht. So gar nicht. Weil es jetzt nicht mehr zu ändern war. Ebenso wie andere Dinge. Warum sollte ich mich mit der Vergangenheit beschäftigen, wenn es die Zukunft war, die mir Sorgen machte? Dr. Leiterer würde das bestimmt anders sehen. Um mich von meinen Gedanken irgendwie abzulenken, setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Hier hatte ich irgendwie noch nie gesessen. Meine Hausaufgaben machte ich unten, ansonsten lag oder saß ich lieber auf dem Bett. Es fühlte sich fremd an. Ich strich mit dem Finger über einen Kratzer in der Tischplatte. Wer den wohl hinterlassen hatte? Und wo derjenige jetzt wohl war? Ob er es geschafft hatte? Ich atmete tief durch, zog einen Zettel und einen Stift heraus und begann zu schreiben. 'Mein Tagebuch', malte ich oben auf die Seite. Es sah total lächerlich aus. Ich knüllte es zusammen und warf es in eine Ecke. 'Dinge, die ich in mein Tagebuch schreiben würde', schrieb ich auf einen neuen Zettel und fand, dass sich das ein winziges bisschen weniger schlimm anhörte. Immerhin hatte Dr. Leiterer ja gesagt, dass ich es nicht ausformulieren musste. Anschließend überlegte ich, was ich aufschreiben konnte. Meinen Bruder würde ich sicherlich mehr als einmal erwähnen und auch meine Eltern hätten bestimmt einen Eintrag bekommen. Ich schrieb also 'Familie' hin und dachte weiter nach. 'Leif' wurde ein neuer Punkt. Zu ihm hätte es sicherlich einiges zu schreiben gegeben. Nach kurzem Zögern setzte ich auch noch 'Tobias' mit auf die Liste. Immerhin hatte ich mir auch über ihn schon einige Gedanken gemacht. Es folgten noch 'Sven', weil ich über den Penner bestimmt was reingeschrieben hätte, ebenso wie über 'Maik' und den Rest der Bande. Ein bisschen unzufrieden sah ich die Liste an. Ich hätte auch 'Mitbewohner' und 'Betreuer' schreiben können, das wäre weniger Arbeit gewesen, dachte ich und wollte den Stift schon weglegen, als ich zögerte. Da war noch ein Name, den ich vielleicht aufschreiben sollte. Es war eigentlich lächerlich und dämlich, aber vielleicht … Kurzentschlossen hob ich den Stift noch ein letztes Mal und setzte ein weiteres Wort ganz ans untere Ende. In dem Moment klopfte es leise an meine Tür. Ich schrak zusammen. Jeden Moment musste sich der Schlüssel im Schloss drehen. Vielleicht war es Tobias, der noch einmal mit mir sprechen wollte. Oder Thomas, der mir ein neues Arbeitsblatt besorgt hatte. Oder der Weihnachtsmann. Aber nichts passierte. Zögernd erhob ich mich und ging zur Tür. Ich horchte, aber von draußen war nichts zu hören. Hatte ich mich getäuscht? Mit gerunzelter Stirn griff ich nach der Klinke. Ich drückte sie nach unten und öffnete die Tür. Draußen stand Leif. „Hi“, machte er. „Ich … ich wollte …“ Ich überlegte nicht lange. Mit einem Blick über seine Schulter zog ich ihn kurzerhand nach drinnen, bevor ich die Tür wieder schloss. Erst dann wurde mir klar, was ich gerade getan hatte. Ich schluckte „Du dürftest nicht hier sein“, sagte ich leise. Immer noch stand ich mit dem Rücken zu ihm. Vielleicht weil ich mir wünschte, dass er … „Ich weiß“, gab er ebenso leise zurück. „Ich wollte nur mal nach dir sehen.“ Ein kleines Lächeln stieg auf mein Gesicht. Er war so ein Idiot. „Mir geht es gut“, erklärte ich und drehte mich endlich um. Leif stand mitten im Zimmer. Ein bisschen verloren irgendwie. Ich ahnte, wie sich das anfühlte. Er war trotzdem hier. „Und wenn es jemand mitkriegt?“, wollte ich wissen. Leif lächelte schmal. „Haben sie doch nie.“ „Aber das war nachts.“ Er senkte den Blick und strich mit dem Zeigefinger über die Kante meines Schreibtischs. „Ich hab die Tür präpariert. Mit Klebeband. Deswegen haben sie nie was gemerkt. Sie sieht aus, als wäre sie zu.“ Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, was das hieß. „Du hast das Zeug geklaut?“ „Ja.“ Er wirkte ein bisschen verlegen. Gleichzeitig sah ich, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste. Ich ebenfalls. „Clever.“ „Danke.“ Immer noch standen wir knapp zwei Meter voneinander entfernt. Etwas, von dem ich nicht wusste, ob ich es ändern sollte. Ich wollte, aber war das klug? Leif schien es ebenso zu gehen. Sein Blick wanderte ziellos durch das Zimmer, bis er schließlich an meinem Schreibtisch hängenblieb. Genauer gesagt an dem Zettel, der darauf lag. Mir wurde erst heiß und dann kalt. Leifs Augen glitten über die Zeilen. Ich wollte es verhindern, aber es war schon zu spät. Er hatte gelesen, was ich geschrieben hatte. Plötzlich wusste ich, wie er sich gefühlt haben musste. Nimm es ihm weg! Sag was! TU WAS! Ich stand einfach nur da. Seine Mundwinkel zuckten. „Ich würde also in deinem Tagebuch stehen?“ Ich bemühte mich zu atmen. „Ja. Klar.“ Mehr brachte ich nicht raus. Es war wie ein Unfall. Ich begann zu schwitzen. Leifs Blick glitt weiter nach unten. Sein Mienenspiel wechselte mit jeder Zeile, bis er bei der letzten ankam. Dann blickte er auf. „Bambi?“, fragte er halb belustigt. Was die andere Hälfte war, konnte ich nicht erkennen. Ich räusperte mich. „Das war ein Typ. Nichts Wichtiges.“ „Und doch steht er in deinem Tagebuch.“ Ich presste die Kiefer aufeinander. Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war, ihn aufzuschreiben. Aber jetzt half es nichts mehr. Ich musste zusehen, wie ich mich hier wieder herausmanövrierte. „Ich … ich hatte mal was mit ihm. Das war alles.“ Lüge. Leif sah mich an. In seinem Kopf ging etwas vor. Er atmete hörbar ein und aus. Nein! Neinneinneinneinnein! Das durfte nicht passieren. „Sorry, dass ich gefragt habe. Das geht mich nichts an.“ Scheiße! Es war passiert. Er hatte es in den falschen Hals bekommen. Den völlig falschen Hals. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Ich musste an das denken, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Dass ich die Leute an mich heranlassen sollte. Die Wahrheit sagen. Aber ich hatte Angst. „Nein, ist schon okay“, plapperte ich. „Ich … ich hätte es da nicht so rumliegen lassen sollen. Das war dumm von mir.“ Ich sah, wie Leif die Luft anhielt. Oh fuck! Was hatte ich getan? „Ja, du hast recht“, würgte er hervor. „Das war wirklich dumm. Tut mir leid, dass ich das ausgenutzt habe.“ Er stieß sich vom Schreibtisch ab und kam in meine Richtung. „Ich sollte gehen.“ „Nein.“ Ich stellte mich ihm in den Weg. „Leif, bitte, ich … es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Ich hab nur …“ Ich holte tief Luft. Ich war dabei es zu verbocken. So richtig. Mal wieder. Scheiße! „Ich hab nicht dich damit gemeint. Ich denke nicht, dass du dumm bist.“ Leif zögerte. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich bestimmt an mir vorbeidrängen können. Aber er tat es nicht. Er stand nur da und sah mich nicht an. „Ich hab nur … ich hab diese Aufgabe von Dr. Leiterer bekommen. Wir … wir haben uns vorher über die Sache mit deinem Tagebuch unterhalten und er meinte, ich solle mir doch selbst mal überlegen, was ich in ein Tagebuch schreiben würde. Na ja, und dabei ist diese Liste entstanden. Sie hat nichts zu bedeuten.“ Jetzt sah Leif doch auf. Sein Blick war bewölkt. „Nichts zu bedeuten?“, fragte er leise. Es stach tief in meiner Brust. Ich wusste, dass es nur einen Weg gab, es zu beenden. Ich gab mir einen Ruck. „Doch, es hat etwas zu bedeuten“, antwortete ich flüsternd. „Weil … weil da Leute draufstehen, die wichtig für mich sind. Aber nicht alle auf die gleiche Weise. Verstehst du das?“ Er sah mich an. Lange sah er mich an. Dann nickte er. „Ja, das verstehe ich.“ Ein kleines Grinsen. „Ich bin ja nicht doof.“ Ich lächelte. „Nein, das bist du nicht. Immerhin hast du dir das mit dem Klebeband ausgedacht. Das war ziemlich schlau.“ Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln, bis es völlig verschwand. Ein anderer Ausdruck trat an seine Stelle. Leifs Blick glitt zu meinem Mund. Er schluckte, bevor er mir wieder in die Augen sah. Plötzlich waren wir uns so nahe. Hitze sprudelte durch meinen Körper. Mein Herz machte Purzelbäume. Im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen. Sein Körper drückte sich an mich und mich gegen die Tür. Ich schlang die Arme um ihn. Zog ihn noch näher. Öffnete meinen Mund und küsste ihn. Küsste und küsste und küsste ihn, bis wir beide keine Luft mehr bekamen. Keuchend trennten wir uns. Zögerten. In seinen Augen sah ich die gleiche wilde Verwirrung, die wohl auch in meinen lag. Wir waren beide so kaputt. „Wollen wir … ins Bett gehen?“ Meine Frage hatte Erstaunen zur Folge. Rückzug. Schnell schob ich hinterher: „Nur weil es bequemer ist. Zum … Reden.“ Immer noch schlug mir mein Herz bis zum Hals. Wie würde er reagieren? Ich sah seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. „Okay. Lass uns … reden.“ Ich wusste, dass wir beide lieber etwas anderes gemacht hätten. Die Zeichen waren eindeutig und ich war versucht, ihnen nachzugeben. Wieder einmal viel zu weit zu gehen. Aber ich wusste, wie ich mich hinterher fühlen würde. Es war trotzdem verlockend. Ich lächelte. „Du hast da auch keinen Bock drauf, oder?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. So gar nicht.“ Ich zog ihn noch einmal an mich. Vergrub meinen Kopf an seinem Hals. Meine Lippen streiften seine Haut. „Dann einfach nur Bett?“ „Ohne Reden?“ „Ohne Reden“, bestätigte ich. Es mochte falsch sein, aber ich wusste, dass wir den Fehler immerhin zusammen machten. „Bin dabei.“ Danach stellten wir keine Fragen mehr. Wir hatten andere Dinge zu tun. Ganz andere Dinge. Kapitel 19: Die halbe Wahrheit ------------------------------ Leifs Lippen schmiegten sich an meine. Groß, warm und voll. So ganz anders als der Rest von ihm. Ich hätte ihn ewig küssen können. Zart, leidenschaftlich, mit nur einem Hauch von Zunge. Immer wieder berührten wir uns, lösten uns kaum voneinander, nur um dann wieder aufeinanderzutreffen. Mit geschlossenen Augen lag er unter mir. Ich spürte die Konturen seines Körpers. Seine Hände auf meinem Rücken, sein Becken an meiner Hüfte. Ich roch die Reste seines Shampoos, schmeckte das Salz auf seiner Haut. Die feinen Stoppeln, die meine Lippen kitzelten, als ich seinen Hals entlang küsste. Er bot mir seine Kehle dar. Ich streichelte sie, fuhr mit der Zunge darüber, leckte und saugte. Er lachte leise. „Hey! Keine Knutschflecke!“ Ich grinste. „Nicht? Vielleicht da, wo es nicht so auffällt?“ Er antwortete nicht, sondern blieb nur still liegen. Die Augen nur noch halb geschlossen. Ich lächelte. „Willst du das nicht ausziehen?“, fragte ich und zupfte an seinem Shirt. Als er nicht reagierte, schob ich meine Hand unter den Stoff. Eine Gänsehaut huschte über seinen Oberkörper. Ich sah es, fühlte es. Die feinen Erhebungen und das leichte Zittern. Und ich wollte immer noch mehr. Mehr von ihm. „Na schön, dann fang ich halt an.“ Ich richtete mich auf, schwang mich über ihn und drückte ihn gleichzeitig tiefer in die Matratze. Er beobachtete mich, während ich Stück für Stück mein Shirt nach oben zog, die Zunge zwischen den leicht geöffneten Lippen spielend, den Blick direkt auf sein Gesicht gerichtet. Ich konnte sehen, wie seine Pupillen sich erweiterten, seine Wangen sich röteten. „Hör nicht auf“, flüsterte er und ich wurde mir bewusst, dass er sich unter mir bewegte. Ganz leicht nur, doch sicherlich genug, um das richtige Gefühl an der richtigen Stelle zu erzeugen. Lächelnd ließ ich mich ein Stück nach unten sinken und erwiderte die Bewegung. Ein ersticktes Keuchen entkam ihm. Er war eben so hart wie ich. Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu meinem Bauch und noch tiefer. Seine Nasenflügel bebten. Er nahm die Hand von meinem Oberschenkel und legte sie zwischen meine Beine. Rieb mich durch den Stoff. Auch meine Atmung beschleunigte sich. Das Blut pulsierte in meinen Adern. Ich schenkte ihm noch einen letzten Blick, bevor ich das Shirt über den Kopf zog und es achtlos in eine Ecke warf. Auffordernd sah ich ihn an. „Na los, du bist dran.“ Noch einmal zögerte er, bevor er sich aufrichtete und mit den Händen Halt an meinem Hintern suchte. Die Art, wie er zu mir hochblickte, jagte einen Schauer über meinen Rücken. Es war so wahnsinnig sexy. „Ausziehen“, forderte ich noch einmal. Er kam meiner Bitte nach. Mit einer schnellen Bewegung streifte er den störenden Stoff von seinem Oberkörper. Mein Blick glitt über das Mehr an nackter Haut. Beeindruckend. „Und jetzt?“ „Komm her.“ Seine Lippen berührten meinen Bauch. Küssten ihn. Zunächst sanft, dann fester. Eine feuchte Zunge malte schlängelnde Muster auf meine Haut und glitt dabei immer weiter nach unten. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Immerhin wusste ich genau, wo das hinführen würde. Ich hielt auch die Hand nicht auf, die sich zielstrebig am Knopf meiner Jeans zu schaffen machte. Ihn öffnete. Ich spürte Leif grinsen. „Keine Unterwäsche?“, fragte er feixend und öffnete den Reißverschluss ein Stück weit. Seine Lippen streiften federleicht die freigelegte Haut. Nah und doch nicht nah genug. „Kennst mich doch“, erwiderte ich grinsend und unterdrückte ein Zischen. Seine Fingerspitzen hatten sich unter den Stoff geschoben und berührten mich. Nur ganz zart. Viel zu zart. Ich brauchte mehr. „Hör nicht auf“, wisperte ich. Mein Tonfall eine perfekte Imitation seines eigenen. Leifs Blick glitt nach oben, seine Hand in meine Hose. Ich hielt die Luft an. „So?“, fragte er und umfasste mich. „Ja. Genau so.“ Er bewegte seine Finger. Sanft und doch kraftvoll. Die perfekte Mischung. So unheimlich perfekt. Auch jetzt, als er meine Hose noch ein wenig weiter nach unten streifte. Mich endlich befreite. Der Anblick raubte mir den Atem. Die Art, wie er mich ansah. Mein Schwanz direkt neben seinem Gesicht. „Du fühlst dich gut an.“ Immer noch streichelte er mich. Wichste mich. Ganz langsam. Mit Gefühl. „Du auch“, hauchte ich. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu schließen. Ich wollte nichts verpassen. Er leckte sich über die Lippen. „Soll ich?“, fragte er. Ließ den Mund ein wenig geöffnet. Ich wollte sterben. „Wenn du möchtest“, bekam ich irgendwie heraus. Er lächelte wieder. „Und wenn ich nicht will?“ Ich biss mir auf die Lippen, als er mit dem Daumen über die Unterseite strich. Bis zur Spitze. Es war Folter. „Dann … dann müsste ich … oh fuck … dann müsste ich wohl damit leben.“ Er lachte leicht. Im nächsten Moment schlossen sich seine Lippen um mich. Ich seufzte. Aus Erleichterung. Und weil es sich so gut anfühlte. So unheimlich gut. Ich bemühte mich, leise zu sein. Meine Finger krallten sich an der Wand fest, während ich versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Meine andere Hand lag auf Leifs Kopf. Berührte ihn. Streichelte ihn. Ich hielt ihn nicht fest. Ich wollte nur … bei ihm sein. Der Höhepunkt kam schneller, als mir lieb war. Und doch fieberte ich ihm entgegen. Ich wollte jetzt kommen. Ich musste. Ich brauchte es. „Warte! Stopp!“, warnte ich flüsternd, aber Leif hörte nicht auf. Er sah nur zu mir hoch, während seine Lippen mich weiter festhielten und er die Geschwindigkeit noch einmal erhöhte. Den Sog. Den Druck. Ich konnte es nicht mehr aufhalten. „Fuck! Leif!“ Ich schloss die Augen. Ich kam. All mein Gefühl konzentriert auf diesen einen Punkt. Ich keuchte, stöhnte. Kam. Wieder und wieder. Bis es endlich vorbei war. Bis ich endlich zusammenbrach. Meine Beine zitterten, mein Mund war trocken wie Sandpapier. Die Geräusche kehrten zurück, die Gerüche, Formen und Farben. Das Gefühl von Leifs Mund, der mich entließ. Der Anblick des geschlossenen Fensters. Mein rasselnder Atem. Sein Schlucken. Er hatte geschluckt! „Du bist verrückt“, brachte ich irgendwie heraus. Er sah immer noch zu mir hoch. Lächelnd. „Gern geschehen.“ Für einen Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen oder tun sollte. Dann aber beugte ich mich zu ihm und küsste ihn. Tief und lange. Irgendwann musste ich aufhören, um wieder zu atmen. Er sah mich fragend an. „Ich dachte, du magst das nicht.“ Meine Lippen streichelten seine. „Manchmal ist es okay.“ Wieder küsste ich ihn. „Soll ich jetzt?“ „Wenn du möchtest.“ Ich grinste. „Klar.“ Ich schob Leif auf mein Kissen und küsste ihn noch einmal tief und ausgiebig, bevor ich begann, mir meinen Weg an seinem Körper entlang nach unten zu bahnen. Er erwartete mich, so wie ich ihn erwartet hatte. Und er beobachtete mich dabei, so wie ich ihn beobachtet hatte. Immer wieder sahen wir uns an. „Du musst nicht“, sagte er irgendwann, als sein Atem bereits so schnell war, dass ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Ich lächelte nur und machte weiter. Genau wie er. Bis zum Schluss. Er kam in meinem Mund. Ich fühlte das Zucken. Ich schmeckte, roch und hörte seine Lust. Das heisere Keuchen, das tiefe Luftholen, das erleichterte Ausatmen. Und ich schluckte. Alles. Und es war okay. Vollkommen okay. Als ich mich erhob, sah Leif mich an. Er lag da, halbnackt auf meinem Kissen, die Haare feucht und verschwitzt. Vollkommen fertig. Überwältigt. Und verunsichert. Zögernd legte ich mich neben ihn. Ich richtete den Blick auf seinen Brustkorb, der sich unter seinen schnellen Atemzügen hob und senkte. Eine Hand streifte mein Haar. „Danke“, wisperte er. Ich reagierte nicht darauf. Alles, was ich hätte sagen können, wäre dumm gewesen. Ein blöder Spruch nach dem anderen. Der Griff um mich verstärkte sich. Leif zog mich an sich und ich lehnte mich nach vorn, aber ich ließ mich nicht fallen. Dafür ging mir zu viel durch den Kopf. Zu viel, was ich nicht in Worte fassen konnte. Oder wollte. Mein Herz machte merkwürdige Mätzchen. „War es wirklich so schlimm?“ Die Sorge, die in Leifs Stimme mitschwang, ließ mich aufblicken. Ich lächelte halb. „Nein, nicht wirklich. Es ist nur …“ Wieder brach ich ab. Es wäre albern gewesen, es auszusprechen. Ich war albern. Und dumm. „Wir sollten vielleicht …“ Auch diesen Satz brachte ich nicht zu Ende. Leif wusste, was ich meinte. Er atmete hörbar ein. „Ja, du hast recht. Es wird Zeit.“ Er zog sich an und auch ich schloss meine Hose wieder. Klaubte mein T-Shirt vom Fußboden. Routiniert. Als wäre gar nichts passiert. Erst, als wir fertig waren, sahen wir uns wieder an. „Ich … ich muss dann mal wieder rüber.“ „Ja.“ „Wir sehen uns nachher.“ Er drehte sich um, um zu gehen. „Leif!“ Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihm. Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn. Legte alles, was ich nicht gesagt hatte, in diesen Kuss und hoffte, dass er mich verstand. Seine Arme schlossen sich um mich. Hielten mich, so wie ich ihn hätte halten sollen. Es war so erbärmlich. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Mehr konnte ich nicht sagen. „Ich auch.“ Seine Stimme war leise. Nur ein Flüstern. Ich sah ihn an. „Kommst du heute Nacht nochmal her?“ Er lächelte. Ein bisschen erstaunt vielleicht, aber nur ein bisschen. „Wieso? Willst du eine zweite Runde?“ Ich grinste. Das war einfach. „Warum nicht? Wenn du noch Klebeband hast.“ Er lachte. „Ja, habe ich. Noch fast eine ganze Rolle.“ Für einen Moment schwiegen wir. Jetzt, da die Spannung zwischen uns abgebaut war, kam die Erinnerung an das wieder hoch, was davor gewesen war. Auch Leif musste daran denken. Ich konnte es sehen. „Vielleicht reden wir dann ja auch?“ „Ja, vielleicht tun wir das.“ Er griff nach der Türklinke. Zögerte. Sah mich an. „Wäre es dir lieber, wenn er hier wäre?“ Die Frage traf mich völlig unvorbereitet. Wie kam er denn auf die Idee? „Nein, überhaupt nicht“, sagte ich schnell. Ich meinte es so. Das Lächeln kehrte in Leifs Gesicht zurück. „Gut, dann … dann geh ich jetzt mal.“ „Ja, tu das. Und pass auf, dass dich keiner erwischt.“ Er grinste und lehnte sich noch einmal kurz vor, um mit seinen Lippen meinen Mund zu streifen, bevor er sich endlich nach draußen schob. Ich blieb zurück und konnte hören, wie Leif es gerade noch schaffte in sein Zimmer zu kommen. Im nächsten Moment wurde Svens Tür nebenan aufgerissen und er kam herausgepoltert. Als er mich sah, schnaubte er. „Sei beim Wichsen nächstes Mal gefälligst leiser. Das Gestöhne hält ja kein Mensch aus.“ Ich grinste und streckte ihm den Mittelfinger hin, was er ebenso erwiderte. In der Beziehung war auf Sven absolut Verlass. Wie gut, dass wenigstens einige Dinge blieben, wie sie waren. Cedric tauchte auf, während wir noch beim Kaffee saßen. Er und Tobias begrüßten sich wieder überschwänglich, als hätten sie sich drei Jahre nicht gesehen. Worüber sie redeten, konnte ich nicht verstehen. Ich tauschte einen Blick mit Leif. „Die haben sich aber doll lieb“, tuschelte ich und er grinste nur als Antwort. Viel Zeit zum Lästern blieb uns jedoch nicht, denn Cedric hatte einen ganzen Kasten mit Farbdosen mitgebracht. Damit gingen wir nach dem Essen nach draußen. „Also, dann spitzt mal die Ohren. Normalerweise würde ich jetzt mit euch ja noch eine ganze Ecke Theorie zum Motivaufbau und so weiter machen. Da heute aber das Wetter gut zu werden verspricht, werden wir uns heute schon mal an eine Wand machen. Dadurch bekommt ihr ein Gefühl dafür, was machbar ist und welche Schwierigkeiten auf euch zukommen können. Probieren geht immerhin über studieren.“ Er griff sich eine der Farbdose und hielt sie in die Höhe. „Also die Dosen, die wir verwenden, sind andere als die, die ihr im Baumarkt bekommt. Es sind Künstlerfarben, die speziell für diesen Zweck entwickelt wurden. Ich will euch auch hier nicht mit den Hintergründen langweilen, aber wer es mal versucht hat, wird den Unterschied merken. Es gibt zudem Dosen mit verschiedenem Innendruck. Großer Druck für viel Farbauftrag bei großen Flächen, geringerer Druck für Feinarbeiten.“ Er stellte die Dose ab und griff nach einigen Plastikzylindern. „Das nächste wichtige Teil der Dose ist das Cap. Das ist das Ventil, das den Farbauftrag reguliert. In der Regel kauft ihr die Dosen mit einem Standard-Cap. Es gibt allerdings auch noch Fat Caps für einen breiten Farbauftrag bis hin zu den Skinny Caps mit kleinen Löchern, die jedoch auch schnell verstopfen. Es gibt dann noch eine ganze Reihe Spezial-Caps, um die wir uns aber erst mal nicht kümmern müssen. Wichtiger ist der grundlegende Umgang mit der Dose.“ Wieder nahm Cedric eine der Dosen zur Hand. Er schüttelte sie und das charakteristische Klackern ertönte. „Das Wichtigste ist zunächst einmal das Schütteln vor der Benutzung. Dadurch werden Farbpartikel, Lösungsmittel und Treibgas im Inneren mit Hilfe einer Metallkugel vermischt. Ihr müsst außerdem die Windrichtung mit einberechnen. Also seht zu, dass ihr die Wand und nicht euch einnebelt. Außerdem dürft ihr nicht zu nah rangehen, weil sonst …“ Ein Klingeln zog meine Aufmerksamkeit weg von Cedrics Ausführungen und hin zu Tobias’ Telefon, dass dieser aus seiner Hosentasche fischte. Als er den Anrufer auf dem Display erkannte, entfernte er sich ein Stück von der Gruppe. „Ritter?“, hörte ich ihn sagen. Dabei machte er ein ernstes Gesicht. Er lauschte und nickte, bevor sein Blick sich auf mich richtete. „Ja, Moment, er ist da. Ich gebe ihn Ihnen.“ Mein Hals wurde eng. „Manuel, kommst du mal? Das ist Frau Täubert. Sie möchte dich sprechen.“ Er reichte mir das Handy und ich nahm es mit klopfendem Herzen entgegen. Tobias nickte mir zu und wies in Richtung Haus. Ich atmete tief durch und lief los, während ich gleichzeitig das Handy ans Ohr hielt. „Ja?“ „Manuel? Bist du es?“ „Ja.“ „Hier ist Täubert. Vom Jugendamt. Du erinnerst dich?“ „Ja, natürlich. Hallo Frau Täubert.“ „Manuel, ich will es kurz machen. Der Antrag deiner Eltern auf Beendigung der Inobhutnahme wurde zur erneuten Prüfung zugelassen. In drei Wochen ist deswegen ein erneuter Anhörungstermin angesetzt. Ich rufe an, um dich zu fragen, ob du an diesem Termin teilnehmen möchtest oder nur eine schriftliche Stellungnahme einreichen.“ Ich hatte mittlerweile die Küche erreicht. Die anderen standen immer noch an der Wand und sahen Cedric dabei, wie er verschiedene Linien an die Wand malte. Leif stand am Rand der Gruppe und hörte aufmerksam zu. „Manuel?“ Frau Täuberts Stimme pikte in meinem Ohr. „Ja. Ja, ich komme.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja, bin ich. Ich will nicht wieder zurück. Und wenn da ein Richter oder irgendwer ist, der dafür sorgen kann, dann will ich es ihm selber sagen.“ Ich hörte Frau Täubert am anderen Ende lächeln. „Gut. Ich werde veranlassen, dass du deine Meinung kundgeben darfst. Am besten besprichst du mit Herrn Ritter, wie ihr am besten vorgeht. Wir schaffen das schon.“ „Ja, okay. Danke.“ Damit legte ich auf und ließ das Handy sinken. Sie versuchten es also tatsächlich schon wieder. Was für Idioten. Die waren sich auch für nichts zu schade. Und wenn sie es wieder schaffen? Wenn du hier weg musst? Ich schob den Gedanken weit von mir. Das würden sie nicht schaffen. Nicht dieses Mal. Nie wieder. Von draußen war Gejohle zu hören. Ich sah durch das Fenster und entdeckte Leif, der wohl als erster eine Dose in die Hand bekommen und tatsächlich einen Schriftzug fabriziert hatte. Die anderen klatschten Beifall. Er lächelte und gab die Farbdose an Sven weiter. Dabei sah er so glücklich aus, dass ich unwillkürlich auch lächeln musste. Ich hatte jedoch kaum damit angefangen, als ich an unsere Verabredung denken musste. An dieses Gespräch und das, worüber wir reden würden. Reden mussten. Scheiße! Mein Blick glitt zu dem Handy in meiner Hand. Es fühlte sich an, als hätte ich seit Ewigkeiten keines mehr gehabt. Aber es hatte da draußen auch niemanden gegeben, den ich hätte anrufen können. Jetzt jedoch … Bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, was ich da tat, hatte ich die Kontakte aufgerufen und scrollte durch die Liste. Ich stoppte, als ein bekannter Name auftauchte. Ob er mir helfen konnte? Das finde ich nur heraus, wenn ich ihn frage. Ich zögerte noch einen winzigen Augenblick, bevor ich auf den grünen Hörer drückte und die zugehörige Nummer wählte. Das Display wechselte in den Anrufmodus und dann klingelte es am anderen Ende. Nach dem dritten Mal nahm jemand ab. „Hier ist die psychotherapeutische Praxis Dr. Leiterer. Meine Sprechzeiten sind Montag bis Donnerstag …“ Ach fuck! Der Doc war nicht da. Ich wollte gerade auflegen, als jemand das Gespräch annahm. „Hallo? Herr Ritter? Entschuldigen Sie, ich war nicht schnell genug am Apparat.“ Ich schluckte. Natürlich dachte er jetzt, dass Tobias dran war. Immerhin hatte ich dessen Handy gekapert. „Hier … hier ist nicht … Ich bin’s. Manuel.“ „Manuel?“ Dr. Leiterer klang verwundert. „Ist etwas passiert? Warum rufst du an?“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich zwang mich zu antworten. „Ich … es geht um diese Aufgabe, die Sie mir gegeben haben. Die mit dem Tagebuch.“ „Hast du Schwierigkeiten damit? Das hätten wir doch am Dienstag besprechen können.“ Ich schluckte. „Nein, ich … ich hab die Liste geschrieben. Es ist nur, dass … Leif hat sie gesehen.“ Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende. „Und wie war das für dich?“, fragte Dr. Leiterer dann. Ich lachte leicht. „Na scheiße. Das wussten Sie doch vorher schon. War das nicht der Sinn der Übung?“ Jetzt war es Dr. Leiterer, der lachte. „Auch. Wobei ich natürlich nicht wusste, dass wirklich jemand die Liste zu Gesicht bekommen würde. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich zu fragen, wie es sich anfühlen würde, wenn jemand das täte. Die reale Erfahrung ist natürlich eindringlicher.“ Ich verzog den Mund. „Ja. War sie. Danke nochmal.“ Eigentlich hätte ich jetzt wohl auflegen müssen. Immerhin hätte ich den Doc gar nicht anrufen dürfen. Aber irgendwie … „Manuel?“ „Mhm?“ „Verrätst du mir, was auf der Liste stand?“ Ich schluckte. Das war es doch, warum ich angerufen hatte. Oder nicht? Weil ich darüber reden wollte. Noch einmal gab ich mir einen Ruck. „Es … es stehen Namen darauf. Von Betreuern. Mitbewohnern. So was halt.“ „Noch mehr?“ „Meine Familie. So wie ich sie kenne, werden Sie doch über die mit mir reden wollen. Dass ich wegen der einen Dachschaden habe und so.“ „Ich gebe zu, dass das auf meiner Liste stand.“ Ich lächelte und er wohl ebenfalls. Aber dann kam die Frage. Die, vor der ich mich gefürchtet hatte. „Steht noch etwas darauf?“ Ich antwortete nicht. Ich traute mich nicht. „Manuel? Bist du noch da?“ „Ja, bin ich. „Und?“ Ich räusperte mich. „Es steht noch ein Name drauf. Also eigentlich ist es nicht sein richtiger Name. Nur sein Spitzname. Er mochte ihn nie. Hat mir sogar mal einen geblasen, damit ich damit aufhöre, ihn so zu nennen. Ich hab’s trotzdem gemacht. Obwohl er echt gut war, aber …“ „Manuel …“ „Ja?“ „Welcher Name steht auf der Liste?“ Ich schloss die Augen. Mit dem Namen kamen Erinnerungen. Erinnerungen an laue Frühlingstage. Küsse. Starke Arme, die mich hielten. Ein Lachen, das nur mir galt. Augen, die mich ansahen. Warm und mit diesem Ausdruck darin. Dass man mir vertrauen konnte. Dass ich etwas Gutes war. Etwas, das er wollte. „Sein Name war Bambi. Also eigentlich Benedikt, aber … na ja. Das hab ich ja grad schon erzählt.“ „Ja, das hast du.“ Ich schluckte noch einmal. Da war etwas in meinem Hals, das da einfach nicht wegging. „Und warum hast du seinen Namen aufgeschrieben?“ Ich lachte leicht. „Tja, da kommen Sie ins Spiel. Sagen Sie es mir, Doc. Sie haben das doch studiert. Warum hab ich diesen verdammten Namen aufgeschrieben? Ich mein … Leif hat sich echt aufgeregt, als er ihn gesehen hat. Warum hab ich ihn auf die Liste gesetzt? Das war so dumm.“ „Nun, du wusstest ja nicht, dass Leif ihn lesen würde.“ Dr. Leiterer klang versöhnlich. Als wäre es nichts Schlimmes, was ich getan hatte. „Ja, aber … warum hab ich ihn dann aufgeschrieben?“ „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten.“ Ein Fluch lag mir auf der Zunge und meine Finger schlossen sich um das Telefon. Ich hätte das blöde Ding am liebsten von mir geschmissen. Aber erstens hätte das nichts geholfen und zweitens hätte ich dann Tobias erklären müssen, warum sein Handy nur noch ein Haufen Schrott war. Das war es nicht wert. „Aber vielleicht findest du die Antwort ja selbst heraus, wenn du darüber nachdenkst.“ Ich zischte. „Das hab ich schon. Es ist nichts dabei rausgekommen. Ich meine, es ist vorbei. Ich werde ihn nie wiedersehen. Und selbst wenn, würde er wohl kaum mit mir sprechen wollen.“ Ich sah förmlich, wie Dr. Leiterer aufhorchte. „Ach nein? Warum das nicht?“ Ich zögerte. Sollte ich das jetzt echt erzählen? „Weil … weil ich mich ihm gegenüber wie ein Arsch benommen habe.“ „Weil du ihn bei diesem Spitznamen gerufen hast?“ Ich lachte wieder. Wenn es doch nur das gewesen wäre. „Nein, ich … ich bin einfach abgehauen. Ich hab gewusst, dass ich hierherkomme, aber ich hab ihm nichts gesagt. Hab ihn in dem Glauben gelassen, dass alles okay sei. Ich hab sogar …“ Ich brach ab. Diese Geschichte musste der Doc nun wirklich nicht hören. „Ja?“ Natürlich musste er nachfragen. „Nicht so wichtig.“ „Dir anscheinend schon.“ Ich blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen. „Ja. Schon irgendwie. Aber die Sache ist die, dass ich halt … ich weiß auch nicht. Ich hab’s vergeigt mit ihm. So richtig. Und er … er hatte das nicht verdient.“ „Und du? Hattest du es verdient?“ „Was?“ Dr. Leiterer lächelte. Ich konnte es durchs Telefon hören. Es war ein trauriges Lächeln. „Ob du es verdient hattest. Denn offenbar war die Beziehung zu diesem Benedikt dir wichtig.“ „Es war keine Beziehung.“ „Und was war es dann?“ Ich wollte sagen „nur Sex“, aber das stimmte nicht. Es war mehr gewesen und ich wusste es. „Ich weiß nicht, was es war“, wich ich der Frage aus. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, den Doc anzurufen. „Und wie fühlst du dich, wenn du jetzt an ihn denkst?“ Ich zuckte mit den Achseln. Als mir bewusst wurde, dass er das nicht sehen konnte, seufzte ich. „Es … es fühlt sich scheiße an“, gab ich zu. „Also nicht alles. Es gab auch gute Sachen, aber … wenn ich daran denke, was ich gemacht habe …“ „Dann?“ „Dann würd ich mir am liebsten selbst vor die Füße kotzen.“ Dr. Leiterer schwieg einen Moment. „Du hast also ein schlechtes Gewissen. „Ja.“ „Warum?“ Ich schnaubte spöttisch. „Ist das ihr Ernst? Ich meine, ich war bestimmt nicht so der tollste Typ, den die Welt zu bieten hat, aber … er mochte mich. Glaube ich. Und ich hab ihn einfach so abserviert. Das ist doch scheiße.“ „Du kannst also nachvollziehen, wie er sich gefühlt hat?“ „Ja!“ „Mhm.“ Für einen Moment schwieg der Doc. Schrieb der sich etwa schon wieder etwas auf? „Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht angenehm war, so im Stich gelassen zu werden. Aus heiterem Himmel. Ohne irgendeine Vorwarnung.“ Wollte der mich verarschen? „Ja, genau“, knurrte ich. „Reiben Sie noch Salz in die Wunde. Ich hab doch schon gesagt, dass ich mich wie ein Arsch verhalten habe. Was wollen Sie denn noch?“ „Die viel wichtigere Frage ist doch: Was willst du?“ Ich presste die Kiefer aufeinander. Am liebsten hätte ich aufgelegt. Aber ich hatte ihn angerufen. Weil ich etwas wollte. Einen Rat oder so. Was ich jetzt machen sollte. Und warum ich dauernd an Bambi denken musste. Immerhin konnte ich jetzt auch nichts mehr an der Sache ändern. Und inzwischen hatte er mich bestimmt eh schon abgehakt. Selbst wenn ich gekonnt hätte, ich hätte mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Er hätte mir vermutlich eine reingehauen. Verdientermaßen wohlgemerkt, aber … Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich hörte ein Summen, das dem Geräusch folgte. Dr. Leiterer ergriff wieder das Wort. „Tja, Manuel, du hast es sicher gehört. Mein nächster Patient ist da. Ich muss auflegen.“ „Halt. Warten Sie! Doc! Was mache ich jetzt mit Leif?“ Dr. Leiterer seufzte. „Das kann ich dir nicht sagen. Es ist deine ganz persönliche Entscheidung. Aber wenn du mich fragst, solltest du in Erwägung ziehen, Leif bezüglich deiner Gefühle die Wahrheit zu sagen.“ „Meiner Gefühle?“ „Ja, genau. Das sind die Dinger, die sich dazu gebracht haben, mich anzurufen und nach einem dringenden Rat zu fragen, weil dein Mitbewohner eine Liste gelesen und darauf den Namen deines Exfreundes gelesen hat.“ „Er war nicht mein …“ „Manuel!“ Ich senkte den Kopf. „Ja, okay. Ist gut, Doc. Ich überleg’s mir.“ „Tu das. Und jetzt gib Herrn Ritter bitte sein Handy zurück. Er vermisst es sicher schon.“ Damit legte er auf und auch ich ließ meine Hand wieder sinken. Der Anruf hatte mir gleich mal Nullkommanull gebracht. Außer vielleicht Ärger mit Tobias, weil ich unerlaubterweise telefoniert hatte. Schnell rief ich die Anrufliste auf und löschte Dr. Leiterers Namen. Dann war wenigstens das Problem erst einmal vom Tisch. Und das andere? Was war nun mit Bambi? Und Leif? Und diesen Gefühlen, die ich angeblich hatte. Nicht nur angeblich. Du weißt es. „Scheiße!“ Ich rieb mir über die Augen und atmete tief durch. Natürlich wusste ich, was der Doc meinte, wenn er davon sprach, dass ich Leif die Wahrheit sagen sollte. Aber konnte ich das denn? Was, wenn ich es wieder vermasselte? Darin war ich ja schließlich ziemlich gut. Hatte man ja bei Bambi gesehen. Und auch bei Leif. Und wie sollte das überhaupt aussehen mit uns? Das war doch alles Schwachsinn. Ganz großer, gequirlter Schwachsinn. Aber irgendwas muss ich ihm sagen. Ich weiß nur noch nicht, was. Ich seufzte noch einmal. So langsam wurde es Zeit zurückzugehen, sonst würden sie mich noch suchen kommen. Ich war eh schon viel zu lange hier drin. Mit dem Handy in der Hand ging ich wieder hinaus in den Garten, wo die anderen noch wie wild am Sprühen waren. Als Tobias mich entdeckte, kam er zu mir rüber. „Was hat sie gewollt?“ „Wer?“ „Na, Frau Täubert.“ Ach ja. Mit der hatte ich ja auch noch telefoniert. Als wenn eine Scheiße allein nicht reichen würde. „Es gibt eine Anhörung mit meinen Eltern. Ich werde hingehen.“ Tobias blies die Backen auf. „Oh, das ist krass. Hat sie gesagt, wann der Termin ist?“ „In drei Wochen. Sie schickt dir alles zu, glaube ich.“ „Okay.“ Er sah mich an und machte ein komisches Gesicht. „Keine Angst. Wir kriegen das hin.“ „Klar.“ Tobias nahm sein Handy wieder entgegen und ich trollte mich und mischte mich unters Volk. Als ich sah, dass Leif mich beobachtete, grinste ich. „Na, alles schick hier?“ Er nickte. „Klar. Aber ich hab das mit deinen Eltern gehört. Warum eine Anhörung?“ Ich machte eine lässige Handbewegung. „Ach, die denken, sie können mich wieder zurückholen. Alles halb so wild“ Dass sie das schon einmal geschafft hatten, sagte ich natürlich nicht. Ich grinste nur. „Okay. Das klingt … gut.“ „Ja, oder?“ Ich schnappte mir eine der Farbdosen und schüttelte sie kräftig. „So, und jetzt zeig ich euch mal, wie der Meister das macht.“ Ich ging zur Wand, drückte auf den Farbknopf und malte einen großen, schwarzen Smiley an die Wand. Einer, der richtig fett grinste. Allerdings hatte ich wohl etwas viel Farbe genommen. Das Ding begann zu verlaufen. Schwarze Tropfen auf grauem Untergrund. Es sah aus, als würde er weinen. „Typischer Anfängerfehler“, sagte eine Stimme neben mir. Als ich aufblickte, stand dort Cedric. So dicht, dass ich ihn fast riechen konnte. „Soll ich dir mal zeigen, wie man es richtig macht?“, fragte er und deutete auf meine Schmiererei. Ich grinste. „Na klar. Lass sehen, was du drauf hast.“ Cedric lachte, griff nach der Dose und begann mir zu verklickern, was ich offenbar während meines Gesprächs verpasst hatte. Dass Leif mir währenddessen Löcher in den Rücken starrte, ignorierte ich geflissentlich. Kapitel 20: Geständnisse ------------------------ Der Rest des Nachmittags verging schneller, als ich erwartet hatte. Wir sprayten, lachten, blödelten herum. Ich sah sogar, wie Leif sich mit Dennis und Jason unterhielt. Es war komisch und gleichzeitig gut. Fast ein bisschen wie Familie. Eine, in der sich die Leute gegenseitig halfen. Wie in einem Bilderbuch. Kurz vor dem Abendessen war jedoch Schluss mit lustig. Cedric räumte seine Sachen zusammen und verabschiedete sich anschließend von uns. Tobias brachte ihn nach draußen. Ich deckte gerade den Tisch in der Küche, als er wieder hereinkam. „Na, ist er weg?“   Tobias lächelte. „Ja, ist er. Aber er kommt morgen wieder. Dann machen wir uns an die Planung des Flurs. Immerhin wollen wir nächste Woche damit fertig sein.“ „Klingt gut.“   Ich verteilte weiter Teller. Irgendwann bemerkte ich, dass Tobias mich dabei beobachtete.Fragend hob ich die Augenbrauen.   „Was ist?“ „Weiß nicht. Du bist heute irgendwie … anders. Ist wirklich alles in Ordnung?“   Ich nickte leicht und wandte den Kopf ab. Auf dem Teller vor mir klebte noch irgendwas, das in der Spülmaschine nicht ganz runtergewaschen worden war. Ich pulte es mit dem Fingernagel ab und wischte die Krümel beiseite. Würde schon keinem auffallen. Im Hintergrund rührte Nico in einer Pfanne herum und Leif war dabei den Kühlschrank auszuräumen. Mein Blick blieb kurz an ihm hängen, bevor er wieder zum Tisch zurück wanderte. Ich musste noch weiter decken. Tobias seufzte. „Na schön. Ich seh schon, du willst lieber vor dich hingrübeln. Aber wenn du doch jemanden zum Reden brauchst, weißt du, dass du immer zu mir kommen kannst. Oder zu den anderen. Wir sind für euch hier, Manuel. Für euch.“ Er schenkte mir noch einen aufmunternden Blick, bevor er nachsehen ging, ob er einem der anderen unter die Arme greifen konnte. Ich blieb zurück und verteilte die restlichen Teller. Einen nach dem anderen. Nur nicht zu viel nachdenken. „Hey!“   Leif war neben mich getreten. Er stellte Käse und Wurst auf den Tisch.   „Wollen wir nach dem Essen vielleicht … zu mir gehen?“   Ich sah ihn nicht an. „Meinst du nicht, dass das auffällt?“   Er schnaubte belustigt. „Wieso? Die anderen hängen doch auch manchmal zusammen ab. Warum also nicht wir?“   Jetzt blickte ich doch auf. Leifs Augen leuchteten. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. „Okay. Ich komme. Aber wir müssen vorsichtig sein.“ „Klar.“     Mit einem komischen Gefühl im Bauch setzte ich mich zum Essen. Mechanisch schmierte ich mir ein Brot, aber eigentlich hätte ich gut und gerne darauf verzichten können. Auch Leif schien heute keinen richtigen Appetit zu haben. Im Gegensatz zu mir, wurde das bei ihm jedoch kommentiert. „Leif, du hast kaum was gegessen.“   Er sah entschuldigend zu Tobias rüber. „Ich hab heute einfach keinen Hunger.“   Tobias atmete angestrengt. „Willst du noch was anderes haben? Du kannst ein Spiegelei bekommen, wenn du kein Rührei magst.“   Leif lächelte.   „Nein, wirklich, ich … ich mag heute nicht so viel essen. Morgen wieder, ja? Oder ich nehm mir noch Schokolade mit, wenn ich darf. Ich würde nach dem Essen gerne auf mein Zimmer gehen.“   Ich sah genau, dass Tobias das nicht recht war. Bevor er jedoch dazu kam zu antworten, mischte ich mich ein. „Oh, kann ich mitkommen? Du wolltest mir doch noch bei meinem Motiv helfen. Erinnerst du dich?“   Leif sah mich kurz erstaunt an, bevor er schaltete. „Ja, sicher. Mach ich gerne.“ Er wandte sich an Tobias. „Geht das klar?“   Tobias warf einen Blick in meine Richtung, bevor er zögernd nickte. „Ja, sicher. Wenn ihr zusammen seid, geht das in Ordnung.“   Er sah noch einmal zu Leif. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass da etwas zwischen ihnen vorging, das ich nicht verstand. Bevor ich mich jedoch lange genug darüber wundern konnte, war der Moment vorbei und Tobias lächelte wieder sein normales Lächeln.   „Na schön, dann räumen wir mal ab, damit ihr an die Arbeit gehen könnt.“   Ich grinste und auch Leif ließ sich nichts weiter anmerken. An dem Blick jedoch, den er mir hinter Tobias Rücken zuwarf, sah ich genau, dass er das Gleiche dachte wie ich.     Die Tür hatte sich kaum hinter uns geschlossen, als wir uns schon in den Armen lagen. Ich hatte das Gefühl, ihn ewig nicht berührt zu haben. Seine Küsse waren tief und verheißungsvoll. „Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?“, fragte ich, während seine Lippen meine Haut liebkosten. „Nein, das denke ich absolut nicht“, entgegnete er lachend, bevor er mich sanft in den Hals biss und dann losließ und einen Schritt zurücktrat.   Mit einem bedauernden Grinsen ließ ich mich auf sein Bett fallen, während er Stellung am Schreibtisch bezog. Ich wusste, was das hieß. Wir würden wohl endlich reden.     Eine Weile lang schwiegen wir uns an. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen und blieb wieder an den Bildern an der Wand hängen. Der Typ neben Leif, der den Arm um ihn gelegt hatte und mit ihm zusammen in die Kamera grinste. Leif sah auf dem Bild anders aus. Weniger schmal. Glücklicher. „Das ist René“, sagte Leif hinter mir. Er hatte wohl bemerkt, was ich mir ansah. Ein kurzer Seitenblick zu ihm zeigte mir, dass er eine Hand in seinen Ärmel gekrallt hatte und auf seiner Unterlippe herumkaute. Die Tafel Schokolade, die er tatsächlich mitgebracht hatte, lag unbeachtet hinter ihm auf dem Schreibtisch. Ich schaute wieder zurück zu dem Bild.   René also. Er sah gut aus. Groß, dunkelhaarig, sportlich. Ein nettes Lächeln. Hätte mir auch gefallen können. „Hattet ihr mal was miteinander?“   Ich spürte förmlich, wie Leif hinter zusammenzuckte. Hatte ich etwa ins Schwarze getroffen? Neugierig drehte ich mich halb zu ihm um.   Leifs Blick war zu Boden gerichtet. Der Griff um seinen Ärmel war stärker geworden. Wäre er nicht da gewesen, hätten sich seine Nägel in seinen Unterarm gebohrt. „Nicht wirklich“, murmelte er. „Es war mehr so eine … einseitige Sache.“   Einseitig?   „Von deiner Seite aus oder von seiner?“ „Von meiner.“   Als Leif merkte, dass ich ihn immer noch abwartend ansah, seufzte er. „Er ist hetero. Zumindest so gut wie. Am Anfang dachte ich zwar mal, dass ich eine Chance hätte, aber als dann ein Mädchen aufgetaucht ist, war Schluss damit. Er brauchte mich dann nicht mehr.“   Leifs Stimme war zum Schluss immer leiser geworden. Er hatte sich in sein Sweatshirt verkrochen und die Beine angezogen. Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, lächelte er verlegen. „Sorry, das … das war jetzt doof. Ich wollte dir das eigentlich gar nicht erzählen.“   Ich winkte ab. „Schon okay. Ich mein, ich hab dir ja auch von … meinem Ex erzählt.“   Zumindest wenn man Dr. Leiterers Definition zugrunde legte. Ich sah noch einmal zu dem Foto. „Aber wenn er so ein Arsch war, warum hast du dann immer noch Bilder von ihm an der Wand?“   Leifs Lächeln wurde traurig. „Weil er mir ziemlich geholfen hat, als … als meine Eltern es rausgefunden haben. Sie sind ziemlich durchgedreht und … na ja. Er war für mich da. Hat mich bei sich schlafen lassen und so.“   Er machte eine Pause. Über seinem Gesicht schwebten dunkle Wolken.   „Leider war ich dann der Arsch von uns beiden. Ich … ich hab versucht, die Situation auszunutzen. Nichts, worauf ich stolz sein könnte. Er hat dann den Kontakt abgebrochen, weil … weil ich halt echt Scheiße gebaut hab. Das war dann der Zeitpunkt, wo das mit dem Essen angefangen hat.“   Leif fummelte wieder an seinem Ärmel herum. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er damit wohl noch mehr zu verbergen hatte. Hatte ich alte Verletzungen gesehen? Narben? Ich konnte mich nicht erinnern. „Und wie ging es dann weiter?“   Sein Blick richtete sich in die Ferne. „Schlimmer. Zuerst hab ich mich total zurückgezogen. Meine Eltern haben das Thema totgeschwiegen und ich … ich hab mitgemacht. Was sollte ich auch tun? Ich konnte ja nirgends hin. Aber irgendwann hab ich es nicht mehr ausgehalten. Ich wurde … wütend. Hab die Schule geschwänzt, bin nicht nach Hause gekommen, hab mich rumgetrieben. Mir die falschen Freunde gesucht. Mit Absicht. Wahrscheinlich wollte ich einfach, dass meine Eltern mich … bemerken. Mich ansehen, wenn sie mit mir reden, statt über mich, während ich mit ihnen an einem Tisch sitze. Als wäre ich nichts als Luft. Und es hat geklappt. Nachdem mich die Polizei ein paar Mal nach Hause gebracht hat, reichte es ihnen. Was sollten denn auch die Nachbarn denken, die Lehrer, der Stadtrat oder was weiß ich wer noch. Das war meinen Eltern schon immer wichtig.“   Er lächelte schmal.   „Es endete damit, das ich hierher kam. Damit ich zur Vernunft komme. Wieder der brave Sohn werde, den sie gerne hätten. Der, der irgendwann mal heiratet und Kinder kriegt und so was alles. Dass das nicht passieren wird, akzeptieren sie nicht.“   Ich schnaubte. Leifs Eltern hatten ja echt noch einen größeren Sockenschuss als meine. Denen war ich wenigstens nur egal. „Und warum machst du da mit?“, wollte ich wissen. „Sag ihnen doch einfach, dass sie dich mal können.“   Leif lachte bitter auf. „Weil ich das nicht kann. Wenn ich ihnen die Meinung sage, nehmen sie mich hier raus und das will ich nicht. Noch nicht. Also halt ich meine Klappe und versuche unter dem Radar zu bleiben.“ Er sah zu mir rüber, die Unterlippe zwischen den Zähnen. „Das muss dir komisch vorkommen, oder? Ich meine, du musst hier sein und ich will das?“   Jetzt war ich es, der den Blick abwandte. Noch vor ein paar Wochen, Tagen vielleicht, hätte ich gesagt, dass er verrückt war. Und ja, wenn ich es mir hätte aussuchen können, wäre ich sicherlich lieber woanders gewesen, aber …   „Nein, das ist nicht komisch. Mir geht’s ja so ähnlich. Wenn ich jetzt wieder zu meinen Eltern zurück müsste, dann … dann würde ich wahrscheinlich irgendwann in den Knast wandern. Oder tot unter ner Brücke liegen. Je nachdem, was schneller geht.“   Leif sah mich fragend an. Ich verschob meine Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. „Mein Bruder. Hat versucht mich abzustechen, weil ich ihn an die Bullen verpfiffen habe. Wenn seine Freunde nicht gewesen wären, würde ich wohl jetzt nicht hier sitzen.“   Leif schwieg daraufhin. Ich lachte leicht. „Hey, keine Panik. Der sitzt wieder und ich bin hier gut aufgehoben. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“   Leif schüttelte den Kopf.   „Das ist es nicht. Ich hab mich nur grad gefragt, ob ich wohl noch da wäre, wenn meine Freunde nicht gewesen wären.“   Leif sah mich nicht an. Auch nicht, als ich mich aufsetzte und zu ihm rüberging. Also schob ich ihn einfach mitsamt seinem Stuhl ein Stück nach hinten und setzte mich auf seinen Schoß. Er blickte zu mir auf.   „Du bist aber nicht weg und ich auch nicht“, sagte ich „Wir sind noch hier. Das ist doch schon mal was, oder nicht?“   Leif lächelte leicht. „Ja, ist es.“   Seine Arme schlossen sich um mich und er lehnte sich an mich. „Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe.“ „Ich auch.“   Eine Weile lang saßen wir einfach nur so da. Ich fuhr mit den Fingern über seinen Nacken. Die Haare waren inzwischen ein Stück gewachsen. Nicht mehr ganz so borstig, sondern weicher. Ich hätte das ewig machen können. Eingehüllt ihn ihn, in seinen Geruch. Er ganz nahe bei mir. Unter mir. Um mich herum. Ich genoss das Gefühl, ihm so nahe zu sein.   Irgendwann brach Leif jedoch die Stille. „Erzählst du mir jetzt von Bambi?“, fragte er leise.   Ich legte das Kinn auf seinen Kopf und sah aus dem Fenster. Es musste wohl sein.   „Was willst du wissen?“ „Wie lange wart ihr zusammen?“   Ich schnaufte. Genau diese Frage konnte ich nicht mit Sicherheit beantworten.   „Keine Ahnung“, gab ich schließlich zurück. „Es war nicht … so eine Art von Beziehung.“ „Dann habt ihr nur gefickt?“   Meine Finger schlossen sich fester um Leifs Nacken. Er sollte so was nicht sagen.   „Nein“, gab ich bemüht ruhig zurück. „Ich weiß nicht so recht, was es war. Er … er war lieb und alles, aber er hat noch bei seiner Mutter gewohnt, die von all dem nichts mitbekommen durfte. Außerdem wusste ich, dass ich irgendwann wieder weg muss, also hab ich … ich hab …“ „Ihn auf Abstand gehalten?“   Ich atmete tief durch. Das passte wohl so ziemlich wie Faust aufs Auge. „Ja. Nicht bewusst, aber … ja. Das hab ich wohl.“ „Warum?“   Ich vergrub meine Nase in Leifs Haaren. Ich wollte jetzt nicht über Bambi reden. Ich wollte gar nicht mehr reden. Aber diese Frage musste ich wohl noch beantworten. Ich schuldete es ihm. „Weil ich Angst hatte. Angst, etwas zu verlieren, das mir wichtig ist.“   Nachdem ich das gesagt hatte, schwieg ich. Ich legte meine Arm fester um Leif und schloss die Augen. Eine Hand strich sanft über meinen Rücken. „Das verstehe ich“, sagte er leise. „Man macht manchmal dumme Sachen, wenn das so ist. Sehr dumme Sachen.“   Ich gluckste.   „Zum Beispiel?“ „Nacktfotos der Freundin deines Crushes im Internet veröffentlichen? Zusammen mit ihrer Telefonnummer und einem höchst eindeutigen Text?“   Ich hob den Kopf und sah ihn an. Er grinste halb. „Das hast du gemacht?“   Er zuckte mit den Achseln. „Ich sagte ja, ich bin nicht stolz drauf. Hab gedacht, ich hätte das Recht dazu, weil … weil sie ihn mir weggenommen hat. Ich wollte ihn damit zwingen, sich zwischen uns zu entscheiden. Tja, hat er gemacht. Aber nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte.“   Ich schüttelte den Kopf. Leif war echt so ein Idiot „Und jetzt?“ Er presste die Lippen aufeinander. „Sie sind nicht mehr zusammen. Sie hat ihn betrogen. Er hat sich bei mir gemeldet. Hat gemeint, ob wir uns mal wieder treffen sollen. Uns aussprechen.“ „Und? Wirst du es machen?“ „Keine Ahnung. Meinst du, ich sollte?“   Am liebsten hätte ich sofort Nein gesagt. Ich wollte nicht, dass er diesen Typen wiedersah. Ich wollte nicht, dass er mir Leif wegnahm.   Als mir bewusst wurde, was ich da gerade gedacht hatte, musste ich lachen. Das war so absurd. „Was ist so lustig?“, fragte Leif. In seinen Augen flackerte es.   Ich rutschte von seinem Schoß herunter und stand auf. Am liebsten wäre ich weggelaufen und hätte gewartet, dass das, was da gerade in mir brodelte, einfach vorbeiging. Mein Herz raste und mein Hals wurde eng. Es fühlte sich an, als würden die Wände des Zimmers näherkommen. Mich erdrücken. Mich zusammenpressen und mir keinen Ausweg mehr lassen. Dabei wusste ich doch, was ich wollte. Ich wusste es.   Vielleicht solltest du ehrlich zu Leif sein. Das hatte der Doc gesagt. Aber was, wenn ich verlor? Wenn ich gegen diesen Typen verlor, den Leif auch nach all dieser Zeit offenbar nicht vergessen konnte. Von dem er Fotos in seinem Zimmer hängen hatte. Was dann?   Das wirst du nicht rausfinden, wenn du es nicht versuchst. Also los, sei kein Frosch!   Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf. Dieses dämliche Bild von diesem dämlichen Frosch, der sich einfach weigerte, sich von dem Storch fressen zu lassen. Vielleicht sollte ich doch mal ein Frosch sein. Nur dieses eine einzige Mal.   Ich atmete tief durch und drehte mich langsam wieder zu Leif herum. Ich wusste, was ich sagen musste, auch wenn es am Ende das Falsche war. Es musste sein. „Also wenn du denkst, dass du … dich mit René treffen willst, dann tu das. Und wenn er das ist, was du willst, dann kann ich das nicht ändern. Dann musst du zu ihm zurückgehen und dich weiter verarschen lassen. Aber was ich ebenfalls nicht ändern kann, ist, dass ich dann leider Nacktfotos von ihm ins Internet setzen werde zusammen mit seiner Telefonnummer und einem eindeutigen Text. Das schwöre ich, so wahr ich hier stehe.“   Leif sah mich an wie ein Auto. Sein Mund stand leicht offen und seine Unterlippe zitterte.   „Soll … soll das heißen, dass du …“   Ich drehte mich weg. Ich konnte ihn nicht mehr ansehen. „Dass ich was an dir finde? Ja, das ist wohl so. Warum weiß ich eigentlich auch nicht, weil du eine fürchterliche Nervensäge bist und problematisch und weil ich keine Ahnung habe, ob nicht du oder ich am nächsten Morgen eigentlich noch hier sind, weil unsere bekloppten Erzeuger beschlossen haben, dass sie uns unser Leben gerne noch ein bisschen mehr zur Hölle machen wollen, aber …“   Ich stoppte um Luft zu holen und mir noch einmal zu überlegen, ob ich das jetzt wirklich sagen wollte. Ob ich das ganz und in Wahrheit aussprechen sollte.   Ach scheiß drauf. Mehr als schiefgehen kann es nicht. Augen zu und durch.   „Ich … ich mag dich Leif. Und ich will mit dir zusammensein. Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll und alles aber … Das ist das, was ich will. Und wenn du mir jetzt sagst, dass das dumm ist und nicht das, was du willst, dann ist das so, aber dann war ich wenigstens ehrlich zu dir.“   Mit zitternden Knie und einem Stein im Magen blickte ich zu ihm zurück. Ich musste wissen, wie seine Antwort lautete.   Leif saß einfach nur da und sah mich an. Wie versteinert. Wie eine Statue. Was für ne Scheiße.   „Ich … ich sollte wohl lieber gehen.“   Ich wandte mich um und wollte verschwinden, als Leif plötzlich aufsprang, Mit zwei Schritten war er bei mir und schlang die Arme um mich. „Geh nicht“, murmelte er und drückte mich an sich. „Geh nicht. Nie wieder.“   Hoffnung perlte in mir auf und stieg in die Höhe wie Luftblasen aus der Tiefsee. Sollte das heißen, er … wollte? Mich? „Ist das ein Ja?“, hakte ich nach. Ich musste es hören. Er lachte leise. „Natürlich ist das ein Ja. Was denkst du denn?“   Damit lehnte er sich vor und küsste mich. Zart und tief und alles gleichzeitig. Mir wurde ganz schwindelig. Schwindelig und leicht und alles auf einmal. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Als ich es doch tat, lächelten wir beide. Leif leckte sich über die Lippen.   „Ich … ich muss dir da noch etwas gestehen.“ „Ja?“ Er räusperte sich. „Also, was René angeht, hab ich dir nicht ganz die Wahrheit gesagt.“   Mir wurde kalt. Und schlecht. Was sollte das heißen? Leif lächelte nervös. „Hey, keine Bange. Ich … ich hab nur ein bisschen dramatisiert, okay? Um zu sehen, wie du reagierst.“ Als ich nicht antwortete, fuhr er fort. „René hat mich um eine Aussprache gebeten, aber … nicht jetzt, sondern schon vor einem halben Jahr. Wir haben geredet und … also als ich hier mal abgehauen bin, bin ich zu ihm. Aber er hat mich überzeugt, dass es besser ist, wenn ich zurückgehe. Wenn ich mir helfen lassen von jemandem, der sich damit auskennt. Damit ich gesund werde. Seit dem haben wir ab und an mal Kontakt.“   Ich schluckte. Leif hatte gelogen? Und René schwirrte immer noch bei ihm rum? Hatte ich das wissen wollen? „Und … willst du noch was von ihm?“   Leif zog den Kopf zwischen die Schultern.   „Na ja, nein, nicht mehr so. Also da ist immer noch was zwischen uns. Oder war. Aber … ich meine, er hat wieder eine Freundin. Er hat sich entschieden.“   Leif schnaufte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich … ich erzähle dir das eigentlich nur, weil … weil Dr. Leiterer gesagt hat, dass es wichtig ist, dass ich ehrlich zu dir bin. Diese ganze Scheiße ist nun einmal passiert und wenn ich verhindern will, dass sie mir weiter Knüppel zwischen die Beine schmeißt, dann muss ich … daran arbeiten. Und ich will das nicht vor dir geheim halten, verstehst du? Ich will einfach, dass du weißt, dass ich …. dass ich nicht okay bin. Ich hab Angst, dass du sonst … dass du Dinge erwartest, die ich nicht kann. Oder zu viel, zu schnell, wie auch immer.“   Leif sah mich an. Sein Blick wanderte unruhig zwischen meinen Augen hin und her. Ich spürte, wie sich seine Hand in meiner verkrampfte. Ich zwang mich zu lächeln. „Hey“, sagte ich und löste meine Finger aus seinem Griff. Sanft strich ich ihm über die Wange. „Ich kenne da jemanden und weißt du, was der in so einer Situation immer sagt?“   Leif schüttelte den Kopf. Ich grinste, dieses Mal ehrlich. „Der unerhört sexy und tätowiert und sagt dann immer: 'Wir kriegen das schon hin'.“   Ich sah, wie Leifs Mundwinkel anfingen zu zucken. Schließlich lächelte er. „Du bist ein Idiot.“   Ich sah ihm in die Augen. „Ich weiß. Aber ist es nicht gerade das, was du an mir liebst.“ „Ich liebe gar nichts an dir.“ „Nicht mal meinen Schwanz?“   Leif tat, als müsse er überlegen. „Na gut, der ist schon nicht verkehrt.“ „Und mein Mund?“   Leif schob die Unterlippe vor. „Weiß nicht. Da müsstest du mir mal zeigen, was der alles kann.“ „Hab ich das nicht heute Mittag schon?“ „Ja, aber … kriegst du das auch nochmal hin?“   Ich grinste und wollte mich gerade vorbeugen, um Leif davon zu überzeugen, als plötzlich Schritte draußen zu hören waren. In Windeseile stoben wir auseinander und ordneten unsere Klamotten. Im nächsten Moment klopfte es schon. „Herein“, rief Leif und ein Schlüsselrasseln später steckte Henning seinen dicken Kopf herein. „Alles in Ordnung bei euch?“   Wir sahen uns an. War es das? „Ja“, antworteten wir wie aus einem Mund. Es war höchst verdächtig. Offenbar fand das auch Henning, denn er kam nun ganz herein und sah sich um. Da er jedoch nichts entdecken konnte, brummte er beruhigt. „Na schön. Sieht nicht so aus, als wenn ihr hier irgendwas Verbotenes macht oder euch die Köpfe einschlagt. Also bleibt schön dabei, ja? Und keinen Unsinn anstellen.“   Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass da ein Unterton war. Fast so als wüsste Henning doch mehr, als er zugeben wollte. Aber woher? Wir waren doch immer so vorsichtig. „Geht klar, Chef“, sagte Leif und lehnte sich lässig an seinen Schreibtisch. Henning nickte uns noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und wieder verschwand. Kaum, dass er weg war, trat ich wieder bei Leif.   „Das war verdammt knapp“, murmelte ich und drückte ihn ein wenig gegen die Tischplatte. Die Ideen, die mir dabei kamen, gefielen mir. „Ja, da hast du recht. Vielleicht sollten wir doch lieber was Produktives tun?“   Ich sah genau, dass Leif das nicht so meinte. Andererseits hatte ich keine Lust, dass uns einer der anderen Idioten beim Rummachen erwischte.   „Und was schlägst du vor?“, fragte ich und legte die Arme um ihn. „Ich meine, wenn Kampfkuscheln ausfällt.“   Er lächelte. „Wie wäre es, wenn wir uns tatsächlich an einen neuen Entwurf für dein Graffiti machen? Oder soll es bei dem Wurm bleiben?“   Ich ließ geräuschvoll die Luft entweichen. So genau wusste ich das selbst nicht. „Hast du denn eine Idee?“   Leifs Augen begannen zu funkeln. „Vielleicht. Soll ich es dir zeigen?“ „Klar.“ Er küsste mich noch einmal, bevor er sich aus meinen Armen löste und sich an den Schreibtisch setzte. Ich nahm mit der Tischplatte vorlieb und sah zu, wie er ein Blatt zur Hand nahm und zu zeichnen begann.   Als erstes kamen Füße, die in Turnschuhen steckten. Es folgte eine weite Hose, ein Shirt mit verschränkten Armen vor der Brust, eine fette Kette und schließlich ein Kopf. Ein Katzenkopf mit einem schwarzen Kopftuch. Die Katze grinste und zeigte dabei einen ihrer spitzen Eckzähne.   Leif setzte den Stift ab und sah mich an. „Und? Gefällt er dir?“   Ich besah mir das Miezekätzchen. Es sah ein bisschen niedlich aus, aber gleichzeitig auch so, als sollte man sich mit ihm besser nicht anlegen. Es war perfekt. „Wieso kannst du so was?“   Leif schlug die Augen nieder. „Ach, ich hab … früher mal ein bisschen gezeichnet. Außerdem hab ich das Motiv mal auf einem Plakat gesehen und als Tobias letztens meinte, dass du ihn an eine Katze erinnerst, da dachte ich …“   Leif sprach nicht weiter. Er sah nur zu mir hoch und ich lehnte mich zu ihm vor und küsste ihn. „Danke“, wisperte ich gegen seine Lippen. „Für alles.“ Er lächelte leicht.   „Doch noch ein bisschen Kampfkuscheln?“ „Ich wäre schwer dafür.“   Mit diesen Worten zog ich ihn hoch und in Richtung Bett. Ich wusste, dass wir nicht allzu weit gehen würden, aber ich wusste, dass wir noch jede Menge Zeit hatten. Und vielleicht sogar noch ein bisschen länger.   Kapitel 21: Stolpersteine ------------------------- Ich erwachte mit einem Lächeln. Na ja, eigentlich mit einem Knurren, aber während Henning weiter den Gang entlangschlappte, um die anderen zu wecken, und ich dalag und mich fragte, warum eigentlich schon wieder Morgen war, bewegten sich meine Mundwinkel von ganz alleine nach oben. Leif. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich, er, der ganze Tag gestern. Das war einfach der Wahnsinn, dass wir jetzt tatsächlich … Ich konnte es nicht mal denken. Fast so, als wären meine Worte irgendwie aufgebraucht. Mit dieser Erkenntnis kamen die Erinnerungen. Erinnerungen an die Dinge, die ich gesagt hatte. Dinge, die er gesagt hatte. Wir hatten beide so viel preisgegeben. Aber du wolltest das. Du wolltest es unbedingt. Was, wenn ich mehr abgebissen hatte, als ich schlucken konnte? Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Das war etwas, das ich definitiv nicht bereute. Der Sex mit Leif war … toll. Atemberaubend. Sensationell. Allein die Erinnerung daran ließ mich mich auf den Rücken drehen wie ein rolliger Kater. Ich schloss die Augen und sah es vor mir. Wie er meinen Schwanz im Mund hatte, während sein Blick mich förmlich verschlang. Fühlte, wie meine Lippen über die weiche Haut seines Bauches glitten, die harten Konturen der Knochen seines Beckens nachfuhren, nur um dann hinabzutauchen und ihn ganz in mir aufzunehmen. Er stand drauf, wenn ich das tat. Ich hatte es gemerkt und war ein paar Mal ziemlich an meine Grenzen gegangen. Aber die Art, wie sich seine Hände auf meinem Laken nach Halt gesucht hatten, sein atemloses Keuchen und das Gefühl, ihm etwas Besonderes zu geben, hatten es mehr als wett gemacht. Aber es ist mehr als Sex. Keine Ahnung, wann das angefangen hatte, aber er bedeutete mir was. Ich kriegte dämliches Herzklopfen, wenn ich an ihn dachte, fing an zu grinsen und wäre vermutlich vor Laternen gelaufen, wenn denn welche in der Nähe gewesen wären. Ich wusste, was das hieß. Allein die Tatsache, dass ich gerade aus dem Bett sprang und mich in Windeseile anzog, um keinen Augenblick mit ihm zu verpassen, war garantiert nicht gesund für mich. Trotzdem fühlt es sich geil an. Ich grinste, während ich nach unten lief. „Das ging aber fix“, begrüßte Henning mich in der Küche. Ich schenkte ihm ein Grinsen. „Bin eben von der schnelle Truppe.“ „Na dann will ich dich mal nicht aufhalten“, antwortete er schmunzelnd und reichte mir die Müslischalen aus dem oberen Schrankfach. „Stellst du die noch hin?“ „Klar.“ Ich wollte den Stapel gerade auf den Tisch stellen, als Leif reinkam. Als er mich sah, fingen seine Augen an zu leuchten. „Guten Morgen“, sagte er trotzdem nur und tat so, als wäre nichts. „Morgen“, gab ich zurück. Er ging an mir vorbei. Seine Finger streiften meinen Hintern. Mit Sicherheit kein Zufall. „Hast du gut geschlafen?“ „Ja, sehr.“ „Ich auch.“ Unsere Blicke trafen sich und ich wusste, dass er sich ebenso wie ich danach sehnte, ihn zu küssen. Ich sah mich nach Henning um. Der war mit der Kaffeemaschine beschäftigt. Ich wollte mich gerade vorbeugen, als Leif zurückwich. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Ich atmete versuchte den Stich zu ignorieren, den mir das versetzte. Er hatte ja recht. „Gibst du mir eine davon?“, sagte er stattdessen. Ich blickte ihn verständnislos an. Er grinste und wies auf die Schüsseln in meiner Hand. „Müsli, Schwachkopf.“ Ich verzog das Gesicht. „Selber Schwachkopf!“ „Pappnase.“ „Arschgesicht.“ „Hey!“ Henning hatte unsere Kabbelei mitbekommen und warf uns einen bösen Blick zu. „Kein Niveaulimbo vor acht Uhr, klar?“ Wir grinsten beide. „Zu Befehl, Boss.“ Ich reichte Leif nun endlich eine der Schüsseln. Für einen Moment berührten sich dabei unsere Finger. Ich hielt ebenso inne wie er. Wir lächelten wie zwei Volltrottel. Als jedoch der Nächste in die Küche kam, brachten wir schnell Abstand zwischen uns. Sollte ja keiner was merken. „Morgen“, brummelte Dennis und setzte sich ohne ein weiteres Wort an den Tisch. Er zog sich sein Käppi ins Gesicht und schloss die Augen. Typischer Fall von Frühstückskoma. Ich ließ ihn sitzen und deckte weiter. Erst, als der Rest der Truppe ebenfalls in die Küche polterte, kam wieder Leben in ihn. Suchend sah er sich auf dem Tisch um. „Wo issen die Milch?“ „Fehlt“, verkündete Nico und bölkte in meine Richtung. „Ey, Bimbo, hol mal Milch.“ Ich zeigte ihm einen gepflegten Mittelfinger, machte mich aber trotzdem auf den Weg zum Kühlschrank. Als ich zurückkam, war bereits die nächste Katastrophe am Anrollen. „Maan, das Müsli ist schon wieder alle“, muffelte Dennis. „Sven, du Vielfraß.“ Sven hob den Kopf. „Willst du Stress, oder was? Ich hab deinen Körnerfraß nicht. Frag Nico.“ Nico hob abwehrend die Hände. „Ich hab vor zwei Tagen das letzte Mal welches gegessen.“ „Ich hab mir welches genommen.“ Leif war hinter seiner Schüssel ganz klein geworden. Alle Augen am Tisch richteten sich auf ihn. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Sven war der Erste, der sich wieder fing. „Hä, wieso hast du Müsli? Du isst sonst nie Müsli.“ Ich warf einen Blick in Leifs Schüssel. Tatsächlich lag da ein Haufen braune Flocken. Ich stellte die Milch daneben. „Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!“, raunzte ich Sven an. Der guckte mich an wie ein Auto. „Bist du jetzt sein Bodyguard, oder was?“ „Und wenn?“ Der drohende Unterton in meiner Stimme war nicht zu überhören. „Leute!“ Nico lehnte sich betont zwischen uns und griff nach dem Brotkorb. „Macht mal halblang, jetzt. Ich will in Ruhe frühstücken.“ „Das würde ich allerdings auch vorziehen.“ Henning war am Tisch erschienen und brachte die Kaffeekanne mit. Sofort reckten sich ihm mehrere Becher entgegen. Er lächelte. „Seht ihr? Geht doch.“ Er schenkte die braune Kraftbrühe aus, während ich mich auf den nächsten Stuhl fallen ließ. Erst als ich saß, merkte ich, dass ich mich direkt neben Leif gesetzt hatte. Der war jedoch damit beschäftigt, sein Müsli in sich hineinzulöffeln. Miniportion für Miniportion wanderte in seinen Mund. Er kaute ungefähr 48 mal, bevor er es endlich herunterschluckte und den nächsten Löffel nahm. Man konnte fast wahnsinnig werden beim Zusehen. Dann guck halt nicht hin. Mit gesenktem Blick konzentrierte ich mich darauf, was auf meinem eigenen Teller passierte. Ich verteilte Butter und mehr Salami, als eigentlich auf das Brot passte und biss hinein. In dem Moment berührte mich etwas unter dem Tisch. Ich blickte auf. Leif war immer noch mit seinem Müsli beschäftigt, aber ich wusste, dass es sein Fuß war, der da sanft an meinen stieß. Ich warf einen kurzen Blick in die Runde, bevor ich mich ein bisschen in seine Richtung schob. Dummerweise war ein Tischbein zwischen uns, sodass sich unser Kontakt auf ein Minimum reduzierte, aber es war besser als gar nichts. Ich spürte die Wärme seines Knies an meinem. Schweigend „genossen“ wir unser Frühstück, bis Leif irgendwann den Löffel sinken ließ. Seine Schüssel war nicht einmal zur Hälfte geleert. „Leif?“ Henning sah fragend in Leifs Richtung. Der lächelte entschuldigend. „Ich hab mich ein bisschen übernommen. Kann ich aufstehen?“ Henning sagte nichts dazu, aber ich sah genau, dass er damit nicht zufrieden war. Auch Dennis schien sich einen Kommentar verkneifen zu müssen. Finster funkelte er Leif an. „Du weißt, dass ich das melden muss?“, fragte Henning dessen ungeachtet. Leif nickte stumm. Henning musterte ihn noch einen Augenblick lang kritisch, bevor er in Richtung Tür nickte. „Na schön, dann ab mit dir.“ Leif schob den Stuhl zurück und warf mir noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor er sich aus dem Staub machte. Der Rest von uns frühstückte noch zu Ende, aber die Stimmung war definitiv im Eimer. Alles wegen einer dämlichen Schale Müsli. Kurz darauf war auch der Rest fertig und verkrümelte sich nach und nach. Ich blieb mit Henning und dem abgegrasten Tisch allein zurück. Er seufzte und begann abzuräumen. Ich schnappte mir Leifs halbvolle Schüssel und schüttete die Reste in den Ausguss. Es war noch eine ziemliche Menge, die da im Waschbecken landete. Die Milch lief nicht ab. „Was ist los?“ Henning war hinter mir erschienen. Er warf einen Blick über meine Schulter. „Oh, das ist zu viel. Holst du es bitte wieder raus und tust es in den Mülleimer? Nicht, dass uns noch der Abfluss verstopft.“ Ich brummte eine halbe Zustimmung und kratze den Kram wieder aus dem Becken. Es fühlte sich schleimig und brockig an. Angewidert wusch ich mir danach die Finger und spülte die Reste mit viel Wasser weg. Als ich damit fertig war, hatte Henning schon den halben Tisch abgeräumt. „Schaffst du den Rest alleine?“, meinte er und deutete mit dem Kopf Richtung Tür. „Ich muss mal nach Leif sehen gehen.“ „Kann ich das nicht machen?“, fragte ich schnell. Henning lächelte leicht. „Danke für das Angebot, aber das ist meine Aufgabe.“ „Aber ich kann das. Bestimmt.“ Bittend sah ich Henning an. Er presste die Lippen aufeinander. Hinter seiner breiten Stirn schien es zu arbeiten. „Na schön“, sagte er schließlich. „Ich werde Tobias aber trotzdem nachher davon erzählen. Wir müssen auf Leif aufpassen. Wir, Manuel, nicht du.“ „Weiß ich doch“, sagte ich schnell. „Aber Leif und ich, wir sind … Freunde. Vielleicht erzählt er mir, was los war.“ Henning seufzte. „Na gut, dann versuch dein Glück. Aber mach nichts Dummes, klar? Das ist nicht deine Aufgabe.“ Ich nickte und machte mich auf den Weg. Während ich Stufe für Stufe nahm, umkreisten sich meine Gedanken wie knurrende Hunde. Der Morgen hatte doch so gut angefangen. Und dann gestern. Warum benahm sich Leif da so komisch? Hatte er es sich anders überlegt? Aber das konnte doch eigentlich nicht sein. Wenn es so gewesen wäre, hätte er sich doch anders benommen. Es konnte doch nicht alles an diesem dämlichen Müsli liegen. Oder konnte es? Als ich oben ankam, stand Leifs Zimmertür offen. Er selbst war nicht da. Da niemand auf dem Flur zu sehen war, ging ich zum Bad zurück und lauschte. Irgendwer putzte sich da drinnen gerade die Zähne. Mit einem tiefen Einatmen hob ich die Hand und klopfte. Die Geräusche an der Innenseite verstummten. „Ja?“ Es war Leif. „Ich bin’s. Machst du auf?“ „Moment.“ Ich hörte, wie er die Verriegelung löste. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür. „Ja?“ Seine Haare hinge ihm ein wenig feucht ins Gesicht und sein Gesicht war gerötet. Er wich meinem Blick aus. „Kann ich reinkommen?“ Er zögerte einen Augenblick lang, bevor er zur Seite trat und mich reinließ. Schnell schlüpfte ich durch die Tür und schloss hinter mir ab. Als ich mich umdrehte, war er bereits zum Waschbecken zurück gekehrt. „Ich wollte mich noch rasieren.“ Ich versuchte ein Grinsen. „Soll ich helfen.“ Er lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. Wahrscheinlich ahnte er, weswegen ich hier war. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, ihn nach dem Frühstück zu fragen. Ich trat hinter ihn und lehnte mich an ihn. Wärme ging von seinem Körper aus. Ich spürte sie durch den Stoff seines T-Shirts. Langsam schob ich meine Arme um ihn. Ich spürte, wie er kurz steif wurde und sich dann an mich lehnte. So standen wir einen Augenblick lang da, bevor er sich in meinem Arm drehte und mich ebenfalls umarmte. Seine Lippen legten sich an meinem Hals. „Tut mir leid“, murmelte er. „Ich wollte es nicht versauen.“ Ich drückte ihn fester an mich. „Hast du nicht.“ „Doch hab ich.“ Er machte sich von mir los und drehte sich wieder zum Waschbecken. Sein Blick war nach unten gerichtet. „Ich verspreche dir, dass das nicht mehr vorkommt.“ Ich runzelte die Stirn. Ich wusste nicht genau, was er meinte. Als ich ihn danach fragte, hob er den Kopf. Erst jetzt sah ich, dass seine Augen leicht gerötet und glasig waren. „Ich hab Scheiße gebaut. Mit dem Essen. Ich dachte einfach, ich krieg das hin, aber als mich dann alle angestarrt haben und Dennis so sauer war, dass ich sein Müsli gegessen hab …“ „Der Penner soll sich nicht so anstellen. Das Zeug ist schließlich für alle da.“ „Ja, aber du hast Sven doch gehört. Ich esse sonst nie Müsli.“ Leifs Stimme war ein Stückchen nach oben gerutscht. Als er es merkte, atmete er tief durch. „Sorry. Ich bin hier grad voll die Dramaqueen. Dabei war es nicht so wild, okay? Ich krieg das in den Griff. Wirklich.“ Ein Teil von mir wollte Leif glauben. Er wollte glauben, dass es alles ganz harmlos war, ein Ausrutscher. De andere Teil jedoch fragte sich, wie es dazu kommen konnte. Immerhin waren wir doch zusammen gewesen. Genügte das nicht? „Erklärst du es mir?“, fragte ich leise, nachdem keiner von uns Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren. Leif schüttelte leicht den Kopf. „Ganz ehrlich, den Scheiß willst du gar nicht verstehen. Weil es genau das ist: Scheiß. Eigentlich weiß ich das ja auch, aber …“ Er brach ab. War heute Tag der halb gesagten Sätze? Ich hätte mit dem Kopf gegen die Wand schlagen wollen. „Dann red mit mir darüber. Oder mit Dr. Leiterer oder Tobias oder sonst wem. Lass dir helfen.“ Erst, nachdem ich das ausgeblubbert hatte, wurde mir die Ironie bewusst. Dass ausgerechnet ich das sagte, war nun wirklich der Hohn in Tüten. Komischerweise schien es Leif tatsächlich zu erreichen. „Ja“, sagte er leise. „Das sollte ich tun.“ Er hob den Kopf. „Ich hab einfach Angst, dass du … dass du denkst, dass ich voll der Freak bin, wenn ich es dir erkläre. Weil ich ja weiß, dass ich das bin, aber …“ „Quatsch!“ Ich trat zu ihm, drehte ihn um und zog ihn an mich. Zögernd erwiderte er die Umarmung. „Ich bin genauso ein Freak“, meinte ich und strich sanft über seinen Rücken. „Und ich will einfach … ich will es verstehen. Ich bin nicht dumm, weißt du? Ich krieg das hin.“ Leif schnaufte. „Ich weiß. Aber eigentlich will ich gar nicht, dass du was davon mitbekommst.“ Ich lachte leicht. „Tja, dafür ist es vielleicht ein bisschen spät, oder?“ Ich hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst. Aber ich verstehe halt nicht, warum du das bisschen Müsli nicht einfach essen konntest. Was ist denn dabei?“ Für einen Moment befürchtete ich, dass Leif sich wieder wegdrehen würde. Ich wusste, dass ich ihm gerade ziemlich auf die Zehen getreten war. Aber ich wollte mich auch nicht einfach so abspeisen lassen. Als er sah, dass ich nicht nachgeben würde, seufzte er leise. „Es ist ja auch dumm“, sagte er und wandte nun doch den Blick ab. „Es ist schließlich nur ein bisschen Müsli. Das sollte man hinkriegen zu essen, oder? Wenn man normal und gesund wäre, sollte man das hinkriegen.“ Er atmete tief ein und schloss die Augen. „Und damit kennst du dann schon eines meiner Teufelchen.“ Ich legte die Stirn in Falten. „Teufelchen?“ Ein leises Lächeln schlich sich auf Leifs Lippen. „Wie im Fernsehen. Du weißt schon. Wenn Engelchen und Teufelchen auf der Schulter erscheinen. Der eine will was Gutes tun, der andere was Böses. Und dann streiten sie sich.“ Er atmete noch einmal tief durch. „Tja, bei mir sind es zwei Teufelchen und beide sind der Meinung, dass ich zu nichts zu gebrauchen bin.“ Aber das stimmt doch nicht, wollte ich sagen, als draußen Hennings Stimme über den Flur schallte. Wir mussten zur Schule. Scheiße! „Hör zu, Leif, wir reden da nochmal drüber, ja? Heute Mittag?“ Leif sah nicht überzeugt aus. Trotzdem nickte er tapfer. „Klar. Ich … ich überleg mir, wie ich dir das möglichst so beibringe, dass du nicht gleich schreiend davonläufst.“ Ich verschob meine Mundwinkel zu einem Lächeln. „Das werde ich nicht. Ich mag dich nämlich und ich kann wirklich verdammt stur sein.“ Leif sagte daraufhin gar nichts. Er lehnte sich nur vor und küsste mich. Eine Wolke von Pfefferminz hüllte mich ein. „Mhm, und davon will ich auch mehr“, murmelte ich und öffnete meine Lippen, um Leifs Zunge in Empfang zu nehmen. Er lächelte. „Okay. Dann haben wir eine Verabredung?“ „Ja, haben wir.“ „Gut.“ Er löste sich aus meinen Armen und sah mich an. In seinen Augen stand wieder das Leuchten von heute Morgen. „Aber rasieren schaffe ich wohl jetzt nicht mehr.“ Ich grinste. „Ich hab dir angeboten, dass ich dir helfe.“ „Du willst mich ja nur nackt sehen.“ Mein Grinsen wurde breiter. „Ja, will ich. Unbedingt.“ Er lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. Von unten herauf sah er mich an. „Findest du mich eigentlich … na ja …“ Er sprach nicht weiter. Ich grinste ein bisschen. „Ich hab das Gefühl, dass alles, was ich sage, irgendwie das Falsche wäre.“ Er senkte den Kopf. „Ja, da hast du wahrscheinlich recht.“ Ich trat noch ein Stück näher, schob die Hand unter sein Kinn und hob es an, sodass er mich ansehen musste. „Aber ich glaube, du hast inzwischen gemerkt, dass du mich ziemlich anmachst, oder?“ Ich sah, wie er sich über die Lippen leckte. Mein Herz klopfte schneller und für einen Moment vergaß ich, wo wir waren. Die Idee, Leif einfach die Klamotten runterzureißen und ihn an Ort und Stelle zu vernaschen, manifestierte sich mehr und mehr. Ich wollte ihn. Ich wollte ihn so sehr. In diesem Moment wummerte es an der Badezimmertür. „Also entweder ihr kommt jetzt raus oder ich komme rein und das wird dann definitiv ungemütlich.“ Stöhnend ließ ich meinen Kopf gegen Leifs Brust sinken. Das war doch jetzt echt nicht wahr. Leif lachte und schob mich leicht von sich. „Na los, komm, beeilen wir uns, bevor er echt noch die Tür eintritt.“ „Meinst du, das würde er machen?“ „Ich würde es lieber nicht riskieren.“ Ich sah kurz zur Tür, hinter der Henning wie ein aufgebrachtes Walross Posten bezogen hatte. Danach glitt mein Blick zurück zu Leif. „Aber irgendwann demnächst bist du fällig, das ist dir klar, oder?“ Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte Leif widersprechen, doch dann schlug er die Augen nieder. „Wenn du drauf bestehst.“ „Aber so was von.“ Ich klaute mir noch einen schnellen Kuss, bevor ich die Tür aufschloss und Henning die Tür öffnete. Er musterte mich kritisch. „Und?“, fragte er nach. Ich setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. „Alles wieder unter Kontrolle. Leif hat versprochen, dass er heute Mittag die doppelte Portion isst.“ Hatte er zwar nicht, aber das musste Henning ja nicht unbedingt wissen. Leif schaltete zum Glück schnell. „Ja, tue ich. Ganz großes Ehrenwort.“ Er sah tatsächlich aus, als würde er es ernst meinen. Henning brummte zufrieden. „Na schön. Dann glaube ich euch das mal. Und jetzt ab mit euch nach unten. Die anderen warten schon.“ Der Rest des Vormittags verlief selten öde. Ich versuchte mich auf den Stoff zu konzentrieren, aber meine Gedanken wanderten immer wieder ab zu Leif und seinem blöden Essproblem. Selbst Herr Zimmermann bekam mit, dass ich heute nicht recht bei der Sache war. „Ist Grammatik denn wirklich so furchtbar?“, fragte er, als ich, statt unregelmäßige Verben aufzuschreiben, einfach den Kopf auf den Tisch gelegt hatte. „Ja, heute schon“, brummte ich und blieb liegen. „Na los, Manuel. Reiß dich mal ein bisschen zusammen. Eine Stunde noch, dann ist Wochenende.“ Wochenende. Tatsächlich. Das hatte ich vollkommen vergessen. Zwei volle Tage keine Schule. Blöd bloß, dass wie immer Arbeiten auf dem Programm stand. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Zeit von Freitag bis Sonntag im Bett verbracht. Mit Leif. Und Pizza. Aber das fiel wohl aus wegen ist nicht. „Okay, okay“, brummelte ich und machte mich daran, die blöden Verben zu deklinieren. Was immer das auch hieß. Es klang irgendwie ungesund. Als es endlich klingelte, machte ich, dass ich rauskam. Leif wartete bereits auf dem Flur auf mich. Er lächelte, als er mich sah. „Endlich Wochenende!“ Ich grinste. „Du klingst wie Herr Zimmermann.“ „Oh nee, bloß nicht.“ Wir blödelten herum, bis wir nach draußen kamen, wo Tobias uns bereits erwartete. Als wir seine Miene sahen, verging uns das Lachen. „Hallo Leif“, begrüßte er uns. Ich wollte mich gerade beschweren, als er sich an mich wandte. „Manuel? Gehst du schon mal vor? Ich hab noch was mit Leif zu besprechen?“ Ich blieb stehen. „Warum? Ist das ein Geheimnis?“ Tobias lächelte schmal. „Sozusagen. Ist was Privates. Na los, ab mit dir.“ Ich zögerte. Das gefiel mir nicht. Trotzdem zockelte ich langsam in Richtung Wohnheim. Dabei sah ich immer wieder zu den beiden zurück. Tobias redete auf Leif ein, der wiederum den Kopf gesenkt hatte. Ich konnte förmlich hören, wie seine Stimme immer leiser wurde. Wie sie anfing zu zittern und irgendwann ganz verstummte. Was immer Tobias zu sagen hatte, war mit Sicherheit unangenehm. Aber was? „Manuel, nicht trödeln. Du hast Tischdienst, schon vergessen?“ Thomas stand an der Tür und hielt sie mir auf. Ich sah noch einmal zum Parkplatz. „Was ist mit Leif und Tobias?“ „Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Tobias hat doch einen Schlüssel.“ Widerwillig folgte ich Thomas nach drinnen. Irgendetwas stimmte da nicht. Ich fühlte es. Während ich Teller auf dem Tisch verteilte, lauschte ich immer wieder, ob sich die Tür öffnete, aber es war nicht zu hören außer dem Gesabbel und Gelächter der anderen. Wütend fuhr ich zu Sven und Nico herum. „Könnt ihr nicht mal die Schnauze halten?“ Die beiden sahen sich an. „Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“ „Schlecht geschissen, oder was?“ Ich knurrte. „Nee, aber ne zu große Portion eurer Blödheit eingeatmet.“ Ich bekam nicht mehr als ein müdes Lächeln für den schwachen Spruch. Danach waren sie noch lauter. Sogar Jason machte jetzt mit. Ich biss die Zähne zusammen und verkniff mir jede weitere Bemerkung. Stattdessen knallte ich Löffel und Gabeln auf den Tisch. Spaghetti Bolognese sollte es geben. Guten Appetit. Als Thomas und Nico die Töpfe brachten, waren Leif und Tobias immer noch nicht da. Immer wieder sah ich zur Tür, aber niemand tauchte auf. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. „Soll ich mal gucken, wo die bleiben?“, fragte ich und wollte schon loslaufen, als Thomas mich zurückpfiff. „Die kommen schon, wenn sie soweit sind. Lass sie mal in Ruhe.“ Unschlüssig stand ich zwischen Tisch und Tür. Ich wollte Tobias und Leif aber nicht in Ruhe lassen. Ich wollte wissen, was da los war. Funkten seine Eltern etwa wieder dazwischen und wollten ihn abholen? Oder hatte Henning doch gepetzt, was bei Frühstück passiert war. Der Arsch! „Manuel, hinsetzen!“ Thomas’ Stimme zeigte deutlich, dass ich mich einer Grenze näherte. Einer Grenze, die ich besser nicht überschritt, wenn ich keinen Ärger haben wollte. Aber jetzt gerade wollte ich Ärger haben und zwar so richtig. „Und wenn nicht?“, fragte ich zurück und reckte das Kinn. Sollte er mich doch holen kommen. Thomas musterte mich streng. „Manuel, bitte setz dich, wir wollen essen.“ Ich wollte nicht gehorchen. Ich wollte nicht wie ein Kind behandelt werden. Dann hör auf, dich wie eins zu benehmen. Ich wusste nicht, wo die Stimme herkam, aber sie hörte sich verdammt nach Dr. Leiterer an. Scheiße! „Okay“, brummte ich und bewegte mich im Schneckentempo zurück zum Tisch. Ich ließ mich auf meinen Platz fallen und sah dabei zu, wie die anderen sich Nudeln und Soße auf die Teller schaufelten. Nur drei Teller waren noch leer. Einer davon war meiner. „Hier.“ Jason reichte mir die Schüssel mit den Nudeln. Ich überlegte gerade, ob ich ihn einfach ignorieren sollte, als plötzlich Schritte im Flur zu hören waren. Leif und Tobias kamen wieder. Ich wäre am liebsten aufgesprungen, aber das wäre zu auffällig gewesen. Also griff ich nach der Schüssel und begann mir aufzutun. Dabei wünschte ich mir, am Hinterkopf Augen zu haben. Ich wollte so gerne wissen, was da abging. „Mahlzeit“, grüßte Tobias, bevor er sich an den Tisch setzte. „Das sieht gut aus. Gibst du mir mal die Spaghetti?“ Er lächelte mich an, aber ich bemerkte es gar nicht. Mein Blick klebte an Leif. Der war weiß wie die Wand und starrte auf seinen leeren Teller. Ich stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Willst du?“, fragte ich. Er hob den Kopf und sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob ich ihn wohl ohne Narkose die Eier abschneiden dürfte. Als wenn ich das machen würde. Ich mochte seine Eier. „Ja, sicher“, sagte er, als sein Gehirn anscheinend einen Zusammenhang zwischen mir, der Schüssel und der Tatsache, dass er am Esstisch saß, hergestellt hatte. Mechanisch tat er sich auf, bevor er die Schüssel an Tobias weiterreichte. Es folgte Soße. Eine ganze Kelle. Danach musterte er den Teller, als würden die Nudeln gleich ihn verschlingen. Mit einem tiefen Durchatmen griff er zur Gabel und machte sich daran, die erste Portion aufzuwickeln. Als er sie in den Mund steckte und zu kauen begann, traf mich ein tadelnder Blick von Tobias. „Dein Essen wird kalt.“ Er deutete mit dem Kopf auf die Portion Spaghetti, die immer noch unangetastet vor mir stand. Erst jetzt merkte ich, dass mein Magen knurrte. Ohne ein weiteres Wort begann ich ebenfalls zu essen. Dabei bemühte ich mich, nicht zu Leif rüberzusehen, der sich durch seine komplette Portion Nudeln kämpfte. Erst danach lege er das Besteck zur Seite „Kann ich jetzt aufstehen.“ Es klang ziemlich kläglich. Tobias verneinte. „Erst machen wir noch Hausaufgaben. Und dann kannst du mir helfen, die Planen im Flur zu verteilen. Wir wollen doch heute mit dem Aufsprühen der Skizzen anfangen.“ Leif nickte nur und sagte nichts dazu. Ich hingegen verstand die Welt nicht mehr. Warum zum Teufel klebte Tobias ausgerechnet heute an Leif wie Hundescheiße an einem Schuh? Und wie bekam ich heraus, worüber die beiden gesprochen hatten? Kapitel 22: Auf und davon ------------------------- Sven betrachtete die Farbdose in seiner Hand. Danach glitt sein Blick zur Wand. „Sollten wir das nicht erst mal vormalen. Mit nem Stift oder so?“ Seine Aussprache war durch die Maske, die auf seinem Gesicht saß, etwas undeutlich. Der Rest von ihm steckte in einem Vollkörperschutz. Er sah aus, als wäre er direkt einem Biogefahr-Seuchen-Film entsprungen. 'Die Anzüge müssen sein', hatte Tobias gesagt und sich auch nicht auf Diskussionen eingelassen. Jetzt standen wir also alle in raschelndem Weiß im Flur herum und warteten darauf, endlich anfangen zu können.   Cedric grinste Sven an. „Quatsch. Du hast doch draußen schon geübt. Und für die Vorzeichnung haben wir extra ne helle Farbe genommen. Davon sieht man später nichts mehr. Also nur Mut. Du kriegst das hin.“   „Eben. Nun mach schon“, drängelte jetzt auch Nico. Er hatte sich seine Maske in die Stirn geschoben und sah aus wie ein behindertes Einhorn. „Es ist nicht schwer“, meinte auch Dennis. Er hatte im Gegensatz zu uns nicht herumgemotzt, als er sich hatte umziehen müssen. Sogar Handschuhe hatte er an.   Sven sah noch einmal auf die Farbdose, dann auf die Wand und dann auf das Blatt in seiner anderen Hand. Darauf war das Motiv, das er aufbringen wollte. Mit einer entschiedenen Geste schüttelte er die Farbdose ein paar Mal, hob die Hand und drückte ab. Zischend flog die Farbe an die Wand. Die erste hellgraue Linie wurde gezogen. Es folgte eine zweite, eine dritte. Wie Cedric es uns erklärt hatte, setzte Sven immer wieder ab, bevor er einen neuen Strich zog. Das Ergebnis sah aus wie eine geplatzte Kuh. „Ach fuck, ich kann das nicht“, knurrte Sven und wollte gerade seine Zeichnung wegwerfen, als Cedric zu ihm trat. „Warte, ich runde das mal noch ein bisschen ab. Wirst sehen, das wird richtig fett, wenn es fertig ist.“   Er ergänzte noch ein paar Linien, begradigte einige anderen und heraus kam etwas, das Svens Vorlage schon recht ähnlich sah. Eigentlich war es sogar ziemlich cool.   „Die endgültigen Konturen machst du ohnehin erst nach dem Farbauftrag“, erklärte Cedric. „Du kannst also alles noch korrigieren. Deswegen braucht auch keiner Angst haben, wenn sein Motiv nicht so aussieht, wie er sich das gedacht hat. Ihr könnt es immer wieder covern. Mit den Farben, die ich besorgt habe, ist das kein Problem.“   Er klatschte in die Hände. „Na los, Leute. Auf geht’s!“   Sofort herrschte großes Gedrängel an der Kiste mit den Farbdosen. Jeder wollte als Erster auswählen. Dennis nahm sich Jason mit und half ihm dabei, seinen dicken Tiger abzuzeichnen. Nico und Sven machten unter Thomas’ Anweisung weiter, Tobias schnappte sich Leif, was mich und Cedric übrigließ. Grinsend kam er auf mich zu. „Na, Meister! Alles fit im Schritt?“ Ich rollte mit den Augen. „Bitte sag mir, dass das nicht cool sein sollte.“ „Als ich so alt war wie du, war es das noch.“ Er lachte und zeigte auf das Blatt Papier in meiner Hand. „Ist das dein Motiv?“ „Ja.“ „Zeig mal.“   Er nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung mit der Katze. Eine schmale Falte erschien auf seiner Stirn.   „Das ist toll. Woher hast du das?“ „Gezeichnet?“   Ich versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Cedric schnaubte belustigt. „Das sehe ich. Aber nicht von dir. Versuch gar nicht erst, mir das zu verkaufen.“ Ich seufzte. „Das hat Leif für mich gemacht.“ „Mhm …“   Cedric musterte mich über den Rand des Papiers hinweg. „Und was ist mit deinem Motiv?“   Ich zuckte mit den Schultern. „Das da ist besser.“   Cedric presste die Lippen aufeinander und besah sich das Bild. Er schien zu überlegen. „Weißt du“, meinte er schließlich, „ich finde, du solltest dein erstes Bild nehmen. Das war ziemlich cool.“   Meine Augenbrauen schnellten nach oben. „Das kotzende Sperma?“ Cedric sah mich für einen Moment überrascht an, bevor er in Gelächter ausbrach. „Kotzendes Sperma? Ist ja geil. Wo hast du das denn her?“ „Na ja, es sah doch so aus.“   Während Cedric sich immer noch kringelig lachte, sah ich an ihm vorbei zu Leif rüber. Der war anscheinend vollkommen in seine Arbeit versunken. Tobias und er besprachen gerade die Proportionen. Leif fuhr mit der Hand an der Wand entlang, Tobias nickte dazu. Danach griff Leif nach der Sprühdose. Alles ganz normal. Bis darauf dass er mir seit dem Mittagessen konsequent aus dem Weg gegangen war. Das fühlte sich beschissen an. Echt beschissen. „Hey!“   Cedric war neben mich getreten. Er sah mich fragend an.   „Alles in Ordnung?“ „Ja klar. Alles bestens.“   Ich wandte mich abrupt ab und ging zu der Kiste mit den Farbdosen hinüber. Die hellen Farben waren alle schon weg. Missmutig starrte ich den Rest an.   „Für dein Sperma kannst du auch gleich die richtige Farbe nehmen. Das ist ja nicht so filigran.“   Ich grinste schwach. Plötzlich blieb mein Blick an einem knallvioletten Etikett hängen. Irgendwie wusste ich, das ist es. „Ich nehm die lilane.“   Cedrics Gesicht hellte sich auf. „Nicht schlecht. Das ist eine meiner Lieblingsfarben. Musst dir nur überlegen, welche Farbe du dazu für die Outlines nimmst. Ich empfehle Schwarz und Neongrün. Die Kombi ist echt super.“   Ich versuchte es mir vorzustellen. Das Ergebnis sah ein bisschen aus wie aus einem Horrorcomic. Gar nicht übel. Auch Cedric schien voll begeistert. Zögernd ging ich zurück zu meinem Stück Wand. Die Farbdose wog schwer in meiner Hand. Ich begann sie zu schütteln. In alle Richtungen, so wie Cedric es uns beigebracht hatte. Die Metallkugeln im Inneren klackerten wie wild.   „Das sollte reichen. Na los. Ab an die Wand.“   Ich trat nach vorne, hob die Hand und starrte auf das Stück Tapete vor meiner Nase. Glatt, weiß, perfekt. Und ich würde jetzt meine Spuren darauf hinterlassen. Der Gedanke sorgte für ein Kribbeln in meinem Unterleib, dass sich von dort aus in meinem ganzen Körper ausbreitete. Mit angehaltenem Atem drückte ich auf den Sprühknopf.   Ein breiter, dunkler Farbstrahl zischte gegen die Wand. Die Wirkung des Kontrasts war so krass, dass ich einfach draufhielt. Erst Cedrics Stimme holte mich wieder aus meiner Schockstarre. „Halt, halt! Nicht auf einer Stelle bleiben. Gleichmäßig auftragen, sonst tropft es.“   Ich sah die Farbnase, die von meinem lila Fleck anfing nach unten zu laufen. Schon wieder der Fehler, den ich ganz am Anfang gemacht hatte. Wie peinlich. „Locker aus der Hüfte schießen, Cowboy. Du schaffst das.“   Ich grinste ein bisschen. Ob Cedric wusste, wie zweideutig seine Kommentare waren? Wie von selbst sah ich zu Leif rüber. Der hatte inzwischen mit dem Sprayen begonnen. Die Augen hinter der Schutzbrille auf die Wand gerichtet. Voll konzentriert. Er lächelte. Vielleicht wegen etwas, das Tobias gesagt hatte. „Hallo? Erde an Manuel?“   Ich blinzelte und drehte mich zu Cedric herum. Der grinste ein bisschen.   „Bereit?“   Am liebsten hätte ich Nein gesagt. Aber Kneifen galt nicht. Ich musste da jetzt durch. Zumal ich noch zu Leifs Bild kommen wollte. Ich wollte es auf die Wand malen. Für ihn.   „Klar“, meinte ich und schob meine Maske zurecht. „Ich bin immer bereit.“   „Dann mal los. Mach sie fertig.“   Noch einmal hob ich die Spraydose. Das hier würde vielleicht kein Picasso werden, aber es war mein Bild. Und irgendwann würde mal ein Typ so wie ich hier stehen und denken: „Krasser Scheiß, den der da fabriziert hat.“ Mit diesem Gedanken drückte ich auf den Knopf.       „Oh man, der Scheiß geht echt nicht ab, oder?“   Jason besah sich seine Hände, die mit orangen und braunen Farbsprenkeln bedeckt waren. Erfolglos schrubbte er daran herum, während der Rest von uns sich noch aus den Anzügen schälte.   „Ich hab gesagt, dass du Handschuhe anziehen sollst“, frotzelte Dennis. „Nä, ich krieg das schon ab.“ Jasons wilde Wasserpatscherei wurde von Tobias und Cedric unterbrochen, die mit Kisten voller Farbdosen in die Küche kamen. Als Cedric sah, wie Jason sich um saubere Pfoten bemühte, lachte er. „Das kannst du vergessen. Die Farbe ist wasserfest. Nimm Nagellackentferner oder Terpentin. Ansonsten kriegst du das nicht ab.“   Jason macht ein jämmerliches Geräusch. „Ach Scheiße!“   Tobias lachte. „Ich hol gleich mal die Waschpaste aus der Werkstatt, wenn ich Cedric rausgebracht habe. Damit sollte das abgehen. Bis dahin solltet ihr nochmal ein bisschen raus an die frische Luft gehen zum Ausdünsten.“ Er schnappte sich wieder eine der Einkaufskisten und den Schlüssel und verschwand mit Cedric in Richtung Flur. Thomas scheuchte uns derweil nach draußen, bevor er rüber ins Büro ging.   Leif und ich waren die letzten, die auf die Terrasse traten. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen. Leif trat neben mich. Er sah mich nicht an. „Hab deine Taube gesehen“, sagte ich irgendwann. „Sah gut aus.“   Gut war für den graubraunen Farbfleck vielleicht übertrieben, aber man konnte erkennen, wo er hinwollte. Mein „Wurm“ dagegen sah schon ziemlich nach Tier aus. Die Farbkombi war auch krass. Krasser als ich gedacht hatte. Mit Cedrics Tipps war es fast wie von selbst gegangen. Es fehlten nur noch ein paar Details.   „Mhm“, machte Leif nur. Ich konnte ihn atmen hören. „Wenn meins fertig ist, mach ich noch die Katze.“   Ich hatte ihn eigentlich damit überraschen wollen, aber irgendwie wollte ich jetzt, dass er es wusste. „Ach ja? Ich dachte, du hast es dir anders überlegt.“   Ich verzog das Gesicht.   „Quatsch. Cedric hat nur gemeint … na ja. Dass ich mein eigenes Ding machen sollte. Aber die Katze ist was ganz besonderes. Die will ich unbedingt auch noch sprühen.“   Ich sah jetzt doch zu Leif rüber. Er erwiderte meinen Blick, ein winziges Lächeln im Gesicht. Ich hätte ihn so gerne geküsst.   „Erzählst du mir, was heute Mittag los war?“   Das Lächeln verschwand. Er blies die Backen auf. „Ja klar.“   Leif ging rüber zu den Gartenstühlen und ließ sich auf einen von ihnen fallen. Ich folgte ihm. Seit langem hatte ich mal wieder das Bedürfnis, eine zu rauchen. „Also?“, fragte ich, als er nach einer Weile immer noch stumm da saß. Er schnaufte. Ich setzte mich. Erst dann begann er zu sprechen. „Tobias hat mir erzählt, dass Herr Steiner … dass er kurz davor ist, mich in eine Klinik zu schicken. Er ist der Meinung, dass ich hier in Thielensee nicht richtig aufgehoben bin. Dass ich mehr … Hilfe brauche.“   Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Das konnten die doch nicht machen. „Ich hab gesagt, dass ich hier nicht weg will, und Tobias hat gemeint, dass ich dann essen muss. Mehr essen und das ganz dringend. Ich muss das verlorene Gewicht wieder zulegen. Am besten noch mehr. Nur dann lässt Herr Steiner mich bleiben.“   Leif hob den Kopf und sah mich an. Er sah traurig aus. „Ich will hier nicht weg.“   In dem Moment war es mir egal, ob uns jemand sehen konnte. Egal, ob es wer mitbekam. Ich legte den Arm um Leif und zog ihn an mich. Mir war, als würde ich seinen Herzschlag gegen seine Rippen klopfen hören. Seine Haare kitzelten mein Gesicht. „Wir schaffen das. Du kannst doch … ich mein … kannst du nicht einfach mehr essen?“   Leif lachte leise. „Ich wünschte, ich könnte es.“   Ich ließ ihn los und sah ihn an. „Aber warum denn nicht? Heute Mittag hast du doch auch gegessen. Einen ganzen Teller voll.“   Bei der Erwähnung der Spaghetti wurde Leifs Gesicht verschlossen. Er drehte sich von mir weg und sah in den Garten hinaus. In meinem Hals saß plötzlich ein Kloß. „Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“   Er lächelte schmal.   „Nein. Es ist nur … mir ging’s danach nicht gut. Deswegen ist Tobias auch bei mir geblieben. Damit ich das Essen bei mir behalte und nicht … na ja, du weißt schon.“   Ich runzelte die Stirn. „Nee, ich weiß nicht.“   Er atmete angestrengt. „Manchmal, wenn ich … zu viel gegessen habe, stecke ich mir den Finger in den Hals. Damit es wieder rauskommt.“   Ich zog die Nase kraus. „Du kotzt? Mit Absicht?“   Leif nickte schwach. „Nur selten. Meistens esse ich einfach nur so viel, wie ich aushalte. Aber das ist zu wenig, haben sie gesagt. Ich musste mehr essen, aber das fühlte sich schrecklich an. Deswegen musste ich eine andere Lösung finden. Also fing ich an zu erbrechen. Allerdings hat Tobias das ziemlich schnell spitzgekriegt. Seit dem arbeiten wir daran, dass es nicht mehr vorkommt. Es lief ne ganze Zeit lang gut, aber seit Neuestem … “   Leif hatte den Blick auf den Boden gerichtet. Seine Hände waren in seinem Sweatshirt verschwunden und er sah aus, als würde er sich jetzt gleich übergeben.   Ich atmete tief durch und sah weg. Das war es also. Und ich Idiot hatte es nicht verstanden. Aber warum? „Warum dann heute Morgen?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Oder hätte ihm eine reingehauen. Weil er so ein verdammter Idiot war. Weil er sich kaputtmachte mit dem Scheiß. Und weil ich nichts dagegen tun konnte.   Es dauerte einen Augenblick bis Leif antwortete. Seine Worte schienen von weit weg zu kommen. „Weil ich … weil ich mir was beweisen wollte. Vielleicht auch dir. Was im Grunde genommen dämlich ist, weil … egal. Zumindest hab ich gedacht, ich schaffe das mit dem Müsli. Aber nach den ersten Bissen hab ich gemerkt, dass es nicht geht. Ich hab das Gefühl nicht ausgehalten. Das Kauen und wie es dabei immer mehr wurde im Mund. Wie es aufquoll und wuchs. Die Vorstellung, das in meinem Bauch zu haben war auf einmal voll der Horror. Wie ein Alien. Ich hab Herzrasen gekriegt. Alles an mir hat geschrien, dass ich es ausspucken muss. Aber dann wäre Dennis bestimmt ausgerastet. Die anderen hätten dumme Sprüche gemacht. Du wärst sauer gewesen. Also hab ich weitergemacht. Aber irgendwann …“   Er brach ab und ich schwieg. Was er da erzählte, war totaler Schwachsinn. Von den drei Löffeln, die er gegessen hatte, wäre nicht mal ein Baby satt geworden. „Warum hast du es mir nicht gesagt?“   Dass ich die Frage tatsächlich laut ausgesprochen hatte, wurde mir erst bewusst, als Leif antwortete. „Es war mir peinlich. Ich hatte Angst, dass du … dass du mich eklig findest.“   Ich drehte den Kopf zu ihm rüber. Er war in seinem Stuhl nach unten gerutscht. Fast so, als wollte er sich einfach in Luft auflösen.   Was passieren könnte, wenn er nicht bald mehr isst.   Vielleicht sollte ich langsam mal was sagen. „Ich finde dich nicht eklig.“   Leif schielte von unten zu mir hoch. Ich lächelte leicht. „Und das nächste Mal, wenn du dein Müsli nicht gegessen kriegst, dann … dann sag einfach Bescheid. Dann schütte ich das Zeug heimlich weg oder so.“ Ein winziges Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Nicht zu vergleichen mit dem von heute Nachmittag, aber es war ein Anfang.   „Eigentlich soll ich keine Lebensmittel meiden. Das ist ein Teil der Krankheit.“   Ich stöhnte genervt auf. „Aber wenn du sie nicht drin behältst, hilft das auch keinem.“   Er lachte und senkte den Kopf. „Hast du auch wieder recht.“ „Klar. Ich bin ja auch voll der Checker.“   Ich grinste und auch Leif lächelte wieder. Er schob seine Hand zu mir rüber. Ganz langsam und vorsichtig. Und ich ergriff sie. Mehr ging grad nicht, aber ich wollte, dass er wusste, dass ich da war, wenn er mich brauchte. „Hey, ich hab die … Paste gefunden.“   Tobias war auf der Bildfläche erschienen. Sofort ließen Leif und ich uns los, aber es war zu spät. Tobias hatte es gesehen. Seine linke Augenbraue wanderte nach oben. Ich sprang auf. „Oh gut! Her damit!“, rief ich und schnappte mir die Tube, die Tobias in den Händen hielt. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, aber ich drehte mich nicht um. Stattdessen flüchtete ich nach drinnen. Ich steuerte das Waschbecken in der Küche an, drehte das Wasser volle Pulle auf und schraubte den Deckel der gelben Tube ab. Das Zeug war weiß und roch penetrant nach Zitrone. Außerdem waren irgendwelche harten Krümel da drin, die meine Haut aufrieben, während ich mir damit die Farbe abschrubbte. Hinter mir hörte ich Schritte. „Manuel?“ „Bin gleich fertig“, gab ich zurück. Ich hatte keine Lust, mit Tobias zu reden. So gar nicht. Er lehnte sich neben mir gegen die Anrichte. „Willst du mir vielleicht was erzählen?“ „Nö.“   Ich schrubbte weiter.   „Sicher?“ „Ja.“ „Absolut sicher?“   Ich hörte auf zu schrubben und funkelte ihn wütend an. „Warum stehe ich eigentlich hier auf der Anklagebank. Du könntest genauso gut Leif ausquetschen.“   Tobias schob die Augenbrauen nach oben. „Wäre dir das wirklich lieber?“   Ich holte tief Luft und wandte mich wieder meinen Händen zu. Die Paste hatte mittlerweile alle Farbreste beseitigt. Ich brauchte sie nur noch abzuspülen. „Nein“, murmelte ich und hielt meine Hände unter den Wasserstrahl. „Der hatte heute schon genug Stress.“   „Also hat er dir erzählt, was los ist?“ „Ja.“   Die Seife war mittlerweile abgespült. Ich ließ das Wasser trotzdem noch weiter laufen, bis Tobias mich irgendwann fragte: „Meinst du nicht, dass es langsam reicht?“   Ich nickte und drehte das Wasser ab. In der anschließenden Stille hätte man die berühmte Nadel im Heuhaufen zu Boden fallen hören können. Ich griff nach dem Abwaschtuch. Trocknete mir die Hände ab. Danach legte ich es sorgfältig zusammen. Doch erst, als ich es genau am Rand der Arbeitsfläche ausgerichtet hatte, blickte ich auf. Tobias sah mich freundlich an. Das überraschte mich irgendwie. „Bist du gar nicht wütend?“   Er lächelte. „Warum sollte ich wütend sein?“   Ich zuckte mit den Schultern. „Weißt nicht. Vielleicht weil wir nichts gesagt haben.“   Tobias’ Lächeln wurde amüsierter. Ich runzelte die Stirn. „Was? Er lachte. „Ich find’s nur witzig, dass du ohne mit der Wimper zu zucken alles Mögliche ausfrisst, aber wenn ich dich beim Händchenhalten erwische, ist dir das peinlich.“   Er lachte noch einmal, bevor er wieder ernst wurde. „Außerdem haben wir schon länger den Verdacht, dass bei euch beiden was im Busch ist. Wir waren uns nur nicht sicher, was. Hätte ja auch sein können, dass ihr irgendwelchen Mist ausheckt. Von daher bin ich froh, dass es nur das ist.“   Ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben zogen. Ich zwang sie unten zu bleiben.   „Was hast du denn gedacht, was wir machen? Klebstoff schnüffeln und uns heimlich mit Bleistiften Tattoos stechen?“   Tobias lachte auf. „Keine Ahnung. Henning hat nur gemeint, dass ihr manchmal nachts über den Flur schleicht. Ich würde sagen, jetzt wissen wir, warum.“   Als ich nichts darauf erwiderte, stupste Tobias mich an. „Hey, ich war auch mal 16.“   Ich schnaubte.   „Das ist aber schon ne ganze Weile her.“ „Übertreib’s nicht, mein Lieber.“   Tobias lächelte, dann seufzte er.   „Trotzdem müssen wir nochmal darüber sprechen. Denn auch wenn nicht wirklich was dagegen spricht, dass ihr … Zeit miteinander verbringt, haben wir trotzdem eine Hausordnung, an die ihr euch halten müsst.“   Ich knurrte. Das blöde Ding hatte ich schon zweimal abschreiben müssen. „Ja, und?“ „Keine nächtlichen Besuche mehr. Auch nicht während der Mittagspause. Haben wir uns da verstanden? Diese Zeiten sind dafür gedacht, dass ihr euch in euren Zimmern beziehungsweise euren Betten befindet. Alleine.“   Ich grunzte unwirsch. Wann sollten wir uns denn da sehen? Etwa, wenn jederzeit jemand zur Kontrolle reinschneien konnte? „Ich weiß, dass dir das nicht passt. Aber so sind die Regeln. Und die gelten für alle.“ „Jaja“, murmelte ich. Die Scheißregeln konnten mich mal.   „Und ich will euch keine Vorschriften machen, aber ich würde an eurer Stelle aufpassen, dass die anderen nichts davon mitbekommen.“   Ich hörte genau, dass es Tobias nicht leicht fiel, das zu sagen. Trotzdem fuhr ich ihn an.   „Wir sollen es also geheim halten. Als wäre es was Verbotenes?“   Tobias seufzte. „Natürlich ist es nichts Verbotenes. Aber wenn die anderen was davon mitkriegen, kann uns das die ganze Gruppe sprengen. Hier gibt es sowieso schon genug Spannungen. Und wenn Herr Steiner davon erfährt, kann es sein, dass er euch trennt.“   Ich schnaubte. „Der will Leif doch eh abschieben.“   Als Tobias mich fragend ansah, stieß ich mich vom Schrank ab. Ich trat ans Fenster. Leif saß nicht mehr draußen auf der Terrasse. Ich runzelte die Stirn. Wo war er hin?   „Leif ist weg.“   Meine Stimme klang alarmierter, als ich gewollt hatte. Auch Tobias war sofort in Habachtstellung. Er eilte zur Tür. „Leif? LEIF? Scheiße!“   Tobias schlug mit der flachen Hand gegen den Türrahmen.   „Du bleibst hier, klar?“   Damit rannte er nach draußen. Ich wusste, wo er hinwollte. Ohne lange zu überlegen, folgte ich ihm.   Kapitel 23: Ein gutes Gefühl ---------------------------- Tobias und ich liefen schnurstracks in Richtung Park. Hinter mir konnte ich die anderen rufen hören, was denn los wäre, aber ich ignorierte sie. Ich musste Leif finden. Was, wenn er abgehauen war? Über die Mauer geklettert. Wenn er sich was angetan hatte?   Quatsch! Warum sollte er? Das ist lächerlich.   Ich wusste, dass es Unsinn war, aber das Gefühl in meinem Magen blieb. Das Gefühl wie ein riesengroßer Stein, der mich zu zerquetschen drohte.   „Leif!“   Tobias sah sich hektisch um. Auch ich ließ meinen Blick über den Garten schweifen. War er noch hier? Und wenn ja, wo?   Wir kamen zu dem Baum. Dem, der an der Mauer stand. Tobias sah nach oben. „Hier war er nicht.“   Keine Ahnung, woher Tobias das wusste, aber wenn er es sagte, musste es stimmen. Es musste. Ansonsten … „Da!“   Tobias zeigte hinter mich. Ich wirbelte herum und sah es sofort. Die Gestalt, die mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt da saß. Die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt.   „Leif!“   Noch immer reagierte er nicht. Er saß einfach nur da und schien mich nicht zu hören. Ich rief noch einmal. „Lass mich mit ihm sprechen.“ Tobias war neben mir erschienen. Ihm war die gleiche Erleichterung anzumerken, die auch durch meine Adern strömte. Trotzdem wollte ich nicht, dass er zu Leif ging. Ich wollte derjenige sein, der zuerst mit ihm sprach. Der ihm sagte, dass alles okay war. Derjenige, der ihn zurückholte. „Du bleibst hier.“   Tobias’ Ton duldete keinen Widerspruch. Und ich blieb stehen. Ich wusste nicht, warum. Ich sah nur zu, wie Tobias zu Leif ging, sich vor ihn hinkniete und leise auf ihn einredete. Wie er ihn am Arm berührte und ihn so endlich dazu brachte, den Kopf zu heben. Wie die beiden miteinander sprachen, ohne mich auch nur im Geringsten zu beachten. Und plötzlich konnte ich den Anblick nicht mehr ertragen.   Ich drehte mich um. Meine Schritte wurden schneller, als ich auf das Haus zuging. Ich wusste, was ich jetzt brauchte. Was ich ganz dringend brauchte.   Thomas kam mir entgegen. Er sah nicht begeistert aus. „Manuel! Warum ist drinnen noch nichts fürs Abendessen gedeckt? Wo ist Tobias?“   „Der hat mit Leif zu tun“, spuckte ich ihm entgegen. „Kann ich den Schlüssel zum Sportraum haben?“   „Was?“   Thomas blinzelte mich überrascht an. War der schwerhörig? „Ich brauch grad ne Auszeit. Ganz dringend.“ „Aber jetzt ist Zeit fürs …“   „JETZT!“, schrie ich.   Der Stein in meinem Inneren hatte sich in Lava verwandelt. Sie kochte und schleuderte immer wieder kleine Funken in die Luft. Und der Spiegel stieg.   Endlich schien Thomas zu begreifen. „Gut, ich komme mit.“   Er drehte sich um und ging voraus. Ich folgte ihm. Den Blick auf den Boden gerichtet, wo seine braunen Halbschuhe vor mir herliefen. Tür, Küche, Flur, Tür, Flur, Tür. Endlich öffnete er die letzte von ihnen. Dahinter der kleine Raum, den ich bereits am Anfang mal besichtigt hatte. Jetzt gab es darin zwei Fitnessräder, eine dicke, leicht verschlissene Turnmatte und einen Boxsack, der an einem Seil von der Decke hing. Genau zu dem wollte ich jetzt. „Ich hol dir die Handschuhe.“ „Nicht notwendig. Ich brauch keine.“   Ich wollte keine. Ich wollte es spüren. All den Schmerz und die Wut aus mir rausprügeln in diesen dämlichen Sack. Und ich wollte, dass es wehtat.   Was Thomas antwortete, hörte ich schon nicht mehr. Mein erster Schlag trat den Boxsack. Es gab ein dumpfes, platschendes Geräusch und der Schmerz des Aufpralls. Ein neuer Schlag. Neuer Schmerz. Schmerz, der meinen auslöschte. Meinen und den von Leif. Bis nichts mehr übrigblieb. Bis nur noch das Pochen meiner malträtierten Knöchel und Schienbeine zählte. Schlag um Schlag, Tritt um Tritt. Immer wieder. Bis meine Lunge pfiff und die Umgebung um mich herum verschwamm. Ich hörte nicht auf. Ich machte weiter und weiter. Bis irgendwann jemand meinen Namen rief. Erst dann drehte ich mich um.   Leif stand im Türrahmen. Er war immer noch blass, aber er sah besser aus. Viel besser als noch gerade im Park. Ich hätte mich darüber freuen sollen, aber ich konnte nicht. „Du sollst zum Essen kommen“, sagte er. Nicht mehr. Nicht ein einziges verschissenes Wort. Ich schnaubte. „Ist das alles?“   Am liebsten hätte ich meine Worte wieder zurückgenommen. Ich wollte nicht, dass er mir antwortete. Er sollte weggehen. Weg. Für immer. Damit es aufhörte wehzutun. Aber er ging nicht.   Nach einer Ewigkeit, in der wir uns stumm gegenüberstanden, bewegte er sich. Er machte einen Schritt in den Raum hinein. Meine Fäuste schossen nach oben. Seine Augen wurden groß. „Du blutest.“   Ich blinzelte überrascht. Mein Blick glitt von Leifs Gesicht zu meinen Händen. Er hatte recht. Die Knöchel waren abgeschabt von der Wucht des Aufpralls, der selbst das glatte Material in Sandpapier verwandelte. Ich starrte die winzigen Pünktchen an, die langsam größer wurden, sich zu Tropfen vereinigten und schließlich begannen, eine stetig wachsende, rote Kuppel zu bilden. Bald würde das Blut zu Boden tropfen. Wie damals. Alles war voll damit gewesen. Ich hatte gedacht, ich sterbe.   „Hier. Nimm das.“   Ein Taschentuch erschien in meinem Sichtfeld. Es war zerknittert und mit Sicherheit nicht sauber. Trotzdem ließ ich zu, dass Leif es nahm, um meine Wunden zu reinigen. Seine Finger waren kühl an meinen. Es brannte, als er das Blut abtupfte, aber ich zuckte nicht. Ich hielt einfach still und sah zu, wie er sich um meine Verletzungen kümmerte. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich … ich hab in dem Moment einfach Panik gekriegt. Ich wollte nicht weglaufen. Es war nur …“   Er verstummte. Seine Lippen blieben leicht geöffnet. Ich sah sie an und vermisste ihn.   „Es war was?“   Meine Frage klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Da kreiste immer noch zu viel Adrenalin in meinen Adern.   Leif senkte den Kopf. „Es war wie damals mit meinen Eltern. Ich wollte es ihnen immer erzählen, aber ich war zu feige. Deswegen habe ich es wohl unbewusst darauf angelegt, dass sie mich erwischen. Haben sie dann auch getan.“   Er redete nicht weiter. Stattdessen ließ er sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und rutschte daran nach unten. Sein Blick war auf den Fußboden gerichtet.   Ich zögerte. Die Schmerzen an meiner Hand ließen langsam nach, die Blutung hatte aufgehört. Trotzdem war da immer noch dieser Schmerz. Ganz tief drin. Wie ein Splitter in meinem Herzen. Er machte das Atmen schwer.   Ich gab mir einen Ruck, ging zu Leif und ließ mich neben ihm nieder. Die Wand war kühl in meinem Rücken, der Boden hart und Leif … Leif war warm. Unsere Arme berührten sich. Nur ganz leicht. Nur ein Stück.   Eine ganze Weile saßen wir so da.   „Was ist passiert?“, fragte ich irgendwann. Ich konnte es mir zwar denken, aber …   Leif atmete hörbar aus.   „Eigentlich weiß ich das gar nicht mehr so genau. Also schon. Ich sehe noch vor mir, wie sie ins Wohnzimmer kamen. Das entsetzte Gesicht meiner Mutter, als sie mich halbnackt mit einem Kerl auf ihrer Couch entdeckte. Das meines Vaters, wie er uns voller Abscheu musterte. Aber es war wie in einem Film. Alles lief total mechanisch ab. Ich bin mir nicht mal sicher, ob irgendjemand noch etwas gesagt hat. Ich wollte in dem Moment nur noch weg.“   Leifs Finger hatten sich ineinander gekrampft, dazwischen das Taschentuch mit meinem Blut. Ich wusste, dass ich wohl hätte etwas sagen sollen. Aber ich wusste nicht was. „Scheiße“, gab ich schließlich von mir. Das beschrieb es wohl am besten. „Ja, war es“, antwortete er. „Und heute, als Tobias auf einmal da stand und du weggerannt bist, da kam das alles wieder hoch. Nur deswegen bin ich so ausgerastet. Es tut mir leid.“ Ich spürte, wie er sich neben mir bewegte. Etwas streifte meine Hand.   „Und du? Was soll das da?“   Ich schnaufte. „So was Ähnliches.“   Es fühlte sich an, als würde ich ihn anlügen, aber das tat ich nicht. Ich schützte ihn nur. In diesem Moment ließ uns ein Räuspern aufsehen. Es war Tobias. Er stand in der Tür und hielt seine Miene möglichst neutral. „Ihr solltet wirklich langsam kommen“, sagte er. „Die anderen fangen an, Fragen zu stellen.“   Ich unterdrückte ein erneutes Schnauben. Na klar. Es war ja egal, dass die Welt gerade zusammenbrach. Hauptsache man war pünktlich beim Essen und putzte sich zweimal am Tag die Zähne. Dann war alles okay.   „Wir kommen“, sagte Leif an meiner Stelle. Mir war nicht nach Essen zumute, aber hatte ich eine Wahl? Gehorsam setzte ich mich in Bewegung. Als ich bei Tobias ankam, hielt er mich an, eine steile Falte zwischen den Brauen. „Was hast du mit deinen Händen gemacht?“   Ich grinste schief. „Wonach sieht’s denn aus?“ Tobias presste die Lippen aufeinander. „Ich dachte, wir hätten geklärt, dass du immer mindestens Bandagen anlegst. Du hättest dir was brechen können.“   Ich antwortete nicht darauf. Natürlich hatte er Recht, aber was sollte ich sagen? Dass es mir egal gewesen war? Dass ich es vielleicht sogar darauf angelegt hatte? Wobei das nicht stimmte. Nicht so ganz zumindest. „Wir müssen das desinfizieren, damit es sich nicht entzündet. In der Küche ist ein Verbandskasten.“   Wir gingen über den Flur. Leif halb vor mir, Tobias an der Spitze. Immer wieder sah Leif zu mir rüber. Erst, als wir in die Küche kamen, hörte er damit auf. Um den Tisch herum saßen schon die anderen. Es sagte jedoch niemand ein Wort. Nicht einmal Sven ließ sich zu einer Stichelei herab. Sie sahen nur stumm kauend zu, wie Tobias meine Hände verarztete und danach den Medizinschrank wieder abschloss, bevor er mich in Richtung Tisch schob.   „Los, Manuel. Setz dich.“   Er klang nicht gerade begeistert. Als wenn das alles meine Schuld wäre.   Für einen Moment überlegte ich, dagegen aufzubegehren. Was wollte er denn machen, wenn ich nicht gehorchte? Mich ohne Abendessen ins Bett schicken? Haha! Dann jedoch ging er an mir vorbei und setzte sich auf den Stuhl, auf dem ich sonst gesessen hatte. Der Platz zwischen ihm und Leif blieb frei.   Ich zögerte. Möglicherweise war es nur Zufall, aber vielleicht war es auch … ein Angebot? Was geschah, wenn ich es ausschlug? Würden Leif und ich dann getrennt?   Ohne noch weiter zu überlegen ging ich zum Tisch und ließ mich dort nieder.   Ich wagte nicht, in die Runde zu blicken. Mir war klar, dass die anderen wussten, dass etwas vorgefallen war. Ansonsten hätte kein so eisiges Schweigen geherrscht. Vermutlich dachten sie, dass ich etwas ausgefressen hatte. Nur zu, sollten sie. Mir war es egal, was sie von mir dachten.   „Nach dem Essen werden wir die wöchentliche Sitzung abhalten. Ich möchte mit euch die nächsten Tage besprechen. Das Wetter soll besser werden und wir planen, nächstes Wochenende einen Ausflug zu machen.“   „An den See?“, wollte Sven wissen. Seine vollen Backen ließen ihn wie eine pickelige Bulldogge aussehen.   „Ja, wahrscheinlich. Alternativ könnten wir ins Kino gehen. Je nachdem, worauf ihr mehr Lust habt.“   „Ich bin für Kino.“ „See.“ „Ich auch See.“ „Kino.“   Damit stand es zwei zu zwei. Sämtliche Augen richteten sich auf mich und Leif. Ich tat so, als wenn ich es nicht bemerkte. Leif jedoch ließ die Gabel sinken. „Ich bin an dem Wochenende nicht da.“   Seine Stimme zitterte kaum, aber ich merkte es trotzdem. Stand etwa schon wieder ein Wochenende bei seinen Eltern an? „Dann muss Manuel entscheiden“, rief Jason. „Na los, sag Kino!“ „Nee, See!“ „Klappe, lass ihn doch mal ausreden.“ „Kino!“   Ich war auf einmal das Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei war es mir so völlig egal, was wir machten. Wenn Leif nicht da war, hatte ich sowieso keine Lust dazu. „Meinetwegen Kino“, brummte ich und machte mich weiter über mein Essen her. Bauernfrühstück. Ob das Tobias’ Idee gewesen war? Es hatte doch mittags Nudeln gegeben.   „Ha, ich wusste es. Auf den Mann ist Verlass“, dröhnte Jason, während Nico und Sven rumstöhnten. „Wir werden in den Ferien bestimmt noch ein paar Mal baden gehen“, versprach Thomas. „Also regt euch wieder ab.“ „Dann mach ich dich fertig“, schwor Sven und warf mir einen mörderischen Blick zu. Ich bleckte lediglich die Zähne, bevor ich eine weitere Bratkartoffel dazwischen steckte. Vielleicht hatte Leif doch Recht. Bratkartoffeln gingen immer.   „Also, wie gesagt. Nach dem Essen ist noch Gruppenversammlung. Daher nicht verkrümeln, klar?“   Thomas sah in die Runde. Dass sein Blick dabei ein bisschen länger auf mir und Leif ruhte, war mit Sicherheit kein Zufall. Er wusste also Bescheid.   Aus den Augenwinkeln sah ich zu Leif rüber. Er aß, was schon mal nicht schlecht war. Aber wie konnte er so ruhig sein? Und wie würde es weitergehen? Tobias hatte gesagt, wir dürften zusammen sein. Aber wie sollte das gehen? Mein Kopf weigerte sich, sich das vorzustellen.   Und dann ist da noch das mit dem Essen. Die Klinik. Was mache ich, wenn Leif da hinmuss? Der Gedanke führte prompt dazu, dass ich keinen Hunger mehr hatte. Ich aß trotzdem noch ein bisschen weiter. Damit Leif sich nicht so alleine fühlte. Die anderen waren längst fertig und unterhielten sich. Größtenteils ging es ums Sprayen. Dennis stand Rede und Antwort zu den Fragen, die die anderen hatten. Natürlich wollten sie auch wissen, wo er schon überall gesprüht hatte. Er zuckte nur mit den Schultern. „Nichts, was von Belang wäre. Das Meiste ist eh schon gecovert oder gebufft worden. Aber wenn ich wieder draußen bin, werd ich vielleicht … na ja. Mal sehen, wo ich legal sprayen kann.“   Er verstummte und sah auf den Tisch hinab. Jason schlug ihm auf die Schulter. „Find ich gut, dass du das machen willst. Dein Bild sieht echt scheiße geil aus.“ Auch die anderen beeilten sich, dem zuzustimmen. Dennis zog den Schirm seines Caps ein bisschen nach unten, aber ich konnte sehen, dass er lächelte.   Mit halben Ohr hörte ich zu, wie weiter über Pläne für die Ferien und die letzten Wochen davor gesprochen wurde. Nico und Sven bekamen unbegrenzten Ausgang. Das hieß, sie mussten sich nur noch an- und abmelden. Wie schön für sie. „Manuel, du bekommst auch wieder Ausgang. Einmal die Woche für zwei Stunden. Hast du einen bestimmten Tag im Auge.“   Ich schreckte hoch und sah Tobias an wie ein Auto. Ich bekam Ausgang?   Tobias lächelte. „Ich denke, du bist so weit. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die Message angekommen ist. Da wird es Zeit, dass du wieder ein bisschen mehr Verantwortung für dein Leben übernimmst. Auch wenn es erst mal nicht viel ist.“   Verantwortung. Das Wort fühlte sich an, als hätte er mir ein Messer in die Hand gegeben. Es lag an mir, was ich daraus machte. „Leif, dein Ausgang bleibt wie gehabt bei vier Stunden die Woche. Wir müssen erst noch schauen, wie es bei dir weitergeht.“   Leif nickte. Er hatte ebenso wie ich bei der Versammlung nicht viel gesagt. Plötzlich hatte ich eine Idee. „Kann ich nicht auch vier Stunden haben?“   Sven lachte auf. „Vergiss es, Alter. Du bist gerade getürmt, schon vergessen.“ „Das war ein Versehen. Kommt nicht wieder vor.“ „Das sagen sie alle.“   „Jungs!“ Thomas sah streng in die Runde. „Ruhe, ja? Ihr wollt doch auch ins Wochenende, oder?“ Er wandte sich an mich. „Mehr Ausgang ist definitiv nicht drin. Aber wir können bestimmt noch ein bisschen Extra-Handyzeit einrichten. Da du ja eh nie telefonierst, wäre das wohl fair.“   Ich sah meine Felle davon schwimmen, aber zwei Stunden war besser als gar nichts.   „Kann man eigentlich auch zusammen Ausgang haben?“   Dass diese Frage vielleicht ein bisschen zu verräterisch war, ging mir erst auf, als mich einige fragende Blicke trafen. Ich setzte ein Grinsen auf. „Ich mein ja nur. Dann könnte ich mit Jason ins Kino gehen und wir könnten nächstes Wochenende doch an den See.“   Zustimmendes Brummeln war die Folge und jede Menge Augen, die sich jetzt auf die Erzieher statt auf mich richteten. Die sahen sich an. „Das müssen wir erst noch abklären“, sagte Thomas schließlich. Ich sah, dass Tobias eigentlich etwas dagegen einwenden wollte, aber er beließ es bei einem unzufriedenen Zucken des Mundes, das gleich darauf in einem fröhlichen Lächeln verschwand. „Na schön, dann sind wir für heute fertig. Schwirrt ab.“   Stühle wurden gerückt und die meisten sahen zu, dass sie rauskamen. Mich jedoch hielt Tobias zurück. „Manuel, wartest du nochmal kurz? Wir wollen noch was mit euch besprechen.“   Ich musste nicht fragen, was euch hieß. Als die anderen bis auf Leif und mich die Küche verlassen hatten, schloss Thomas die Tür. Als er wieder an den Tisch kam, sah er ernst aus. Er seufzte leicht. „Also … Tobias hat mir erzählt, was los ist. Er hat sich dafür ausgesprochen, die Sache nicht an Herrn Steiner weiterzumelden. Ich habe mich damit einverstanden erklärt, aber nur solange, wie das Ganze zivilisiert abläuft. Haben wir uns da verstanden?“   Ich sah von Leif zu Tobias und wieder zurück zu Thomas. „Zivilisiert?“, hakte ich nach. „Was soll das denn heißen? Wir sind schließlich keine Wilden.“   Thomas schmunzelte. „Nein, aber zwei Teenager. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte welche davon zu Hause.“   In mir brodelte es. Am liebsten hätte ich den beiden gesagt, dass sie das alles überhaupt nichts anging. Aber was hätte es genutzt. Sie saßen ja doch am längeren Hebel. Und wenn wir nicht spurten …   „Wir wollen euch helfen, okay?“, mischte sich jetzt Tobias ein. „Auch wenn ich zugeben muss, dass mir so was bisher noch nicht untergekommen ist …“   Er rang mit den Worten. Es war merkwürdig zu sehen, dass Tobias anscheinend nicht wusste, was er sagen sollte. Thomas fand dafür umso deutlichere. „Wir sind für euch verantwortlich. Das bedeutet nicht nur, dass wir euch mit jeder Menge Regeln nerven, sondern auch, dass wir euch beschützen. Wenn hier etwas passiert, was einem von euch Schaden zufügen könnte, werden wir es unterbinden. Solange das nicht der Fall ist, werden wir uns auch nicht einmischen.“ Er warf erst mir und dann Leif einen prüfenden Blick zu. Nachdem wir beide zustimmend genickt hatten, lächelte er. „Schön, dann ab mit euch. Ihr habt doch bestimmt was Besseres vor, als mit uns zusammen hier rumzuhängen.“   Ein bisschen unsicher erhob ich mich. „Wir … wir dürfen uns also besuchen, wenn wir wollen? Allein?“ Wieder schmunzelte Thomas.   „Natürlich. Wobei mich interessieren würde, wie ihr das Problem mit den Türen gelöst habt. Habt ihr euch einen Schlüssel nachmachen lassen? Den müsste ich dann nämlich einkassieren.“   Leif lachte leicht. „Nein, kein Schlüssel.“ „Und wie habt ihr es dann angestellt?“   Leifs Grinsen wurde breiter. „Das ist ein Betriebsgeheimnis.“   Er lachte immer noch, als er zu mir rübersah. Sein Grinsen ging in ein warmes Lächeln über.   „Und?“, fragte er. „Magst du mit zu mir kommen?“   Ich nickte.   „Klar. Wenn uns jemand aufschließt?“   „Das mache ich“, verkündete Tobias und stand ebenfalls vom Tisch auf. „Ich hab jetzt eh Feierabend. Henning übernimmt dann wieder die Nachtschicht. Also ärgert ihn nicht, ja?“   „Natürlich nicht.“ „Würden wir nie tun.“     Kurz darauf folgten wir Tobias schon zum zweiten Mal durch die Gänge. Dieses Mal ging es die Treppe rauf.   „Irgendwie irre, oder?“, flüsterte Leif mir zu. Ich nickte, ohne ihn anzusehen. Das war wirklich total irre.   Die Bilder im oberen Flur kamen in Sicht. Es roch nach Farbe und Schweiß. Keine besonders anheimelnde Mischung, aber irgendwie … vertraut.   Wir kamen an Leifs Taube vorbei. Als ich sie sah, wurde mir klar, dass sie ganz schön pummelig war. Fast schon dicker als Jasons Tiger. Passte gar nicht zu ihm. Doch bevor ich was dazu sagen konnte, waren wir schon daran vorbei. Vor uns klimperte Tobias mit den Schlüsseln.   „Soll ich euch beide Zimmer aufschließen, oder …?“   Er war stehengeblieben und sah uns unschlüssig an. Ich deutete mit dem Kopf auf Leifs Tür. „Die reicht. Ich sag dann nachher Bescheid, wenn ich bei mir reinwill.“ „Okay.“   Tobias öffnete uns und wir stiefelten brav nacheinander in Leifs Zimmer. Als wir drinnen standen, hörte ich Tobias leise seufzen. „Na schön, dann benehmt euch anständig. Dass mir morgen keine Klagen kommen. Und keine panischen Anrufe heute Nacht, weil einer fehlt, ja?“ „In Ordnung.“   Ich winkte ihm noch zum Abschied, bevor ich endlich die Tür mit Nachdruck hinter ihm schloss. Als ich mich zu Leif umdrehte, stand der mitten im Zimmer. „Und jetzt?“ „Weiß nicht.“   Einen Augenblick lang blieb ich noch an der Tür stehen, bevor ich mich entschlossen davon abstieß und zum Bett rüberging. „Darf ich?“ „Klar.“   Ich setzte mich und Leif gesellte sich zu mir. Eine ganze Weile saßen wir nur da und schwiegen uns an. Plötzlich hörte ich Leif leise lachen. Fragend sah ich zu ihm rüber. „Ich musste nur gerade an diesen Satz aus Batman denken. Wo der Joker sagt: 'Ich bin ein Hund, der Autos nachjagt. Ich wüsste gar nicht, was ich damit machen soll, wenn ich eins erwische.' Genauso fühle ich mich gerade.“   Ich lachte ebenfalls. „Du fühlst dich wie der Joker?“ „Nein, wie ein Hund mit einem Auto.“   Leif sah mich jetzt richtig an. In seinen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck. „Das ist schräg oder?“   Ich hob die Schultern ein winziges Stück.   „Weiß nicht. Kommt darauf an, ob dir das Auto gefällt.“   Leif lächelte.   „Ja, sehr.“ „Na, dann ist doch alles in Butter.“   Wieder sahen wir uns an. Noch vor ein paar Wochen wären wir jetzt wohl bereits übereinander hergefallen. Hätten uns womöglich schon fast wieder voneinander verabschiedet. Und jetzt? Jetzt saßen wir hier und sahen uns stundenlang in die Augen. Wie schnulzig. Trotzdem hätte ich ihn noch ewig ansehen können. Bis es irgendwann nicht mehr reichte. Bis ich mehr wollte.   Den Blick immer noch mit seinem verflochten legte ich eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu mir heran. Als unsere Lippen sich berührten, seufzte er leise. Ich nahm das als Aufforderung und küsste ihn noch einmal. Gemeinsam sanken wir auf das Bett. Streichelten uns. Küssten uns. Immer wieder. Seine Hände fuhren über meinen Rücken und schlüpften unter mein Shirt. Ich erschauderte, als ich seine Finger auf meiner Haut spürte. Langsam glitten sie abwärts. Ein bekanntes Kribbeln begleitete ihren Weg. Schließlich hob Leif den Kopf und sah mich an. Er lächelte leicht. „Was ist?“, fragte ich, als er nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht damit aufgehört hatte. „Ach nichts“, sagte er und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich mein Herzschlag beschleunigte. „Es war nur so ein Gedanke.“   „Ein guter Gedanke?“ „Ja.“   Immer noch sah er mich an. Als wäre ich etwas Kostbares, etwas Besonderes. Wir waren uns so unendlich nahe. Wieder beugte ich mich vor und küsste ihn. Meine Lippen streichelten seine, bevor sie sich teilten und ich leicht mit der Zunge über seine Unterlippe fuhr. Er erwiderte die Berührung ebenso sacht. Es war wie ein Stromstoß, der durch meinen ganzen Körper lief. Instinktiv intensivierte ich den Kuss. Meine Hand fand ihren Weg unter seine Kleidung. Ich nahm, was ich zu fassen bekam. Leifs Atem wurde schneller. Ich spürte seine Erregung an meinem Bein. Keuchend unterbrach ich den Kuss. „Ich wäre für Ausziehen.“ „Ich auch.“   In Windeseile befreiten wir uns von unseren Klamotten. Vollkommen nackt ließen wir uns wieder auf das Bett gleiten. Die Decke wurde unser Zelt, unsere Höhle, unser Unterschlupf. Erneut fanden sich unsere Lippen zu einem Kuss. Das Mehr an nackter Haut machte mich an. Ich konnte ihn spüren. Überall an mir. Seine Beine zwischen meinen, seinen Körper an meiner Brust. Seine Hände, wie sie über meinen bebenden Bauch strichen. Wie sie mich anfassten. Den Blick auf mein Gesicht gerichtet, die Hand zwischen uns, begann Leif uns zu wichsen. Langsam und vorsichtig. Ich biss mir auf die Lippen. Das Gefühl von seinem Schwanz an meinem war so … anders. Nicht nur geil, das auch, aber ihn so zu spüren war merkwürdig … intim. So nannte man das wohl. Ich wollte bei ihm sein. Ihn streicheln, berühren. Ich wollte, dass er wusste, wie schön ich ihn fand. Dass ich alles von ihm wollte und noch mehr. Dass ich ihm geben wollte, was immer er verlangte. Was immer er brauchte. Er küsste mich. Sah mich an. „Du bist so …“   Ich ließ ihn nicht ausreden. „Du auch!“   Mein Herz raste in meiner Brust. Gleichzeitig war da eine seltsame Ruhe. Als würde ich genau hierher gehören. Hier in dieses Bett. Mit ihm. Und ich wusste, ich hoffte, dass es ihm genauso ging. Ich hoffte es so sehr.   „Schlaf mit mir.“   Die Worte waren heraus, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Erstaunen erschien in seinem Blick. „Jetzt?“ „Ja. Warum nicht?“   Meine Stimme war abgehackt, als wäre ich zu schnell gerannt. Er lächelte. Schwankte zwischen Unglauben und Freude. Freude! „Willst du das wirklich?“ „Ja. Mehr als alles andere.“   Ich wollte ihn endlich spüren. Er zögerte.   „Und du bist dir ganz sicher?“   Ein Lachen drängte meine Kehle hinauf. Warum fragte er denn nur so d… oh. Deswegen.   „Du bist Top?“   Ein weiteres Lächeln. „Nicht zwingend, aber … vielleicht … dieses Mal?“ Sein Blick begann zu flackern. Unsicherheit trat an die Stelle, die gerade noch etwas anderes ausgefüllt hatte. Ich hatte zu lange gezögert. „Ja. Ja, ich mache es“, versicherte ich schnell. Er sollte nicht gehen.   „Wirklich?“   Noch einmal horchte ich in mich hinein. Unter anderen Umständen und vermutlich zu jedem anderen, hätte ich wohl Nein gesagt. Aber bei Leif war das anders. Bei ihm hatte ich keine Angst. „Ja.“   Leifs Augen beruhigten sich. Da war wieder dieser warme Glanz. Ein Glanz, der anschwoll, der überfloss und dann … tropfte etwas Warmes, Feuchtes auf meine Wange. Leif schreckte hoch. „Ach Scheiße!“ Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Lachte. Seine Augen glänzten immer noch. Erneut versuchte er, sich hinter einem Lachen zu verstecken. Aber es funktionierte nicht. Ich sah, dass er weinte.   Ohne zu fragen, warum und weshalb, zog ich ihn in meinen Arm. Ich rückte neben ihn und bettete seinen Kopf an meiner Schulter. Dort hielt ich ihn einfach fest und wartete, dass seine Tränen versiegten und sein Atem sich beruhigte. Es dauerte nicht lange, aber die Stimmung war definitiv gekillt. „Tut mir leid“, sagte er, nachdem wir eine Weile lang einfach nur da gelegen hatten. „Das war … so nicht geplant.“   Seine Stimme klang rau, aber gefasster. Ich atmete tief durch.   „Kein Problem. Es war ein anstrengender Tag.“ „Okay“, antwortete er und schwieg eine Weile. Dann fing er wieder an. „Und du bist nicht sauer?“ „Nein.“ „Wirklich nicht.“ „Hör auf zu fragen.“   Leif rückte näher an mich heran, die Hand auf meiner Brust, den Rest seines Körpers dicht an mich gedrängt. Ich spürte ihn überall. Es war ein gutes Gefühl.   Kapitel 24: Vertrauen --------------------- Der Ausdruck auf Dr. Leiterers Gesicht sprach Bände. Er sah aus wie eine Katze, die soeben den Goldfisch und den Kanarienvogel verspeist hatte. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu und schloss die Tür. Dahinter ging Leif gerade durch den Flur in Richtung Wartezimmer. Er hatte seinen Termin vor mir gehabt. Was er dem Doc wohl erzählt hatte? Von uns. Vom Wochenende. Von allem. „Hallo Manuel. Schön, dass du wieder hier bist. Wie geht es dir?“ Ich knurrte. „Das wissen Sie doch bestimmt schon.“ Dr. Leiterer hob die Augenbrauen. „Wie kommst du darauf?“ „Na wegen Leif. Er hat doch bestimmt schon erzählt, dass wir …“ Ich verstummte. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich so sauer war. Das hinter mir liegende Wochenende war toll gewesen. Leif und ich hatten jede Menge Zeit miteinander verbracht. Zwischen den Mahlzeiten, den Diensten, den gemeinsamen Aktivitäten wie Sport und natürlich dem Sprayen mit Cedric, hatten wir immer wieder Zeit gefunden, miteinander allein zu sein. Manchmal nur kurz, abends meistens länger. Geredet hatten wir in der Zeit kaum. Eher andere Dinge gemacht. Meist mit wenig Klamotten am Leib. Wieder ein Schmunzeln. Natürlich wusste Dr. Leiterer Bescheid. Ich kam mir dämlich vor. Er zeigte auf den Stuhl vor mir. „Vielleicht möchtest du erst einmal setzen? Und dann fangen wir ganz von vorne an, ja?“ Immer noch ein bisschen angepisst setzte ich mich auf den Stuhl. Er wippte unter mir. Ich rückte mich zurecht, bevor ich Dr. Leiterer endlich ansah. Er lächelte leicht. „Wir haben ja letzte Woche telefoniert und über die Liste für dein Tagebuch gesprochen. Hast du sie mitgebracht?“ Ich schüttelte den Kopf. Den Zettel hatte ich irgendwie vergessen. Dr. Leiterer schnaufte ein bisschen. „Nun gut. Du hast mir ja schon gesagt, was darauf steht. Möchtest du über einen der Punkte reden?“ Wieder bewegte sich mein Kopf von rechts nach links. Eigentlich gab es da nur eine Sache, die mich interessierte. Leif. Aber Dr. Leiterer hatte mir gesagt, dass er mir nichts über ihn erzählen würde. Was also sollte ich hier? „Und worüber möchtest du reden?“ Ich sah zum Fenster. Draußen schien die Sonne. Der Sommer kam näher. Früher hatte ich mich immer auf Sommer gefreut. Lange Nächte draußen zu verbringen. Trinken, Feiern, im Sommer war alles leichter. „Weiß nicht“, sagte ich, bevor Dr. Leiterer noch einmal nachfragen konnte. Als ich mit Tobias im Wartezimmer gesessen und mich hinter einer Zeitung verschanzt hatte, hatte ich noch tausend Dinge im Kopf gehabt. Dinge, die ich Dr. Leiterer fragen wollte. Dinge, die ich mit ihm besprechen wollte. Aber jetzt? Jetzt war mein Kopf wie leergefegt. „Gut, dann werde ich mal eine Frage stellen und wir sehen, wie weit wir kommen. In Ordnung?“ Ich nickte. Was sollte ich auch sonst machen? Wir konnten uns ja wohl kaum die ganze Zeit lang anschweigen. Dr. Leiterer nahm seinen Block und einen Stift zur Hand. „Also schön, dann möchte ich zunächst noch ein wenig mehr über diesen Benedikt erfahren. Während unseres Telefongesprächs warst du unsicher, warum du seinen Namen aufgeschrieben hast. Ist dir darauf inzwischen eine Antwort eingefallen?“ Mein Magen sackte mindestens fünf Zentimeter nach unten. Wie konnte der Doc nur mit solcher Zielsicherheit genau die Punkte finden, an denen er mich treffen konnte? Bekam man so was in der Ausbildung zum Psychologen beigebracht? Wie man sein Gegenüber am besten fertigmachte? Ich atmete hörbar aus. „Nicht so richtig. Ich denke, dass ich vielleicht … ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mir Gedanken darüber gemacht, was ich bei ihm falsch gemacht habe. Damit mir das mit Leif nicht passiert.“ Dr. Leiterer notierte sich etwas. Komischerweise machte es mir dieses Mal nichts aus. Vielleicht,w eil ich das Gefühl hatte, die richtige Antwort gegeben zu haben. Als er fertig geschrieben hatte, blickte er auf. „Vertraust du Leif?“ Die Frage war irgendwie merkwürdig. Aber ja, das tat ich. Auch wenn ich nicht so recht begründen konnte, warum. Aber das wollte Dr. Leiterer auch gar nicht wissen. Stattdessen fragte er etwas anderes. „Wie fühlt sich das an?“ „Was?“ „Jemandem zu vertrauen?“ Wieder sah ich zum Fenster. Da war plötzlich so ein Druck auf meiner Brust. Als könnte ich nicht atmen. „Es ist schön“, sagte ich, ohne ihn anzusehen. Das war doch sicher das, was er hören wollte. „Aber …?“ Ich wusste genau, dass er mich jetzt fragend ansah. Plötzlich wollte ich nur noch weg. Ich wollte diese Frage nicht beantworten. Ich wollte gar keine Fragen mehr beantworten. Dr. Leiterer seufzte. „Gut, dann kehren wir doch noch einmal zu Benedikt zurück. Hat er dir vertraut?“ Ich hätte beinahe gelacht. Der Doc wusste wirklich, wie man jemanden fertigmachte. „Und, Manuel, was denkst du?“, hakte er nach. „Hat er dir vertraut?“ Ich musste nicht lange überlegen, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wie oft hatte ich mich im Stillen darüber lustig gemacht, wie naiv Bambi war. Immerhin hatte er sich bei unserem zweiten Treffen von mir einen blasen lassen. Von mir. Einem völlig Fremden. Der nicht einmal besonders nett zu ihm gewesen war. Warum wusste ich selber nicht. „Ja, hat er“, sagte ich leise. „Aber es wäre vielleicht besser, er hätte es nicht getan.“ „Warum das?“ Dieses Mal lachte ich wirklich. „Ich dachte, das hätten wir geklärt. Weil ich ihn ohne ein Wort hab sitzen lassen. Weil ich sogar … ach, nicht so wichtig.“ Ich sah zur Seite. Damals war es mir richtig vorgekommen, wie ich mich verhalten hatte. Oder wenigstens hatte ich es mir eingeredet. Dass ich nie auf seine Nachrichten geantwortet hatte. Gekommen und gegangen war, wie es mir passte. Dass ich seine Fragen abgeblockt und ihn sogar beschimpft hatte. Dabei hatte er sich von all dem nicht abschrecken lassen. Er war immer wieder gekommen. Wie so ein großer, wuscheliger Hütehund. Immer wieder. „Ich hab ihn auf Abstand gehalten. Ich wusste ja, dass ich bald wieder weg muss. Es wäre dumm gewesen, was Festes mit ihm anzufangen.“ Dr. Leiterer notierte sich etwas. „Warum wäre das dumm gewesen?“ Ich schnaubte. „Ist das ne ernst gemeinte Frage?“ Er lächelte. „Ja, ist es.“ Ich lachte auf und drehte den Kopf wieder weg. „Weil es … weil es wehgetan hätte, ihn zu verlieren.“ Hatte es trotzdem. Weil ich ein Idiot war. „Du hattest Angst davor, verletzt zu werden.“ So, wie der Doc es sagte, klang es, als wäre ich ein absolutes Weichei. Dabei war ich das nicht. Ich war nicht weich. „Gut, dann habe ich noch eine andere Frage. Du bist nun eine Beziehung mit Leif eingegangen. Was denkst du, ist bei ihm anders?“ Ich blinzelte. Die Frage war lächerlich. An Leif war so ungefähr alles anders. Er war kleiner, vollkommen anders gebaut, andere Augenfarbe, allenfalls die Haare gingen in eine ähnliche Richtung. Ansonsten war er ein ganz anderer Typ. Als ich den Doc jedoch ansah, wusste ich, dass er das nicht gemeint hatte. Ich atmete tief durch. „Ich weiß nicht. Leif ist … Leif ist total anders als Bambi. Er ist nicht so … unschuldig. Da kann ich nicht so viel kaputtmachen.“ Zumindest hatte ich das anfangs gedacht. „Mhm, ich verstehe. Heißt das, bei ihm hast du keine Angst, dass er dich verlässt?“ Ich blinzelte. Was war das den für eine blöde Frage? „Leif kann mich gar nicht verlassen. Wir sind zusammen eingesperrt, schon vergessen?“ Jetzt war es Dr. Leiterer, der lächelte. „Sicher. Aber das heißt ja nicht, dass ihr eine Beziehung miteinander haben müsst. Schließlich hast du noch andere Mitbewohner und mit denen hast du nichts angefangen.“ „Die sind ja auch hetero“, brummte ich ungehalten. Nicht, dass ich mir hätte vorstellen können, was mit Sven zu haben. Oder Jason. Allein der Gedanke! Wieder lächelte der Doc. „Es liegt somit rein an der sexuellen Orientierung, dass ihr zusammengefunden habt?“ Ich zuckte mit den Schultern. Was wusste ich denn. Angefangen hatte es schließlich damit. Ohne das wäre wohl nie was passiert. „Und außerdem glaube ich, dass doch sowohl du wie auch Leif die Möglichkeit hättet, Thielenesee zu verlassen. Ist es nicht so?“ Ich antwortete nicht, aber ich wusste, wovon er sprach. Tatsächlich hätten Leif und ich aus dem Heim rausgekonnt, wenn wir gewollt hätten. Für immer. Ohne über irgendwelche Mauern zu klettern. Wir konnten dem anderen einfach den Rücken kehren. Auch wenn die Alternative um ein Vielfaches beschissener war. Für beide von uns. „Und?“ Dr. Leiterer sah mich immer noch an und wartete offenbar auf eine Antwort. Ich verzog den Mund zu einem halben Lächeln. „Ja, stimmt schon. Aber ich glaube nicht, dass einer von uns beiden da hin will, wo wir dann hinkämen.“ „Dann bleibst du also nur deswegen?“ Eigentlich hätte ich gedacht, dass ich über diese Frage länger nachdenken musste. Aber ich brauchte keine Bedenkzeit. Ich wusste, was ich wollte. „Nein, ich bleibe nicht nur deswegen.“ „Sondern?“ Ich lachte leicht. „Muss ich das jetzt echt sagen?“ „Ich weiß nicht. Möchtest du nicht?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ Ich stöhnte. Der schaffte mich heute echt. Dr. Leiterer schmunzelte wieder. Er notierte sich etwas und ich hätte ihm am liebsten das Klemmbrett weggenommen. Vielleicht, damit ich selbst was zum Festhalten hatte. Oder um es ihm über den Schädel zu ziehen. Oder es aus dem Fenster zu schmeißen. So ganz sicher war ich mir da nicht. „Na schön, dann höre ich mal auf, dich wegen deines Liebeslebens zu löchern, und wir kommen mal zu den anderen Punkten auf deiner Liste zurück. Womit möchtest du anfangen?“ Ich biss mir auf die Lippen. Jetzt wollte er bestimmt über meine Familie sprechen. Meine Eltern und die Sache mit Pascal. Wenn ich daran dachte, bekam ich gleich wieder dieses Gefühl. Das Gefühl, mich zusammenrollen zu wollen. Mich vor der Welt zu verstecken und niemand an mich ranzulassen. Aber das ging jetzt nicht mehr so einfach. Denn da war jemand, vor dem ich mich nicht verstecken konnte. Oder wollte. Auch wenn das hieß, dass ich mich damit angreifbar machte. Aber zunächst … „Dr. Leiterer?“ Er blickte auf. Ich hatte ihn noch nie so angesprochen. „Also eigentlich hätte ich da noch was anderes, das ich Sie fragen wollte.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mich aufmerksam an. „Ja?“ Ich schluckte. Am liebsten hätte ich jetzt doch lieber über Pascal geredet. Oder meine Mutter. Da war doch bestimmt ne Menge rauszuholen. So ein Ödipus-Dings oder so. Aber ich wusste, dass es gerade etwas Wichtigeres gab. Etwas viel Wichtigeres. Na los. Trau dich. „Ich … ich würde gerne wissen … warum jemand so wird wie Leif. Dass er nicht isst.“ Für einen Moment saß Dr. Leiterer nur still da. Die Frage hatte er anscheinend nicht erwartet. Ich eigentlich auch nicht, denn wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich mich lieber mit meinem Handy in eine Ecke verzogen und hätte das selbst gegoogelt. Aber die Zeit hatte ich nicht. Ich musste jetzt wissen, wie ich Leif helfen konnte. „Mhm“, machte Dr. Leiterer. „Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Die Gründe dafür sind vielfältig.“ Meine Zähne bohrten sich in meine Unterlippe. Ich wusste, dass meine Stunde hier schon halb rum war. Aber ich brauchte diese Infos. Ich brauchte sie dringend. „Können Sie mir nicht wenigstens ein bisschen was erzählen? Ich … ich will Leif nicht danach fragen, aber …“ Ich zog die Schultern hoch und sah ihn bittend an. Er seufzte noch einmal. „Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich klug ist, dir zu viel darüber zu erzählen. Diese Krankheit, die im Voljsmund auch Magersucht genannt wird, ist sehr individuell. Es gibt nicht den Grund, den Auslöser. Manchmal liegt ein Missbrauch vor, der dann zu einer Ablehnung des eigenen Körpers führt. Oft fängt es jedoch ganz harmlos an. Mit einer Diät, ein bisschen mehr Sport. Einige Patienten haben mir erzählt, wie gut es sich angefühlt hat, deswegen Bewunderung und Beachtung zu bekommen, die ihnen davor nicht zuteil wurde. Wieder andere leben dadurch eine Kontrolle aus, die sie in anderen Lebensbereichen nicht haben. Sie fühlen sich stark dadurch, das sie so viel Disziplin haben. Nicht-Essen wirkt dabei wie eine Droge, von der man mit der Zeit immer mehr will. Man kann immer noch weniger essen, noch weniger wiegen, noch schlanker sein. Doch die Befriedigung ist meist nur von kurzer Dauer, dann muss der nächste Kick her. Die nächstniedrigere Zahl auf der Waage, die nächstkleinere Kleidergröße. Nur wer abnimmt, fühlt sich gut. Deswegen nennt man es auch eine Sucht. Zumal andere Dinge wie schulische oder berufliche Leistungen, Freundschaften oder familiäre Bindungen immer mehr an Bedeutung verlieren. Es zählt nur noch die Bestätigung, die man durch das Abnehmen erhält. Doch der Weg ist tückisch, denn was zunächst als Plan begann, sich fitter und besser zu fühlen, führt irgendwann zu Mangelerscheinungen, Untergewicht und schließlich zum Tod.“ Als Dr. Leiterer das gesagt hatte, schwieg er einen Augenblick. Ich atmete langsam ein und aus. „Aber Leif wird doch nicht sterben, oder?“ Dr. Leiterer gönnte mir ein kleines Lächeln. „Du weißt, dass ich nicht mit dir darüber sprechen darf. Denn das wäre nicht nur rein rechtlich nicht erlaubt, es wäre auch ein Vertrauensbruch. Immerhin verlässt sich Leif darauf, dass ich die Dinge, die er mir anvertraut, nicht weitertrage.“ Ich presste die Lippen aufeinander. Einerseits verstand ich das ja. Aber andererseits saß ich halt daneben und bekam mit, wie es ihm ging. Ich merkte, wenn er Schwierigkeiten beim Essen hatte. Und ich sah, wie schlank er war. Wie konnte er da denken, dass es gut war, wenn er noch mehr abnahm? Als ich Dr. Leiterer danach fragte, nickte er bedauernd. „Das gehört mit zu dieser Krankheit. Die Betroffenen sehen nicht das, was andere sehen. Sie empfinden sich selbst mit Untergewicht noch als zu dick, zu viel, unförmig. Die Sucht lässt sie denken, dass sie noch mehr abnehmen müssen, um gut und richtig zu sein. Der erste Schritt aus der Krankheit, ist die Einsicht, überhaupt krank zu sein. Zu erkennen, dass das Bild, das ihnen der Spiegel zeigt, nicht die Realität ist. Von dort aus muss dann der Wunsch vorherrschen, wieder gesund zu werden. Sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und die Kontrolle nicht mehr der Krankheit zu überlassen. Aber das ist manchmal ziemlich schwer. Besonders, wenn man sich Problemen stellen muss, die man allein nicht bewältigen kann.“ Ich blickte auf. „Sie meinen Leifs Eltern?“ Dr. Leiterer hob abwehrend die Hände. „Das habe ich nicht gesagt und auch nicht gemeint. Ich wollte dir nur erklären, warum es sein kann, dass es trotz der Einsicht, dass man etwas ändern muss, manchmal schwer sein kann, seine guten Vorsätze durchzuhalten. Es kann immer wieder zu Situationen kommen, in denen die Krankheit das Einzige zu sein scheint, was einem noch Halt bietet. In solchen Momenten kann es hilfreich sein, wenn man jemanden hat, dem man sich anvertrauen kann. Dem man davon erzählen kann, ohne verurteilt zu werden. Der einfach nur zuhört und für einen da ist.“ Er lächelte, bevor sein Gesicht wieder ernst wurde. „Ich sollte dich allerdings warnen. Lass dich nicht zum Komplizen machen. Diese Krankheit ist oft mit Lügen und Heimlichkeiten verbunden. Dir mag es so vorkommen, dass du Leif damit hilfst, wenn du ihn deckst, aber in Wahrheit ist es nur die Krankheit, die du unterstützt. Versuch aber auch nicht, ihn zum Essen zu überreden oder gar zu zwingen. Kommentiere nicht, was und wie viel er isst. Lass Leif das machen. Es ist seine Krankheit und nur er kann dafür sorgen, dass sie verschwindet. Am besten lässt du gar nicht erst zu, dass das Essen zwischen euch zu so einem großen Thema wird.“ Ich schwieg und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Das war eine ganz schöne Ansprache, die der Doc da gehalten hatte. Aber mein wichtigstes und dringendstes Problem hatte er dabei nicht angesprochen. Leifs drohende Klinik-Einweisung. Es musste doch irgendetwas geben, was ich tun konnte, um das zu verhindern. Denn eigentlich war er doch gar nicht so dünn. Zumindest nicht so, dass man Angst haben musste, dass er zusammenklappte. Da war diese Scheiße mit der Klinik doch einfach nur Schikane. Es war ungerecht. „Wenn ich mir angucke, wie du deine Kiefer aufeinanderpresst, sollte ich mir überlegen, ob ich nicht lieber Zahnarzt werden sollte. Dein Gebiss zu erneuern würde bestimmt ein hübsches Sümmchen bringen.“ Dr. Leiterer lachte über seinen eigenen Scherz. Mir war jedoch nicht zum Lachen zumute. „Die wollen Leif in eine Klinik schicken“, platzte ich heraus. Dr. Leiterer sah mich abwartend an. „Und?“ „Sie müssen das verhindern.“ Er lächelte schmal. „Und verrätst du mir auch, wie ich das anstellen soll?“ „Was weiß denn ich“, raunzte ich. „Reden Sie mit Herrn Steiner. Sagen Sie ihm, dass das nicht geht, weil … weil Leif unbedingt weiter bei Ihnen zur Therapie gehen muss. Dass er sonst nicht gesund wird. Irgendwie so was.“ Ich wusste, dass ich mich total lächerlich anhörte, aber wenn irgendjemand diese Sache aufhalten konnte, dann er. Dr. Leiterer seufzte. „Ich fürchte, dass ich diesbezüglich nicht einfach lügen kann. Denn sicherlich sind auch andere Therapeuten in der Lage, Leif zu helfen. Ich bin kein Wunderheiler.“ Ich hätte am liebsten in die Lehne des blöden Sessels gebissen. Warum begriff er denn nicht? „Dann schreiben Sie wenigstens eine Empfehlung, dass Leif nicht mehr nach Hause gehen darf. Wenn er von da wiederkommt, isst er meistens nichts. Und nächstes Wochenende muss er da wieder hin und wenn er wieder abnimmt, dann … dann nehmen die ihn mit.“ Eine Weile lang sagte Dr. Leiterer gar nichts. Er saß einfach nur da und sah auf seine Notizen hinab. Ich hingegen saß auf der äußersten Stuhlkante und wäre am liebsten aufgesprungen und durchs Zimmer gelaufen. Aber ich wagte nicht, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Vielleicht kam ja doch etwas dabei heraus. Irgendwann atmete er tief durch. „Es wäre möglich, mich mal mit Herrn Steiner zu unterhalten. Ich bin überzeugt, dass er nur das Beste für Leif im Sinn hat. Allerdings könnte das anhand der Umstände vielleicht etwas anderes sein, als er annimmt.“ Ich wollte gerade anfangen zu lächeln, als mir plötzlich klar wurde, dass mit den „Umständen“ wohl ich gemeint war. Mein Gesicht gefror zu einer Grimasse. „Also eigentlich … eigentlich weiß Herr Steiner nichts von den … Umständen, in denen Leif sich befindet. Und eigentlich sollte das auch so bleiben.“ Dr. Leiterers Augenbrauen bewegten sich in Richtung Haaransatz. „Ach, und warum nicht?“ Ich druckste ein wenig herum. „Na ja, weil Tobias der Ansicht ist, dass er uns dann vielleicht voneinander trennt. Sie wissen schon. Wegen der Gruppe und so. Und damit wir nicht … na ja.“ „Es waren zwei Königskinder“, murmelte Dr. Leiterer, bevor er erneut seufzte. Dieses Mal klang es ein bisschen resigniert. „Na gut. Dann muss ich sehen, ob mir einfällt, wie wir dafür sorgen können, dass Herr Steiner euch zwei Turteltauben in einem Nest lässt. Aber das letzte Wort in dieser Sache hat immer noch Leif. Ich kann und werde nichts unternehmen, ohne dass er dem zustimmt. Das muss dir klar sein.“ Ich nickte schnell. Was sollte Leif schon dagegen haben? Er konnte wohl kaum zu seinen Eltern wollen, wenn die so arschig waren, wie er sagte. „Dann machen Sie es?“ Dr. Leiterer setzte zu einem neuen Seufzen an, bevor er es sich anders überlegte, und stattdessen den Mund zu einem schmalen Strich verzog. „Ich sagte, ich werde darüber nachdenken. Nicht alles lässt sich rein aus dem Bauch heraus entscheiden.“ Ich nickte noch einmal, obwohl ich das nicht wirklich verstand. Für mich war die Sache sonnenklar. Aber da der Doc am längeren Hebel saß, musste ich wohl die Füße still halten. Draußen ertönte mal wieder das nervtötende, schrille Klingeln. Dr. Leiterer drückte den Knopf für den Türöffner. „So, wie du hörst, neigt sich unsere Zeit mal wieder dem Ende entgegen. Hast du sonst noch irgendeine dringende Frage, die ich dir beantworten kann?“ Ich überlegte. Da war schon etwas, das ich wissen wollte, aber vermutlich würde er mir die Frage nicht beantworten. Ich würde Leif selbst danach fragen müssen. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Ich glaube, das war alles für heute.“ Dr. Leiterer lächelte. „Dann wünsche ich dir eine gute Woche. Und bring bitte das nächste Mal die Liste mit. Ich möchte mit dir daran weiterarbeiten.“ Ich nickte brav und verabschiedete mich. Draußen auf dem Flur hörte ich eine Frauenstimme aus dem Wartezimmer. Sie telefonierte. „Ja. Ja, natürlich bringe ich dir deine Tabletten mit. Ich hole sie nachher aus der Apotheke. Nein, ich habe den Abholzettel nicht vergessen. Er ist in meinem Portemonnaie. Ja, Mama, bis nachher.“ Die Frau legte auf und sah mich an der Tür stehen. „Mütter“, meinte sie und rollte mit den Augen. Ich erwiderte ihr Lächeln nicht. Ein wenig irritiert, wandte sie sich ab und setzte sich auf einen Stuhl. Noch bevor sie sich eine Zeitschrift ausgesucht hatte, hatten sich Tobias und Leif erhoben. „Bist du fertig? Können wir los?“ Tobias’ Frage war eigentlich überflüssig. Immerhin stand ich ja hier und die nächste Patientin wartete schon. Mein Blick glitt zu Leif. Er lächelte. „Alles klar bei dir?“ „Ja, alles bestens“, antwortete ich und schob meine Mundwinkel ebenfalls nach oben. Er sah mich komisch an, fragte aber nicht weiter nach. Wir gingen nach unten. „Sagt mal, ihr beiden, wollt ihr nicht vielleicht … noch ne Runde spazieren gehen? Dann kann ich den Artikel noch zu Ende lesen, den ich gerade angefangen habe.“ Tobias hielt sein Handy hoch. Leif und ich blieben stehen. „Wie jetzt? Wir beide? Allein?“ „Ja, warum nicht?“ Tobias machte ein unschuldiges Gesicht, als wäre das das Normalste auf der Welt. Mir jedoch wurde heiß und kalt. Sollte das heißen, er ließ uns von der Leine? Ohne Garantie, dass wir das nicht ausnutzten? Ein wenig unsicher schielte ich zu Leif, der jedoch ebenso überrascht schien wie ich. Er war somit auch nicht eingeweiht. „Bist du dir sicher?“, fragte ich nach. Tobias lächelte. „Ja, bin ich. Weil ich mich darauf verlasse, dass ihr das Richtige tun werdet. Also wollt ihr nun oder nicht? Sonst bitte einsteigen.“ Er öffnete schwungvoll die Tür und machte eine einladende Geste. Ich sah Leif an. „Sollen wir?“ Er grinste. „Auf jeden Fall.“ Wie auf Kommando drehten wir uns um und begannen, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Dabei wurden unsere Schritte immer schneller und schneller, bis wir irgendwann anfingen zu rennen. Die Leute, die uns auf dem Bürgersteig entgegenkamen, musterten uns kritisch oder riefen uns etwas nach, aber wir kümmerten uns nicht darum. Wir machten nur, dass wir wegkamen. Weit weg von Tobias und allem, was uns sonst noch zurückhielt. Wir waren frei. Wenigstens für eine Weile. Zwei Häuserblocks weiter, wurde Leif langsamer. Irgendwann blieb er stehen. Sein Atem ging schnell und seine Wangen waren gerötet. Er grinste. „Das war echt irre“, sagte er und keuchte dabei. „Absolut“, bestätigte ich. Auch ich schnappte nach Luft. Es rauschte in meinen Ohren. Leif scannte mein Gesicht. „Ist wirklich alles okay?“, fragte er unvermittelt. Ich runzelte die Stirn. „Klar. Warum nicht?“ Er zuckte leicht mit den Schultern. „Du sahst vorhin so nachdenklich aus, als du bei Dr. Leiterer rauskamst:“ Mein Gesicht verzog sich zu einem schmalen Lächeln. „Der Doc nimmt mich ja auch jedes Mal ziemlich in die Mangel. Ich sag dir, wenn ich die Wahl hätte, würde ich mir lieber die Haare abrasieren lassen, als mich in diesen Stuhl zu setzen.“ Leif grinste. „Oder die Beine entwachsen.“ Ich riss die Augen auf. „Hast du das etwa schon mal gemacht?“ Er lachte. „Nein. Aber gehört, dass es scheiße wehtut. Die reinste Folter.“ Einen Moment lang grinsten wir uns an, bevor Leif den Blick senkte und sich räusperte. „Sollen wir weitergehen?“ „Okay.“ Ich drehte mich um und fing an, den Bürgersteig entlangzulaufen. Leif folgte mir und schloss zu mir auf, sodass wir nebeneinander die Straße entlang gingen. An der nächsten Ecke konnte ich die gestreifte Markise des Eiscafés erkennen, zu dem wir mit Tobias sonst immer gingen. Vor dem Tresen stand eine kleine Schlange. Leute mit Eistüten kamen uns entgegen. Ich sah zu Leif rüber. „Wollen wir ein Eis essen gehen?“ Leif zögerte sichtlich. „Möchtest du denn ein Eis?“ Er sah mich nicht an, als er das fragte. Am besten lässt du das Essen nicht zu einem großen Thema zwischen euch werden. Ich atmete tief durch. „Ja, ich will ein Eis“, sagte ich mit fester Stimme. „Kommst du mit?“ Für einen Augenblick schien Leif noch mit sich zu ringen, dann jedoch nickte er und wir machten uns auf den Weg zur Eisdiele. Auf dem gesamten Weg sagte Leif kein Wort. Ich auch nicht. Weil ich nicht wusste, was in ihm vorging und ob ich gerade das Richtige oder das völlig Falsche tat. Unbewusst ballte ich meine Hand zur Faust. „Ah, Buon giorno! Herzlich willkommen. Was kann ich für euch tun?“ Der Mann mit den dunklen Haaren und dem italienischen Akzent, der hinter der gläsernen Auslage stand, strahlte Leif und mich an. Kein Wunder, denn schließlich hatte er gerade einer Großfamilie seine halbe Eisdiele verkauft und auch hinter uns standen schon wieder einige Kunden an. „Einmal Vanille“, sagte ich, ohne Leif anzusehen. Ich kam mir wie ein Verräter vor. „Und du?“, wollte Luigi oder wie auch immer er hieß wissen. Seine Hand schwebte über den Waffeln. Er schaute Leif freundlich an. „Ich möchte nichts.“ „Va bene.“ Der Eismann kümmerte sich nicht weiter darum, sondern löffelte nur geschickt die gewünschte Kugel in eine Waffeltüte und reichte sie mir über den Tresen. „Prego. Das macht dann 1 Euro 20.“ Ich händigte ihm das Geld aus und blickte zu Leif rüber. „Kommst du?“ Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Ja, gehen wir.“ Ich trat aus der Schlange und wartete, dass er mir folgte. Zusammen gingen wir weiter. Vor uns lag eine kleine Fußgängerzone. Ohne weiter zu überlegen steuerte ich sie an. Hier waren mehr Menschen unterwegs und wir zwei würden gar nicht auffallen. Wir waren genau wie alle anderen. Entschlossen widmete ich mich meinem Eis. „Schmeckt es?“, fragte Leif plötzlich. Mir war nicht bewusst gewesen, dass er mich beobachtete. Ich nickte. Noch einmal leckte ich an der kühlen, süßen Masse. Leifs Augen klebten an dem Eis und etwas in mir begehrte auf. Ich kannte diesen Blick und ahnte, was er wollte. Aber ich teilte mein Essen nicht. Mit niemandem. Andererseits … „Willst du mal probieren?“ Fast ohne zu stocken hielt ich Leif die Eiswaffel hin. Er bewegte sich nicht. „Nur zu. Ich gebe dir gerne was ab.“ Er schüttelte den Kopf. Währenddessen zerlief das Eis in der heißen Sonne. Ein Tropfen fiel auf meinen Finger. Ich leckte ihn ab, doch schon tropfte es auf der anderen Seite. Schnell fuhr ich mit der Zunge einmal rund um die Eiskugel, um weitere Katastrophen zu verhindern. Leif verfolgte jede meiner Bewegungen, „Wenn man dir so zusieht, kommt man echt auf andere Gedanken.“ Ich grinste und leckte noch einmal besonders langsam über die kühle Masse. Er lachte. „Jetzt hätte ich auch gerne ein Eis.“ Er kam näher und flüsterte mir ins Ohr: „Oder ich wäre gern eins.“ Ich grinste und bevor er reagieren konnte, hatte ich mich vorgelehnt und ihn geküsst. Meine Lippen hinterließen einen klebrigsüßen Abdruck auf seinem Mund. Vorsichtig leckte er darüber. „Ich hab schon ewig kein Vanilleeis mehr gegessen“, sagte er nachdenklich. Es klang irgendwie merkwürdig. „Warum nicht?“, fragte ich und biss ein Stück von der Waffel ab. Angesichts der Temperaturen musste ich das Eis wohl schneller vernichten als gedacht. „Magst du kein Vanilleeis?“ Leif blickte zu Boden. „Doch, aber … ach, es ist dämlich.“ Wir waren gerade an einer Kreuzung angekommen und mussten warten, dass die Ampel auf Grün sprang. Ich nutzte die Gelegenheit, um Leif anzustupsen. „Was ist dämlich?“, fragte ich nach. Er schüttelte den Kopf. „Du hältst mich für bescheuert, wenn ich es dir erzähle.“ Ich lächelte leicht. „Das weißt du nicht, wenn du es nicht ausprobierst.“ Er zögerte immer noch. „Ich lache nicht. Versprochen!“ Leif seufzte. Die Ampel wurde Grün, aber er blieb einfach stehen. „Ich … ich liebe Vanilleeis. Aber immer, wenn ich mir ein Eis hole, dann nehme ich Schokolade, weil … weil ich das nicht mag.“ Er sah aus den Augenwinkeln zu mir rüber. „Siehst du? Ich sagte ja, es ist dumm.“ Ich sah ihn an. Da war etwas in meiner Brust. Es zog und zerrte und riss an mir. „Nein“, sagte ich leise. „Das ist nicht dumm. Es ist traurig.“ Leif sah mich an, als suchte er nach einer Antwort. Als er keine fand, wandte er den Blick ab. „Wir sollten zurückgehen. Tobias wartet sicher schon auf uns.“ Ich erwiderte nichts. Ich stopfte lediglich den Rest meiner durchgeweichten Eiswaffel in einen Mülleimer und folgte Leif, der mit großen Schritten voranging. An der nächsten Straßenecke hatte ich ihn endlich eingeholt. Ohne lange zu überlegen griff ich nach seiner Hand. „Hey,“ sagte ich leise. „Kein Stress. Du kannst essen, was du willst. Es ist deine Entscheidung. Okay?“ Er nickte leicht. „Okay. Aber beim nächsten Mal … möchte ich ein Vanilleeis.“ Das Reißen in meiner Brust wurde stärker. Und größer. So groß, dass ich glaubte, platzen zu müssen. „Klar“, sagte ich, als wäre das nichts Besonderes. „Kriegst du. Und wenn du nicht mehr magst, esse ich den Rest. Versprochen.“ Das Lächeln, das danach auf seinem Gesicht erschien, überstrahlte für mich selbst die Sonne. Mochte sein, dass ich seiner blöden Sucht damit half, aber scheiß drauf. Ich würde dafür sorgen, dass es ihm gut ging. Dann würde das mit dem Essen schon ganz von alleine besser werden. Kapitel 25: Im Auge des Sturms ------------------------------- „Wow, das sieht toll aus.“   Cedric pfiff anerkennend durch die Zähne, während er neben uns trat und unser Werk in Augenschein nahm. Leif hatte die Feinarbeiten übernommen, ich das Füllen der Flächen. Jetzt grinste der Kater mit dem Kopftuch uns in Überlebensgröße von einer der Flurwände entgegen. Es sah wirklich fett aus.   „Ihr habt echt Talent“, sagte Cedric noch einmal und war anscheinend total von den Socken. Ich konnte ihn verstehen.   „Eigentlich ist das alles auf Leifs Mist gewachsen. Ich hab nur ausgemalt“, meinte ich lässig. Cedrics sah zu Leif rüber.   „Stimmt, ich hab deine Zeichnungen gesehen. Die waren echt genial. Hast du dir mal überlegt, was in die Richtung zu machen?“   Leif schüttelte den Kopf. Seine Finger klammerten sich an die Spraydose in seiner Hand. Er warf einen abschätzigen Blick auf das Bild.   „Ach, so toll ist das nicht. Die Kanten sind ziemlich unsauber, weil die Caps dauernd verstopft waren.“   Cedric lachte.   „Ja ja, Tücken der Technik. Mit Skinnys zu arbeiten ist nicht ganz einfach. Wenn man zu zögerlich ist, quittieren die manchmal einfach den Dienst. Aber ich finde, du hast das trotzdem super hingekriegt. Ihr beide.“   Ein Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Dennoch senkte er den Blick.   „Na ja. Dennis’ Bild ist trotzdem besser.“   Da war etwas Wahres dran. Der Oktopus, den er an die Wand gebracht hatte, sah echt professionell aus. Man hatte fast das Gefühl, dass das Vieh gleich nach einem greifen würde.   „Dennis hat aber auch schon ein bisschen mehr Übung als du. Außerdem meine ich ja nicht nur die technische Ausführung. Ich rede von deinem Verständnis für Formen und Farben und einem Händchen für Komposition. Das ist nichts, was man lernen kann. So was hat man oder eben nicht.“   Leif biss sich auf die Lippen. Auffordernd stieß ich ihn an.   „Cedric hat recht. Du machst das wirklich gut.“   „Ja“, stimmte Cedric mit ein. „Du solltest dir echt überlegen, ob das nicht auch beruflich was für dich wäre. Grafikdesign ist ein echt vielfältiges Pflaster. Andrea, meine Freundin, hat mir ein bisschen was von ihrer Ausbildung erzählt. Da gibt es so viele verschiedene Sachen. Malen, Zeichnen, Mediengestaltung, Fotografie. Du lernst einfach alles. Auf manchen Schulen kannst du sogar parallel zur Ausbildung die Fachhochschulreife machen und später noch ein Studium dranhängen. Da gibt es einfach unheimlich viele Möglichkeiten.“   Cedric strahlte über das ganze Gesicht, während er das erzählte. Leif hingegen war mit jedem Wort schweigsamer und verschlossener geworden. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an den, den er manchmal am Esstisch hatte. Ich musste was tun.   „Klingt super“, sagte ich zu Cedric, hängte meinen Arm über seine Schulter und drängte ihn so ein Stück von Leif weg. „Und was mache ich dann? Halte ich Leif den Pinsel oder wie?“   Cedric lachte, ich grinste. Ich war mir sicher, dass Tobias ihm erzählt hatte, was zwischen Leif und mir lief.   „Keine Ahnung, was kannst du denn gut?“ „Dumme Sprüche reißen und gut aussehen?“   Wieder lachte Cedric, während ich ihn in Richtung Treppenhaus schob.   „Dann würde ich Showmaster vorschlagen. Oder Modell, aber ich glaube, dafür bist du nicht groß genug.“ „Traurige Wahrheit, aber irgendwas ist ja immer.“   Ich entließ Cedric mit einem theatralischen Seufzen aus meinen Klauen und er trollte sich in Richtung nächster Gruppe, um dort mit den Feinarbeiten zu helfen. Ich hingegen eilte zu Leif zurück. Der war immer noch mit dem Bild beschäftigt. Er versuchte gerade, eine der Seitenlinien zu verbessern. Dabei war sein Gesicht so verkniffen, als hätte er auf einem rostigen Nagel gebissen. Als er die Spraydose absetzte, stieß ich ihn an.   „Hey, was ist los?“   Er hielt den Blick streng auf das Bild gerichtet.   „Nichts. Was soll sein?“   Wollte der mich verarschen?   „Du weißt genau, was ich meine. Warum hast du gerade so komisch reagiert.“   „Ich sagte doch, es ist nichts“, zischte Leif und wollte noch einmal die Dose heben. Ohne lange zu überlegen griff ich zu und hielt seinen Arm fest.   „Lass es. Der Kram ist noch nicht trocken. Wenn du weiter daran herummurkst, verläuft alles.“   Schon jetzt hatten sich leichte Farbnasen gebildet. Leif war kurz davor, das Bild zu versauen.   „Aber es ist noch nicht …“ „Wirklich, Leif, lass es. Es ist gut so, wie es ist.“   Ich fühlte, wie er sich gegen meinen Griff stemmte und dann plötzlich lockerließ. Der Arm mit der Dose sank herab und hing dann wie ein nutzlos gewordenes Anhängsel an seinem Körper.   „Tut mir leid“, sagte er leise. Ich schnaubte belustigt.   „Was? Dass du fast die Arbeit von mehreren Stunden ruiniert hättest?“ „Ja. Nein. Ich weiß nicht.“   Er atmete hörbar aus und stellte die Dose auf den Boden. Als er sich wieder erhob, lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Fragend sah ich ihn an.   „Erzählst du mir jetzt was los ist, oder willst du weiter einen auf geheimnisvoll machen? Das zieht bei mir nämlich nicht. Ich bin immerhin Meister darin.“   Leif grinste kurz, bevor er wieder ernst wurde.   „Ja, stimmt. Das kannst du wirklich gut.“   Er seufzte und sah in Richtung der anderen, die zusammen mit Cedric noch an dem Motiv im Treppenhaus arbeiteten. Es waren ein Fuchs und ein Hase, die sich ein High Five gaben. Der Fuchs erinnerte mich ein bisschen an Tobias.   „Ich musste einfach nur daran denken, dass meine Eltern das nie erlauben würden“, sagte Leif, ohne mich anzusehen. Ich runzelte die Stirn.   „Na und? Du kannst doch lernen, was du willst.“   Leif lachte kurz und hart.   „Tja, kommt darauf an. Wenn deine Eltern für die Ausbildung blechen müssten, würdest du wohl auch anders darüber denken.“   Er drehte sich weg von mir. In meinem Inneren begann es zu brodeln.   „Wie meinst du das?“, fragte ich mühsam beherrscht. Ich wusste selbst nicht, warum mich das gerade so aufregte.   Leif blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ich konnte es nicht sehen, aber ich fühlte es.   „Du hast Cedric doch gehört. Graphikdesign ist ne schulische Ausbildung“, erklärte er ohne mich anzusehen. „Das heißt, dass man die bezahlen muss. Und obendrein brauch ich dafür erst mal einen Abschluss und ob ich den schaffe …“   Er verstummte. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber ich verstand. Das Gefühl, dass das Wasser einem schon bis zum Hals stand und immer noch höher stieg, brauchte mir keiner zu erklären. Das kannte ich. Das kannte ich nur zu gut.   „Dann schaffst du den Abschluss eben“, sagte ich und versuchte dabei nicht allzu abgehoben zu klingen. „Und dann … dann kriegst du diese Ausbildung. Irgendwie wird das schon.“   Wir kriegen das hin.   Die Worte wollten nicht raus. Sie blieben in meinem Hals stecken und rutschten einfach wieder zurück, wo sie sich in dem See aus Magensäure langsam zersetzten. Weil niemand sie hörte.   „Hey, ihr beiden! Seid ihr fertig?“   Tobias kam den Gang entlang. Er hatte ein freches Grinsen auf dem Gesicht und unübersehbar gute Laune. Ganz im Gegensatz zu uns. Schnell grinste ich zurück.   „Klar. Alles Roger in Kambodscha.“   Tobias verzog das Gesicht.   „Du hast zu viel mit Cedric abgehangen.“   Ich lachte.   „Definitiv. Also, was gibt’s, Meister?“   Tobias’ Lächeln kehrte zurück.   „Die anderen haben beschlossen, dass wir heute Abend was zu feiern haben. Deswegen wollen wir Croque holen. Ich wollte wissen, was ihr haben wollt.“   Fragend sah er Leif an.   „Das Übliche für dich?“   Leif nickte nur.   „Und du, Manuel?“   Ich zog ein wenig ratlos die Nase kraus.   „Keine Ahnung. Was gibt es denn?“ „Schinken, Salami, Thunfisch, Hähnchenbrust, Falafel …“   „Okay, okay!“ Abwehrend hob ich die Hände. „Mach Salami.“   „Mit Salat?“ „Wenn’s sein muss.“ „Knoblauch- oder Kräutersoße?“   Ich warf einen Blick zu Leif.   „Äh, Kräuter, denke ich.“   Tobias grinste ein bisschen.   „Geht klar. Bring ich dir mit. Einen ganzen nehm ich an?“ „Logisch.“   Tobias warf noch einen Blick auf unser Bild.   „Cedric hat nicht übertrieben. Das ist wirklich super geworden.“   „Danke“, gab ich zurück. Damit trollte sich Tobias und Leif und ich blieben allein zurück. Oder relativ allein. Immerhin waren die anderen keine zehn Meter von uns mit der letzten Wand beschäftigt. Trotzdem. Wenn wir die Tür geschlossen hätten …   Das würde auffallen. Aber was anderes geht.   Blitzschnell griff ich nach Leifs Hand und zog ihn hinter die Ecke in den Gang, der zu seinem Zimmer führte. Wir konnten nicht hinein, aber immerhin waren wir so außer Sichtweite. Ohne zu zögern schubste ich ihn rückwärts gegen die Wand. Er reagierte mit einem leichten „Uff“. Grinsend pinnte ich ihn fest. „Was soll das werden?“, fragte er, obwohl ich an seinem Blick sah, dass er genau wusste, was ich vorhatte.   „Rate!“, gluckste ich und ließ ihm keine Zeit mehr zu antworten. Meine Lippen schlossen sich über seinen. Sofort erwiderte er den Kuss. Er öffnete die Lippen und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Zunge dazwischen gleiten zu lassen. Es war heiß, eng und feucht.   „Ich freu mich schon auf heute Abend“, murmelte ich und knabberte an seiner Unterlippe. Leif lächelte, aber sein Körper verspannte sich unter meinem.   „Also willst du heute …?“, fragte er. Seine Stimme klang plötzlich angespannt, aber nicht auf eine gute Weise. Ich hörte auf ihn zu küssen und rückte ein Stück von ihm ab.   „Ja klar. Warum nicht?“   Für einen winzigen Augenblick huschten seine Augen in Richtung Flurecke, bevor sie sich wieder auf mich konzentrierten. Aber es war zu spät. Ich wusste, dass irgendwas ihn störte. Als ich ihn danach fragte, senkte er den Blick.   „Ach nichts. Ich hab nur …“ „Was?“   Er schluckte. Anscheinend wollte er nicht mit der Sprache herausrücken. Ich spürte, wie sich meine Lust verflüchtigte.   „Was?“, fragte ich noch einmal. Dieses Mal schärfer. Er atmete tief durch.   „Das Essen. Ich … ich weiß nicht, ob ich das hinkriege und danach dann noch … na ja.“   Für einen Moment wollte ich ihn einfach stehenlassen. Ich wollte ihn noch einmal schubsen. Fest. Weil er so dämlich war. Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhten ja bekanntlich das Denkvermögen. Er war so ein Idiot.   Aber wie ich in der tollen Anti-Aggressions-Therapiestunde gelernt hatte, atmete ich erst einmal tief durch. Und dann überlegte ich, was ich zu ihm sagen wollte. Nur sagen, nicht schlagen. Das war das Motto gewesen. Währenddessen sah Leif mich einfach nur an.   „Es tut mir leid“, sagte er irgendwann, als ich immer noch keine Ordnung in das Chaos in meinem Kopf bekommen hatte. Er schlug die Augen nieder. „Ich war nur irgendwie … es hat mich überrumpelt, dass es heute Abend was Warmes gibt. Noch dazu so viel. Das war alles. Mach dir keine Gedanken mehr darum. Ich bekomm das schon hin.“   Ich wusste nicht, was es war. Vielleicht, die Art, wie er es sagte oder sein Gesichtsausdruck. Auf jeden Fall verging das Bedürfnis ihm wehzutun. Stattdessen wollte ich ihn nur noch festhalten.   Ich schnaufte   „Ich mach mir aber Gedanken. Wahrscheinlich mehr, als ich sollte. Ich meine, was ist denn so schlimm am einem Croque? Hast du die Mega-XXL-Variante mit extra Remoulade und halbem Schwein auf Toast genommen, oder was?“   Leif gluckste und entspannte sich ein bisschen.   „Du bist doof.“ „Selber.“   Mit sanftem Druck zog er mich an sich und legte seine Stirn an meine.   „Eigentlich hab ich nicht mal Fleisch drauf. Nur Schafskäse und Ananas.“   Jetzt war ich es, der verhalten lachte.   „Dein Ernst? Ananas auf einem Croque?“   Leif wandte den Kopf ab.   „Ich weiß, ich weiß. Leute, die warme Ananas mögen sind komisch.“   Ich grinste, lehnte mich vor und knabberte an seinem Ohrläppchen.   „Ach Quatsch“, wisperte ich. „Ananas verbessert doch angeblich den Geschmack. Also lässt du es dir schmecken und ich mir dann auch.“   Ich spürte, wie er lächelte. Seine Arme zogen mich noch ein Stück näher. Die weißen Anzüge zwischen unseren Körpern knisterten. Leif lachte leise auf.   „Oh man, die Dinger sind so richtig unsexy.“   Ich grinste und raunte in sein Ohr: „Ich würd ihn dir trotzdem gerne vom Leib reißen.“   Kaum hatte ich das jedoch gesagt, hörten wir Schritte näher kommen. Schnell stoben wir auseinander. Ich drehte mich um und tat so, als würde ich nochmal meinen Wurm bestaunen, während Leif sich bückte, um seinen Schuh zuzubinden. Als Tobias um die Ecke kam, schnalzte er tadelnd mit der Zunge.   „Versteht ihr das etwa unter unauffällig? Also wirklich.“   „Wir haben nichts gemacht“, verteidigte ich mich. „Nur geredet.“   „Ah ja“, machte Tobias. Es war offensichtlich, dass er mir kein Wort glaubte.   „Ja wirklich“, beteuerte ich. „Ich schwör!“   Tobias brach in kopfschüttelndes Lachen aus.   „Ja ja, schon klar. Aber ich brauch mal Hilfe. Die anderen sind noch nicht fertig mit ihrem Bild, daher soll einer von euch mitkommen zum Schleppen. Also … Ene Mene Muh oder meldet sich einer freiwillig?“   Ich sah kurz zu Leif. Wahrscheinlich war es nicht gerade hilfreich, wenn er de Croques auch noch besorgen musste. Also hob ich schnell die Hand.   „Na prima, dann los. Leif kann so lange hier aufräumen.“   „Ach, war ja klar, dass ich die Arschkarte kriege“, maulte er, aber in seinem Gesicht glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen. Vielleicht wurde das heute Abend ja doch noch was mit uns.     Der Croqueladen lag inmitten der Fußgängerzone. Das erklärte, warum Tobias Hilfe beim Tragen brauchte. Als wir durch die Tür traten, erklang über uns altmodisches Glockengeläut. Der Typ hinter dem Tresen sah auf.   „Ah, Tobi. Wie geht’s?“   „Bestens“, gab Tobias zurück. „Wir haben mal wieder eine Großbestellung.“   „Oha. Ist ne Weile her. Was soll’s denn sein?“   Während Tobias die Liste der verschiedenen Croques herunterratterte, sah ich mich im Laden um. Alles hier war hell und weiß. Weiße Fliesen, weiße Wände, weiße Tische. Es hätte steril wirken können, wenn nicht die billigen Kunstdrucke an den Wänden gewesen wären und die leichte Fettschicht, die selbst auf dem frisch gewischten Boden zu haften schien. Es war nicht wirklich dreckig, aber eindeutig gebraucht. Im Thekenbereich glänzte jedoch alles.   „Das dauert jetzt ein bisschen. Willst du was trinken?“   Tobias deutete auf einen der Stehtische mit den hohen Barhockern. Sie waren das Einzige hier drinnen, das sichtbar aus Holz war. Ich schüttelte den Kopf. Trotzdem stand kurz darauf eine Cola vor meiner Nase. An der Flasche bildete sich Kondenswasser.   „Ich hatte sie schon bestellt“, erklärte Tobias entschuldigend. „Bist eingeladen.“   Ich sagte nichts und senkte den Blick. Wie viel besser wäre es gewesen, jetzt mit Leif hier zu sitzen.   „Und?“, fing Tobias nach einer Weile an. „Wie läuft es mit dir und Leif? Alles in Butter?“   „Ja, kann nicht klagen“, gab ich zurück. Der Typ hinter dem Tresen säbelte die langen Weißbrote in der Mitte durch. Danach schmierte er großzügig irgendeine Paste darauf und begann sie zu belegen. Während die Stapel auf den Broten immer höher wurden, konnte ich Tobias’ Blick auf mir spüren. Irgendwann gab ich nach und sah zu ihm rüber. Er legte den Kopf schief.   „Ich hätte ein bisschen mehr Begeisterung erwartet. Muss ich mir Sorgen machen?“   Ein Teil von mir wollte, dass er damit meinte, ob er sich Sorgen um mich machen musste. Oder vielleicht um Leif. Aber mir war klar, dass da noch mehr mitschwang. Wenn die Sache Wellen in der Gruppe schlug, wären er und Thomas vermutlich dran. Mich hätte das an seiner Stelle auch beunruhigt.   Um Zeit zu schinden, nahm ich die Cola und trank einen Schluck. Sie war eiskalt und süß. Erfrischend. Erst jetzt merkte ich, wie durstig ich war. Ich trank und trank, bis ich mehr als die Hälfte der Flasche geleert hatte. Danach stellte ich sie zurück auf den Tisch und sah zu, wie sich an den Stellen, wo meine Finger die Feuchtigkeit weggewischt hatten, langsam neue Tropfen bildeten. Irgendwann atmete ich tief durch.   „Ich weiß nicht“, sagte ich, als würde ich noch auf die Frage antworten, die Tobias mir gestellt hatte. „Ich …“   Frustriert brach ich ab. Ich wusste nicht, wie ich das Gefühl in Worte fassen sollte, das mich manchmal überkam. Das Gefühl, auf irgendwas und irgendwen einprügeln zu wollen, weil … weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.   Noch einmal öffnete ich den Mund. Ich musste an Leif denken. Daran, was vorhin im Flur passiert war. Dass da ständig etwas war, das zwischen uns stand. Etwas, über das wir nicht sprachen.   „Es ist toll mit Leif. Ja wirklich.“   Dieses Mal brauchte nicht mal ich jemanden, der das große Aber hinterherschob. Man hörte es förmlich, wie es durch die Luft schwebte zusammen mit dem Duft von warmem Brot und überbackenem Käse. Mein Magen knurrte wie auf Kommando.   Tobias hingegen wandte sich ab. Er sah zu, wie der Typ hinter dem Tresen die ersten Croques mit Salat und Soßen verzierte und anschließend in große Lagen weißes Papier verpackte. Die ersten zwei Croques verschwanden in dünnen, orangen Plastiktüten.   Mein Blick wanderte von Tobias’ Gesicht weiter nach unten zu den Spitzen des Tattoos auf seinem Halsansatz. Ich wusste immer noch nicht, was es eigentlich darstellte. Als er den Kopf drehte und mich ansah, grinste ich.   „Hast du das Tattoo eigentlich schon lange?“   Tobias lachte leicht.   „Ja, allerdings. Es stammt noch aus meinen ganz wilden Zeiten. Mein ganzes erstes Gehalt ist dafür draufgegangen. Danach hab ich mich einen Monat lang nur von Haferflocken mit Milch ernährt, aber das war es wert.“ „Bekomme ich es irgendwann mal ganz zu sehen?“ „Wer weiß. Wenn wir mal schwimmen gehen, bestimmt.“   Danach kam das Gespräch wieder zum Erliegen. Tobias guckte beim Croquemachen zu, ich hingegen kam mir urplötzlich fehl am Platz vor. Und doch … ich war hier. Mit Tobias, der mir zuhören würde, wenn ich darüber reden wollte, was mir in den letzten Tagen wieder und wieder durch den Kopf gegangen war. Aber wollte ich das?   „Ich komm mit dieser Essenssache nicht klar.“   Tobias reagierte nicht, aber ich wusste, dass er mich gehört hatte. Vielleicht wegen der Art, wie er atmete. Oder weil ja sonst niemand da war, der was hätte von sich geben können. Lediglich das Radio, das irgendwo zwischen Plastikblumen und Porzellanfigürchen versteckt auf einem Eckregal vor sich hin dudelte, störte die Ruhe. Das und der Satz, den ich wie eine Bombe in den Raum geworfen hatte. Nur, dass er nicht explodiert war. Ich wusste nicht, ob mich das beruhigte oder erschreckte.   „Ist auch nicht einfach“, erwiderte Tobias nach einer Weile. „Als Außenstehender hast du kaum eine Chance dahinterzusteigen. Und manchmal hast du das Gefühl, dass du es eigentlich nur falsch machen kannst.“   Er warf mir einen kurzen Blick zu. Ich erwiderte ihn mit einem schmalen Lächeln. Das beschrieb so ziemlich perfekt, wie es mir ging.   „Aber ich glaube, dass Leif es schaffen kann“, fuhr Tobias fort. „Er ist zäher, als er aussieht. Er kriegt das hin.“   Ich wusste, dass der letzte Satz gelogen war. Oder dass Tobias es nur gesagt hatte, um mich zu beruhigen. Ich schnaufte.   „Ich hab Dr. Leiterer das von der Klinik erzählt. Ich will nicht, dass Leif weggeht.“   Jetzt kam doch Leben in Tobias. Er drehte sich zu mir um und fasste mich scharf ins Auge.   „Weiß Leif davon?“, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf. Tobias blies die Backen auf und ließ geräuschvoll die Luft entweichen.   „Oh man. Na wenn das mal gutgeht.“   Er musterte mich weiter eindringlich und ich starrte zurück. Schließlich war es Tobias, der nachgab.   „Leif hat dir ja sicher erzählt, was Phase ist. Herr Steiner ist der Meinung, dass wir Leif in Thielensee nicht ausreichend betreuen können. Er will nicht das Risiko eingehen, Leifs Leben oder seine Gesundheit zu gefährden. Und ich muss sagen, dass ich das durchaus verstehen kann. Ich fühl mich ja selbst mit dem Thema etwas überfordert.“   Tobias fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.   „Eigentlich sollte ich dir das wahrscheinlich gar nicht erzählen. Thomas hat es drauf, immer total souverän zu wirken, aber ich muss das wohl noch lernen.“   Er lachte leicht. Ich grinste schief zurück.   „Was hat Dr. Leiterer denn gesagt, als du ihm davon erzählt hast?“   Ich zuckte leicht mit den Achseln.   „Er wollte das mit Herrn Steiner besprechen. Ich glaube, er findet auch, dass Leif nicht in eine Klinik sollte, aber …“   Ich senkte den Kopf und sah hinunter auf meine Schuhspitzen.   „Ich hab ihn gebeten, dass er dafür sorgt, dass Leif nicht mehr zu seinen Eltern muss. Die sind nicht gut für ihn. Er darf da nicht wieder hingehen.“   Nachdem ich das gesagt hatte, herrschte Schweigen. Das Radio spielte Werbung für irgendwelche Versicherungen ein, der Typ hinter dem Glas belegte weiter Brot, aber um den Tisch herum, an dem Tobias und ich saßen, schien die Welt zum Erliegen gekommen zu sein. Das Auge des Sturms. Wann würde er weiterziehen und mich von den Füßen reißen?   „Also …“ begann Tobias irgendwann, „ich bin mir nicht sicher, ob das in Leifs Sinn war. Er hat mir eigentlich immer gesagt, dass er das Verhältnis zu seinen Eltern verbessern möchte. Deswegen besucht er sie ja auch immer.“   Ich klemmte die Kiefer zusammen. Immerhin wusste ich, warum Leif seine Eltern wirklich besuchte. Aber ich hielt die Klappe. War vielleicht eh besser.   Wenn er nicht so viel abgenommen hätte, wäre das alles nicht passiert.   Noch eine Bombe, aber dieses Mal nur in meinem Kopf. Doch im Gegensatz zu den anderen, konnte ich sie ticken hören. Sie würde explodieren. War es vielleicht längst. Und mein Ich hing in Fetzen.   „Weißt du, warum es ihm so schlecht geht?“   Ich hörte Tobias Luft holen. Schnell redete ich weiter, bevor ich den Mut verlor.   „Ich … ich hab Dr. Leiterer gefragt und er hat mir ein bisschen was erklärt. Aber ich versteh halt nicht, warum es jetzt so schlimm geworden ist. Dafür muss es doch einen Grund geben.“   Und ich wollte nicht wissen, was es war.   Tobias seufzte.   „Tja, weiß nicht. In den letzten Wochen war Leif manchmal ein wenig …“   Tobias schwieg. Ich begann, das Etikett von der Colaflasche zu pulen.   „Liegt es an mir?“, fragte ich leise. Im Radio kamen Verkehrsnachrichten.   Tobias warf mir einen fragenden Blick zu,   „Wie kommst du darauf?“   Ich kratzte weiter mit meinem Fingernagel an dem aufgeweichten Papier herum.   „Na weil … weil wir Stress miteinander hatten. Als ich abgehauen bin und danach. Ich hab mich gefragt, ob er deswegen …“   Tobias unterbrach mich.   „Stop, Manuel. Ich weiß zwar nicht, was da zwischen euch los war, aber es ist immer noch Leifs Entscheidung, wie er damit umgeht. Du bist nicht für ihn verantwortlich.“   Ich nickte, aber ich konnte Tobias dabei nicht in die Augen sehen.   „Hey, ich meine das ernst. Es ist nicht deine Schuld.“ „Ja, ich weiß.“   Obwohl es genau das war, was ich hatte hören wollen, war ich mir nicht sicher, dass es stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass zumindest ein Teil davon auf die Scheiße zurückging, die ich mit ihm angestellt hatte. Das mit dem Tagebuch, dass ich mich einfach verpisst hatte. Vielleicht sogar die Sache mit Tom. Ich hatte es zuerst nicht verstanden, aber im Nachhinein fragte ich mich, ob hinter Leifs Reaktion vielleicht mehr gesteckt hatte, als ich ihn dem Moment geahnt hatte.   Ich bin so ein Idiot.   Etwas berührte meinen Arm. Als ich aufsah, blickte ich direkt in Tobias’ Gesicht. Er lächelte.   „Du hast dich ganz schön entwickelt, seit du zu uns gekommen bist. Weißt du das eigentlich?“   Ich blinzelte. Was sollte das denn jetzt werden? Eine motivierende Ansprache?   Tobias lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah.   „Nun schau nicht so. Du hast wirklich enorme Fortschritte gemacht. Du hast den Schulstoff eines halben Jahres innerhalb weniger Wochen aufgeholt. Du hast an deinen Aggressionsproblemen gearbeitet, du nimmst Hilfe an. Gerade der letzte Punkt hat mich am meisten überrascht. Als du kamst, hat alles an dir klar gemacht, dass du niemanden in deiner Nähe haben willst. Du hast alle auf Abstand gehalten, wolltest es ganz alleine schaffen. Aber jetzt? Jetzt sorgst du dich sogar um andere. Du hast ein verdammt großes Herz da drinnen.“   Er tippte mir mit den Fingern fest gegen die Brust.   „Und wenn du dir erlaubst, es auch zu benutzen, bist du ein verdammt lieber Kerl.“   Der Croquetyp rief uns zu, dass die Bestellung fertig war. Tobias maß mich noch mit einem bedeutungsvollen Blick, bevor er zum Tresen ging, um sie entgegenzunehmen. Auf meiner Haut konnte ich immer noch den Stoß fühlen, den er mir verpasst hatte. Wie ein Echo.   „Na los, Großer. Gehen wir. Die Meute hat Hunger.“   Tobias hielt mir zwei der Tüten hin. In einer von ihnen lag ein kleineres Paket. Es war nur halb so groß wie der Rest, aber in genau das gleiche Papier verpackt. Hätte man es nicht mit den anderen verglichen, hätte es ganz normal gewirkt.   „Ist das für Leif?“   Tobias schaute hin und nickte.   „Ja, mit seiner ganz speziellen Kombi. Feta und Ananas. Gruselig, wenn du mich fragst. Wer mag schon warme Ananas?“   Tobias lachte. Ich sagte nichts dazu und lächelte nur in mich hinein. Mochte ja sein, dass Leif ein Spinner war, aber immerhin war er jetzt mein Spinner und ich würde gut auf ihn aufpassen.     Als wir ins Wohnheim zurückkamen, warteten die anderen schon in der Küche. Alle anderen außer Leif.   „Hey, wo ist Leif?“, fragte Tobias, während ich die Croques an ihre Besitzers verteilte. Leifs Paket hatte ich gleich zu Anfang auf seinen Platz gelegt.   „Der ist oben“, gab Thomas zurück. Die Art, wie er das sagte, klang komisch. Auch Tobias horchte auf.   „Ist was passiert?“   Thomas antwortete nicht, aber der Blick, den er Tobias zuwarf, gefiel mir nicht. So gar nicht.   „Ich werd ihn mal holen gehen“, sagte ich und wartete nicht ab, ob irgendjemand mit zurückhielt. Ich drehte mich einfach auf dem Absatz herum und stürmte aus der Küche.   Kapitel 26: Wenn ich könnte … ----------------------------- In Windeseile rannte ich die Treppen hinauf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm ich den obersten Treppenabsatz und hastete durch den angrenzenden Flur. Irgendwas war nicht in Ordnung. Ich wusste es. Doch noch bevor ich die Tür am Ende des Ganges erreichte, öffnete sie sich bereits. Im Türrahmen stand Leif und blickte mir entgegen. Seine dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen und im Gegenlicht traten seine Wangenknochen deutlich hervor. Er sah ein bisschen aus wie ein Gespenst. Oder als hätte er eins gesehen. „Ihr seid zurück?“ Mein Verdacht, dass etwas geschehen sein musste, erhärtete sich. Leif hätte sonst nicht so komisch gefragt. Aber was? WAS? „Was ist los?“, platzte ich heraus. Ich musste es endlich wissen. „Nichts“, kam zurück. Ich hätte ihn schütteln können. „Verarsch mich nicht“, knurrte ich. „Warum bist du nicht unten?“ Er schluckte. Ich konnte es sehen. „Ich … ich brauchte nur mal einen Moment allein. Das war alles.“ „Und warum?“ Seine Finger legten sich fester um den Türrahmen. „Ich hatte einen Anruf. Dr. Leiterer. Er … er will morgen mal vorbeikommen.“ Erleichterung machte sich in mir breit. Das war es also. Der Doc hatte sich endlich gemeldet. Mit aller Macht zwang ich meine Mundwinkel unten zu bleiben. „Und? Was wollte er?“ Gespannt hielt ich den Atem an. Wusste Leif schon, worum es ging? „Das hat er nicht gesagt. Nur, dass Herr Steiner auch meine Eltern zu dem Gespräch gebeten hat.“ Es war, als hätte man mir einen Schlag in den Magen verpasst. „Was? Aber warum?“ „Keine Ahnung. Lass uns essen gehen.“ Leif stieß sich von der Tür ab und kam auf mich zu. Ich wollte ihn aufhalten. Ihm sagen, dass es mir leidtat. Dass es meine Schuld war. „Ja, lass uns essen gehen“, war jedoch alles, was ich sagte. Ich wagte nicht, ihn dabei anzusehen. Unten in der Küche war bereits eine heiße Schlacht entbrannt. Überall lagen Plastiktüten und Papierservietten herum. Selbst Tobias und Thomas hatten ausnahmsweise mal nicht auf einem ordentlich gedecktem Tisch bestanden, sondern saßen ebenso wie die anderen um den Müllhaufen herum und ließen es sich schmecken. Die Luft war erfüllt von aufgeregten Stimmen und Gelächter sowie dem Geruch der frischen Croques. Es hätte eine tolle Feier sein können. War es aber nicht. Nicht für mich. „Hab ihn gefunden“, sagte ich überflüssigerweise. Schnell setzte ich mich und begann, meinen Croque auszupacken. Neben mir raschelte auch Leif mit seinem Papier. Aus den Augenwinkeln schielte ich zu ihm rüber. Sein Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Keine Regung, kein Zögern oder sonst etwas. Erst als er abbiss und zu kauen begann, sah ich es. Der Ausdruck in seinen Augen. Eine wilde Mischung aus Verzweiflung und Trotz. Was hatte er vor? „Ihr habt alle ganz, ganz tolle Arbeit geleistet“, sagte Cedric, der heute zum Essen geblieben war. „Ich bin echt begeistert, was ihr in der kurzen Zeit alles gelernt und umgesetzt habt.“ „Genau“, bekräftigte Tobias. „Die Flure sehen toll aus. Macht richtig Spaß, da oben raufzukommen.“ „Es wirkt persönlich“, schloss sich auchThomas an. „Jeder von euch hat was ganz Einzigartiges erschaffen. Darauf könnt ihr stolz sein.“ „Tja, wir sind eben die Geilsten“, verkündete Sven, der mit einem breiten Grinsen nach einem neuen Stück Croque griff. Automatisch begann ich zusammen mit den anderen am Tisch zu lachen. Es fühlte sich gut an. Verdient. Befreiend. Automatisch sah ich zu Leif rüber. Der kämpfte mit jedem Bissen seines Croques, den er herunterwürgte. Ich bezweifelte, dass er überhaupt irgendetwas davon schmeckte. Oder etwas von dem mitbekam, was gerade am Tisch passierte. Er war irgendwo weit weg in seiner eigenen Welt. Weit, weit weg von mir. „Manuel?“ Ich schreckte hoch und blickte zu Cedric, der mich von der anderen Seite des Tisches aus anlächelte. „Ich muss dich und Leif nachher nochmal kurz entführen. Ich brauch noch Fotos von euch beiden.“ Ich blinzelte. „Äh … wozu?“ Cedric grinste. „Wenn ich wieder zu Hause bin, setze ich die Bilder mit ihren Erstellern auf ne Webseite und schicke Tobi den Link. Dann könnt ihr das euren Freunden und Verwandten zeigen, was ihr fabriziert ah.“ „Ah. Okay. Klingt toll.“ Wenn man jemanden hatte, dem man es zeigen konnte. „Super. Dann nach dem Essen, ja?“ „Ja, geht klar.“ Ich wollte mich wieder Leif zuwenden, aber anscheinend waren wir mit den Ankündigungen noch nicht fertig. „Was ist denn nun eigentlich mit dem Ausgang?“, wollte Jason wissen. Er hatte seinen Croques bereits vernichtet und einen großen Soßenfleck auf dem T-Shirt. So langsam wunderte mich nicht mehr, warum er ständig waschen musste. „Ja, also deswegen …“ Thomas sah zu Tobias rüber. Der machte eine leichte Kopfbewegung. Thomas atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Wir haben uns entschlossen, es zu erlauben. Allerdings unter der Bedingung, dass maximal drei von euch gleichzeitig unterwegs sind.“ Der zweite Satz ging in einem lauten Freudengeheul unter. Jason war aufgesprungen und ließ seinen Hintern rotieren. „Oh yeah, oh yeah!“, rief er und vollführte noch eine Drehung um die eigene Achse, bevor er mich bis über beide Backen anstrahlte. „Das heißt, wir können morgen ins Kino. Ich hab schon geschaut. Wenn wir mit dem Bus hinfahren, sind wir genau rechtzeitig zur Vorstellung um halb vier dort. Bis du dabei?“ Ein leiser Schauer rieselte mir über den Rücken. Kino. Ich ging gerne ins Kino, konnte es mir aber so gut wie nie leisten. Und jetzt … jetzt sollte ich das einfach so bekommen? „Aber Manuel hat doch nur zwei Stunden Ausgang. Das reicht doch vorne und hinten nicht.“ Nico machte bei der Aussage ein vollkommen unschuldiges Gesicht. Als wüsste er nicht, was er damit anrichtete. Wahrscheinlich hatte er es die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt. Was für ein Arsch! „Mhm“, machte Tobias. „Das stimmt natürlich. Ich könnte euch ja mit dem Auto …“ „Nein“, unterbrach ich ihn. „Ist schon okay. Ich verzichte.“ Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber natürlich musste die Realität immer nochmal nachtreten. Thomas räusperte sich. „Ich denke, in Anbetracht dessen, dass wir ja genau wissen, wo ihr sein werdet, können wir vielleicht mal eine Ausnahme machen. Was denkt ihr?“ Sein Blick wanderte durch die Runde. Inzwischen hatten alle aufgehört zu essen. Auch Leif hatte den Rest seines Croques auf den Teller gelegt und ein paar Servietten darüber zusammengeknüllt. Ich konnte nicht genau erkennen, wie viel er gegessen hatte, aber es war auf jeden Fall noch etwas übrig. „Na mir isses egal. Ich kann ja eh raus, wann ich will.“ Sven lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nico schnaubte. „Nee, in der Zeit nicht. Hast doch mitgekriegt. Nur drei auf einmal. Will heißen, solange die beiden Clowns weg sind, kann nur einer von uns raus.“ Sven machte ein dummes Gesicht. „Echt jetzt? Och man, warum denn? Das ist doch voll unfair.“ Thomas verzog den Mund. „Auch das gehört nun einmal im Leben dazu. Dass man sich zum Wohl der Gemeinschaft zurücknimmt. Nicht jeder kann immer der Erste sein.“ „Aber …“, begann Sven, wurde jedoch von Tobias unterbrochen. „Du hast anscheinend vergessen, dass Manuel gesagt hat, dass er dafür dann fürs Schwimmen gehen abstimmt. Er kommt also sowieso ins Kino, du aber nicht unbedingt zum Schwimmen.“ Ich sah, dass Tobias sich dabei ein bisschen das Lachen verkneifen musste. Gespannt sah ich zu Sven rüber. Der rollte nur mit den Augen. „Ja ja, schon gut. Ich wollte eh nicht weg. War ja nur, weil … ach leckt mich doch alle!“ Damit schob er geräuschvoll den Stuhl zurück, sprang auf und verließ den Raum. Auch Nico, Dennis und Jason erhoben sich. „Wir sind doch fertig, oder?“, wollte Dennis wissen, der diese Woche Tischdienst hatte. Er sah Leif fragend an. „Ja, klar“, antwortete der und reichte Dennis seinen Teller. Ich riss mich zusammen und sah weg. Du bist nicht für ihn verantwortlich, tönte es in meinem Kopf. Ich musste mich daran halten. Oben im Flur zückte Cedric seine Kamera. Er positionierte mich neben meinem Wurm und schoss ein paar Bilder. Danach deutete er auf den Kater. „Jetzt stellt ihr euch am besten zusammen auf.“ Er machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Ich trat zu Leif, der bereits an der Wand stand. Sein Blick hob sich. Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. „Alles gut?“, fragte ich leise. Ein Lächeln zupfte an Leifs Lippen. „Ja. Alles prima.“ Er stieß sich ab und kam auf mich zu. Schlang den Arm um mich und grinste in Richtung Kamera. „Cheese!“ Es blitzte und ich blinzelte. „Manuel! Was ist denn los? Lach mal!“ Cedric grinste auffordernd und auch Tobias, der neben ihm stand, lächelte breit. An meiner Seite fühlte ich Leif. Er war weich und warm. Meiner. Ganz automatisch hoben sich meine Mundwinkel. Ich packte Leif ebenfalls fester. Zog ihn an mich. Hob meine Hand zu einem Peacezeichen. Grinste. „Ja, das ist super.“ Cedrics Auslöser klickte und ich merkte, wie sich etwas in mir löste. Etwas Großes. Wie von selbst wandte ich meinen Kopf zu Leif. Er blickte immer noch in die Kamera. Lächelte. Er sah gut aus. Ohne zu überlegen spitzte ich die Lippen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ein fester Schmatz. Es war albern, aber … „Oho, nun geht’s aber los“, rief Cedric lachend. Leifs Lächeln hingegen verschwand. Er wandte mir den Kopf zu und sah mich an. Nicht wütend, sondern einfach nur … verblüfft. Erfreut? Ich konnte es nicht klar erkennen. Alles, was ich sehen konnte, war etwas, das ich wollte. Unbedingt. Plötzlich klickte noch einmal die Kamera. Leif und ich schraken zusammen. Unsere Köpfe ruckten zu Cedric herum. Er lächelte. „Sorry, ich konnte nicht widerstehen. Wenn ihr wollt, kann ich euch das Bild schicken.“ Keiner von uns antwortete. Ich wusste nicht, wie es Leif ging, aber ich war gerade einfach viel zu geflasht. Von Leif, dem Foto, von Cedrics Reaktion und der Tatsache, dass wir hier immer noch Arm in Arm standen. Als wäre es selbstverständlich. „Ich glaube, die beiden brauchen gerade ein bisschen Zeit alleine“, meinte Tobias mit einem wissenden Ausdruck im Gesicht. „Ich kümmer mich drum, dass sie das Bild bekommen.“ Cedric nickte und lachte noch einmal. Er kam auf uns zu und hob die Hand. „Na dann, ihr beiden, Macht’s gut. Und haltet die Ohren steif. Dass mir keine Klagen kommen, ja?“ Ich bekam mich irgendwie wieder zu fassen. Riss mich zusammen. Ließ Leif los und reichte Cedric meine Hand. „Logisch. Wir benehmen uns. Ein bisschen.“ Ich grinste und Cedric grinste zurück, bevor er sich Leif zuwandte. „Und du solltest dir echt überlegen, ob du nicht was in Richtung Grafiker machen willst. Wenn du willst, frag ich Andrea mal nach Infos und schicke sie Tobi per Mail. Ist kein Problem für mich.“ Ein leises Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Zögernd, aber anders als zuvor. „Ja, okay. Das wäre toll.“ „Prima. Dann pass gut auf unseren Casanova hier auf. Der bricht sonst noch ein paar Herzen.“ „Hey!“, protestierte ich, aber Leif lächelte nur. „Klar, mache ich“, sagte er und trat wieder zu mir. Er berührte mich nicht, aber ich spürte, dass er da war. Tobias wandte sich an Cedric. „Ich mach den beiden eben noch auf, dann mach ich Feierabend.“ „Klasse. Ich warte unten.“ Cedric winkte uns noch einmal zu, bevor er nach unten verschwand. Tobias hingegen fummelte sein Schlüsselbund aus der Hosentasche und machte sich auf den Weg zu Leifs Zimmer. Langsam folgten Leif und ich ihm. „Ich geh davon aus, dass ihr zurechtkommt?“ Tobias sah von einem zum anderen. Wir nickten. Er lächelte. „Schön. Dann macht nicht so lang und denkt dran, dass morgen wieder Schule ist.“ „Spielverderber“, unkte ich zurück, woraufhin er mir durch die Haare wuschelte und sich dann lachend vor meinem Abwehrschlag in Sicherheit brachte. „Zu langsam. Du musst mehr trainieren.“ „Werde ich“, rief ich ihm hinterher. „Das werde ich bestimmt. Ganz bestimmt.“ „Ja ja“, kam nur noch aus dem Treppenhaus. Dann hörten wir die Tür klappen und Tobias war verschwunden. Wir waren allein. „Gehen wir rein?“, fragte ich Leif. Er zögerte kurz, bevor er erneut nickte. Mit einem merkwürdigen Gefühlsmischmasch in meinem Inneren folgte ich ihm nach drinnen. Leif schloss die Tür, drehte sich um und sah mich an. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich, weil ich darauf wartete, dass er etwas sagte, und er … Schließlich atmete Leif hörbar aus. „Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angemacht habe. Ich war einfach … ich war ein bisschen durch den Wind. Wegen morgen.“ „Morgen?“ Ich runzelte die Stirn. Wovon sprach er? Leifs Gesicht zuckte. „Na das Gespräch. Mit meinen Eltern.“ „Das ist morgen?“ Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln, bevor er wieder ernst wurde. „Ja. Dr. Leiterer hat gemeint, dass wir die Besprechung noch vor dem Wochenende machen müssen. Bevor ich …“ Er brach ab. Er musste es auch nicht sagen. Ich wusste ja, worum es ging. Was Leif wiederum nicht wusste. Was für eine Scheiße! „Weißt du wirklich nicht, was er will?“, fragte ich. Leif presste die Kiefer aufeinander. „Ich denke, es geht um die Klinik“, sagte er leise. „Ich … ich fürchte, dass sie meine Eltern überzeugen wollen, dass ich dort hingehen sollte.“ Mein Magen ballte sich zusammen. Warum hatte Dr. Leiterer ihm nicht gesagt, was er wollte? Dann hätte Leif jetzt keine Angst haben müssen. Dann hätte er gewusst, dass wir ihm nur helfen wollten. Ich muss es ihm sagen. Ich muss. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Und doch musste es einen Weg geben, ihn wissen zu lassen, dass es nicht darum ging. Mein Herz machte einen Satz, als mir etwas einfiel. „Hat …“ Ich schluckte und räusperte mich. Normalerweise hatte ich kein Problem damit, die Wahrheit ein bisschen zurechtzubiegen. Aber das hier war anders. Das hier war Leif. Noch einmal begann ich. „Hat Dr. Leiterer denn gesagt, dass du in eine Klinik sollst?“ Leif schüttelte den Kopf. „Wir haben allerdings auch nicht darüber gesprochen.“ Okay, das war gut. Jetzt der nächste Schritt. „Dann … könnte es doch auch um ein ganz anderes Thema gehen.“ Ich versuchte nicht zu optimistisch zu klingen. Immerhin konnte ich ja eigentlich nicht wissen, was Phase war. Leif biss nicht an. Er lachte trocken auf. „Worum sollte es denn sonst gehen? Es geht ja immer nur darum. Wie viel ich wiege, was ich esse, was ich nicht esse, ob ich kotzen war oder nicht. Mein ganzes Leben ist nur noch ein einziges Protokoll. Ich hasse es!“ Wütend funkelte er mich an. Ich biss mir auf die Zunge. Das „Dann lass es doch“, saß viel zu weit vorne und wäre mir sonst möglicherweise herausgerutscht. Ich wusste ja, dass das nicht so einfach war. Oder doch? „Du hast doch heute Abend gegessen. Das war doch … gut.“ Er schnaubte. „Ja. Da hab ich es ausnahmsweise mal hingekriegt. Weil ich … weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass sie mich von hier wegbringen, wenn ich es nicht schaffe. Und dass …“ Er verstummte. Was wollte er mir nicht sagen? Langsam trat ich einen Schritt auf ihn zu und dann noch einen, bis ich direkt vor ihm stand. Ich zögerte kurz, bevor ich die Arme um ihn legte. Meine Hände fuhren seinen Nacken hinauf. „Du hast es aber geschafft. Das ist alles was zählt. Und jetzt bin ich ja da, um dich abzulenken.“ Ich lächelte ein bisschen. Leif hob seinen Blick. Ein wenig unsicher sah er mich an. „Und wenn ich nicht … kann?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht. Kuscheln wir halt nur. Wenn du magst.“ Ein kurzes Nicken antwortete mir. Ich nahm das zum Anlass, ihn zum Bett zu dirigieren. Als ich ihn jedoch auf die Matratze drücken wollte, stemmte er sich dagegen. „Warte.“ Ich sah zu, wie er Decke und Kopfkissen nahm und vertauschte, sodass das Kissen am Fußende zu liegen kam. „Dann können wir aus dem Fenster gucken“, erklärte er. Ich sagte nichts dazu. Ich kletterte lediglich ins Bett und wartete darauf, dass er sich neben mich legte. Als es soweit war, rückte ich an ihn heran und legte den Arm um ihn. Danach bettete ich meinen Kopf an seiner Schulter und schloss die Augen. „Siehst du?“, fragte ich und drückte ihn noch ein bisschen fester an mich. „Alles ganz safe. Niemand fasst hier niemanden an, wenn der das nicht will.“ Ich hörte Leif belustigt schnauben. Seine Hand fuhr durch meine Haare. „Du hast einen Knall.“ „Danke gleichfalls.“ Darauf sagte er nichts mehr. Wir lagen einfach nur da, Arm in Arm, und taten gar nichts. Ab und an bewegte sich Leif unter mir. Ich brummte unwillig. „Du bist ein verdammt schlechtes Kissen, wenn du immer so rumzappelst“, murrte ich und tat so, als würde ich ihn zurechtklopfen. „Dann lass uns doch tauschen“, schlug er vor. Seufzend rollte ich mich herum auf die andere Seite. Er schmiegte sich von hinten an mich. Seine Lippen streichelten meinen Nacken. „So besser?“, flüsterte er. „Ja. Wenn du jetzt still bist.“ Wieder verstummte er, doch dieses Mal merkte ich, wie er sich an mich drückte. Seine Arme schlossen sich um mich und hielten mich fest wie einen viel zu groß geratenen Teddybären. Sein Gesicht war irgendwo zwischen meinen Schulterblättern vergraben. Ich spürte ihn atmen. Und ich konnte ihn denken hören. Irgendwann gab ich auf. „Was?“, fragte ich leicht genervt. „Ach nichts“, kam prompt zurück. Ich rollte mit den Augen. Was hatte ich auch erwartet. „Nun sag schon. Ich merke doch, dass du was hast.“ Sein Griff wurde noch einmal fester. „Es ist nichts. Wirklich. Ich wünschte nur, dass ich nie mit dem Mist angefangen hätte. Dass ich gesund wäre und wir einfach … ach egal.“ Wieder breitete sich Schweigen aus. Kein gutes Schweigen. Mehr so eins das mit dem Geruch nach alten Socken und muffeligen Umkleidekabinen durchtränkt war. Der Aufsatz, unter dem doch wieder nur ne Fünf stand. Enttäuschte Blicke und hängende Köpfe. Das Gefühl versagt zu haben. Hinter mir atmete Leif tief ein. „Sorry“, murmelte er. „Jetzt fang ich schon wieder an. Ich … ich krieg das nur einfach nicht aus meinem Kopf.“ Für einen Moment war ich in Versuchung zu sagen, dass ich da was wüsste, um ihn abzulenken. Etwas, das mit ziemlicher Sicherheit funktionierte. Hatte es bei mir ja auch. Solange, bis nicht darüber nachzudenken zur reinen Gewohnheit geworden war. Weil davor weglaufen einfacher war als sich dem zu stellen, was im Keller lauerte. Ich hatte genug Horrorfilme gesehen, um das zu wissen. Leider war es meist ebenso erfolglos. „Kenne ich“, sagte ich mit rauer Stimme. Ich hatte nicht gemerkt, wie mein Hals beschlagen war. Leif horchte auf. „Erzähl“, bat er. Ich schluckte trocken. „Ist aber ne Scheißgeschichte.“ Er lachte. „Na immerhin ist es nicht meine. Also los. Erzähl mir was von dir.“ Regungslos lag ich da und starrte die Wand an. Weiße Raufaser. Genau wie bei mir drüben. Nicht gerade einfallsreich. „Was willst du denn wissen?“ Leif überlegte einen Augenblick. „Erzähl mir von deinem Bruder.“ Volltreffer! „Ich könnte dir auch erzählen, wie ich mal die Nacht mit zwei Typen verbracht habe.“ Leif drückte mich ein bisschen fester und ich gab mich keuchend geschlagen. „Okay, na gut. Ich erzähl es dir ja.“ Ich überlegte einen Augenblick, wo ich anfangen sollte. Sicherlich nicht beim Urschleim, aber … „Pascal und ich waren schon immer ziemlich verschieden. Während er meist mit seiner Clique abhing, bin ich lieber allein losgezogen. Hab mich rumgetrieben. Mich zu dem Bauernhof geschlichen, den es bei uns in der Gegend gab. Da konnte man Tiere füttern und streicheln und so. Mein Bruder hat lieber mit Steinen nach den Ziegen geworfen. Ich hab auch öfter mal meiner Mutter geholfen. Mit dem Haushalt. War einkaufen, hab Geschirr gespült, Wäsche gewaschen. So was halt. Mein Vater und mein Bruder haben dann immer Witze über mich gerissen. Dass ich wohl besser ein Mädchen geworden wäre. Ich hab’s trotzdem gemacht. Wegen meiner Mutter. Sie war immer … sie war immer freundlich zu mir.“ Aber sie war zu schwach, um sich gegen meinen Vater durchzusetzen. „Also ist dein Bruder ein Arschloch.“ „Jepp.“ „Und deswegen hast du ihn verpfiffen?“ Ich hätte fast gelacht. Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre. „Nein. Vorher hab ich noch versucht so zu sein wie er. Ich wollte unbedingt zu seiner Gang dazugehören. Und es war mir egal, dass ich dafür Leuten wehtat, ihnen Angst machte oder sie beklaute. Wenigstens hatte ich das gedacht. Aber als ich geschnappt wurde und dieser Typ mir drohte, dass ich ins Gefängnis kommen würde, wenn ich nicht auspackte, bin ich eingeknickt. Ich hab ihm alles gesagt, was er wissen musste. Tja, und als mein Bruder dann nach einem Jahr auf Bewährung rauskam …“ Ich schwieg. Über den Tag, an dem das passiert war, wollte ich nicht sprechen. Ich konnte nicht. Ich wusste noch, dass wir in der Schule einen Test geschrieben hatten. Mathe oder Deutsch. Irgendwas davon. Ich hatte die ganze Stunde lang nur da gesessen und auf das leere Blatt gestarrt. Nicht eine Zahl, nicht einen Buchstaben hatte ich hingeschrieben. Ich hatte nur auf den Augenblick gewartet, in dem bei uns zu Hause die Tür aufging, und Pascal wieder nach Hause kam. Und dann war ich geflüchtet. Eine halbe Stunde vorher hatte ich die Kurve gekratzt und mich bei seinen Kumpels versteckt. Dem wohl schlechtesten Versteck überhaupt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Pascal ebenfalls am Treffpunkt aufgetaucht war. Es hatte ein großes Hallo gegeben, aber er hatte nur Augen für mich gehabt. Wie Dolche hatten sie sich in meine gebohrt. Und dann war er auf mich zugekommen, hatte ausgeholt und zugeschlagen. Immer wieder. Bis ich am Boden gelegen hatte. Unfähig mich zu wehren, unfähig aufzustehen. Dann hatte er angefangen, auf mich einzutreten. Und am Schluss war da irgendwie ein Messer gewesen. „Hat er versucht dich umzubringen.“ Erst, nachdem Leif den Satz gesagt hatte, wurde mir klar, dass es keine Frage gewesen war. Es war eine Feststellung. „Ja“, antwortete ich trotzdem. „Aber er hat’s nicht geschafft. Ich bin noch da.“ Mit einem tiefen Durchatmen drehte ich mich zu Leif herum. Er sah mich an. „Und?“, fragte ich. „Hab ich dich jetzt genug abgelenkt?“ Das war die Stelle, an der er eigentlich hätte lachen sollen. Tat er aber nicht. Ich war wohl doch kein so guter Entertainer. „Das ist krass“, meinte er gedankenverloren. „Dein eigener Bruder. Ich kann mir das gar nicht vorstellen.“ Ich schnaubte. „Tja, sag ich ja. Familie ist scheiße. Ich brauch die nicht. Keinen von denen.“ Ein kleines Lächeln glitt über Leifs Gesicht. „So weit bin ich wohl noch nicht. Ich denk irgendwie immer noch …“ Er verstummte und wandte den Blick ab. Ich schob die Augenbrauen zusammen. „Was denkst du? Dass sich das mit deinen Eltern irgendwann wieder einrenkt?“ Leif antwortete nicht. Er sah einfach nur aus dem Fenster. „Man, die wollen dich nicht. Die haben dich in ein verdammtes Heim gesteckt, damit sie dich los sind.“ „Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich hierher wollte.“ Er klang plötzlich gereizt. Na prima. Jetzt stritten wir uns auch noch wegen dem Scheiß. Ich knurrte. „Ach hör doch auf zu lügen. Keiner von uns will hier sein. Wir sind nur hier, weil die anderen Möglichkeiten noch beschissener wären.“ Leif presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Dann bin ich also nur die am wenigsten beschissene Alternative für dich?“ „Was? Nein! Das hab ich doch überhaupt nicht gesagt.“ Ich kam hoch und stützte mich auf meinen Ellenbogen. Leif starrte weiterhin an mir vorbei aus dem Fenster, bis er endlich aufgab und mich ansah. Seine Augen waren dunkel und zornig. Ich versuchte ein Lächeln. „Du bist an dieser ganzen beschissenen Geschichte das Einzige, warum ich alles wieder genauso machen würde wie beim ersten Mal.“ Leif guckte immer noch finster. „Auch dich fast von deinem Bruder abstechen lassen?“ Mein Lächeln wurde breiter. „Auch das. Wobei ich gut auf die Prügel verzichten könnte, die ich davor bezogen habe. Aber ja, wenn mir das garantieren würde, dass ich wieder hier bei dir landen würde, dann würde ich es tun.“ Einen Augenblick lang sah Leif mich einfach nur an. Er scannte jeden Quadratzentimeter meines Gesichts. Fast so als könne er nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Im nächsten Moment griff er in meinen Nacken und zog mich zu sich herab. Er küsste mich. Lange und gründlich küsste er mich. Als wir uns endlich wieder trennten, fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen. „Mhm“, meinte ich genießerisch schmatzend. „Schmecke ich da Ananas?“ Er lachte. „Ich glaube nicht. „Könnte ich Ananas schmecken?“ Ich sah zu ihm runter. Seine Lippen waren wund und rot vom Küssen und in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz. Unwillkürlich musste ich lächeln. „Und? Könnte ich?“ Noch einmal sah er mich einfach nur an, doch dieses Mal war der Kuss, der der ausführlichen Betrachtung folgte, sanfter. „Alles was du möchtest“, flüsterte er gegen meine Lippen. Ich lächelte. „Und wenn ich dich ganz wollen würde?“ Er sah zu mir auf. „Dann würdest du auch das kriegen. Vielleicht nicht unbedingt heute, aber …“ Schnell verschloss ich seine Lippen mit einem Kuss. „Nicht heute“, wiederholte ich. „Aber vielleicht Morgen oder nächste Woche oder irgendwann.“ Leif nickte leicht. „Ja, irgendwann“, bestätigte er und das war alles, was ich wissen musste. Kapitel 27: Irgendwie --------------------- „Na, Manuel, wie kommst du zurecht?“   Ich sah auf und damit direkt in Frau Schmidts Gesicht. Vor mir lag ein leeres Blatt. Darauf hätten eigentlich irgendwelche Berechnungen stehen sollen. Wie viel Fußleiste bestellt werden musste, wenn in einem Raum die Tür so und so breit war, und ähnlich sinnvoller Kram. Statt jedoch brav zu rechnen, hatte ich mit der Spitze meines Zirkels Löcher in das Blatt gepikt. Frau Schmidts Augenbrauen wanderten nach oben.   „Soll ich jetzt böse sein, weil du das Instrument missbrauchst, oder froh, weil du nicht versucht hast, dir damit ein Tattoo zu stechen?“   Ich blinzelte Frau Schmidt an. Sie lachte. „Nun guck nicht so entsetzt. Ist ja nicht so, dass das die neueste Idee aller Zeiten wäre. Also dann rück mal raus mit der Sprache. Wo hakt es denn?“   „Nirgends“, murmelte ich und sah wieder hinab auf mein Arbeitsblatt. „Ich hab einfach nur keinen Bock gehabt.“ Was nur zur Hälfte stimmte. Natürlich hatte ich keinen Bock auf den Scheiß. Der Grund, warum ich nichts gemacht hatte, saß aber im Raum nebenan. Leif. Und natürlich das Gespräch, das heute Nachmittag anstand. Er hatte anscheinend echt Schiss davor. So sehr, dass ich kurz davor gewesen war, ihm zu sagen, dass ich mit Dr. Leiterer gesprochen hatte. Aber dann hatte ich es doch gelassen. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Vielleicht weil ich auch Angst hatte. Davor, wie er reagieren würde. Immerhin hatte ich mich eingemischt, ohne ihn zu fragen. Was, wenn ich damit wirklich etwas losgetreten hatte? Wenn Leif recht hatte mit seinen Befürchtungen? Was dann?   „Tja, wenn du keinen Bock hast, dann machst du es eben ohne“, verkündete mir Frau Schmidt, die natürlich von all dem nichts ahnte. „Ich weiß wirklich nicht, was heute mit dir los ist. Du bist doch sonst so gut dabei.“   „Ist bestimmt, weil er heute ein Date mit mir hat.“ Jason grinste an seinem Tisch schräg vor mir von einem Ohr zum anderen. Was für ein Pimp! „Ach wirklich?“ Frau Schmidt schien nicht beeindruckt. „Dann würde ich euch raten, euch schleunigst an die Aufgaben zu machen, denn morgen will ich die Zettel abgearbeitet auf meinem Schreibtisch haben. Wäre doch schade, wenn euer Date nur aus gemeinsamem Hausaufgabenmachen bestände.“ Damit gönnte sie uns beiden noch einen prüfenden Blick und rauschte dann von dannen, um einen der anderen Schüler beim Arbeiten zu stören. Immer noch grinsend wandte sich Jason mir zu. „Godzilla hat echt Glück, dass Frau Schmidt nicht in dem Film mitspielt. Ich sag’s dir. Die hätte sie alle plattgemacht.“   Entgegen meiner derzeitigen Laune, musste ich doch ein bisschen lachen. Vermutlich hatte Jason da gar nicht mal so unrecht. Frau Schmidt war schon ziemlich speziell. Nur machte das mein Problem nicht kleiner.   „Dann eben Mathe“, murmelte ich und machte mich daran, nun endlich auszurechnen, wie viele Pakete der gute Mann aus der Aufgabe für seine Küche brauchte. Ich kam auf 134. Das konnte unmöglich stimmen. „Was für ein Käse!“, knurrte ich und fing an, die ganzen Zahlen wieder durchzustreichen. Zum Glück rettete mich in dem Moment die Klingel vor weiteren Rechenkunststücken. Mit einem Seufzen packte ich meinen Kram zusammen. Der Gedanke, gleich wieder auf Leif zu treffen, ließ mich fast wünschen, dass ich mich noch ein bisschen länger mit Fliesen und Fußleisten hätte beschäftigen können. Obwohl das wirklich öde war. Praktischerweise wich mir Jason nicht von der Seite. „Wenn das mit dem Kino gut läuft, können wir ja nächste Woche nochmal zusammen los. Dann kann ich dir mal Miriam zeigen. Du weißt schon. Die Kleine, von der ich dir erzählt habe.“   „Jaja“, gab ich abwesend zurück. Ich hatte Leif auf dem Gang stehen sehen. Er wartete auf mich. „Vielleicht will er ja auch mit.“   „Mhm“, machte ich und begriff erst dann, wovon Jason sprach. Auf meinen verständnislosen Blick hin zuckte er mit den Achseln. „Na ja, du und Leif hängt doch eh dauernd zusammen ab. Da können wir doch mal was zusammen machen. Hey, vielleicht will er ja mit ins Kino.“   Bevor ich Jason aufhalten konnte, brüllte er über den Flur.   „Ey, Leif! Willst du heute Nachmittag mitkommen?“   Leif schien im ersten Moment nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Er starrte Jason einfach nur an. Die anderen, die an ihm vorbeigingen, brachten irgendeinen dummen Spruch, der ihn aus seiner Starre riss. Er gönnte ihnen ein „Haltet die Klappe“ und wandte sich dann wieder an Jason. „Tut mir leid, ich hab heute Nachmittag schon was vor. Ansonsten gerne.“   Ich sah, dass er sich bemühte. Das war auch etwas, das neu war. Er strengte sich richtig an. Beim Essen und auch sonst. Jason schien von all dem nichts zu bemerken.   „Ach kacke. Dann vielleicht nächste Woche? Ich will unbedingt auch noch den neuen X-Men sehen. Und nächsten Monat kommt Spider-Man raus. Ihr mögt doch Comicverfilmungen, oder?“   „Klar“, versuchte ich, Jason abzuwimmeln. Die Wahrheit war, dass ich keine Ahnung hatte, was Leif gerne guckte. Oder ob er überhaupt gerne ins Kino ging. Ich wusste so wenig von ihm. „Klasse, dann schlage ich das bei der nächsten Sitzung gleich mal vor. Oder ich frage Thomas gleich. Hey, Thomas!“   Jason lief vor und umringte Thomas, der am Ausgang auf uns wartete, mit Fragen. Das gab mir Zeit, mich Leif zuzuwenden. „Alles klar?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es das nicht war. Bevor Leif jedoch antworten konnte, wurden seine Augen plötzlich groß. Sein Blick glitt an mir vorbei und als ich ihm folgte, sah ich einen großen, grauen Mercedes auf den Parkplatz einbiegen. Er hielt mitten auf der freien Fläche, der Fahrer stieg aus, eilte nach hinten und öffnete die Wagentür. Ein Paar bestöckelschuhte Beine schoben sich auf den Sand. Die Dinger hatten nicht nur mörderische Absätze, sie waren auch noch goldfarben! Vermutlich um zu dem schwarzgoldenen Kleid zu passen, dass die Frau am Ende der Beine trug. Blond gesträhnte Haare fielen ihr makellos zurechtgelegt bis auf die Schultern und die millimeterdünn gezupften Augenbrauen wurden ebenso wie der Rest des Gesichts von nicht allzu dezentem Makeup betont. Vervollständigt wurde das Ganze mit zwei riesigen goldenen Ohrringen und einer langen, goldenen Kette, die ihr tief ins Dekolletee hing. Als die Frau uns entdeckte, verzerrten sich ihre grellrot geschminkten Lippen zu einem Lächeln. „Ah, Leif, mein Junge. Wie schön, dich zu sehen.“ Erst in diesem Moment fiel mir auf, wie ähnlich Leif ihr sah. Die Nasenform, die vorstehenden Wangenknochen, ja sogar die Figur schien er von ihr geerbt zu haben. Den Mund hatte er jedoch eindeutig von seinem Vater, der jetzt auf der anderen Seite des Wagens ausstieg. Er sah aus wie der Chef, den man nicht haben wollte. Über dem Hosenbund seines vermutlich teuren, grauen Anzugs spannte sich ein unübersehbarer Bauch. Missbilligend blickte er in die Gegend. „Sie können hier warten“, sagte er zu dem Fahrer, von dem mir erst jetzt auffiel, dass er eigentlich zu viel war. Die hatten sich doch tatsächlich hierher chauffieren lassen. Echt unglaublich.   Mit großspurigen Schritten kam Leifs Vater auf uns zu. Thomas, der die Szene vom Rand aus beobachtete, würdigte er keines Blickes. „Da bist du ja, mein Sohn.“   Während er Leif die schwere Hand hinhielt, musterte er mich kurz, als hätte er so eben entdeckt, dass da etwas an seinem Schuh klebte. Danach wurde ich fallengelassen und ignoriert.   Leif rührte sich nicht. „Was wollt ihr hier?“, fragte er nur mühsam beherrscht. Die Miene seines Vaters wurde noch sauertöpfischer als ohnehin schon. „Wir wurden eingeladen. Herr Leiterer möchte etwas mit uns besprechen.“   „Ja, und deshalb sind wir ein bisschen früher gekommen“, schaltete sich Leifs Mutter in süßlichem Plauderton ein. „Dann können wir heute Mittag noch zusammen essen.“   „Nein danke, ich verzichte.“ Damit wollte Leif sich umdrehen und verschwinden, aber sein Vater hielt ihn an der Schulter fest. „Wie kannst du es wagen, so mit deiner Mutter zu sprechen? Entschuldige dich gefälligst.“ „Ganz sicher nicht“, zischte Leif. In dem Moment kam Thomas zu uns herüber. Sein Gesicht war ernst. „Darf ich fragen, was hier vor sich geht?“   Leifs Vater drehte sich mit gönnerhafter Miene zu ihm herum. „Wir beabsichtigen, Leif zum Mittagessen auszuführen. Er müsste sich dafür allerdings noch umziehen. Wenn Sie das wohl in die Wege leiten könnten?“   Thomas Mundwinkel zuckten. „Tut mir leid, aber das wird nicht möglich sein. Die Jungen haben einen vorgeschriebenen Tagesplan, von dem wir nicht ohne Weiteres abweichen können. Das schließt gemeinsame Mahlzeiten und eine angemessene Zeit für die Erledigung der Hausaufgaben mit ein. Wenn ich recht informiert bin, werden Sie aber heute Nachmittag Gelegenheit bekommen, Leif zu sehen:“   Leifs Mutter stieß ein Geräusch aus, das wohl so etwas wie ein abfälliges Lachen darstellen sollte.   „Leif ist immerhin unser Sohn. Wenn wir mit ihm Essen gehen wollen, dann werden wir das auch tun.“   Ich konnte förmlich sehen, wie die Ader auf Thomas’ Stirn anfing zu pochen. Aber er beherrschte sich. „Es tut mir leid, aber das kann ich in diesem Fall nicht zulassen. Sie müssen solche Dinge vorher mit uns absprechen. Die Jugendlichen brauchen verlässliche Größen in ihrem Leben. Ein geregelter Tagesablauf ist daher extrem wichtig. Wir können nicht auf der einen Seite Verstöße dagegen ahnden und auf der anderen Seite einfach zulassen, wenn es uns in den Sinn kommt. Diese Inkonsistenz würde die Regeln ad absurdum führen und den Erfolg des Programms gefährden.“   Leifs Vater schien versucht, dagegen aufzubegehren, aber Thomas’ Argumentation hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. Er knurrte und warf einen wütenden Blick auf Leif. „Na schön. Aber nach diesem Treffen heute Nachmittag werden wir ihn mitnehmen. Richten Sie das Herrn Steiner schon einmal aus. Wir haben unsere Zeit schließlich auch nicht gestohlen.“   Damit ließ er uns ohne ein Wort des Abschieds stehen. Seine Frau warf noch einen Blick auf uns und stiefelte dann hinter ihrem Mann her. Kaum, dass die beiden eingestiegen waren, wendete der Fahrer den Mercedes geschickt und die Karosse rollte hoheitsvoll von dannen. Erst, als sie endgültig verschwunden war, hörte ich Leif neben mir aufatmen. „Das war verdammt knapp“, murmelte er und warf einen dankbaren Blick zu Thomas. „Danke, dass du dich eingemischt hast.“   „Da nicht für“, gab der zurück. „Ich bin zwar kein großer Freund von Konfrontationen, aber deine Eltern sollen ruhig wissen, dass die aufgestellten Regeln für alle gelten. Auch für sie.“   Leif verzog den Mund zu einem abschätzigen Ausdruck. Ich war mir sicher, dass er etwas dazu zu sagen gehabt hätte, aber er tat es nicht. Und ich auch nicht. Weil ich nicht wusste, was. Ich wusste nur, dass es richtig war, ihn von diesen Leuten wegzuholen. Jetzt musste ich nur noch hoffen, dass Dr. Leiterer auch alle anderen davon überzeugen konnte. Alle anderen inklusive Leif.   Das Mittagessen verlief schweigsam. Das hieß, eigentlich sorgten die anderen für genug Lärm, sodass es nicht weiter auffiel, dass Leif und ich beide nicht viel sagten. Danach trennten sich unsere Wege wieder. Er übernahm das Reinigen des Fußboden in der Küche, ich trollte mich mit Besen und Co ins Treppenhaus. Während ich arbeitete, kam Tobias zu mir. „Hey, Großer. Wenn du hier fertig bist, komm doch mal eben runter ins Büro. Du kriegst noch dein Geld und dein Handy. Damit ihr nachher rechtzeitig loskommt.“ „Okay.“   Normalerweise hätte ich vor Freude im Dreieck springen müssen. Ausgang und mein Handy und noch dazu über die Mittagszeit. Etwas, das Normalerweise nicht erlaubt war. Und doch konnte ich mich gerade nur schwer dafür begeistern. Dummerweise entging das auch Tobias nicht. Er musterte mich eingehend. „Alles gut bei dir?“ „Jaja, alles bestens.“   Ich hatte schon mal besser gelogen.   „Ist es wegen Leif?“ Volltreffer.   „Ja. Ich mach mir halt Gedanken. Seine Eltern waren vorhin da und die sind so … argh. Ich kann es gar nicht beschreiben. Die tun so, als wäre Leif ne Puppe. Irgendwas, dass sie sich in den Schrank stellen und bei Bedarf herausholen können, um damit vor ihren Freunden anzugeben. Verstehst du, was ich meine?“   Tobias sah mich eine Weile lang an, bevor er langsam nickte. „Ja, ich verstehe es. Das ist so ziemlich das Gleiche, was ich auch gedacht habe, als ich sie das erste Mal erlebt habe. Du hast eine gute Beobachtungsgabe.“   Ich schnaubte. „Na toll. Davon kann ich mir aber auch nichts kaufen. Und Leif auch nicht.“   Mit einem Seufzen stützte ich mich auf den Besenstiel. Da waren immer noch Krümel auf der Treppe, aber irgendwie … „Versprichst du mir, dass du auf ihn aufpasst?“   Ich sah Tobias nicht an, während ich das sagte. Er lachte. „Natürlich tu ich das. Ist immerhin mein Job, oder nicht?“   Ich lächelte schwach. „Ja, ist es. Aber wer weiß, ob du auch gut darin bist.“ „Hey!“   Ich grinste über seinen gespielten Protest. Den Druck auf meiner Brust machte es nicht kleiner.     Die Mittagsstunde verbrachte ich mit meinem Handy. Ich wusste, dass ich vermutlich lieber Leif hätte zur Seite stehen sollen, aber ich konnte nicht. Zu groß war die Angst, dass ich mich verquatschte. Außerdem hatte ich mitgekriegt, dass er zwischendurch im Bad verschwunden war. Ich wusste nicht ob nur so oder deswegen. Ich war wütend, weil er es gemacht hatte – wenn er es denn gemacht hatte – und gleichzeitig nagte das schlechte Gewissen an mir, weil ich ihn nicht aufgehalten hatte. Ihn abgelenkt. Ich ließ ihn allein mit der Scheiße und das fühlte sich megabeschissen an. Gleichzeitig wusste ich, dass alles, was ich hätte sagen können, eh nur leeres Gequatsche gewesen wäre. Ich konnte nichts für ihn tun. Dementsprechend war ich froh, als ich endlich Schritte und Schlüsselklappern auf dem Gang hörte. Thomas öffnete die Tür zu meinem Zimmer.   „So, Mittagspause beendet. Raus mit dir. Jason ist schon ganz zappelig vom Warten.“   Ich nickte ihm zu und steckte mein Handy weg. Dass er es gesehen hatte, war vielleicht nicht so prickelnd, aber andererseits war es mir gerade so richtig vollkommen egal, wenn Tobias deswegen Ärger bekam. Mir war gerade alles egal. Alles nur Leif nicht. Und doch stockte ich, als ich in den Flur trat, während Thomas gerade Leifs Tür aufschloss. „So, Mittagspause beendet. Du kannst dann gleich runterkommen. Deine Eltern sollten jeden Moment kommen und Dr. Leiterer möchte vorher nochmal kurz mit dir reden.“   Ich hörte Leif antworten, dann drehte sich Thomas um und kam wieder zurück. Er maß mich mit einem erstaunten Blick. „Wolltest du nicht ins Kino.“ „Ja gleich. Ich will nur noch kurz …“   Thomas nickte verstehend. Ich drückte mich an ihm vorbei und ging zu Leifs Tür. Vorsichtig klopfte ich an, bevor ich sie ein Stück weit aufschob. „Hey“, sagte ich leise. „Ich … ich wollte dir nur noch viel Glück wünschen.“   Leif, der am Schreibtisch saß, hob den Kopf. Er war blass und ich war mir ziemlich sicher, dass er sein Mittagessen nicht bei sich behalten hatte. Verdammt!   „Danke“, gab er zurück, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. Hinter mir hörte ich Jason durch die Gegend krakeelen, dass ich hinne machen sollte, damit wir den Bus nicht verpassten. Ich verzog das Gesicht zu einer entschuldigenden Grimasse. „Du hörst ja, mein Taxi wartet.“   Leif rang sich ein Lächeln ab. „Geh nur. Ich erzähl dir nachher, wie es gelaufen ist.“   Ich wollte noch etwas erwidern, aber Jason rief schon wieder nach mir und allem Anschein nach kam er auch noch her, um mich abzuholen. Ich blickte mich gehetzt um trat dann in den Raum und drückte Leif einen Kuss auf den Mund. „Es wird alles gut werden“, versprach ich ihm. Danach sah ich zu, dass ich rauskam. Den Kloß in meinem Hals bekam ich jedoch nicht heruntergeschluckt.     „Da bist du ja endlich.“ Jason war schon wieder im umherspringender-Welpe-Modus und megaaufgeregt, wie er mir selbst mitteilte. So viel zum Thema cool. Das hatte ich definitiv besser drauf. Trotz der ganzen Scheiße, die mir gerade im Kopf rumschwirrte. So stand ich ohne ein Wort zu sagen an der Bushaltestelle neben ihm und wartete. Endlich tauchte in der Ferne ein passender Umriss auf. „Er kommt“, plapperte Jason unsinnigerweise vor sich hin. Ich nickte nur, denn ich hatte etwas anderes entdeckt. Etwas, das noch vor dem Bus fuhr. Es war ein großer, grauer Pkw und je näher er kam, desto sicherer war ich mir, dass es der Wagen von Leifs Eltern war. Er hatte es anscheinend nicht eilig und bummelte ziemlich durch die Allee. So sehr, dass es sogar Jason auffiel. „Maaan, die sollen mal hinne machen. Wir kommen noch zu spät.“   Endlich waren Bus und Wagen heran und ich sah, dass ich mich nicht geirrt hatte. Der Fahrer des Mercedes setzte den Blinker und bog in die Einfahrt nach Thielensee ein. Gleich darauf wurde er von dem ankommenden Bus verdeckt. Der hielt direkt vor uns und die Türen öffneten sich mit einem vernehmbaren Zischen. „Komm schon, Einsteigen!“, rief Jason mir zu, aber ich bewegte mich nicht. Stattdessen starrte ich wie hypnotisiert auf die Stelle, wo das Auto verschwunden war. Plötzlich hatte ich ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. „Manuel! Nun komm endlich!“   Jason hing bereits halb im Bus. Vermutlich um ihn am Losfahren zu hindern. Ich sah ihn an, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte hier nicht weg.   „Du musst ohne mich fahren.“   Ich hörte die Worte, die ich ausgesprochen hatte, aber im Grunde genommen konnte ich es ebenso wenig glauben wie Jason, der mich anglotzte, als hätte ich mich gerade in ein Mondkalb mit zwei Köpfen verwandelt. „Willst du mich verarschen?“, polterte er auch gleich los. „Wir sind verabredet, Mann.“   „Ja, ich weiß“, gab ich zurück. Es klang hinreichend verzweifelt. „Aber ich kann nicht mitkommen. Bitte, Jason. Fahr ohne mich, ja? Ich sag auch keinem, dass du alleine los bist. Versprochen.“   Er sah mich immer noch an, als wäre ich vollkommen verrückt. Hinter ihm brummelte der Fahrer herum. „Also entweder steigt dein Freund jetzt ein oder ihr steigt beide aus. Entscheide dich.“   Jasons Hand ballte sich zur Faust. „Du bist echt ein Arsch, weißt du das?“   Ich starrte ihn nur stumm an. Jason streckte mir den Mittelfinger hin, bevor er sich umdrehte und im Bus verschwand. Die Tür schloss sich hinter ihm. Kurz darauf rollte das Gefährt von dannen und ließ mich in einer stinkenden Abgaswolke zurück. Ganz allein stand ich jetzt mitten auf der Straße. Über die graue Mauer hinweg konnte ich die Gebäude sehen, die zu unserer Anstalt gehörten. Das Haupthaus mit den Büros und den Schulräumen, rechts und links davon die beiden Wohntrakts. Unserer war der rechte. In dem waren wohl mittlerweile Leifs Eltern verschwunden. Ich sah es förmlich vor mir, wie sie von Herrn Steiner in den Besprechungsraum gebracht wurden, wo sich alle um den großen Tisch versammelten, um über Leifs Schicksal zu entscheiden.   Ich muss da rein.   Die Absicht war vollkommen klar, aber wie sollte ich das schaffen? Ich konnte wohl kaum einfach wieder zur Tür spazieren und darum bitten, bei der Sitzung dabei sein zu können. Aber irgendwie musste ich erfahren, was da drinnen vor sich ging. Ich musste einfach.   Der Garten! Wenn ich es schaffte, über die Mauer zu kommen, könnte ich mich vielleicht von hinten anschleichen. Bei dem Wetter war bestimmt ein Fenster geöffnet. Aber wie sollte ich mehr als zwei Meter soliden Stein überwinden. Einen Bulldozer würde mir wohl kaum jemand ausleihen.   Außerdem wäre das zu auffällig. Ich muss einen anderen Weg finden. Aber wie? Und wo?   Meine Hand glitt zu meiner hinteren Hosentasche. Ob man Anleitungen dafür im Internet fand? Eine Suchanfrage später war ich schlauer. Ein Video von einem Typen, der eine Mauer einfach so hochlief. Mit Anlauf, hepp und hoch. Ob ich das auch konnte?   Versuch macht kluch, dachte ich bei mir und steckte das Handy wieder weg. Mit Chancen würden ich und das Ding gleich unbeschadet auf der anderen Seite landen. Wenn nicht, bekam mindestens einer von uns Kratzer.   Hoffen wir mal, dass das nicht ich bin.     Kurz darauf wusste ich, dass das, was der Typ in dem Video abzog, nicht meine Welt war.   „Parcours am Arsch“, knurrte ich und pustete auf meine zerschrammten Handflächen. Aber irgendwie musste ich doch da reinkommen.   „Also schön, letzter Versuch.“   Danach würde ich mich geschlagen geben und einfach abwarten, bis Jason wieder aus dem Kino kam.   Nicht abbremsen, nicht zu tief ansetzen, nicht gegen die Mauer springen und auf jeden Fall nach oben abdrücken. Alles klar, dann los.   Noch einmal nahm ich Anlauf.   Leif ist auf der anderen Seite. Du schaffst das.   Mit einem letzten Ausatmen rannte ich los. Fuß auf Kniehöhe, nach oben abstoßen und … uff. Mein Brustkorb kollidierte hart mit der Mauer, aber ich hatte den oberen Rand erreicht. Mit eiserner Kraft hielt ich mich fest. Ich versuchte, mit den Füßen Halt zu finden, aber ich rutschte immer wieder ab. Schon merkte ich, wie mich mein Gewicht wieder nach unten zog.   Nein! Fuck! Ich will da rauf!   Ich zog. Ich zerrte. Ich schaffte es irgendwie, meinen Fuß auf die Mauer zu bringen. Mit seiner Unterstützung hievte ich auch den Rest von mir nach oben und saß schließlich schwer atmend und mit höllischen Schmerzen in beiden Armen oben auf dem Rand. Neben mir gähnte der Abgrund. Scheiße! Das mach ich auch nie wieder.   Im Inneren der Mauer war niemand zu sehen. Ich wusste, dass die anderen heute Nachmittag mit Thomas in der Werkstatt waren. Später wollten sie noch raus zum Basketball, aber noch lag der Park in vollkommener Stille dar. Nur drückende Wärme und Vogelgesang beherrschten die Szene. Alles grün in grün. Durch die Blätter der Bäume konnte ich die Rückseite unseres Wohntrakts erkennen. Irgendwo dort im Erdgeschoss musste Leif jetzt sitzen.   Ich ließ mich auf der anderen Seite wieder von der Mauer fallen und landete sicher auf beiden Füßen. Immerhin etwas, das ich konnte. Meine Handflächen brannten immer noch wie Sau, aber ich ignorierte es. So schnell ich konnte rannte ich in Richtung Haus. Dabei nutzte ich die Bäume als Deckung, um nicht von jemandem entdeckt zu werden. Endlich erreichte ich den letzten Busch, der mich noch gegen unerwünschte Blicke abschirmte. Im Kopf ging ich den Bauplan des Gebäudes durch. Wenn mich nicht alles täuschte, musste der letzte Raum der Sportraum sein. Die Fenster dort waren alle geschlossen und eigentlich sollte dort auch niemand sein. Daneben war der Besprechungsraum.   „Ich lasse es mal lieber nicht drauf ankommen. Lieber safe than sorry.“   Mit ein paar schnellen Schritten war ich an der Hauswand und drückte mich dagegen. Ich lauschte, ob mich irgendjemand bemerkt hatte, aber es war nicht zu hören. Also ließ ich mich auf die Knie nieder und krabbelte unter den Fenstern entlang in Richtung Zielort. Kurz darauf erreichte ich ein geöffnetes Fenster. Von drinnen waren aufgebrachte Stimmen zu hören.     „Wollen Sie etwa damit sagen, dass das unsere Schuld ist?“, keifte eine Frauenstimme, die ich unschwer als Leifs Mutter identifizieren konnte. Der Mann, der ihr gleich darauf beipflichtete, war offenbar sein Vater. „Ich finde diese Unterstellung wirklich ungeheuerlich. Was erlauben Sie sich?“   „Ich habe nicht gesagt, dass sie daran schuld sind“, antwortete jemand, den ich sofort als Dr. Leiterer erkannte. Er hatte so eine ruhige, ausgeglichene Stimme. Das war mir vorher nie aufgefallen. Wobei im Gegensatz zu Leifs Vater vermutlich jeder ausgeglichen wirkte.   „Ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass Ihre Weigerung anzuerkennen, dass ihr Sohn krank ist, sich erschwerend auf das Problem auswirkt.“   „Leif ist nicht krank“, stellte seine Mutter schnippisch fest. „Er ist lediglich dem Einfluss seiner merkwürdigen Freunde erlegen.“   Ich konnte förmlich hören, wie Dr. Leiterer seufzte. „Ihr Sohn leidet an einer massiven Essstörung. Er befindet sich deswegen bei mir in Therapie. Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen, aber bisher haben Sie ja alle Versuche diesbezüglich abgelehnt.“   „Wie bitte?“ Empörung ließ die Stimme von Leifs Mutter noch ein Stück nach oben wandern. „Wir haben nie irgendwelche Hilfe abgelehnt. Das ist ja lächerlich.“   „Sie haben die betreuten Besuche abgelehnt“, mischte sich jetzt Tobias ein. Offenbar saß er auch mit in der Runde.   „Weil es nicht notwendig ist“, erklärte Leifs Vater. „Wir sind sehr gut in der Lage, allein mit unserem Sohn fertig zu werden.“   „Und warum haben Sie ihn dann hierher gebracht?“ Dieser Frage folgte kurzes Schweigen. Ich hätte zu gerne gesehen, was für ein Gesicht Leifs Eltern jetzt machten, aber ich konnte nicht riskieren, dass mich jemand erwischte. Also drückte ich mich weiter gegen die warmen Steine und hörte zu. „Wir wussten nichts von dieser … Störung“, sagte Leifs Mutter jetzt. „Warum hast du uns denn nie etwas davon erzählt?“   Bei dem zuckersüßen Ton, den sie an den Tag legte, kam mir fast mein Mittagessen wieder hoch. Trotzdem hielt ich den Atem an, um nichts von Leifs Antwort zu verpassen.   „Ihr hättet mir doch sowieso nicht zugehört.“   „Das heißt, Sie wussten nichts von seiner Therapie?“, hakte Dr. Leiterer jetzt nach. Ich konnte den Unglauben hören, der in seiner Stimme mitschwang. „Aber Herr Steiner hat doch Ihr Einverständnis für die Maßnahme eingeholt.“ „Mag sein“, brummte Leifs Vater. „Ich habe ja gesagt, dass ich Ihnen da vollkommen freie Hand lasse, um den Jungen wieder zur Vernunft zu bringen.“   Tobias lachte auf. „Freie Hand? Am besten wohl mit Elektroschocks und eiskalten Duschen, oder wie?“   „Herr Ritter, mäßigen Sie sich!“, wies Herr Steiner Tobias an. Der murmelte noch etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Ich spitzte die Ohren, um nichts zu verpassen. „Wie dem auch sei“, fuhr Herr Steiner fort. „Wie es aussieht, können wir hier in Thielensee keine ausreichende Betreuung für dieses Problem leisten. Ich möchte daher vorschlagen, Leif in eine Klinik zu verlegen, die sich auf derlei Fälle …“   „Nein!“ Den Geräuschen nach zu urteilen war Leif aufgesprungen. „Ich geh in keine Klinik. Eher bringe ich mich um.“   „Aber Leif“, säuselte seine Mutter. „Setz dich wieder hin“, blaffte sein Vater. „Da sehen Sie mal, wie er sich benimmt. So etwas Unmögliches. Und dann dieses asoziale Gesindel, mit dem er sich herumgetrieben hat. Wir haben ihn sogar erwischt, wie er welche von diesen Subjekten mit in unser Haus gebracht hat.“   „Er war mein Freund“, rief Leif aus.   „Ach ja?“, spuckte sein Vater ihm entgegen. „Dann sag mir doch mal, wie er hieß, dieser sogenannte Freund. Du kannst dich ja nicht einmal an seinen Namen erinnern. Und dazu dieses widerliche Gebaren. In unserem Haus! Das ist abartig.“ „Was genau?“, mischte sich jetzt Dr. Leiterer ein. „Was?“   Anscheinend hatte die Frage Leifs Vater aus dem Konzept gebracht. Dr. Leiterer lächelte. Ich konnte es an seiner Stimme hören. „Ich möchte von Ihnen wissen, was genau denn so abartig war, dass Sie danach tagelang nicht mit Ihrem Sohn gesprochen haben.“   „Bitte, lassen Sie es gut sein. Wir müssen hier nicht darüber sprechen.“   Leifs Bitte war leise gewesen, aber offenbar hatten alle im Raum sie verstanden. Ich hörte Leifs Mutter gekünstelt lachen. „Ich denke auch, dass diese Privatangelegenheit nichts in dieser Runde verloren hat.“   Herr Steiner räusperte sich und ergriff wieder das Wort. „Nun, Herr Dr. Leiterer, Sie haben ja um dieses Treffen gebeten. Vielleicht kommen wir einmal zum Kern dessen, worum es heute geht.“ „Gern“ erwiderte der Doc und ich hielt unbewusst die Luft an. Jetzt, jetzt würde er endlich sagen, dass Leif nicht mehr zu seinen Eltern gehen durfte. „Ich habe mir Gedanken über Leifs Situation gemacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass eine Unterbringung in Thielensee aus verschiedenen Gründen nicht dem entspricht, was er benötigt.“   „WAS?“   Erschrocken hielt ich mir den Mund zu. Von drinnen war Leifs Stimme zu hören. Offenbar hatte er genauso reagiert wie ich.   „Aber ich will hier nicht weg.“ Dr. Leiterer lächelte offenbar. „Bitte beruhige dich wieder, Leif. Ich werde dir erklären, worum es sich handelt.“   Es folgte ein kurzes Stühlerücken, dann sprach der Doc weiter.   „Ich denke, dass eine stationäre Behandlung in deinem Fall nicht notwendig ist. Wir haben darüber gesprochen und ich verstehe die Bedenken, die du dagegen hast. Auch liegt in deinem Fall keine akute körperliche Gefährdung vor. Zudem weiß ich, dass du ein großes Maß an Motivation mitbringst. Das alles sind ideale Voraussetzungen für die Fortführung der ambulanten Therapie.“   Als ich das hörte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich sah förmlich vor mir, wie Leif den Blick senkte, als er das zu hören bekam. Meine Brust schwoll an, während der Doc weiter sprach. „Ich sehe jedoch auch, dass deine Möglichkeiten der Selbstbestimmung durch die Unterbringung hier begrenzt sind. Für dich ist es an der Zeit, dein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Deinen Alltag eigenständig zu organisieren und dich der Entwicklung deines eigenen Rhythmus und eines positiven Selbstgefühls zu widmen. Den Rahmen dafür kann dir Thielensee nicht in dem Umfang bieten, wie du es benötigst.“ Für einen Moment war nur Stille zu hören. Dann sagte Leif leise: „Das heißt, Sie schmeißen mich raus?“ Wieder lächelte Dr. Leiterer. „Nein, natürlich nicht. Du wirst ganz ehrenhaft entlassen.“   Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich das hörte. Noch mehr, als Leifs Mutter sagte: „Dann kommt er wieder nach Hause?“   Nein. Nein, das durften sie nicht. Das durften sie nicht!   „Mein Vorschlag lautet, Leif in einem Wohnprojekt unterzubringen, das sich auf die Wiedereingliederung von Jugendlichen in die Gesellschaft spezialisiert hat. Er würde dort weiterhin Betreuung und auch therapeutische Unterstützung bekommen, aber ein größeres Maß an Eigenverantwortung übernehmen.“   In diesem Moment hörte ich Leifs Vater auflachen. „Eigenverantwortung? Sobald man ihm den Rücken zuwendet, wird er wieder anfangen Drogen zu nehmen und sich herumzutreiben. Er wird …“   „Mit Verlaub, Herr Johannsen“, unterbrach Dr. Leiterer ihn, „aber diese Meinung teile ich nicht. In meinen Augen ist Leif sehr wohl in der Lage, für sich selbst zu sorgen.“   „Ach ja?“, schnappte Leifs Vater. „Und mit welchem Geld?“   „Die finanzielle Regelung würde in dem Fall das Jugendamt übernehmen. Anhand der Situation könnte es jedoch sein, dass Sie zur Übernahme zumindest eines Teils der Kosten verpflichtet wären.“ „Aha“, machte Leifs Vater. „Dann sollen wir ihm jetzt also eine Wohnung finanzieren, damit er weiter auf der faulen Haut liegen kann. Das kommt überhaupt nicht in Frage.“   „Natürlich wird dafür Sorge getragen werden, dass Leif seine Schule beendet und eine angemessene Ausbildung erhält.“   „So so“, knurrte Leifs Vater. „Und wer genau wird dafür Sorge tragen?“ Dieses Mal konnte ich Dr. Leiterers Lächeln bis zu mir nach draußen scheinen sehen. „Das wird derjenige übernehmen, der dafür die Verantwortung trägt. In diesem Fall wäre das Leif selbst.“   In dem Moment fingen mehrere Personen gleichzeitig an zu reden. Leifs Eltern waren mit dem Vorschlag offenbar nicht einverstanden, während Dr. Leiterer versuchte, sich Gehör zu verschaffen, und Herr Steiner bemüht war, die Wogen zu glätten. Ich jedoch klinkte mich geistig aus dem Gespräch aus. Ich hatte genug gehört, um zu wissen, was das hieß. Leif würde von hier weggehen. Womöglich in eine andere Stadt. Das bedeutete, dass wir uns nicht mehr sehen konnten.   Vielleicht sollte ich zu meinen Eltern zurückgehen. Dann können wir uns wenigstens am Wochenende besuchen. Der Gedanke fühlte sich falsch an. Ich wusste, dass das nicht die Lösung sein konnte, und doch … was sollte ich sonst tun?   Ich will ihn nicht verlieren.   Irgendwo neben mir wurde eine Tür geöffnet. Ich hörte die Stimmen von Sven, Nico und den anderen, die nach draußen kamen. Das hieß, dass ich hier verschwinden musste. Auf allen Vieren kroch ich in Richtung Hausecke und versteckte mich dahinter. Hier im Schatten war es kühler und ich merkte, wie es in meinem Kopf pulsierte. Ich hatte zu lange in der prallen Sonne gesessen. Um mich herum drehte sich alles. Mir war schwindelig und schlecht. „Scheiße, auch das noch.“ Wahrscheinlich wäre es schlauer gewesen, einfach zu Thomas zu gehen und die ganze Scheiße zuzugeben, die ich verbockt hatte. Denken wurde mit jeder Minute schwerer und ich wollte mich nur noch in mein Bett legen und schlafen.   Nein, ich krieg das hin. Nur ein bisschen ausruhen, dann geht es wieder.   Mit dem Gedanken schloss ich die Augen und versuchte das dumpfe Kreisen in meinem Kopf zu ignorieren. Wenn es verschwunden war, würde ich mich aufrappeln und draußen auf Jason warten. Und dann würde ich mir überlegen, wie ich das mit Leif in den Griff bekam. Irgendwie.   Kapitel 28: Eine schwere Entscheidung ------------------------------------- Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Kopfschmerzen ein bisschen besser geworden. Dafür fühlte sich der Rest meines Körpers an wie von einer Dampfwalze überfahren. Mein Nacken brannte und die Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich hätte töten können für etwas zu trinken. Wie lange hatte ich hier gesessen?   Ohne die Frage zu klären, versuchte ich auf die Füße zu kommen. Nach dem zweiten Versuch klappte es. Ich stand, wenngleich auch etwas wackelig. Gut war definitiv anders. Mit halbem Ohr hörte ich das Gegröle der anderen vom Basketballplatz. Der lag zum Glück hinter Büschen und Bäumen, sodass man mich von dort aus nicht sehen konnte. Alles in allem hatte ich vielleicht ne gute halbe Stunde verpasst. Maximal ne Dreiviertel, wenn es hochkam. Ich überlegte.   Natürlich hätte ich jetzt einfach zu den anderen gehen können. Mich dem stellen, was mich an Strafpredigt erwartete. Obwohl … zählte das überhaupt als Weglaufen, wenn man hier einbrach? Und war es Hausfriedensbruch, wenn man in sein eigenes Wohnheim einstieg? Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht herausfinden. Lieber nahm ich nochmal den Weg über die Mauer auf mich. Das sollte von dieser Seite immerhin etwas leichter sein.   Wie sich herausstellte, hatte ich mich geirrt.   Den verdammten Baum hochzukommen war fast noch schwieriger als die Mauer zu erklimmen. Ich rutschte immer wieder ab und schürfte mir meine bereits ramponierten Hände nur noch mehr auf. Winzige, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, aber ich gab nicht auf. Irgendwann erwischte ich endlich die richtige Stelle, um mich nach oben zu ziehen. Mit rasendem Puls und schweißnasser Stirn saß ich schließlich rittlings auf einem dicken Ast, nur noch knapp zwei Meter von der Freiheit entfernt. In meinem Schädel pochte es wie in einer Schmiedewerkstatt.   Vielleicht sollte ich einfach abhauen.   Ich wusste, dass das Schwachsinn war. Eine Flucht würde meine Probleme nicht lösen. Außerdem würde ich nicht weit kommen, so wie es mir gerade ging. Zuerst musste ich wieder zurück. Und ich musste mit Leif reden. Alles andere würde ich später in Angriff nehmen.   Vorsichtig schob ich mich auf dem Ast nach vorn, bis ich an der Mauer angekommen war. Ich kletterte darauf, vergewisserte mich noch einmal, dass mich niemand beobachtete, und sprang.   Schmerz schoss meine Beine hinauf. Das war jedoch nichts gegen den dröhnenden Gong, in den sich mein Kopf durch den Aufprall verwandelte. Anscheinend mochte mein Gehirn es nicht, in seinem Zustand auch noch durchgeschüttelt zu werden.   Was für ne abgefuckte Scheiße!   Instinktiv stützte ich mich an der Mauer ab und kniff die Augen zusammen. Vor mir lag die Allee. Ein paar Autos fuhren vorbei und in der Ferne konnte ich einen Radfahrer erkennen. Ansonsten blieb alles ruhig. Keine Sirenen, kein Hundegebell. Ich hatte es tatsächlich geschafft.   Stellt sich nur die Frage, wie ich wieder reinkomme.   Meine Hand wanderte zu meiner hinteren Hosentasche. Leider fand sie dort nicht, was ich gesucht hatte. Die Tasche war leer. Mein Handy war weg.   Kacke! Und jetzt?   Jetzt blieb mir wohl nur noch, den Rückweg anzutreten und zu hoffen, dass irgendwann der Bus auftauchte, der Jason nach Hause brachte. Dann würde ich ihn darauf einschwören, dass er nichts verriet und dann … dann hatte ich keine Ahnung.   Ein Auto, das auf der anderen Straßenseite an mir vorbeigefahren war, wurde langsamer. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber als der Typ den Wagen wendete und langsam hinter mir hergefahren kam, schrillten bei mir alle Alarmglocken. Schnell sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, als auch schon eine Stimme meinen Namen rief. Ertappt drehte ich mich herum. Und staunte.   „Was machen Sie denn hier?“   Dr. Leiterer musterte mich durch das heruntergelassene Seitenfenster. Er trug heute nur ein Hemd, die Ärmel hatte er hochgekrempelt.   „Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen. Herr Ritter hat gesagt, du seist im Kino.“   Der Doc hielt am Straßenrand, stellte den Motor ab und stieg aus. Als er auf mich zukam, wurde sein Gesicht immer besorgter.   „Meine Güte, was hast du denn angestellt? Du siehst aus, als hätte man dich überfallen.“   Ich blickte am mir herunter. Offenbar hatte ich doch ein bisschen mehr abbekommen, als ich gedacht hatte. Die Hose war ziemlich hinüber und das T-Shirt hatte etliche Flecke. Vom Zustand meines Körpers fing ich lieber gar nicht erst an.   „Ach, ich bin nur … ich hatte einen Zusammenstoß mit einer Mauer. Und einem Baum. Nichts Wildes.“   Ich reckte die Daumen in die Höhe. Blöderweise hatte ich dabei besagte Mauer losgelassen. Prompt schwankte mein Blickfeld. Oder ich. Wie man es nahm.   „Hey, ganz langsam.“   Dr. Leiterer streckte die Hand nach mir aus. Ich wehrte ihn ab, aber er bekam mich trotzdem zu fassen. Seine Finger schlossen sich um meinen Oberarm und zogen mich wieder in die Senkrechte.   „Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist so blass um die Nase.“ „Mir geht es gut.“   Es war eine durchschaubare Lüge und der Doc offenbar nicht so dumm, wie ich gerne gehabt hätte.   „Das sieht mir aber nicht so aus. Komm, trink erst mal was. Dann sehen wir weiter.“   Ohne auf meinen Protest zu achten, schob er mich zum Auto, bugsierte mich auf den Beifahrersitz und drückte mir eine kleine Flasche Mineralwasser in die Hand. Das Zeug war pisswarm, aber ich trank trotzdem gehorsam einen großen Schluck. Selten hatte so eine Plörre so gut geschmeckt.   „Mehr“, ordnete der Doc an. Offenbar war er kurz davor, mir den Inhalt der Flasche mit Gewalt einzuverleiben. Ich tat ihm also den Gefallen und trank etwa die halbe Flasche leer, bevor ich wieder absetzte. Er taxierte mich kritisch.   „Und?“   Ich nickte und wich seinem Blick aus.   „Ja, besser. Danke.“   Am liebsten wäre ich jetzt aufgestanden und gegangen. Der Doc war so ziemlich der Letzte, mit dem ich reden wollte. Aber natürlich ließ er so schnell nicht locker.   „Erklärst du mir jetzt, wo du dich rumgetrieben hast? Soweit ich weiß, sind Kinos heutzutage klimatisiert und man läuft auch nicht Gefahr, von umherlaufendem Buschwerk angegriffen zu werden. Wo also warst du?“   Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Der ging mir echt auf den Sack. Und hatte anscheinend auch nicht vor, damit aufzuhören.   „Nun sag schon. Hast du was ausgefressen? Brauchst du Hilfe?“   Ich schnaubte.   „Hilfe? Sie meinen so, wie Sie Leif geholfen haben?“   Dr. Leiterers Augenbrauen näherten sich einander an.   „Wie meinst du das?“   Ich hob den Kopf und funkelte ihn an.   „Damit meine ich, dass ich gehört habe, was Sie da drinnen vom Stapel gelassen haben. Sie wollen Leif von hier wegbringen. Dabei dachte ich, dass sie auf unserer Seite sind.“   Für einen Moment stierte mich der Doc einfach nur vollkommen baff an. Dann drehte er den Kopf in Richtung Mauer.   „Du hast uns belauscht“, stellte er fest. Ich bleckte die Zähne zu einer Art Grinsen.   „Ja, hab ich. Ihr kleines Geheimnis ist aufgeflogen. Hätten Sie nicht gedacht, was?“   Ein Seufzen folgte meinem Ausspruch. Dr. Leiterer machte ein ernstes Gesicht.   „So hätte das eigentlich nicht laufen sollen.“   „Tja, Pech gehabt!“, blaffte ich ihn an. Ich wusste, dass ich gerade viel zu weit ging, aber er hatte mich hintergangen. Das würde ich ihm nie verzeihen.   „Sie haben gesagt, Sie helfen uns.“   „Ich habe gesagt, ich denke darüber nach“, korrigierte er mich.   „Klugscheißer!“   Das Wort war heraus, bevor ich mich zusammenreißen konnte. Der Doc runzelte die Stirn.   „Ich verstehe, dass du wütend bist. Aber ich werde mich nicht von dir beleidigen lassen. Haben wir uns da verstanden?“   Ich hielt seinem Blick noch einen Moment lang stand, bevor ich den Kopf senkte und stattdessen auf seine Fußspitzen starrte. Dr. Leiterer seufzte.   „Möchtest du darüber reden?“ „Nein. Wollen Sie?“ „Vielleicht.“   Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er zur hinteren Autotür ging und sich seitlich auf den hinteren Sitz setzte. Die Füße ließ er genau wie ich aus dem Wagen baumeln.   „Ich verstehe deinen Ärger,“ begann er nach einer Weile. „Du hattest dir mit Sicherheit was anderes erhofft, als du mich um Hilfe gebeten hast. Aber ganz so einfach, wie du dir das vorstellst, ist es leider nicht. Ich musste zuallererst einmal danach schauen, was das Beste für Leif ist. Das verstehst du doch sicher, oder?“   Ich nickte. Natürlich verstand ich das. Leif musste gesund werden. Das war das Wichtigste.   „Und ich versichere dir, dass ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht habe, denn keine der vorhandenen Optionen war wirklich ideal.“   Ich horchte auf.   „Wie meinen Sie das? Welche Optionen?“   Der Doc verzog den Mund zu einem leisen Lächeln.   „Du weißt, dass ich nicht mit dir über andere Patienten sprechen darf.“   Ich schnaubte und wandte den Kopf ab.   „Und wozu dann das Gelaber? Soll das ne kostenlose Therapiestunde werden?“   Dr. Leiterer lachte.   „Oh, wenn es dich beruhigt, kann ich die Zeit ja Leifs Eltern in Rechnung stellen. Immerhin geht es hier auch um ihren Sohn.“   Unwillkürlich musste ich grinsen. Der Doc war ein Schlitzohr. Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche.   „Was wollen Sie von mir?“   Dr. Leiterer lächelte. Ich sah es durch die kleine Lücke zwischen Kopfstütze und Sitzpolster. Er warf mir einen Blick zu.   „Ich wollte mit dir sprechen.“ „Warum?“ „Weil Leif nicht der Einzige ist, den ich auf meiner Liste für eine mögliche Entlassung habe.“   In meinem hitzegeschädigten Hirn ratterte es.   „Sie meinen, dass ich …?“   Er lächelte wieder.   „Nun, normalerweise ist dein Aufenthalt hier auf mindestens ein halbes Jahr ausgelegt. Herr Ritter hat mir allerdings erzählt, dass es demnächst zu einer Anhörung kommen wird. Wenn der Fall sowieso gerade angefasst wird, bestände eventuell die Möglichkeit, jetzt schon eine alternative Unterbringung für dich zu beantragen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.“   Der Doc sah mich erwartungsvoll an.   „Also, was sagst du dazu?“   Ich schluckte. Schon wieder hatte ich schrecklichen Durst, aber die Flasche in meiner Hand hatte sich wie durch Zauberhand geleert und ich traute mich nicht, nach einer neuen zu fragen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.   „Ich soll aus Thielensee weg?“   Das klang absolut unfassbar. Auch er schien das zu wissen.   „Mir ist klar, dass das beängstigend ist. Du bist gerade erst angekommen und sollst schon wieder fort. Dich noch einmal umgewöhnen, noch einmal neue Betreuer, Sozialarbeiter, vermutlich sogar einen neuen Therapeuten oder eine Therapeutin und obendrein noch eine eigene Wohnung in der du ganz allein für alles verantwortlich wärst. Das wäre ein ziemlich großer Schritt. Du müsstest dich selbst ums Einkaufen, deinen Tagesablauf und deine Schulaufgaben kümmern. Dafür ist viel Disziplin notwendig. Etwas, das du hier durch die von außen vorgegebenen Strukturen nicht aufbringen musst. Da wird dir gesagt, wann du etwas zu tun und zu lassen hast.“   Ich schnaubte.   „Das kann aber auch manchmal ganz schön nervig sein.“   Der Doc schmunzelte.   „Das glaube ich gerne. Und doch macht es die Dinge einfacher. Es gäbe daher auch noch die Möglichkeit, in eine offene Wohngruppe zu ziehen. Dort müsstest du dich allerdings wieder mit deinen Mitbewohnern arrangieren.“   Ich schluckte und zögerte. Ob ich …   „Könnte ich auch mit Leif zusammenziehen?“   Nicht, dass ich das wollte. Es war nur so eine Idee.   „Das wäre sicherlich möglich. Ich denke jedoch, zu Anfang solltet ihr vielleicht besser jeder euer eigenes Reich haben. Einen Rückzugsort, an dem ihr ganz ihr selbst sein könnt.“   Ich sagte nichts, aber tief in mir drin, wusste ich, dass ich das nicht wollte. Ich wusste, dass ich bei Leif sein wollte. Egal zu welchem Zeitpunkt.   „Ich könnte ihm helfen. Mit dem Essen und so. Ich weiß, dass ich das kann.“   Dr. Leiterer lächelte leicht.   „Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, dass du nicht vergessen sollst, dass Leif mehr ist als seine Krankheit?“   Ich nickte. Natürlich hatte ich das nicht vergessen.   „Dann mach ihn nicht dazu. Er ist dein Freund, Manuel. Sorg dafür, dass er die richtige Entscheidung trifft, und dann triff selbst eine Wahl. Ich weiß, dass das schwer unabhängig voneinander passieren wird, aber vielleicht versuchst du es wenigstens. Versprichst du mir das?“   Ich sah den Doc an. In seinem Blick lag Sorge. Echte Sorge. Um mich. Nicht um Leif, denn der war gar nicht hier. Hier und jetzt ging es nur um mich.   „Ich werd’s versuchen“, antwortete ich irgendwann. Mehr als das ging nicht.   „Gut“, sagte er und atmete hörbar aus. „Dann würde ich sagen, machen wir beide mal Feierabend für heute. Soll ich dich noch nach Hause bringen?“   Ich schüttelte den Kopf.   „Nein, dann wissen die ja gleich, dass ich Mist gebaut habe. Ich … ich würde es vorziehen, wenn das hier unter uns bleibt.“   Ich sah den Doc von unten herauf an. Er verkniff sich ein Lachen.   „Jetzt sieh sich einer diesen Burschen an. Schlägt der mich doch glatt mit meinen eigenen Waffen.“   Auch ich musste ein bisschen grinsen. Dr. Leiterer schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel und stand auf.   „Na schön, Manuel. Ich gehe davon aus, dass wir uns nächsten Dienstag sehen?“ „Na klar.“ „Versprochen?“ „Ehrenwort.“   Ich erhob mich ebenfalls und gab dem Doc seine Flasche zurück. Er nahm sie und sah mich noch einmal prüfend an.   „Viel Glück.“   Ich antwortete nicht mehr darauf. Meine Gedanken waren schon bei Leif und vor allem dabei, welche Geschichte ich Tobias auftischen würde, damit er mich nicht stehenden Fußes auseinandernahm. Bei einem davon wusste ich nicht, was ich tun sollte.       „Du bist was?“   Tobias starrte mich ungläubig an. Ein Ausdruck, der sein Gesicht zierte, seit ich an der Tür geklingelt und er mir aufgemacht hatte.   „Hierher gelaufen“, wiederholte ich und versuchte zu klingen, als wäre das nichts Besonderes.   „Aber warum bist du denn nicht mit dem Bus gefahren?“   Ich verdrehte gekonnt die Augen.   „Ich hab doch schon gesagt, dass ich mein Geld vergessen habe. Also bin ich den ganzen Weg zurück zu Fuß gelaufen. Und als ich ne Abkürzung nehmen wollte, bin ich volle Kanne auf die Fresse geflogen und hab mir alles aufgeratscht. Siehst du? Hier sind die Kratzer.“   Ich hielt Tobias meine Hände entgegen. Er musterte sie kopfschüttelnd.   „Das glaub ich ja alles nicht. Ich glaub es echt nicht.“   Zu meinem Glück war das offenbar nur ein Spruch, denn er ließ mich nun endlich rein und schloss die Tür wieder hinter mir.   „Und wo ist Jason?“ „Na, im Kino. Er wollte den Film doch so gerne sehen, da hab ich gesagt, er soll allein gehen.“   So ungefähr zumindest war es gewesen.   „Dämlich. Absolut dämlich“, knurrte Tobias, während er mich in Richtung Küche schob. „Wie kann man nur auf so bescheuerte Ideen kommen? Du hättest doch anrufen können.“   „Hab mein Handy verloren. „Auch das noch!“   Tobias murmelte noch irgendwas, das ich nicht verstand, aber es klang verdächtig nach:’Was hat er sich nur dabei gedacht?’ Irgendwie glaubte ich jedoch nicht, dass er mich damit meinte.   „Los, hinsetzen und Hände her!“   Ich gehorchte und zuckte auch nicht, als Tobias das Desinfektionsspray großzügig auf meinen Händen verteilte. Ein Indianer kannte schließlich keinen Schmerz.   „Brauchst du Pflaster?“ „Nein. Sind doch nur Kratzer.“   Kratzer, die höllisch brannten. Wenigstens pochte mein Kopf nicht mehr so. Das Wasser, das Dr. Leiterer mir verabreicht hatte, hatte Wunder gewirkt. Trotzdem hätte der Tag an dieser Stelle gut und gerne zu Ende sein können. Mein Akku war vollkommen ausgelutscht.   „Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich, nachdem Tobias das Verbandszeug mit verkniffenem Gesicht wieder weggeräumt hatte. Es war wirklich nicht schwer zu erraten, dass er stinksauer war. Wahrscheinlich hätte ihm ne Runde am Boxsack auch mal ganz gut getan. Ich hörte ihn kräftig durchatmen.   „Natürlich. Soll ich dich oben reinlassen?“   Tja, da lag der Hund begraben. Wollte ich die linke oder die rechte Tür? Rote oder blaue Pille?   „Ist Leif auch da?“, fragte ich möglichst beiläufig.   „Ja, ist er. Seine Eltern haben dann doch davon abgesehen, ihn mitzunehmen.“ „Wieso? Ist was passiert?“ „Das soll er dir lieber selber erzählen.“   Es war Tobias anzumerken, dass er gerne noch mehr gesagt hätte. Aber er tat es nicht und ich fragte nicht.   „Dann würde ich lieber zu Leif gehen? Wenn das okay ist.“   Tobias schien nicht begeistert zu sein.   „Ja, meinetwegen. Aber denk dran, dass es in ner halben Stunde Essen gibt.“ „Geht klar.“   Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg ich die Treppe hinauf. Vermutlich würde Jason jeden Moment vor der Tür stehen und ein Teil von mir wollte am liebsten hier auf ihn warten um sicherzugehen, dass er mich nicht verriet. Trotzdem stieg ich weiter Stufe um Stufe nach oben, bis ich plötzlich eine Bewegung auf dem Treppenabsatz über mir sah. Als ich den Kopf hob, stand Leif am Geländer und blickte zu mir herab.   „Hey“, sagte ich leise. Er sah mich einfach nur an. Die Schatten unter seinen Augen schienen noch ein Stück tiefer geworden zu sein.   „Hey“, grüßte er schließlich zurück. „Wie war’s im Kino?“   Der stille Vorwurf, der in seiner Stimme mitschwang, entging mir nicht. Ich seufzte lautlos. Wahrscheinlich hatte er mitbekommen, was ich Tobias erzählt hatte. Oder er hatte sich seinen eigenen Reim gemacht.   „Können wir das woanders besprechen?“   Er nickte und drehte sich wortlos um. Ich folgte ihm in sein Zimmer. Drinnen war die Decke auf seinem Bett verrutscht und das Kopfkissen zerknautscht. Offenbar hatte er darauf gelegen. Eine wunderbare Idee.   Ohne mich um den Zustand meiner Klamotten zu kümmern, ließ ich mich darauf fallen und versank in einer Wolke aus Leifgeruch. Es war so viel besser zu liegen. Einfach die Augen zumachen und schlafen.   „Erzählst du mir jetzt, was wirklich passiert ist?“   „Gleich“, murmelte ich in sein Kissen. Ich war so fertig.   Das Bett senkte sich neben mir ab. Ich wartete darauf, dass Leif sich zu mir legte, aber das tat er nicht. Er blieb neben mir sitzen und starrte mir Löcher in den Rücken. Irgendwann gab ich auf.   Mit einem Stöhnen drehte ich mich herum und betrachtete ihn von unten herauf. Ich wusste immer noch nicht, was ich ihm sagen sollte.   „Ich war nicht im Kino“, fing ich schließlich mit dem Offensichtlichen an.   „Das hab ich mitgekriegt.“   Natürlich hatte er das.   „Aber ich bin auch nicht in die Stadt gefahren. Ich wollte, aber als dann der Bus kam, konnte ich nicht einsteigen. Ich musste die ganze Zeit an dich denken und da bin ich … ich bin in den Garten geklettert, hab mich zum Fenster geschlichen und gelauscht. Ich weiß Bescheid.“   Leifs Mundwinkel zuckte. Da war etwas in seinem Blick, das mir wehtat. Automatisch setzte ich mich auf.   „Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist und … es tut mir leid. Ich hab gedacht, dass …“   Leifs Blick durchbohrte mich förmlich.   „Was hast du gedacht?“   Ich schluckte. Jetzt musste ich wohl die Hosen runterlassen.   „Es ist alles meine Schuld. Ich hab Dr. Leiterer gebeten, dass er dafür sorgt, dass du nicht mehr zu deinen Eltern musst. Ich dachte, er spricht mal wegen der Klinik mit Herrn Steiner und …“   Ich sah die Ohrfeige kommen, aber ich wich ihr nicht aus. Leifs Hand kollidierte mit meiner Wange. Es klatschte und mein Kopf flog zur Seite. Nicht, weil er so fest zugeschlagen hatte. Im Grunde genommen hatte es kaum wehgetan. Ich konnte ihm nur einfach nicht mehr in die Augen sehen.   „Du Arsch!“ Leifs Stimme schwankte. „Warum hast du dich da eingemischt? Es war gut so, wie es war.“   Ich sah zu Boden. Die Platte, die den Abschluss seines Kleiderschranks bildete, stand ein Stück vor. Dahinter schien ein Hohlraum zu sein. Ohne es zu wollen, hatte ich wohl sein Geheimversteck entdeckt. Warum passierte das nur immer?   „Nein, es ist nicht gut“, sagte ich leise. Ich selbst hatte viel zu lange die Augen davor verschlossen, weil ich gedacht hatte, dass es schon irgendwie gut gehen würde. Aber das hier war zu wichtig, um es weiter zu ignorieren.   „Du bist krank. Ich weiß, dass du das weißt, aber du … du kannst hier nicht gesund werden. Du brauchst Hilfe. Welche, die du in Thielensee nicht bekommen kannst.“   Leifs Atem ging schwer. Ich konnte hören, wie er schluckte.   „Dann war es das jetzt?“   Mein Kopf ruckte nach oben. Seine Augen schwammen in glasklaren Seen.   „Nein! So war das nicht gemeint. Ich will doch nur, dass du … dass wir …“   Mein Hals wurde eng. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, sofort aufspringen zu müssen, um weit, weit fortzulaufen. Aber ich wusste auch, dass, wenn ich dort ankam, ein Teil von mir immer noch hier sein würde. Hier, bei ihm.   Ohne etwas zu sagen streckte ich die Hand nach ihm aus und zog ihn an mich. Er leistete keinen Widerstand, doch als er seinen Kopf gegen meine Schulter lehnte, tropfte etwas Warmes, Feuchtes auf den Saum meines T-Shirts.   „Du bist ein Idiot!“, flüsterte er. „Ein verdammter Idiot, weißt du das? Du hast alles kaputtgemacht.“   „Ich hab es für dich getan“, erwiderte ich leise und strich ihm über den Rücken. „Damit du gesund werden kannst.“   „Aber ich will nicht gesund werden!“, schrie er mich aus heiterem Himmel an. Er versuchte, sich von mir loszumachen, aber ich hielt ihn fest, bis seine Gegenwehr erlahmte und er wieder in meinen Arm sank.   „Ich will nicht gesund werden“, wiederholte er jetzt wieder fast unhörbar. „Nicht, wenn das bedeutet, dass ich dich verliere.“   Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. So laut, dass ich fürchtete, dass er es hören könnte. Wenn ich ihm jetzt erzählte, was der Doc gesagt hatte, würde das alles verändern. Ich hatte Angst davor. Wahnsinnigen Schiss. Was, wenn es schiefging? Wenn wir es nicht schafften? Wenn alles dadurch nur noch schlimmer wurde? Und doch wollte ich es sagen. Für ihn. Für uns.   „Das musst du ja vielleicht nicht“, begann ich mit brüchiger Stimme. „Ich … ich hab Dr. Leiterer auf der Straße getroffen. Er hat gesagt, dass ich vielleicht … dass ich auch entlassen werden könnte. Wir beide zusammen. Vielleicht.“   Es waren eine Menge Vielleichts in diesen paar Sätzen gewesen. Trotzdem leuchteten Leifs Augen, als er sich aufrichtete und mich ungläubig anstarrte.   „Wirklich?“   In dem einen Wort steckte so viel Hoffnung, so viel Freude, dass ich auch anfing zu lächeln.   „Na ja, es steht noch nicht fest. Aber er hat gemeint, ich könnte vielleicht bei der Anhörung übernächste Woche einen Antrag auf Verlegung stellen.“   Leifs Atem wurde schneller und seine Wangen bekamen einen Hauch von Farbe.   „Und … willst du das denn?“   Da war sie. Die Frage, auf die ich noch keine Antwort gefunden hatte. Zumindest nicht die, die Leif gerne hören wollte. War ich wirklich bereit dazu? Würde ich das hinkriegen?   „Willst du?“, fragte ich zurück. Ich wusste, was er sagen würde, aber ich musste es von ihm hören.   „Ja. Ja, ich will.“   Ich grinste ein bisschen.   „Dir ist klar, wie das klingt, oder?“   Leif senkte verlegen den Kopf.   „Ja, ich weiß. Aber ich …“   Er stockte. Ein Blick aus leicht umwölkten Augen traf mich. Ich wusste, was er sagen wollte. In meinen Ohren rauschte es. Würde er jetzt wirklich …?   Unten an der Tür klingelte es plötzlich Sturm. Das schrille Kreischen machte den Moment vollkommen zunichte und ich stöhnte innerlich, als man gleich darauf Jason durchs Treppenhaus bölken hörte. Ich verstand nicht, was er da brüllte, aber mir war klar, dass mein Alibi gerade den Bach runterging. Ich hatte es gründlich verkackt.   „Es wird echt Zeit, dass wir hier ausziehen“, erklärte ich mit Grabesstimme. Leif lachte, bevor er an mich heranrückte, den Arm um mich legte und sein Gesicht an meines lehnte.   „Das wird toll mit uns beiden. Ich verspreche es dir.“   Ich wusste, dass es nicht nur toll werden würde. Einfach weil er er war und ich ich und weil es ungefähr eine Million Gründe gab, warum das Ganze in die Hose gehen konnte. Vielleicht sogar musste. Aber gleichzeitig war da dieses Gefühl in mir drin. Wie Blubberblasen und Zuckerwatte und Popcorn und alles Mögliche andere süße Zeug, das Leif vermutlich nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde. Aber ich würde es ihm zeigen. Ich würde ihm all das zeigen und noch mehr. Weil wir zusammenbleiben würden.   „Ja, das wird es“, sagte ich deswegen nur und dann küsste ich ihn, während Jason unten immer noch rumflippte und Tobias deswegen vermutlich in weniger als fünf Minuten vor Leifs Tür stehen und eine Erklärung von mir verlangen würde. Aber jetzt gerade, in diesem Moment, war mir das einfach mal vollkommen scheißegal.   Kapitel 29: Familie ------------------- „Du bist dir also wirklich sicher?“   Wahrscheinlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass Tobias das fragte. Immerhin saßen wir gerade auf einer Bank vor einem Gerichtssaal und warteten darauf, dass man uns aufrief. Die Wände um uns herum waren mit dunklem Holz vertäfelt. Das letzte Gericht, in dem ich gesessen hatte, war auch so ein alter Kasten gewesen. Mit Freitreppen und breiten Gängen, aber ansonsten hell und freundlich. Mehr wie ein Märchenschloss. Das hier war muffig und dunkel, der Fußboden abgetreten, auch wenn das Muster der Steinfliesen vielleicht irgendwann mal hübsch gewesen war.   Während ich noch die Fliesen in Augenschein nahm, betrachteteTobias mich von der Seite. Anscheinend wartete er immer noch auf eine Antwort. Ich sah zu ihm rüber. „Ja, bin ich“, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich eigentlich hatte. Ich wollte das hier, aber sicher, dass es die richtige Entscheidung war, war ich mir deswegen noch lange nicht. Trotzdem war es wichtig, dass ich heute hier war. Um ein Zeichen zu setzen. „Wenn ich es schaffe, dass meine Eltern endlich aufhören, sich in mein Leben einzumischen, dann kriegt Leif das vielleicht auch hin.“   Denn natürlich war es nicht so einfach geworden, wie es sich zuerst angehört hatte. Leifs Eltern stellten sich immer noch quer, was die Sache mit der eigenen Wohnung anging. Vermutlich würde es auch bei ihm auf eine Gerichtsverhandlung hinauslaufen, denn die Zeit, die ihm in Thielensee genehmigt worden war, lief Ende nächsten Monats aus. Da Herr Steiner sich mit Sicherheit gegen eine Verlängerung aussprechen würde, hieß das im Grunde, dass Leif wieder nach Hause musste, wenn er seine Eltern nicht dazu bekam, einer anderen Lösung zuzustimmen. Allerdings wehrte er sich mit Händen und Füßen gegen diese Idee. „Ich kann doch meine Eltern nicht vor Gericht zerren“, hatte er gesagt und dabei vollkommen verzweifelt geklungen. „Das muss doch irgendwie anders gehen.“ „Wird es aber nicht“, hatte ich geantwortet. „Sie werden es nicht einsehen, wenn du sie nicht dazu zwingst. Isso und wird sich auch durch alles Hoffen und Beten nicht ändern.“   So ganz wollte er immer noch nicht daran. Deswegen saß ich heute hier. Um ihm zu zeigen, dass es ging. Dass man es schaffen konnte, auf eigenen Füßen zu stehen. Und dass er nicht allein war. Tobias’ Lächeln auf meine Antwort wirkte ein wenig gestellt. Natürlich. Er war nicht so ganz glücklich damit, wie sich die Sache mit Leif und mir entwickelt hatte. Besonders nicht, seit Jason uns kurz nach der Geschichte mit dem Kino zusammen erwischt und das Ganze natürlich prompt rumerzählt hatte. Es dann noch aufzuhalten, war ungefähr dem Versuch gleichgekommen, die Niagarafälle mit einem Teesieb zu stoppen. Irgendwann hatte auch Herr Steiner Wind von der Sache bekommen und natürlich hatte es Ärger gegeben. „Tut mir leid wegen dem ganzen Stress, den du mit uns hast.“   Tobias winkte ab. „Ach was. Ist doch mein Job.“   Ich sah auf meine Hände herab.   „Ja schon. Aber wenn Leif und ich vorsichtiger gewesen wären, dann …“   Tobias unterbrach mich. „Nein, das stimmt nicht. Nicht ihr seid diejenigen, die etwas falsch gemacht haben. Das System ist es. Oder die ganze Welt. Es sollte egal sein, wen man liebt.“   Als er das sagte, fühlte ich ein komisches Kribbeln in meiner Nase. Es war nicht das erste Mal, dass ich das hörte. Wir hatten in der Gruppe darüber gesprochen. Thomas hatte gemeint, dass es am besten wäre, offen damit umzugehen. Immerhin verstieß es nicht gegen die offiziellen Regeln, dass Leif und ich zusammen waren. Leider waren die anderen diesbezüglich nicht besonders offen gewesen.   „Ich schlaf auf gar keinen Fall zwischen zwei Schwuchteln“, hatte Sven gemeint und einen Riesenaufstand gemacht, dass er ein anderes Zimmer wollte und sich kein Badezimmer mit uns teilen würde und so weiter. Am Ende war vereinbart worden, dass er vorerst im Betreuerzimmer unterkam, was bedeutete, dass Henning nachts bei uns auf dem Gang schlief. Nicht unbedingt das Nonplusultra, aber besser als sich die ganze Zeit dämliche Sprüche anhören zu müssen. Und bald würde er ja Thielensee ohnehin verlassen. Thomas bemühte sich gerade, seinen Umzug schon früher stattfinden zu lassen. Dann würde jemand Neues bei uns einziehen. Die Wartelisten waren voll.   „Glaubst du, wir kriegen das hin?“, fragte ich leise. Tobias sah mich fragend an. „Was meinst du? Das mit deinen Eltern oder das mit Leif und dir?“   Ich lachte leicht. Schon komisch, dass ich mir mehr Sorgen darüber machte als über das, was direkt vor mir lag. Vielleicht war das ein gutes Zeichen.   „Das mit Leif.“ Tobias antwortete nicht sofort. Er wusste natürlich von Leifs und meinen Plänen. Auch er hatte sich dafür ausgesprochen, dass wir jeder eine eigene Wohnung bekamen. Vielleicht in ein passendes Wohnprojekt übersiedelten, wo uns noch mehr unter die Arme gegriffen wurde. Aber das wollten wir nicht. Wir wollten zusammenziehen. Auch aus den Gründen, die das Leben in Thielensee jetzt kompliziert machten.   „Tja, keine Ahnung“, meinte er schließlich mit einem nicht gut versteckten Seufzen in der Stimme. „Stur genug seid ihr jedenfalls dafür. Aber zusammenwohnen ist nicht so einfach, wie ihr euch wahrscheinlich das vorstellt. Jeder hat so seine Vorstellung, wie das Ganze auszusehen hat. Leif zum Beispiel ist sehr viel unselbstständiger als du. Chaotischer. Da besteht immer die Gefahr, dass man sich wegen allem Möglichen in die Haare bekommt. Und wenn es nur darum geht, wer den Müll runterbringt. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Bei meiner Freundin und mir sind deswegen schon mehr als einmal die Fetzen geflogen.“   Als er mein langes Gesicht sah, lachte er. „Aber es kann auch echt toll sein. Abends zusammen einschlafen, morgens zusammen aufwachen. Einfach das Gefühl, eine gemeinsame Basis zu haben. Einen Ort, an dem man immer wieder zurückkehren kann. Das ist viel wert.“   Er wollte wohl noch mehr sagen, aber da öffnete sich plötzlich die Tür neben uns und eine Dame in einem grauen Kostüm trat heraus. „Manuel Heuser?“   Ich stand auf. „Das bin ich.“ „Wenn Sie mir folgen würden.“   Mein Herz machte einen Satz. Jetzt war es soweit. Jetzt würde ich gleich meinen Eltern gegenüberstehen. Meine Handflächen wurden feucht. Schnell wischte ich sie an der Hose ab und strich mein Hemd glatt. Es war immer noch das einzige das ich hatte. Leif hatte mich heute Morgen damit gesehen und mich ganz merkwürdig angeschaut. „Was ist los?“, hatte ich gefragt. Er hatte gelächelt. „Nichts. Du siehst nur so anders aus.“ „Gut anders oder schlecht anders?“ Er hatte einen Augenblick darüber nachgedacht, dann war er zu mir getreten und hatte den Kragen meines Hemdes gerichtet und gemeint: „Anders halt. Nicht so, wie du wirklich bist.“ Darüber hatte ich eine ganze Weile nachgedacht und es dann wieder vergessen. Jetzt, wo ich den Gerichtssaal betrat, fiel es mir wieder ein.   Nicht so, wie ich wirklich bin.   Vielleicht war das der Schlüssel.     Drinnen saßen bereits mehrere Leute. Am Kopfende des Raumes an einem quergestellten Tisch drei Frauen. Alle drei blond, zwei jünger, eine schon älter. Die in der Mitte trug eine schwarze Robe mit einem weißen Oberteil darunter. Das musste die Richterin sein. Das letzte Mal hatte ich einen Mann gehabt. Ein älterer Herr mit beginnender Glatze. Der hatte sich ganz väterlich gegeben und mir gut zugeredet, bis ich einfach Ja und Amen gesagt hatte. Dieses Mal würde es anders werden.   Auf meiner Seite, der Seite, auf der wir reingekommen waren, saß ein Mann, von dem ich wusste, dass er der Anwalt war, der mich hier vertreten sollte. Tobias hatte uns beide vor einigen Tagen vorgestellt und wir hatten besprochen, was heute passieren sollte. Er war ein hagerer, schon leicht angegrauter Typ, der seinen Job aber wohl verstand und eigentlich ganz nett war. Er machte nicht viele Faxen, sondern kam immer schnell zum Punkt. Das hatte mir gefallen.   „Wir werden das Ganze so kurz wie möglich halten“, hatte er gemeint. „Den Antrag auf alternative Unterbringung werde ich vorher schon einreichen, dann sollte es möglich sein, das zusammen abzuhandeln.“   Ich hoffte nur, dass er Recht damit hatte.   Auf der anderen Seite saßen nebeneinander meine Eltern und ihr Anwalt. Meine Mutter war blass, ihre Haut teigig und unter ihren Augen hingen dicke Tränensäcke. Mein Vater hingegen wirkte, als würde er gleich irgendetwas zertrümmern. Rot und voller Wut. Eigentlich erwartete ich, dass sich bei dem Anblick irgendetwas regte. Erinnerungen vielleicht. An die Streits, die Schläge, das Geschrei. Aber da war nichts. Die Dinge, an die ich mich erinnerte, waren eher anderer Natur. Mein kleines, mit einer Schrankwand und einem Bett vollgestopftes Zimmer, die Küche mit der abgewohnten Küchenzeile und den Trockenblumen, die auf dem kleinen Tisch gestanden hatten, an dem ich immer gefrühstückt hatte. Das Badezimmer mit dem plüschigen, rosa Vorleger und dem Geruch nach feuchter Wäsche, der von den Leinen herrührte, die über der Badewanne gespannt waren, und schließlich die Zocksessions im Zimmer meines Bruders, bei denen er mich nie gewinnen ließ. Meine Eltern kamen darin nicht vor. Ich wusste, dass sie da gewesen sein mussten, aber ihre Präsenz war merkwürdig nebulös. Gleichzeitig da und nicht da. Wie Geister.   „Manuel Heuser?“ wurde ich schon wieder gefragt. Als ich nickte, lächelte die Richterin. „Schön, dann können Sie – oder soll ich lieber du sagen?“ „Du ist okay.“ „Gut, dann kannst du gerne an der Seite Platz nehmen. Du musst dich nicht in die Mitte stellen.“ „Ich möchte aber.“   Während Tobias sich neben meinen Anwalt setzte, trat ich zu dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Hier drinnen war es deutlich freundlicher als draußen. Die Tische und Stühle waren aus hellem Holz und durch die großen Fenster schien die Sonne herein. Neben mir hörte ich meinen Vater atmen.   Die Richterin erklärte noch einmal, warum wir hier waren. Das meine Eltern einen Antrag eingereicht hätten, um die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung auszusetzen, und dass ich gleichzeitig einen Gegenantrag gestellt hätte auf Unterbringung in einer betreuten Wohnanlage. Zum Schluss meinte sie, dass sie nun gerne noch einmal von mir hören wollte, warum ich den Antrag gestellt hatte.   Als sie schwieg und es an mir war, das Wort zu ergreifen, wurde mir flau im Magen. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich das wirklich schaffen würde. Ob das mit Leif nicht doch eine Schnapsidee war und ob ich nicht lieber sagen sollte, dass ich weiter in Thielensee bleiben wollte. Ich war doch noch nicht so weit. „Manuel? Möchtest du etwas sagen?“   „Ich …“, begann ich und brach ab. Dabei hatte ich es doch geübt. Ich hatte es geübt!   „War ja klar“, murmelte mein Vater neben mir. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie meine Mutter ihm die Hand auf den Arm legte. Er aber knurrte sie an, dass sie gefälligst die Finger von ihm lassen sollte. Da wusste ich, was ich zu tun hatte. „Ich weiß, dass ich noch nicht lange in Thielensee bin, aber ich denke, dass ich in der Zeit große Fortschritte gemacht habe. Ich bin wieder zur Schule gegangen, hab an meinem Aggressionsproblem gearbeitet und ich rauche nicht mehr. Und natürlich hab ich auch sonst keine Drogen genommen. Ich habe dort ein neues Leben begonnen und …“   An dieser Stelle schnaubte mein Vater.   „Wer’s glaubt.“   Langsam drehte ich mich zu ihm herum. „Weißt du was?“, sagte ich zu ihm. „Es ist mir egal, ob du es glaubst. Die Wahrheit ist, dass ihr euch nie großartig um mich geschert habt. Euch geht es doch gar nicht um mich, sondern nur um das Geld, das ihr bekommt, wenn ich wieder bei euch wohne. Und dass ihr nicht aus der Wohnung rausmüsst. Aber ihr habt es verkackt. Ihr habt es verkackt, richtige Eltern zu sein. Für mich und für Pascal.“ „Manuel!“ Die Richterin sah mich streng an. „Bitte mäßige deinen Ton. Du bist hier immer noch vor Gericht. „Ja, natürlich“ , murmelte ich. „Entschuldigung“   Es war wirklich unglaublich, dass der Typ mich immer noch so aus der Fassung bringen konnte. Aber damit sollte jetzt Schluss sein. Endgültig. „Meine Eltern möchten, dass ich wieder nach Hause komme. Aber mein Zuhause ist kein Zuhause. Es ist ihre Wohnung, wie sie nicht müde werden, mir zu erzählen, und ich darin nur ein ungern gesehener Gast. Und deswegen möchte ich … ich möchte mir ein eigenes Zuhause schaffen. Ich möchte einen Platz haben, an den ich gehöre, zusammen mit einem Menschen, der mich liebt.“ Wieder konnte mein Vater sich nicht zurückhalten. Er lachte. „Also das ist es. Du hast dir ein Mädel aufgerissen und willst sie in Ruhe knallen können. Als wenn du das bei uns nicht könntest.“   Ich atmete tief durch. Das war die Vorlage, auf die ich gewartet hatte. „Es ist kein Mädchen“, sagte ich und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Sein Name ist Leif und ich liebe ihn.“   Für einen Augenblick war es so still im Gerichtssaal, dass man wohl die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können, wenn da nicht Teppichboden unter meinen Füßen gelegen hätte.   Mein Vater starrte mich einfach nur an. „Sag das nochmal“, verlangte er. Ich konnte förmlich sehen, wie sein Gesicht immer röter wurde. „Ich sagte, dass ich ihn liebe und er mich. Und das ist wohl mehr, als ihr von euch behaupten könnt.“   Die Richterin fing hinter mir an zu sprechen. Irgendwas von der Wohnanlage, die wir als möglichen neuen Wohnort angegeben hatten, und meinem Schulabschluss und alles solchen Dingen. Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Stattdessen beobachtete ich meinen Vater. Wie würde er reagieren?   „Nun, Herr und Frau Heuser. Möchten Sie unter diesen Umständen Ihren Antrag wirklich aufrecht erhalten?“   Mein Vater würdigte die Richterin keines Blickes und auch meine Mutter, die sich hilfesuchend an ihn wandte und sich von ihm vielleicht Zuspruch oder ein tröstendes Wort erhoffte, sah er nicht an. Seine stechenden Augen richteten sich einzig und allein auf mich, bevor er den Mund auftat und voller Widerwillen verkündete: „So einen will ich bei mir zu Hause nicht haben.“ Damit stand er auf und verließ den Gerichtssaal, obwohl ihm die Richterin nachrief, dass er nicht so einfach gehen könnte und das Ganze ein Bußgeldverfahren zur Folge haben würde. Als die Tür hinter ihm zufiel, herrschte erneut Schweigen. Meine Mutter sah mich aus feuchten Augen an. „Ist das wahr?“, fragte sie. Ihre Stimme quietschte unangenehm. „Ja, ist es“, sagte ich. Sie tat mir leid, wie sie da saß in ihrem besten Kleid, das lange schon kein gutes Kleid mehr war, und offenbar nicht imstande war zu begreifen, was hier gerade abging. Vielleicht war sie selbst einmal da gewesen, wo ich gerade stand. Jung, glücklich, verliebt. Heirat, Kinder, eine eigene Wohnung und jede Menge Pläne. Wie es aussah, hatte sich keiner davon erfüllt.   Meine Mutter sah den Anwalt an. „Dann soll er gehen. Ich … ich will ihm da nicht im Weg stehen.“ „Heißt das, dass Sie den Antrag zurückziehen?“, wollte die Richterin wissen. Meine Mutter schniefte. „Ja. Ja, das tue ich.“   Sie wandte sich wieder an mich. „Es tut mir so leid. Ich hab das alles nicht gewollt.“   „Ich weiß“, antwortete ich. „Aber du hast es auch nicht verhindert. Du bist genauso schuld daran wie er.“   „Aber was hätte ich denn tun sollen?“, jammerte sie. „Dein Vater …“   „Du hättest dir Hilfe suchen können“, sagte ich und sah sie nicht mehr an. Ich wusste, dass ich sonst eingeknickt wäre. Ich brauchte jetzt diesen Schnitt, damit ich endlich frei sein konnte. Ein Schritt, den sie vermutlich bereits vor Jahren verpasst hatte. Aber das war nicht meine Schuld. Ich konnte ihr nicht helfen. „Dann wird hiermit dem Antrag von Manuel Heuser stattgegeben. Bis die angestrebte Unterbringung eingerichtet werden kann, verbleibst Du zunächst noch in Thielensee. Alles Weitere werden wir dann mit deinem Anwalt klären. Du bist entlassen.“   Ich wartete noch, dass der unvermeidliche Hammerschlag erfolgte, aber den gab es hier im Familiengericht wohl nicht. Im Grunde war er auch nicht notwendig, denn der Stein, der mir vom Herzen polterte, sorgte schon für genug Donnern. In meinen Ohren hörte ich meinen Pulsschlag hämmern. Tobias, der sich ebenfalls erhoben hatte, lächelte mich an. „Na los, Großer. Dann fahren wir mal nach Hause, ja?“   „Okay“, antwortete ich und auch wenn ich wusste, dass ich nicht mehr lange in Thielensee bleiben würde, fühlte es sich richtig an, dass er es so sagte. Denn genau das war das Heim inzwischen für mich. Ein Zuhause.     Als wir ankamen, waren die anderen schon mit dem Mittagessen fertig. Tobias hatte mich zur Feier des Tages zu McDonald’s ausgeführt. Nie hatte Fast Food so gut geschmeckt. In der Küche klapperte jemand mit Geschirr. „Ich geh mal gucken, ob ich helfen kann“, meinte ich zu Tobias und bog um die Ecke, nur um im nächsten Moment vor Jason zu stehen. Er mühte sich mit dem großen Suppentopf ab. „Hey, brauchst du Hilfe?“   Jason drehte sich zu mir um und verzog das Gesicht. „Wenn du weißt, wie ich den angebrannten Scheiß hier abkriege, gerne.“ „Lass mal sehen.“   Ohne ein weiteres Wort hielt mir Jason den Topf entgegen. Am Boden klebte eine braune Kruste. Wovon war nicht erkennbar. „Wie ist das denn passiert?“ „Leif hat gekocht.“   Ich zog die Augenbrauen nach oben, sagte aber nichts. Das war auch etwas, das neu war. Leif versuchte sich neuerdings beim Essen einzubringen. Leider schmeckte das, was er zusammenrührte, meist nicht besonders gut. Außerdem bestand es fast nur aus Gemüse. Halbrohem Gemüse. Oder wie Jason es ausdrückte: Es schmeckte ziemlich grün.   „Gib mal ein Spülaschinentab.“ „Und dann?“ „Wirst du ja sehen.“   Ich stellte den Topf auf den Herd, gab Wasser hinein und den Tab. Dann drehte ich die Herdplatte auf volle Pulle. „Und was wird das?“ „Ist ein alter Trick, wie man Angebranntes am schnellsten abkriegt.“ „Hast du das aus dem Internet?“ „Nee, von meiner Oma.“ Dass ich das Ganze doch aus dem Netz hatte, musste er ja nicht unbedingt wissen. Jason stöhnte und lehnte sich an den Tresen. „Dein … Freund ist wirklich ne komische Type.“   Ich drehte mich nicht um sondern sah dem Wasser im Topf dabei zu, wie es anfing zu kochen. Die blau gelbe Tablette begann sich aufzulösen.   „Ja, ich weiß“, gab ich zurück.   „Und ihr beide seid echt … also ich mein …“   Jason stockte, ich seufzte. „Ja, sind wir. Ich dachte, das hätten wir geklärt.“ „Aber du wirkst gar nicht schwul.“   Ich schnaubte und drehte mich nun doch um. Jasons Wangen nahmen einen dunklen Rotton an. „Ah, so mein ich das nicht, aber … du bist doch voll normal. Also ja, du kannst Wäsche waschen und kannst das da.“ Er gestikulierte in Richtung Herd. „Aber eigentlich hatte ich immer gedacht, dass du …“   Ich schnaubte noch einmal. „Ja, tut mir leid, dass ich dich in dem Glauben gelassen habe. Ich geh damit auch nicht unbedingt hausieren, weißt du?“   „Mhm“, machte Jason. Offenbar war da noch etwas, das er auf dem Herzen hatte. Als ich danach fragte, seufzte er.   „Meine Mama hat angerufen. Sie hat ihren Stecher in den Wind geschossen und will, dass ich wieder nach Hause komme.“   Ich nickte leicht. Daher wehte also der Wind. „Und du? Willst du das denn auch?“   Jason zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich … also irgendwie gehen jetzt ja hier alle. Sven, Nico, du und Leif sowieso. Bei Dennis weiß ich es nicht, aber der schweigt sich ja auch immer aus. Aber irgendwie … irgendwie geht ihr alle eure eigenen Wege. Eigene Wohnung, Lehre und so. Und ich … ich geh wieder nach Hause zu meiner Mutter? Das ist doch scheiße.“   Hinter mir fing der Topf an zu brodeln. Ich stellte den Herd ab und zog den Topf zur Seite. Der Geruch des Spültabs stach mir in die Nase.   „Weißt du … vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn du wieder nach Hause gehst. Familie ist wichtig, weißt du?“ Jason lachte.   „Hast du deine nicht gerade verklagt.“   Ich musste ebenfalls lachen. In dem Zusammenhang klang das schon etwas verrückt. „Tja, manchmal ist die Familie, in die du geboren wurdest, eben nicht die richtige für dich. Dann musst du dir eine neue suchen. Aber wenn sie es ist, dann ist das das Beste, was dir passieren kann.“   Jason sah mich an wie ein Auto. Ich grinste. „Mund zu, Fliegen kommen rein.“   Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Arschloch!“   Ich grinste noch breiter.   „Hab nie behauptet, dass ich keins wäre.“   Er trat zu mir, schubste mich grob zur Seite und grummelte irgendwas darüber, dass der Topf wenigstens sauber sei und das ich ja immerhin das könnte. Ich lächelte leicht, während ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte.   Ich mag dich auch, Jason. Als ich um die Ecke bog, stand da jemand gegen die Wand gelehnt. Es war Tobias. Er betrachtete mich mit einem unübersehbaren Schmunzeln. „Was?“, blaffte ich. Tobias hob abwehrend die Hände. „Gar nichts, großer Meister.“   Ich knurrte und ging an ihm vorbei. Er folgte mir und schloss zu mir auf. Als wir an der Treppe ankamen, knuffte er mich. „Das war ganz schön tiefsinnig, was du Jason da erzählt hast.“   „Ach echt?“, fragte ich und tat so, als hätte ich das gar nicht bemerkt. Irgendwie war es mir unangenehm, dass Tobias das mitbekommen hatte. „Ja. Genau das Gleiche, hätte ich ihm auch gesagt. Und ich glaube, er und seine Mutter könnten es hinbekommen. Also irgendwie zumindest. Bis der nächste Mann auf der Bildfläche erscheint.“   Ich musste an meine Mutter denken und seufzte. „Warum sind Männer eigentlich immer die Arschlöcher?“   Tobias begann zu lachen. „Oh, glaub mir. Ich hab da auch schon ganz andere Sachen erlebt.“ „Ach echt? Erzählst du es mir?“   Er lächelte.   „Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt wartet erst mal Leif auf dich. Er hat schon drei mal nach dir gefragt.“   Ich nickte.   „Alles klar. Dann … brauchst du mich oben nicht reinzulassen.“ „Ich weiß.“ „Warum bist du dann hier?“ Tobias zögerte.   „Weil … weil ich dir sagen wollte, dass ich echt stolz auf dich bin. Du hast das prima gemacht heute.“   Ich sah zu Boden. Es war immer noch merkwürdig, so gelobt zu werden. „Und wenn du in deinem neuen Zuhause mal Hilfe brauchst, dann melde dich einfach. Ich hab immer Zeit für dich, okay?   Ich lachte spöttisch. „Ja klar. Bis die nächsten Idioten hier auftauchen und dir das Leben schwermachen.“ „Ach, so schlimm ist es nicht. Manchmal hat man Erfolg und dann ist es richtig toll.“ Er legte den Kopf ein bisschen schief und musterte mich. „Wenn du willst, kann ich dir ja mal raussuchen, was man so braucht, um hier zu arbeiten. So als Ausbildung, meine ich.“   Erstaunt hob ich den Kopf. „Jetzt verarschst du mich.“   Tobias lächelte immer noch. „Nein. Wenn das so wäre, würde ich ein ernsteres Gesicht machen. Das hier meine ich so, wie ich es sagte. Ich denke, du hättest das Zeug dazu. Wenn du dein eigenes Leben irgendwann im Griff hast, meine ich. Aber ich glaube, du bist da auf dem richtigen Weg.“   Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber das musste ich auch nicht. Tobias machte bereits eine scheuchende Handbewegung, „Na los. Sieh erst mal zu, dass du Leif nicht länger warten lässt. Husch-husch!“   Ich tat so, als würde ich salutieren, bevor ich mich umdrehte und weiter den Gang entlangging. Vorbei an den Graffitis, die wir hinterlassen hatten. Der Hund, die Katze, die Taube und mein komischer Wurm; für immer an diesen Wänden verewigt. Wie ein Teil von uns, der für immer hier bleiben würde. Oder wenigstens so lange, bis die Wände mal wieder gestrichen werden mussten.   Aber vielleicht komme ich dann wieder und male etwas Neues an die Wand.   Mit dem Gedanken setzte ich meinen Weg zu Leif fort. Fürs Erste würde er das nächste Kapitel in meinem Leben werden. Aber wer wusste schon, was danach kam. Vielleicht ein neues Zuhause, eine neue Stadt, ein neuer Traum. Vielleicht aber auch eine Rückkehr hierher. Zu dem Ort, an dem ich das erste Mal in meinem Leben wirklich angekommen war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)