Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 28: Eine schwere Entscheidung ------------------------------------- Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Kopfschmerzen ein bisschen besser geworden. Dafür fühlte sich der Rest meines Körpers an wie von einer Dampfwalze überfahren. Mein Nacken brannte und die Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich hätte töten können für etwas zu trinken. Wie lange hatte ich hier gesessen?   Ohne die Frage zu klären, versuchte ich auf die Füße zu kommen. Nach dem zweiten Versuch klappte es. Ich stand, wenngleich auch etwas wackelig. Gut war definitiv anders. Mit halbem Ohr hörte ich das Gegröle der anderen vom Basketballplatz. Der lag zum Glück hinter Büschen und Bäumen, sodass man mich von dort aus nicht sehen konnte. Alles in allem hatte ich vielleicht ne gute halbe Stunde verpasst. Maximal ne Dreiviertel, wenn es hochkam. Ich überlegte.   Natürlich hätte ich jetzt einfach zu den anderen gehen können. Mich dem stellen, was mich an Strafpredigt erwartete. Obwohl … zählte das überhaupt als Weglaufen, wenn man hier einbrach? Und war es Hausfriedensbruch, wenn man in sein eigenes Wohnheim einstieg? Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht herausfinden. Lieber nahm ich nochmal den Weg über die Mauer auf mich. Das sollte von dieser Seite immerhin etwas leichter sein.   Wie sich herausstellte, hatte ich mich geirrt.   Den verdammten Baum hochzukommen war fast noch schwieriger als die Mauer zu erklimmen. Ich rutschte immer wieder ab und schürfte mir meine bereits ramponierten Hände nur noch mehr auf. Winzige, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, aber ich gab nicht auf. Irgendwann erwischte ich endlich die richtige Stelle, um mich nach oben zu ziehen. Mit rasendem Puls und schweißnasser Stirn saß ich schließlich rittlings auf einem dicken Ast, nur noch knapp zwei Meter von der Freiheit entfernt. In meinem Schädel pochte es wie in einer Schmiedewerkstatt.   Vielleicht sollte ich einfach abhauen.   Ich wusste, dass das Schwachsinn war. Eine Flucht würde meine Probleme nicht lösen. Außerdem würde ich nicht weit kommen, so wie es mir gerade ging. Zuerst musste ich wieder zurück. Und ich musste mit Leif reden. Alles andere würde ich später in Angriff nehmen.   Vorsichtig schob ich mich auf dem Ast nach vorn, bis ich an der Mauer angekommen war. Ich kletterte darauf, vergewisserte mich noch einmal, dass mich niemand beobachtete, und sprang.   Schmerz schoss meine Beine hinauf. Das war jedoch nichts gegen den dröhnenden Gong, in den sich mein Kopf durch den Aufprall verwandelte. Anscheinend mochte mein Gehirn es nicht, in seinem Zustand auch noch durchgeschüttelt zu werden.   Was für ne abgefuckte Scheiße!   Instinktiv stützte ich mich an der Mauer ab und kniff die Augen zusammen. Vor mir lag die Allee. Ein paar Autos fuhren vorbei und in der Ferne konnte ich einen Radfahrer erkennen. Ansonsten blieb alles ruhig. Keine Sirenen, kein Hundegebell. Ich hatte es tatsächlich geschafft.   Stellt sich nur die Frage, wie ich wieder reinkomme.   Meine Hand wanderte zu meiner hinteren Hosentasche. Leider fand sie dort nicht, was ich gesucht hatte. Die Tasche war leer. Mein Handy war weg.   Kacke! Und jetzt?   Jetzt blieb mir wohl nur noch, den Rückweg anzutreten und zu hoffen, dass irgendwann der Bus auftauchte, der Jason nach Hause brachte. Dann würde ich ihn darauf einschwören, dass er nichts verriet und dann … dann hatte ich keine Ahnung.   Ein Auto, das auf der anderen Straßenseite an mir vorbeigefahren war, wurde langsamer. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber als der Typ den Wagen wendete und langsam hinter mir hergefahren kam, schrillten bei mir alle Alarmglocken. Schnell sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um, als auch schon eine Stimme meinen Namen rief. Ertappt drehte ich mich herum. Und staunte.   „Was machen Sie denn hier?“   Dr. Leiterer musterte mich durch das heruntergelassene Seitenfenster. Er trug heute nur ein Hemd, die Ärmel hatte er hochgekrempelt.   „Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen. Herr Ritter hat gesagt, du seist im Kino.“   Der Doc hielt am Straßenrand, stellte den Motor ab und stieg aus. Als er auf mich zukam, wurde sein Gesicht immer besorgter.   „Meine Güte, was hast du denn angestellt? Du siehst aus, als hätte man dich überfallen.“   Ich blickte am mir herunter. Offenbar hatte ich doch ein bisschen mehr abbekommen, als ich gedacht hatte. Die Hose war ziemlich hinüber und das T-Shirt hatte etliche Flecke. Vom Zustand meines Körpers fing ich lieber gar nicht erst an.   „Ach, ich bin nur … ich hatte einen Zusammenstoß mit einer Mauer. Und einem Baum. Nichts Wildes.“   Ich reckte die Daumen in die Höhe. Blöderweise hatte ich dabei besagte Mauer losgelassen. Prompt schwankte mein Blickfeld. Oder ich. Wie man es nahm.   „Hey, ganz langsam.“   Dr. Leiterer streckte die Hand nach mir aus. Ich wehrte ihn ab, aber er bekam mich trotzdem zu fassen. Seine Finger schlossen sich um meinen Oberarm und zogen mich wieder in die Senkrechte.   „Ist wirklich alles in Ordnung? Du bist so blass um die Nase.“ „Mir geht es gut.“   Es war eine durchschaubare Lüge und der Doc offenbar nicht so dumm, wie ich gerne gehabt hätte.   „Das sieht mir aber nicht so aus. Komm, trink erst mal was. Dann sehen wir weiter.“   Ohne auf meinen Protest zu achten, schob er mich zum Auto, bugsierte mich auf den Beifahrersitz und drückte mir eine kleine Flasche Mineralwasser in die Hand. Das Zeug war pisswarm, aber ich trank trotzdem gehorsam einen großen Schluck. Selten hatte so eine Plörre so gut geschmeckt.   „Mehr“, ordnete der Doc an. Offenbar war er kurz davor, mir den Inhalt der Flasche mit Gewalt einzuverleiben. Ich tat ihm also den Gefallen und trank etwa die halbe Flasche leer, bevor ich wieder absetzte. Er taxierte mich kritisch.   „Und?“   Ich nickte und wich seinem Blick aus.   „Ja, besser. Danke.“   Am liebsten wäre ich jetzt aufgestanden und gegangen. Der Doc war so ziemlich der Letzte, mit dem ich reden wollte. Aber natürlich ließ er so schnell nicht locker.   „Erklärst du mir jetzt, wo du dich rumgetrieben hast? Soweit ich weiß, sind Kinos heutzutage klimatisiert und man läuft auch nicht Gefahr, von umherlaufendem Buschwerk angegriffen zu werden. Wo also warst du?“   Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Der ging mir echt auf den Sack. Und hatte anscheinend auch nicht vor, damit aufzuhören.   „Nun sag schon. Hast du was ausgefressen? Brauchst du Hilfe?“   Ich schnaubte.   „Hilfe? Sie meinen so, wie Sie Leif geholfen haben?“   Dr. Leiterers Augenbrauen näherten sich einander an.   „Wie meinst du das?“   Ich hob den Kopf und funkelte ihn an.   „Damit meine ich, dass ich gehört habe, was Sie da drinnen vom Stapel gelassen haben. Sie wollen Leif von hier wegbringen. Dabei dachte ich, dass sie auf unserer Seite sind.“   Für einen Moment stierte mich der Doc einfach nur vollkommen baff an. Dann drehte er den Kopf in Richtung Mauer.   „Du hast uns belauscht“, stellte er fest. Ich bleckte die Zähne zu einer Art Grinsen.   „Ja, hab ich. Ihr kleines Geheimnis ist aufgeflogen. Hätten Sie nicht gedacht, was?“   Ein Seufzen folgte meinem Ausspruch. Dr. Leiterer machte ein ernstes Gesicht.   „So hätte das eigentlich nicht laufen sollen.“   „Tja, Pech gehabt!“, blaffte ich ihn an. Ich wusste, dass ich gerade viel zu weit ging, aber er hatte mich hintergangen. Das würde ich ihm nie verzeihen.   „Sie haben gesagt, Sie helfen uns.“   „Ich habe gesagt, ich denke darüber nach“, korrigierte er mich.   „Klugscheißer!“   Das Wort war heraus, bevor ich mich zusammenreißen konnte. Der Doc runzelte die Stirn.   „Ich verstehe, dass du wütend bist. Aber ich werde mich nicht von dir beleidigen lassen. Haben wir uns da verstanden?“   Ich hielt seinem Blick noch einen Moment lang stand, bevor ich den Kopf senkte und stattdessen auf seine Fußspitzen starrte. Dr. Leiterer seufzte.   „Möchtest du darüber reden?“ „Nein. Wollen Sie?“ „Vielleicht.“   Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er zur hinteren Autotür ging und sich seitlich auf den hinteren Sitz setzte. Die Füße ließ er genau wie ich aus dem Wagen baumeln.   „Ich verstehe deinen Ärger,“ begann er nach einer Weile. „Du hattest dir mit Sicherheit was anderes erhofft, als du mich um Hilfe gebeten hast. Aber ganz so einfach, wie du dir das vorstellst, ist es leider nicht. Ich musste zuallererst einmal danach schauen, was das Beste für Leif ist. Das verstehst du doch sicher, oder?“   Ich nickte. Natürlich verstand ich das. Leif musste gesund werden. Das war das Wichtigste.   „Und ich versichere dir, dass ich mir die Entscheidung nicht leicht gemacht habe, denn keine der vorhandenen Optionen war wirklich ideal.“   Ich horchte auf.   „Wie meinen Sie das? Welche Optionen?“   Der Doc verzog den Mund zu einem leisen Lächeln.   „Du weißt, dass ich nicht mit dir über andere Patienten sprechen darf.“   Ich schnaubte und wandte den Kopf ab.   „Und wozu dann das Gelaber? Soll das ne kostenlose Therapiestunde werden?“   Dr. Leiterer lachte.   „Oh, wenn es dich beruhigt, kann ich die Zeit ja Leifs Eltern in Rechnung stellen. Immerhin geht es hier auch um ihren Sohn.“   Unwillkürlich musste ich grinsen. Der Doc war ein Schlitzohr. Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche.   „Was wollen Sie von mir?“   Dr. Leiterer lächelte. Ich sah es durch die kleine Lücke zwischen Kopfstütze und Sitzpolster. Er warf mir einen Blick zu.   „Ich wollte mit dir sprechen.“ „Warum?“ „Weil Leif nicht der Einzige ist, den ich auf meiner Liste für eine mögliche Entlassung habe.“   In meinem hitzegeschädigten Hirn ratterte es.   „Sie meinen, dass ich …?“   Er lächelte wieder.   „Nun, normalerweise ist dein Aufenthalt hier auf mindestens ein halbes Jahr ausgelegt. Herr Ritter hat mir allerdings erzählt, dass es demnächst zu einer Anhörung kommen wird. Wenn der Fall sowieso gerade angefasst wird, bestände eventuell die Möglichkeit, jetzt schon eine alternative Unterbringung für dich zu beantragen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.“   Der Doc sah mich erwartungsvoll an.   „Also, was sagst du dazu?“   Ich schluckte. Schon wieder hatte ich schrecklichen Durst, aber die Flasche in meiner Hand hatte sich wie durch Zauberhand geleert und ich traute mich nicht, nach einer neuen zu fragen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.   „Ich soll aus Thielensee weg?“   Das klang absolut unfassbar. Auch er schien das zu wissen.   „Mir ist klar, dass das beängstigend ist. Du bist gerade erst angekommen und sollst schon wieder fort. Dich noch einmal umgewöhnen, noch einmal neue Betreuer, Sozialarbeiter, vermutlich sogar einen neuen Therapeuten oder eine Therapeutin und obendrein noch eine eigene Wohnung in der du ganz allein für alles verantwortlich wärst. Das wäre ein ziemlich großer Schritt. Du müsstest dich selbst ums Einkaufen, deinen Tagesablauf und deine Schulaufgaben kümmern. Dafür ist viel Disziplin notwendig. Etwas, das du hier durch die von außen vorgegebenen Strukturen nicht aufbringen musst. Da wird dir gesagt, wann du etwas zu tun und zu lassen hast.“   Ich schnaubte.   „Das kann aber auch manchmal ganz schön nervig sein.“   Der Doc schmunzelte.   „Das glaube ich gerne. Und doch macht es die Dinge einfacher. Es gäbe daher auch noch die Möglichkeit, in eine offene Wohngruppe zu ziehen. Dort müsstest du dich allerdings wieder mit deinen Mitbewohnern arrangieren.“   Ich schluckte und zögerte. Ob ich …   „Könnte ich auch mit Leif zusammenziehen?“   Nicht, dass ich das wollte. Es war nur so eine Idee.   „Das wäre sicherlich möglich. Ich denke jedoch, zu Anfang solltet ihr vielleicht besser jeder euer eigenes Reich haben. Einen Rückzugsort, an dem ihr ganz ihr selbst sein könnt.“   Ich sagte nichts, aber tief in mir drin, wusste ich, dass ich das nicht wollte. Ich wusste, dass ich bei Leif sein wollte. Egal zu welchem Zeitpunkt.   „Ich könnte ihm helfen. Mit dem Essen und so. Ich weiß, dass ich das kann.“   Dr. Leiterer lächelte leicht.   „Erinnerst du dich, dass ich dir sagte, dass du nicht vergessen sollst, dass Leif mehr ist als seine Krankheit?“   Ich nickte. Natürlich hatte ich das nicht vergessen.   „Dann mach ihn nicht dazu. Er ist dein Freund, Manuel. Sorg dafür, dass er die richtige Entscheidung trifft, und dann triff selbst eine Wahl. Ich weiß, dass das schwer unabhängig voneinander passieren wird, aber vielleicht versuchst du es wenigstens. Versprichst du mir das?“   Ich sah den Doc an. In seinem Blick lag Sorge. Echte Sorge. Um mich. Nicht um Leif, denn der war gar nicht hier. Hier und jetzt ging es nur um mich.   „Ich werd’s versuchen“, antwortete ich irgendwann. Mehr als das ging nicht.   „Gut“, sagte er und atmete hörbar aus. „Dann würde ich sagen, machen wir beide mal Feierabend für heute. Soll ich dich noch nach Hause bringen?“   Ich schüttelte den Kopf.   „Nein, dann wissen die ja gleich, dass ich Mist gebaut habe. Ich … ich würde es vorziehen, wenn das hier unter uns bleibt.“   Ich sah den Doc von unten herauf an. Er verkniff sich ein Lachen.   „Jetzt sieh sich einer diesen Burschen an. Schlägt der mich doch glatt mit meinen eigenen Waffen.“   Auch ich musste ein bisschen grinsen. Dr. Leiterer schlug sich mit den Händen auf die Oberschenkel und stand auf.   „Na schön, Manuel. Ich gehe davon aus, dass wir uns nächsten Dienstag sehen?“ „Na klar.“ „Versprochen?“ „Ehrenwort.“   Ich erhob mich ebenfalls und gab dem Doc seine Flasche zurück. Er nahm sie und sah mich noch einmal prüfend an.   „Viel Glück.“   Ich antwortete nicht mehr darauf. Meine Gedanken waren schon bei Leif und vor allem dabei, welche Geschichte ich Tobias auftischen würde, damit er mich nicht stehenden Fußes auseinandernahm. Bei einem davon wusste ich nicht, was ich tun sollte.       „Du bist was?“   Tobias starrte mich ungläubig an. Ein Ausdruck, der sein Gesicht zierte, seit ich an der Tür geklingelt und er mir aufgemacht hatte.   „Hierher gelaufen“, wiederholte ich und versuchte zu klingen, als wäre das nichts Besonderes.   „Aber warum bist du denn nicht mit dem Bus gefahren?“   Ich verdrehte gekonnt die Augen.   „Ich hab doch schon gesagt, dass ich mein Geld vergessen habe. Also bin ich den ganzen Weg zurück zu Fuß gelaufen. Und als ich ne Abkürzung nehmen wollte, bin ich volle Kanne auf die Fresse geflogen und hab mir alles aufgeratscht. Siehst du? Hier sind die Kratzer.“   Ich hielt Tobias meine Hände entgegen. Er musterte sie kopfschüttelnd.   „Das glaub ich ja alles nicht. Ich glaub es echt nicht.“   Zu meinem Glück war das offenbar nur ein Spruch, denn er ließ mich nun endlich rein und schloss die Tür wieder hinter mir.   „Und wo ist Jason?“ „Na, im Kino. Er wollte den Film doch so gerne sehen, da hab ich gesagt, er soll allein gehen.“   So ungefähr zumindest war es gewesen.   „Dämlich. Absolut dämlich“, knurrte Tobias, während er mich in Richtung Küche schob. „Wie kann man nur auf so bescheuerte Ideen kommen? Du hättest doch anrufen können.“   „Hab mein Handy verloren. „Auch das noch!“   Tobias murmelte noch irgendwas, das ich nicht verstand, aber es klang verdächtig nach:’Was hat er sich nur dabei gedacht?’ Irgendwie glaubte ich jedoch nicht, dass er mich damit meinte.   „Los, hinsetzen und Hände her!“   Ich gehorchte und zuckte auch nicht, als Tobias das Desinfektionsspray großzügig auf meinen Händen verteilte. Ein Indianer kannte schließlich keinen Schmerz.   „Brauchst du Pflaster?“ „Nein. Sind doch nur Kratzer.“   Kratzer, die höllisch brannten. Wenigstens pochte mein Kopf nicht mehr so. Das Wasser, das Dr. Leiterer mir verabreicht hatte, hatte Wunder gewirkt. Trotzdem hätte der Tag an dieser Stelle gut und gerne zu Ende sein können. Mein Akku war vollkommen ausgelutscht.   „Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich, nachdem Tobias das Verbandszeug mit verkniffenem Gesicht wieder weggeräumt hatte. Es war wirklich nicht schwer zu erraten, dass er stinksauer war. Wahrscheinlich hätte ihm ne Runde am Boxsack auch mal ganz gut getan. Ich hörte ihn kräftig durchatmen.   „Natürlich. Soll ich dich oben reinlassen?“   Tja, da lag der Hund begraben. Wollte ich die linke oder die rechte Tür? Rote oder blaue Pille?   „Ist Leif auch da?“, fragte ich möglichst beiläufig.   „Ja, ist er. Seine Eltern haben dann doch davon abgesehen, ihn mitzunehmen.“ „Wieso? Ist was passiert?“ „Das soll er dir lieber selber erzählen.“   Es war Tobias anzumerken, dass er gerne noch mehr gesagt hätte. Aber er tat es nicht und ich fragte nicht.   „Dann würde ich lieber zu Leif gehen? Wenn das okay ist.“   Tobias schien nicht begeistert zu sein.   „Ja, meinetwegen. Aber denk dran, dass es in ner halben Stunde Essen gibt.“ „Geht klar.“   Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stieg ich die Treppe hinauf. Vermutlich würde Jason jeden Moment vor der Tür stehen und ein Teil von mir wollte am liebsten hier auf ihn warten um sicherzugehen, dass er mich nicht verriet. Trotzdem stieg ich weiter Stufe um Stufe nach oben, bis ich plötzlich eine Bewegung auf dem Treppenabsatz über mir sah. Als ich den Kopf hob, stand Leif am Geländer und blickte zu mir herab.   „Hey“, sagte ich leise. Er sah mich einfach nur an. Die Schatten unter seinen Augen schienen noch ein Stück tiefer geworden zu sein.   „Hey“, grüßte er schließlich zurück. „Wie war’s im Kino?“   Der stille Vorwurf, der in seiner Stimme mitschwang, entging mir nicht. Ich seufzte lautlos. Wahrscheinlich hatte er mitbekommen, was ich Tobias erzählt hatte. Oder er hatte sich seinen eigenen Reim gemacht.   „Können wir das woanders besprechen?“   Er nickte und drehte sich wortlos um. Ich folgte ihm in sein Zimmer. Drinnen war die Decke auf seinem Bett verrutscht und das Kopfkissen zerknautscht. Offenbar hatte er darauf gelegen. Eine wunderbare Idee.   Ohne mich um den Zustand meiner Klamotten zu kümmern, ließ ich mich darauf fallen und versank in einer Wolke aus Leifgeruch. Es war so viel besser zu liegen. Einfach die Augen zumachen und schlafen.   „Erzählst du mir jetzt, was wirklich passiert ist?“   „Gleich“, murmelte ich in sein Kissen. Ich war so fertig.   Das Bett senkte sich neben mir ab. Ich wartete darauf, dass Leif sich zu mir legte, aber das tat er nicht. Er blieb neben mir sitzen und starrte mir Löcher in den Rücken. Irgendwann gab ich auf.   Mit einem Stöhnen drehte ich mich herum und betrachtete ihn von unten herauf. Ich wusste immer noch nicht, was ich ihm sagen sollte.   „Ich war nicht im Kino“, fing ich schließlich mit dem Offensichtlichen an.   „Das hab ich mitgekriegt.“   Natürlich hatte er das.   „Aber ich bin auch nicht in die Stadt gefahren. Ich wollte, aber als dann der Bus kam, konnte ich nicht einsteigen. Ich musste die ganze Zeit an dich denken und da bin ich … ich bin in den Garten geklettert, hab mich zum Fenster geschlichen und gelauscht. Ich weiß Bescheid.“   Leifs Mundwinkel zuckte. Da war etwas in seinem Blick, das mir wehtat. Automatisch setzte ich mich auf.   „Ich weiß wirklich nicht, was da in mich gefahren ist und … es tut mir leid. Ich hab gedacht, dass …“   Leifs Blick durchbohrte mich förmlich.   „Was hast du gedacht?“   Ich schluckte. Jetzt musste ich wohl die Hosen runterlassen.   „Es ist alles meine Schuld. Ich hab Dr. Leiterer gebeten, dass er dafür sorgt, dass du nicht mehr zu deinen Eltern musst. Ich dachte, er spricht mal wegen der Klinik mit Herrn Steiner und …“   Ich sah die Ohrfeige kommen, aber ich wich ihr nicht aus. Leifs Hand kollidierte mit meiner Wange. Es klatschte und mein Kopf flog zur Seite. Nicht, weil er so fest zugeschlagen hatte. Im Grunde genommen hatte es kaum wehgetan. Ich konnte ihm nur einfach nicht mehr in die Augen sehen.   „Du Arsch!“ Leifs Stimme schwankte. „Warum hast du dich da eingemischt? Es war gut so, wie es war.“   Ich sah zu Boden. Die Platte, die den Abschluss seines Kleiderschranks bildete, stand ein Stück vor. Dahinter schien ein Hohlraum zu sein. Ohne es zu wollen, hatte ich wohl sein Geheimversteck entdeckt. Warum passierte das nur immer?   „Nein, es ist nicht gut“, sagte ich leise. Ich selbst hatte viel zu lange die Augen davor verschlossen, weil ich gedacht hatte, dass es schon irgendwie gut gehen würde. Aber das hier war zu wichtig, um es weiter zu ignorieren.   „Du bist krank. Ich weiß, dass du das weißt, aber du … du kannst hier nicht gesund werden. Du brauchst Hilfe. Welche, die du in Thielensee nicht bekommen kannst.“   Leifs Atem ging schwer. Ich konnte hören, wie er schluckte.   „Dann war es das jetzt?“   Mein Kopf ruckte nach oben. Seine Augen schwammen in glasklaren Seen.   „Nein! So war das nicht gemeint. Ich will doch nur, dass du … dass wir …“   Mein Hals wurde eng. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, sofort aufspringen zu müssen, um weit, weit fortzulaufen. Aber ich wusste auch, dass, wenn ich dort ankam, ein Teil von mir immer noch hier sein würde. Hier, bei ihm.   Ohne etwas zu sagen streckte ich die Hand nach ihm aus und zog ihn an mich. Er leistete keinen Widerstand, doch als er seinen Kopf gegen meine Schulter lehnte, tropfte etwas Warmes, Feuchtes auf den Saum meines T-Shirts.   „Du bist ein Idiot!“, flüsterte er. „Ein verdammter Idiot, weißt du das? Du hast alles kaputtgemacht.“   „Ich hab es für dich getan“, erwiderte ich leise und strich ihm über den Rücken. „Damit du gesund werden kannst.“   „Aber ich will nicht gesund werden!“, schrie er mich aus heiterem Himmel an. Er versuchte, sich von mir loszumachen, aber ich hielt ihn fest, bis seine Gegenwehr erlahmte und er wieder in meinen Arm sank.   „Ich will nicht gesund werden“, wiederholte er jetzt wieder fast unhörbar. „Nicht, wenn das bedeutet, dass ich dich verliere.“   Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. So laut, dass ich fürchtete, dass er es hören könnte. Wenn ich ihm jetzt erzählte, was der Doc gesagt hatte, würde das alles verändern. Ich hatte Angst davor. Wahnsinnigen Schiss. Was, wenn es schiefging? Wenn wir es nicht schafften? Wenn alles dadurch nur noch schlimmer wurde? Und doch wollte ich es sagen. Für ihn. Für uns.   „Das musst du ja vielleicht nicht“, begann ich mit brüchiger Stimme. „Ich … ich hab Dr. Leiterer auf der Straße getroffen. Er hat gesagt, dass ich vielleicht … dass ich auch entlassen werden könnte. Wir beide zusammen. Vielleicht.“   Es waren eine Menge Vielleichts in diesen paar Sätzen gewesen. Trotzdem leuchteten Leifs Augen, als er sich aufrichtete und mich ungläubig anstarrte.   „Wirklich?“   In dem einen Wort steckte so viel Hoffnung, so viel Freude, dass ich auch anfing zu lächeln.   „Na ja, es steht noch nicht fest. Aber er hat gemeint, ich könnte vielleicht bei der Anhörung übernächste Woche einen Antrag auf Verlegung stellen.“   Leifs Atem wurde schneller und seine Wangen bekamen einen Hauch von Farbe.   „Und … willst du das denn?“   Da war sie. Die Frage, auf die ich noch keine Antwort gefunden hatte. Zumindest nicht die, die Leif gerne hören wollte. War ich wirklich bereit dazu? Würde ich das hinkriegen?   „Willst du?“, fragte ich zurück. Ich wusste, was er sagen würde, aber ich musste es von ihm hören.   „Ja. Ja, ich will.“   Ich grinste ein bisschen.   „Dir ist klar, wie das klingt, oder?“   Leif senkte verlegen den Kopf.   „Ja, ich weiß. Aber ich …“   Er stockte. Ein Blick aus leicht umwölkten Augen traf mich. Ich wusste, was er sagen wollte. In meinen Ohren rauschte es. Würde er jetzt wirklich …?   Unten an der Tür klingelte es plötzlich Sturm. Das schrille Kreischen machte den Moment vollkommen zunichte und ich stöhnte innerlich, als man gleich darauf Jason durchs Treppenhaus bölken hörte. Ich verstand nicht, was er da brüllte, aber mir war klar, dass mein Alibi gerade den Bach runterging. Ich hatte es gründlich verkackt.   „Es wird echt Zeit, dass wir hier ausziehen“, erklärte ich mit Grabesstimme. Leif lachte, bevor er an mich heranrückte, den Arm um mich legte und sein Gesicht an meines lehnte.   „Das wird toll mit uns beiden. Ich verspreche es dir.“   Ich wusste, dass es nicht nur toll werden würde. Einfach weil er er war und ich ich und weil es ungefähr eine Million Gründe gab, warum das Ganze in die Hose gehen konnte. Vielleicht sogar musste. Aber gleichzeitig war da dieses Gefühl in mir drin. Wie Blubberblasen und Zuckerwatte und Popcorn und alles Mögliche andere süße Zeug, das Leif vermutlich nicht mal mit der Kneifzange anfassen würde. Aber ich würde es ihm zeigen. Ich würde ihm all das zeigen und noch mehr. Weil wir zusammenbleiben würden.   „Ja, das wird es“, sagte ich deswegen nur und dann küsste ich ihn, während Jason unten immer noch rumflippte und Tobias deswegen vermutlich in weniger als fünf Minuten vor Leifs Tür stehen und eine Erklärung von mir verlangen würde. Aber jetzt gerade, in diesem Moment, war mir das einfach mal vollkommen scheißegal.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)