Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 26: Wenn ich könnte … ----------------------------- In Windeseile rannte ich die Treppen hinauf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend erklomm ich den obersten Treppenabsatz und hastete durch den angrenzenden Flur. Irgendwas war nicht in Ordnung. Ich wusste es. Doch noch bevor ich die Tür am Ende des Ganges erreichte, öffnete sie sich bereits. Im Türrahmen stand Leif und blickte mir entgegen. Seine dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen und im Gegenlicht traten seine Wangenknochen deutlich hervor. Er sah ein bisschen aus wie ein Gespenst. Oder als hätte er eins gesehen. „Ihr seid zurück?“ Mein Verdacht, dass etwas geschehen sein musste, erhärtete sich. Leif hätte sonst nicht so komisch gefragt. Aber was? WAS? „Was ist los?“, platzte ich heraus. Ich musste es endlich wissen. „Nichts“, kam zurück. Ich hätte ihn schütteln können. „Verarsch mich nicht“, knurrte ich. „Warum bist du nicht unten?“ Er schluckte. Ich konnte es sehen. „Ich … ich brauchte nur mal einen Moment allein. Das war alles.“ „Und warum?“ Seine Finger legten sich fester um den Türrahmen. „Ich hatte einen Anruf. Dr. Leiterer. Er … er will morgen mal vorbeikommen.“ Erleichterung machte sich in mir breit. Das war es also. Der Doc hatte sich endlich gemeldet. Mit aller Macht zwang ich meine Mundwinkel unten zu bleiben. „Und? Was wollte er?“ Gespannt hielt ich den Atem an. Wusste Leif schon, worum es ging? „Das hat er nicht gesagt. Nur, dass Herr Steiner auch meine Eltern zu dem Gespräch gebeten hat.“ Es war, als hätte man mir einen Schlag in den Magen verpasst. „Was? Aber warum?“ „Keine Ahnung. Lass uns essen gehen.“ Leif stieß sich von der Tür ab und kam auf mich zu. Ich wollte ihn aufhalten. Ihm sagen, dass es mir leidtat. Dass es meine Schuld war. „Ja, lass uns essen gehen“, war jedoch alles, was ich sagte. Ich wagte nicht, ihn dabei anzusehen. Unten in der Küche war bereits eine heiße Schlacht entbrannt. Überall lagen Plastiktüten und Papierservietten herum. Selbst Tobias und Thomas hatten ausnahmsweise mal nicht auf einem ordentlich gedecktem Tisch bestanden, sondern saßen ebenso wie die anderen um den Müllhaufen herum und ließen es sich schmecken. Die Luft war erfüllt von aufgeregten Stimmen und Gelächter sowie dem Geruch der frischen Croques. Es hätte eine tolle Feier sein können. War es aber nicht. Nicht für mich. „Hab ihn gefunden“, sagte ich überflüssigerweise. Schnell setzte ich mich und begann, meinen Croque auszupacken. Neben mir raschelte auch Leif mit seinem Papier. Aus den Augenwinkeln schielte ich zu ihm rüber. Sein Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Keine Regung, kein Zögern oder sonst etwas. Erst als er abbiss und zu kauen begann, sah ich es. Der Ausdruck in seinen Augen. Eine wilde Mischung aus Verzweiflung und Trotz. Was hatte er vor? „Ihr habt alle ganz, ganz tolle Arbeit geleistet“, sagte Cedric, der heute zum Essen geblieben war. „Ich bin echt begeistert, was ihr in der kurzen Zeit alles gelernt und umgesetzt habt.“ „Genau“, bekräftigte Tobias. „Die Flure sehen toll aus. Macht richtig Spaß, da oben raufzukommen.“ „Es wirkt persönlich“, schloss sich auchThomas an. „Jeder von euch hat was ganz Einzigartiges erschaffen. Darauf könnt ihr stolz sein.“ „Tja, wir sind eben die Geilsten“, verkündete Sven, der mit einem breiten Grinsen nach einem neuen Stück Croque griff. Automatisch begann ich zusammen mit den anderen am Tisch zu lachen. Es fühlte sich gut an. Verdient. Befreiend. Automatisch sah ich zu Leif rüber. Der kämpfte mit jedem Bissen seines Croques, den er herunterwürgte. Ich bezweifelte, dass er überhaupt irgendetwas davon schmeckte. Oder etwas von dem mitbekam, was gerade am Tisch passierte. Er war irgendwo weit weg in seiner eigenen Welt. Weit, weit weg von mir. „Manuel?“ Ich schreckte hoch und blickte zu Cedric, der mich von der anderen Seite des Tisches aus anlächelte. „Ich muss dich und Leif nachher nochmal kurz entführen. Ich brauch noch Fotos von euch beiden.“ Ich blinzelte. „Äh … wozu?“ Cedric grinste. „Wenn ich wieder zu Hause bin, setze ich die Bilder mit ihren Erstellern auf ne Webseite und schicke Tobi den Link. Dann könnt ihr das euren Freunden und Verwandten zeigen, was ihr fabriziert ah.“ „Ah. Okay. Klingt toll.“ Wenn man jemanden hatte, dem man es zeigen konnte. „Super. Dann nach dem Essen, ja?“ „Ja, geht klar.“ Ich wollte mich wieder Leif zuwenden, aber anscheinend waren wir mit den Ankündigungen noch nicht fertig. „Was ist denn nun eigentlich mit dem Ausgang?“, wollte Jason wissen. Er hatte seinen Croques bereits vernichtet und einen großen Soßenfleck auf dem T-Shirt. So langsam wunderte mich nicht mehr, warum er ständig waschen musste. „Ja, also deswegen …“ Thomas sah zu Tobias rüber. Der machte eine leichte Kopfbewegung. Thomas atmete tief durch, bevor er weitersprach. „Wir haben uns entschlossen, es zu erlauben. Allerdings unter der Bedingung, dass maximal drei von euch gleichzeitig unterwegs sind.“ Der zweite Satz ging in einem lauten Freudengeheul unter. Jason war aufgesprungen und ließ seinen Hintern rotieren. „Oh yeah, oh yeah!“, rief er und vollführte noch eine Drehung um die eigene Achse, bevor er mich bis über beide Backen anstrahlte. „Das heißt, wir können morgen ins Kino. Ich hab schon geschaut. Wenn wir mit dem Bus hinfahren, sind wir genau rechtzeitig zur Vorstellung um halb vier dort. Bis du dabei?“ Ein leiser Schauer rieselte mir über den Rücken. Kino. Ich ging gerne ins Kino, konnte es mir aber so gut wie nie leisten. Und jetzt … jetzt sollte ich das einfach so bekommen? „Aber Manuel hat doch nur zwei Stunden Ausgang. Das reicht doch vorne und hinten nicht.“ Nico machte bei der Aussage ein vollkommen unschuldiges Gesicht. Als wüsste er nicht, was er damit anrichtete. Wahrscheinlich hatte er es die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt. Was für ein Arsch! „Mhm“, machte Tobias. „Das stimmt natürlich. Ich könnte euch ja mit dem Auto …“ „Nein“, unterbrach ich ihn. „Ist schon okay. Ich verzichte.“ Wäre ja auch zu schön gewesen. Aber natürlich musste die Realität immer nochmal nachtreten. Thomas räusperte sich. „Ich denke, in Anbetracht dessen, dass wir ja genau wissen, wo ihr sein werdet, können wir vielleicht mal eine Ausnahme machen. Was denkt ihr?“ Sein Blick wanderte durch die Runde. Inzwischen hatten alle aufgehört zu essen. Auch Leif hatte den Rest seines Croques auf den Teller gelegt und ein paar Servietten darüber zusammengeknüllt. Ich konnte nicht genau erkennen, wie viel er gegessen hatte, aber es war auf jeden Fall noch etwas übrig. „Na mir isses egal. Ich kann ja eh raus, wann ich will.“ Sven lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nico schnaubte. „Nee, in der Zeit nicht. Hast doch mitgekriegt. Nur drei auf einmal. Will heißen, solange die beiden Clowns weg sind, kann nur einer von uns raus.“ Sven machte ein dummes Gesicht. „Echt jetzt? Och man, warum denn? Das ist doch voll unfair.“ Thomas verzog den Mund. „Auch das gehört nun einmal im Leben dazu. Dass man sich zum Wohl der Gemeinschaft zurücknimmt. Nicht jeder kann immer der Erste sein.“ „Aber …“, begann Sven, wurde jedoch von Tobias unterbrochen. „Du hast anscheinend vergessen, dass Manuel gesagt hat, dass er dafür dann fürs Schwimmen gehen abstimmt. Er kommt also sowieso ins Kino, du aber nicht unbedingt zum Schwimmen.“ Ich sah, dass Tobias sich dabei ein bisschen das Lachen verkneifen musste. Gespannt sah ich zu Sven rüber. Der rollte nur mit den Augen. „Ja ja, schon gut. Ich wollte eh nicht weg. War ja nur, weil … ach leckt mich doch alle!“ Damit schob er geräuschvoll den Stuhl zurück, sprang auf und verließ den Raum. Auch Nico, Dennis und Jason erhoben sich. „Wir sind doch fertig, oder?“, wollte Dennis wissen, der diese Woche Tischdienst hatte. Er sah Leif fragend an. „Ja, klar“, antwortete der und reichte Dennis seinen Teller. Ich riss mich zusammen und sah weg. Du bist nicht für ihn verantwortlich, tönte es in meinem Kopf. Ich musste mich daran halten. Oben im Flur zückte Cedric seine Kamera. Er positionierte mich neben meinem Wurm und schoss ein paar Bilder. Danach deutete er auf den Kater. „Jetzt stellt ihr euch am besten zusammen auf.“ Er machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Ich trat zu Leif, der bereits an der Wand stand. Sein Blick hob sich. Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. „Alles gut?“, fragte ich leise. Ein Lächeln zupfte an Leifs Lippen. „Ja. Alles prima.“ Er stieß sich ab und kam auf mich zu. Schlang den Arm um mich und grinste in Richtung Kamera. „Cheese!“ Es blitzte und ich blinzelte. „Manuel! Was ist denn los? Lach mal!“ Cedric grinste auffordernd und auch Tobias, der neben ihm stand, lächelte breit. An meiner Seite fühlte ich Leif. Er war weich und warm. Meiner. Ganz automatisch hoben sich meine Mundwinkel. Ich packte Leif ebenfalls fester. Zog ihn an mich. Hob meine Hand zu einem Peacezeichen. Grinste. „Ja, das ist super.“ Cedrics Auslöser klickte und ich merkte, wie sich etwas in mir löste. Etwas Großes. Wie von selbst wandte ich meinen Kopf zu Leif. Er blickte immer noch in die Kamera. Lächelte. Er sah gut aus. Ohne zu überlegen spitzte ich die Lippen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ein fester Schmatz. Es war albern, aber … „Oho, nun geht’s aber los“, rief Cedric lachend. Leifs Lächeln hingegen verschwand. Er wandte mir den Kopf zu und sah mich an. Nicht wütend, sondern einfach nur … verblüfft. Erfreut? Ich konnte es nicht klar erkennen. Alles, was ich sehen konnte, war etwas, das ich wollte. Unbedingt. Plötzlich klickte noch einmal die Kamera. Leif und ich schraken zusammen. Unsere Köpfe ruckten zu Cedric herum. Er lächelte. „Sorry, ich konnte nicht widerstehen. Wenn ihr wollt, kann ich euch das Bild schicken.“ Keiner von uns antwortete. Ich wusste nicht, wie es Leif ging, aber ich war gerade einfach viel zu geflasht. Von Leif, dem Foto, von Cedrics Reaktion und der Tatsache, dass wir hier immer noch Arm in Arm standen. Als wäre es selbstverständlich. „Ich glaube, die beiden brauchen gerade ein bisschen Zeit alleine“, meinte Tobias mit einem wissenden Ausdruck im Gesicht. „Ich kümmer mich drum, dass sie das Bild bekommen.“ Cedric nickte und lachte noch einmal. Er kam auf uns zu und hob die Hand. „Na dann, ihr beiden, Macht’s gut. Und haltet die Ohren steif. Dass mir keine Klagen kommen, ja?“ Ich bekam mich irgendwie wieder zu fassen. Riss mich zusammen. Ließ Leif los und reichte Cedric meine Hand. „Logisch. Wir benehmen uns. Ein bisschen.“ Ich grinste und Cedric grinste zurück, bevor er sich Leif zuwandte. „Und du solltest dir echt überlegen, ob du nicht was in Richtung Grafiker machen willst. Wenn du willst, frag ich Andrea mal nach Infos und schicke sie Tobi per Mail. Ist kein Problem für mich.“ Ein leises Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Zögernd, aber anders als zuvor. „Ja, okay. Das wäre toll.“ „Prima. Dann pass gut auf unseren Casanova hier auf. Der bricht sonst noch ein paar Herzen.“ „Hey!“, protestierte ich, aber Leif lächelte nur. „Klar, mache ich“, sagte er und trat wieder zu mir. Er berührte mich nicht, aber ich spürte, dass er da war. Tobias wandte sich an Cedric. „Ich mach den beiden eben noch auf, dann mach ich Feierabend.“ „Klasse. Ich warte unten.“ Cedric winkte uns noch einmal zu, bevor er nach unten verschwand. Tobias hingegen fummelte sein Schlüsselbund aus der Hosentasche und machte sich auf den Weg zu Leifs Zimmer. Langsam folgten Leif und ich ihm. „Ich geh davon aus, dass ihr zurechtkommt?“ Tobias sah von einem zum anderen. Wir nickten. Er lächelte. „Schön. Dann macht nicht so lang und denkt dran, dass morgen wieder Schule ist.“ „Spielverderber“, unkte ich zurück, woraufhin er mir durch die Haare wuschelte und sich dann lachend vor meinem Abwehrschlag in Sicherheit brachte. „Zu langsam. Du musst mehr trainieren.“ „Werde ich“, rief ich ihm hinterher. „Das werde ich bestimmt. Ganz bestimmt.“ „Ja ja“, kam nur noch aus dem Treppenhaus. Dann hörten wir die Tür klappen und Tobias war verschwunden. Wir waren allein. „Gehen wir rein?“, fragte ich Leif. Er zögerte kurz, bevor er erneut nickte. Mit einem merkwürdigen Gefühlsmischmasch in meinem Inneren folgte ich ihm nach drinnen. Leif schloss die Tür, drehte sich um und sah mich an. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich, weil ich darauf wartete, dass er etwas sagte, und er … Schließlich atmete Leif hörbar aus. „Tut mir leid, dass ich dich vorhin so angemacht habe. Ich war einfach … ich war ein bisschen durch den Wind. Wegen morgen.“ „Morgen?“ Ich runzelte die Stirn. Wovon sprach er? Leifs Gesicht zuckte. „Na das Gespräch. Mit meinen Eltern.“ „Das ist morgen?“ Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln, bevor er wieder ernst wurde. „Ja. Dr. Leiterer hat gemeint, dass wir die Besprechung noch vor dem Wochenende machen müssen. Bevor ich …“ Er brach ab. Er musste es auch nicht sagen. Ich wusste ja, worum es ging. Was Leif wiederum nicht wusste. Was für eine Scheiße! „Weißt du wirklich nicht, was er will?“, fragte ich. Leif presste die Kiefer aufeinander. „Ich denke, es geht um die Klinik“, sagte er leise. „Ich … ich fürchte, dass sie meine Eltern überzeugen wollen, dass ich dort hingehen sollte.“ Mein Magen ballte sich zusammen. Warum hatte Dr. Leiterer ihm nicht gesagt, was er wollte? Dann hätte Leif jetzt keine Angst haben müssen. Dann hätte er gewusst, dass wir ihm nur helfen wollten. Ich muss es ihm sagen. Ich muss. Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht. Und doch musste es einen Weg geben, ihn wissen zu lassen, dass es nicht darum ging. Mein Herz machte einen Satz, als mir etwas einfiel. „Hat …“ Ich schluckte und räusperte mich. Normalerweise hatte ich kein Problem damit, die Wahrheit ein bisschen zurechtzubiegen. Aber das hier war anders. Das hier war Leif. Noch einmal begann ich. „Hat Dr. Leiterer denn gesagt, dass du in eine Klinik sollst?“ Leif schüttelte den Kopf. „Wir haben allerdings auch nicht darüber gesprochen.“ Okay, das war gut. Jetzt der nächste Schritt. „Dann … könnte es doch auch um ein ganz anderes Thema gehen.“ Ich versuchte nicht zu optimistisch zu klingen. Immerhin konnte ich ja eigentlich nicht wissen, was Phase war. Leif biss nicht an. Er lachte trocken auf. „Worum sollte es denn sonst gehen? Es geht ja immer nur darum. Wie viel ich wiege, was ich esse, was ich nicht esse, ob ich kotzen war oder nicht. Mein ganzes Leben ist nur noch ein einziges Protokoll. Ich hasse es!“ Wütend funkelte er mich an. Ich biss mir auf die Zunge. Das „Dann lass es doch“, saß viel zu weit vorne und wäre mir sonst möglicherweise herausgerutscht. Ich wusste ja, dass das nicht so einfach war. Oder doch? „Du hast doch heute Abend gegessen. Das war doch … gut.“ Er schnaubte. „Ja. Da hab ich es ausnahmsweise mal hingekriegt. Weil ich … weil ich die ganze Zeit daran denken musste, dass sie mich von hier wegbringen, wenn ich es nicht schaffe. Und dass …“ Er verstummte. Was wollte er mir nicht sagen? Langsam trat ich einen Schritt auf ihn zu und dann noch einen, bis ich direkt vor ihm stand. Ich zögerte kurz, bevor ich die Arme um ihn legte. Meine Hände fuhren seinen Nacken hinauf. „Du hast es aber geschafft. Das ist alles was zählt. Und jetzt bin ich ja da, um dich abzulenken.“ Ich lächelte ein bisschen. Leif hob seinen Blick. Ein wenig unsicher sah er mich an. „Und wenn ich nicht … kann?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Dann eben nicht. Kuscheln wir halt nur. Wenn du magst.“ Ein kurzes Nicken antwortete mir. Ich nahm das zum Anlass, ihn zum Bett zu dirigieren. Als ich ihn jedoch auf die Matratze drücken wollte, stemmte er sich dagegen. „Warte.“ Ich sah zu, wie er Decke und Kopfkissen nahm und vertauschte, sodass das Kissen am Fußende zu liegen kam. „Dann können wir aus dem Fenster gucken“, erklärte er. Ich sagte nichts dazu. Ich kletterte lediglich ins Bett und wartete darauf, dass er sich neben mich legte. Als es soweit war, rückte ich an ihn heran und legte den Arm um ihn. Danach bettete ich meinen Kopf an seiner Schulter und schloss die Augen. „Siehst du?“, fragte ich und drückte ihn noch ein bisschen fester an mich. „Alles ganz safe. Niemand fasst hier niemanden an, wenn der das nicht will.“ Ich hörte Leif belustigt schnauben. Seine Hand fuhr durch meine Haare. „Du hast einen Knall.“ „Danke gleichfalls.“ Darauf sagte er nichts mehr. Wir lagen einfach nur da, Arm in Arm, und taten gar nichts. Ab und an bewegte sich Leif unter mir. Ich brummte unwillig. „Du bist ein verdammt schlechtes Kissen, wenn du immer so rumzappelst“, murrte ich und tat so, als würde ich ihn zurechtklopfen. „Dann lass uns doch tauschen“, schlug er vor. Seufzend rollte ich mich herum auf die andere Seite. Er schmiegte sich von hinten an mich. Seine Lippen streichelten meinen Nacken. „So besser?“, flüsterte er. „Ja. Wenn du jetzt still bist.“ Wieder verstummte er, doch dieses Mal merkte ich, wie er sich an mich drückte. Seine Arme schlossen sich um mich und hielten mich fest wie einen viel zu groß geratenen Teddybären. Sein Gesicht war irgendwo zwischen meinen Schulterblättern vergraben. Ich spürte ihn atmen. Und ich konnte ihn denken hören. Irgendwann gab ich auf. „Was?“, fragte ich leicht genervt. „Ach nichts“, kam prompt zurück. Ich rollte mit den Augen. Was hatte ich auch erwartet. „Nun sag schon. Ich merke doch, dass du was hast.“ Sein Griff wurde noch einmal fester. „Es ist nichts. Wirklich. Ich wünschte nur, dass ich nie mit dem Mist angefangen hätte. Dass ich gesund wäre und wir einfach … ach egal.“ Wieder breitete sich Schweigen aus. Kein gutes Schweigen. Mehr so eins das mit dem Geruch nach alten Socken und muffeligen Umkleidekabinen durchtränkt war. Der Aufsatz, unter dem doch wieder nur ne Fünf stand. Enttäuschte Blicke und hängende Köpfe. Das Gefühl versagt zu haben. Hinter mir atmete Leif tief ein. „Sorry“, murmelte er. „Jetzt fang ich schon wieder an. Ich … ich krieg das nur einfach nicht aus meinem Kopf.“ Für einen Moment war ich in Versuchung zu sagen, dass ich da was wüsste, um ihn abzulenken. Etwas, das mit ziemlicher Sicherheit funktionierte. Hatte es bei mir ja auch. Solange, bis nicht darüber nachzudenken zur reinen Gewohnheit geworden war. Weil davor weglaufen einfacher war als sich dem zu stellen, was im Keller lauerte. Ich hatte genug Horrorfilme gesehen, um das zu wissen. Leider war es meist ebenso erfolglos. „Kenne ich“, sagte ich mit rauer Stimme. Ich hatte nicht gemerkt, wie mein Hals beschlagen war. Leif horchte auf. „Erzähl“, bat er. Ich schluckte trocken. „Ist aber ne Scheißgeschichte.“ Er lachte. „Na immerhin ist es nicht meine. Also los. Erzähl mir was von dir.“ Regungslos lag ich da und starrte die Wand an. Weiße Raufaser. Genau wie bei mir drüben. Nicht gerade einfallsreich. „Was willst du denn wissen?“ Leif überlegte einen Augenblick. „Erzähl mir von deinem Bruder.“ Volltreffer! „Ich könnte dir auch erzählen, wie ich mal die Nacht mit zwei Typen verbracht habe.“ Leif drückte mich ein bisschen fester und ich gab mich keuchend geschlagen. „Okay, na gut. Ich erzähl es dir ja.“ Ich überlegte einen Augenblick, wo ich anfangen sollte. Sicherlich nicht beim Urschleim, aber … „Pascal und ich waren schon immer ziemlich verschieden. Während er meist mit seiner Clique abhing, bin ich lieber allein losgezogen. Hab mich rumgetrieben. Mich zu dem Bauernhof geschlichen, den es bei uns in der Gegend gab. Da konnte man Tiere füttern und streicheln und so. Mein Bruder hat lieber mit Steinen nach den Ziegen geworfen. Ich hab auch öfter mal meiner Mutter geholfen. Mit dem Haushalt. War einkaufen, hab Geschirr gespült, Wäsche gewaschen. So was halt. Mein Vater und mein Bruder haben dann immer Witze über mich gerissen. Dass ich wohl besser ein Mädchen geworden wäre. Ich hab’s trotzdem gemacht. Wegen meiner Mutter. Sie war immer … sie war immer freundlich zu mir.“ Aber sie war zu schwach, um sich gegen meinen Vater durchzusetzen. „Also ist dein Bruder ein Arschloch.“ „Jepp.“ „Und deswegen hast du ihn verpfiffen?“ Ich hätte fast gelacht. Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre. „Nein. Vorher hab ich noch versucht so zu sein wie er. Ich wollte unbedingt zu seiner Gang dazugehören. Und es war mir egal, dass ich dafür Leuten wehtat, ihnen Angst machte oder sie beklaute. Wenigstens hatte ich das gedacht. Aber als ich geschnappt wurde und dieser Typ mir drohte, dass ich ins Gefängnis kommen würde, wenn ich nicht auspackte, bin ich eingeknickt. Ich hab ihm alles gesagt, was er wissen musste. Tja, und als mein Bruder dann nach einem Jahr auf Bewährung rauskam …“ Ich schwieg. Über den Tag, an dem das passiert war, wollte ich nicht sprechen. Ich konnte nicht. Ich wusste noch, dass wir in der Schule einen Test geschrieben hatten. Mathe oder Deutsch. Irgendwas davon. Ich hatte die ganze Stunde lang nur da gesessen und auf das leere Blatt gestarrt. Nicht eine Zahl, nicht einen Buchstaben hatte ich hingeschrieben. Ich hatte nur auf den Augenblick gewartet, in dem bei uns zu Hause die Tür aufging, und Pascal wieder nach Hause kam. Und dann war ich geflüchtet. Eine halbe Stunde vorher hatte ich die Kurve gekratzt und mich bei seinen Kumpels versteckt. Dem wohl schlechtesten Versteck überhaupt. Es hatte nicht lange gedauert, bis Pascal ebenfalls am Treffpunkt aufgetaucht war. Es hatte ein großes Hallo gegeben, aber er hatte nur Augen für mich gehabt. Wie Dolche hatten sie sich in meine gebohrt. Und dann war er auf mich zugekommen, hatte ausgeholt und zugeschlagen. Immer wieder. Bis ich am Boden gelegen hatte. Unfähig mich zu wehren, unfähig aufzustehen. Dann hatte er angefangen, auf mich einzutreten. Und am Schluss war da irgendwie ein Messer gewesen. „Hat er versucht dich umzubringen.“ Erst, nachdem Leif den Satz gesagt hatte, wurde mir klar, dass es keine Frage gewesen war. Es war eine Feststellung. „Ja“, antwortete ich trotzdem. „Aber er hat’s nicht geschafft. Ich bin noch da.“ Mit einem tiefen Durchatmen drehte ich mich zu Leif herum. Er sah mich an. „Und?“, fragte ich. „Hab ich dich jetzt genug abgelenkt?“ Das war die Stelle, an der er eigentlich hätte lachen sollen. Tat er aber nicht. Ich war wohl doch kein so guter Entertainer. „Das ist krass“, meinte er gedankenverloren. „Dein eigener Bruder. Ich kann mir das gar nicht vorstellen.“ Ich schnaubte. „Tja, sag ich ja. Familie ist scheiße. Ich brauch die nicht. Keinen von denen.“ Ein kleines Lächeln glitt über Leifs Gesicht. „So weit bin ich wohl noch nicht. Ich denk irgendwie immer noch …“ Er verstummte und wandte den Blick ab. Ich schob die Augenbrauen zusammen. „Was denkst du? Dass sich das mit deinen Eltern irgendwann wieder einrenkt?“ Leif antwortete nicht. Er sah einfach nur aus dem Fenster. „Man, die wollen dich nicht. Die haben dich in ein verdammtes Heim gesteckt, damit sie dich los sind.“ „Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich hierher wollte.“ Er klang plötzlich gereizt. Na prima. Jetzt stritten wir uns auch noch wegen dem Scheiß. Ich knurrte. „Ach hör doch auf zu lügen. Keiner von uns will hier sein. Wir sind nur hier, weil die anderen Möglichkeiten noch beschissener wären.“ Leif presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Dann bin ich also nur die am wenigsten beschissene Alternative für dich?“ „Was? Nein! Das hab ich doch überhaupt nicht gesagt.“ Ich kam hoch und stützte mich auf meinen Ellenbogen. Leif starrte weiterhin an mir vorbei aus dem Fenster, bis er endlich aufgab und mich ansah. Seine Augen waren dunkel und zornig. Ich versuchte ein Lächeln. „Du bist an dieser ganzen beschissenen Geschichte das Einzige, warum ich alles wieder genauso machen würde wie beim ersten Mal.“ Leif guckte immer noch finster. „Auch dich fast von deinem Bruder abstechen lassen?“ Mein Lächeln wurde breiter. „Auch das. Wobei ich gut auf die Prügel verzichten könnte, die ich davor bezogen habe. Aber ja, wenn mir das garantieren würde, dass ich wieder hier bei dir landen würde, dann würde ich es tun.“ Einen Augenblick lang sah Leif mich einfach nur an. Er scannte jeden Quadratzentimeter meines Gesichts. Fast so als könne er nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben hatte. Im nächsten Moment griff er in meinen Nacken und zog mich zu sich herab. Er küsste mich. Lange und gründlich küsste er mich. Als wir uns endlich wieder trennten, fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen. „Mhm“, meinte ich genießerisch schmatzend. „Schmecke ich da Ananas?“ Er lachte. „Ich glaube nicht. „Könnte ich Ananas schmecken?“ Ich sah zu ihm runter. Seine Lippen waren wund und rot vom Küssen und in seinen Augen lag ein fiebriger Glanz. Unwillkürlich musste ich lächeln. „Und? Könnte ich?“ Noch einmal sah er mich einfach nur an, doch dieses Mal war der Kuss, der der ausführlichen Betrachtung folgte, sanfter. „Alles was du möchtest“, flüsterte er gegen meine Lippen. Ich lächelte. „Und wenn ich dich ganz wollen würde?“ Er sah zu mir auf. „Dann würdest du auch das kriegen. Vielleicht nicht unbedingt heute, aber …“ Schnell verschloss ich seine Lippen mit einem Kuss. „Nicht heute“, wiederholte ich. „Aber vielleicht Morgen oder nächste Woche oder irgendwann.“ Leif nickte leicht. „Ja, irgendwann“, bestätigte er und das war alles, was ich wissen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)