Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 25: Im Auge des Sturms ------------------------------- „Wow, das sieht toll aus.“   Cedric pfiff anerkennend durch die Zähne, während er neben uns trat und unser Werk in Augenschein nahm. Leif hatte die Feinarbeiten übernommen, ich das Füllen der Flächen. Jetzt grinste der Kater mit dem Kopftuch uns in Überlebensgröße von einer der Flurwände entgegen. Es sah wirklich fett aus.   „Ihr habt echt Talent“, sagte Cedric noch einmal und war anscheinend total von den Socken. Ich konnte ihn verstehen.   „Eigentlich ist das alles auf Leifs Mist gewachsen. Ich hab nur ausgemalt“, meinte ich lässig. Cedrics sah zu Leif rüber.   „Stimmt, ich hab deine Zeichnungen gesehen. Die waren echt genial. Hast du dir mal überlegt, was in die Richtung zu machen?“   Leif schüttelte den Kopf. Seine Finger klammerten sich an die Spraydose in seiner Hand. Er warf einen abschätzigen Blick auf das Bild.   „Ach, so toll ist das nicht. Die Kanten sind ziemlich unsauber, weil die Caps dauernd verstopft waren.“   Cedric lachte.   „Ja ja, Tücken der Technik. Mit Skinnys zu arbeiten ist nicht ganz einfach. Wenn man zu zögerlich ist, quittieren die manchmal einfach den Dienst. Aber ich finde, du hast das trotzdem super hingekriegt. Ihr beide.“   Ein Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Dennoch senkte er den Blick.   „Na ja. Dennis’ Bild ist trotzdem besser.“   Da war etwas Wahres dran. Der Oktopus, den er an die Wand gebracht hatte, sah echt professionell aus. Man hatte fast das Gefühl, dass das Vieh gleich nach einem greifen würde.   „Dennis hat aber auch schon ein bisschen mehr Übung als du. Außerdem meine ich ja nicht nur die technische Ausführung. Ich rede von deinem Verständnis für Formen und Farben und einem Händchen für Komposition. Das ist nichts, was man lernen kann. So was hat man oder eben nicht.“   Leif biss sich auf die Lippen. Auffordernd stieß ich ihn an.   „Cedric hat recht. Du machst das wirklich gut.“   „Ja“, stimmte Cedric mit ein. „Du solltest dir echt überlegen, ob das nicht auch beruflich was für dich wäre. Grafikdesign ist ein echt vielfältiges Pflaster. Andrea, meine Freundin, hat mir ein bisschen was von ihrer Ausbildung erzählt. Da gibt es so viele verschiedene Sachen. Malen, Zeichnen, Mediengestaltung, Fotografie. Du lernst einfach alles. Auf manchen Schulen kannst du sogar parallel zur Ausbildung die Fachhochschulreife machen und später noch ein Studium dranhängen. Da gibt es einfach unheimlich viele Möglichkeiten.“   Cedric strahlte über das ganze Gesicht, während er das erzählte. Leif hingegen war mit jedem Wort schweigsamer und verschlossener geworden. Sein Gesichtsausdruck erinnerte mich an den, den er manchmal am Esstisch hatte. Ich musste was tun.   „Klingt super“, sagte ich zu Cedric, hängte meinen Arm über seine Schulter und drängte ihn so ein Stück von Leif weg. „Und was mache ich dann? Halte ich Leif den Pinsel oder wie?“   Cedric lachte, ich grinste. Ich war mir sicher, dass Tobias ihm erzählt hatte, was zwischen Leif und mir lief.   „Keine Ahnung, was kannst du denn gut?“ „Dumme Sprüche reißen und gut aussehen?“   Wieder lachte Cedric, während ich ihn in Richtung Treppenhaus schob.   „Dann würde ich Showmaster vorschlagen. Oder Modell, aber ich glaube, dafür bist du nicht groß genug.“ „Traurige Wahrheit, aber irgendwas ist ja immer.“   Ich entließ Cedric mit einem theatralischen Seufzen aus meinen Klauen und er trollte sich in Richtung nächster Gruppe, um dort mit den Feinarbeiten zu helfen. Ich hingegen eilte zu Leif zurück. Der war immer noch mit dem Bild beschäftigt. Er versuchte gerade, eine der Seitenlinien zu verbessern. Dabei war sein Gesicht so verkniffen, als hätte er auf einem rostigen Nagel gebissen. Als er die Spraydose absetzte, stieß ich ihn an.   „Hey, was ist los?“   Er hielt den Blick streng auf das Bild gerichtet.   „Nichts. Was soll sein?“   Wollte der mich verarschen?   „Du weißt genau, was ich meine. Warum hast du gerade so komisch reagiert.“   „Ich sagte doch, es ist nichts“, zischte Leif und wollte noch einmal die Dose heben. Ohne lange zu überlegen griff ich zu und hielt seinen Arm fest.   „Lass es. Der Kram ist noch nicht trocken. Wenn du weiter daran herummurkst, verläuft alles.“   Schon jetzt hatten sich leichte Farbnasen gebildet. Leif war kurz davor, das Bild zu versauen.   „Aber es ist noch nicht …“ „Wirklich, Leif, lass es. Es ist gut so, wie es ist.“   Ich fühlte, wie er sich gegen meinen Griff stemmte und dann plötzlich lockerließ. Der Arm mit der Dose sank herab und hing dann wie ein nutzlos gewordenes Anhängsel an seinem Körper.   „Tut mir leid“, sagte er leise. Ich schnaubte belustigt.   „Was? Dass du fast die Arbeit von mehreren Stunden ruiniert hättest?“ „Ja. Nein. Ich weiß nicht.“   Er atmete hörbar aus und stellte die Dose auf den Boden. Als er sich wieder erhob, lag ein Schatten auf seinem Gesicht. Fragend sah ich ihn an.   „Erzählst du mir jetzt was los ist, oder willst du weiter einen auf geheimnisvoll machen? Das zieht bei mir nämlich nicht. Ich bin immerhin Meister darin.“   Leif grinste kurz, bevor er wieder ernst wurde.   „Ja, stimmt. Das kannst du wirklich gut.“   Er seufzte und sah in Richtung der anderen, die zusammen mit Cedric noch an dem Motiv im Treppenhaus arbeiteten. Es waren ein Fuchs und ein Hase, die sich ein High Five gaben. Der Fuchs erinnerte mich ein bisschen an Tobias.   „Ich musste einfach nur daran denken, dass meine Eltern das nie erlauben würden“, sagte Leif, ohne mich anzusehen. Ich runzelte die Stirn.   „Na und? Du kannst doch lernen, was du willst.“   Leif lachte kurz und hart.   „Tja, kommt darauf an. Wenn deine Eltern für die Ausbildung blechen müssten, würdest du wohl auch anders darüber denken.“   Er drehte sich weg von mir. In meinem Inneren begann es zu brodeln.   „Wie meinst du das?“, fragte ich mühsam beherrscht. Ich wusste selbst nicht, warum mich das gerade so aufregte.   Leif blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ich konnte es nicht sehen, aber ich fühlte es.   „Du hast Cedric doch gehört. Graphikdesign ist ne schulische Ausbildung“, erklärte er ohne mich anzusehen. „Das heißt, dass man die bezahlen muss. Und obendrein brauch ich dafür erst mal einen Abschluss und ob ich den schaffe …“   Er verstummte. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber ich verstand. Das Gefühl, dass das Wasser einem schon bis zum Hals stand und immer noch höher stieg, brauchte mir keiner zu erklären. Das kannte ich. Das kannte ich nur zu gut.   „Dann schaffst du den Abschluss eben“, sagte ich und versuchte dabei nicht allzu abgehoben zu klingen. „Und dann … dann kriegst du diese Ausbildung. Irgendwie wird das schon.“   Wir kriegen das hin.   Die Worte wollten nicht raus. Sie blieben in meinem Hals stecken und rutschten einfach wieder zurück, wo sie sich in dem See aus Magensäure langsam zersetzten. Weil niemand sie hörte.   „Hey, ihr beiden! Seid ihr fertig?“   Tobias kam den Gang entlang. Er hatte ein freches Grinsen auf dem Gesicht und unübersehbar gute Laune. Ganz im Gegensatz zu uns. Schnell grinste ich zurück.   „Klar. Alles Roger in Kambodscha.“   Tobias verzog das Gesicht.   „Du hast zu viel mit Cedric abgehangen.“   Ich lachte.   „Definitiv. Also, was gibt’s, Meister?“   Tobias’ Lächeln kehrte zurück.   „Die anderen haben beschlossen, dass wir heute Abend was zu feiern haben. Deswegen wollen wir Croque holen. Ich wollte wissen, was ihr haben wollt.“   Fragend sah er Leif an.   „Das Übliche für dich?“   Leif nickte nur.   „Und du, Manuel?“   Ich zog ein wenig ratlos die Nase kraus.   „Keine Ahnung. Was gibt es denn?“ „Schinken, Salami, Thunfisch, Hähnchenbrust, Falafel …“   „Okay, okay!“ Abwehrend hob ich die Hände. „Mach Salami.“   „Mit Salat?“ „Wenn’s sein muss.“ „Knoblauch- oder Kräutersoße?“   Ich warf einen Blick zu Leif.   „Äh, Kräuter, denke ich.“   Tobias grinste ein bisschen.   „Geht klar. Bring ich dir mit. Einen ganzen nehm ich an?“ „Logisch.“   Tobias warf noch einen Blick auf unser Bild.   „Cedric hat nicht übertrieben. Das ist wirklich super geworden.“   „Danke“, gab ich zurück. Damit trollte sich Tobias und Leif und ich blieben allein zurück. Oder relativ allein. Immerhin waren die anderen keine zehn Meter von uns mit der letzten Wand beschäftigt. Trotzdem. Wenn wir die Tür geschlossen hätten …   Das würde auffallen. Aber was anderes geht.   Blitzschnell griff ich nach Leifs Hand und zog ihn hinter die Ecke in den Gang, der zu seinem Zimmer führte. Wir konnten nicht hinein, aber immerhin waren wir so außer Sichtweite. Ohne zu zögern schubste ich ihn rückwärts gegen die Wand. Er reagierte mit einem leichten „Uff“. Grinsend pinnte ich ihn fest. „Was soll das werden?“, fragte er, obwohl ich an seinem Blick sah, dass er genau wusste, was ich vorhatte.   „Rate!“, gluckste ich und ließ ihm keine Zeit mehr zu antworten. Meine Lippen schlossen sich über seinen. Sofort erwiderte er den Kuss. Er öffnete die Lippen und ich nutzte die Gelegenheit, um meine Zunge dazwischen gleiten zu lassen. Es war heiß, eng und feucht.   „Ich freu mich schon auf heute Abend“, murmelte ich und knabberte an seiner Unterlippe. Leif lächelte, aber sein Körper verspannte sich unter meinem.   „Also willst du heute …?“, fragte er. Seine Stimme klang plötzlich angespannt, aber nicht auf eine gute Weise. Ich hörte auf ihn zu küssen und rückte ein Stück von ihm ab.   „Ja klar. Warum nicht?“   Für einen winzigen Augenblick huschten seine Augen in Richtung Flurecke, bevor sie sich wieder auf mich konzentrierten. Aber es war zu spät. Ich wusste, dass irgendwas ihn störte. Als ich ihn danach fragte, senkte er den Blick.   „Ach nichts. Ich hab nur …“ „Was?“   Er schluckte. Anscheinend wollte er nicht mit der Sprache herausrücken. Ich spürte, wie sich meine Lust verflüchtigte.   „Was?“, fragte ich noch einmal. Dieses Mal schärfer. Er atmete tief durch.   „Das Essen. Ich … ich weiß nicht, ob ich das hinkriege und danach dann noch … na ja.“   Für einen Moment wollte ich ihn einfach stehenlassen. Ich wollte ihn noch einmal schubsen. Fest. Weil er so dämlich war. Leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhten ja bekanntlich das Denkvermögen. Er war so ein Idiot.   Aber wie ich in der tollen Anti-Aggressions-Therapiestunde gelernt hatte, atmete ich erst einmal tief durch. Und dann überlegte ich, was ich zu ihm sagen wollte. Nur sagen, nicht schlagen. Das war das Motto gewesen. Währenddessen sah Leif mich einfach nur an.   „Es tut mir leid“, sagte er irgendwann, als ich immer noch keine Ordnung in das Chaos in meinem Kopf bekommen hatte. Er schlug die Augen nieder. „Ich war nur irgendwie … es hat mich überrumpelt, dass es heute Abend was Warmes gibt. Noch dazu so viel. Das war alles. Mach dir keine Gedanken mehr darum. Ich bekomm das schon hin.“   Ich wusste nicht, was es war. Vielleicht, die Art, wie er es sagte oder sein Gesichtsausdruck. Auf jeden Fall verging das Bedürfnis ihm wehzutun. Stattdessen wollte ich ihn nur noch festhalten.   Ich schnaufte   „Ich mach mir aber Gedanken. Wahrscheinlich mehr, als ich sollte. Ich meine, was ist denn so schlimm am einem Croque? Hast du die Mega-XXL-Variante mit extra Remoulade und halbem Schwein auf Toast genommen, oder was?“   Leif gluckste und entspannte sich ein bisschen.   „Du bist doof.“ „Selber.“   Mit sanftem Druck zog er mich an sich und legte seine Stirn an meine.   „Eigentlich hab ich nicht mal Fleisch drauf. Nur Schafskäse und Ananas.“   Jetzt war ich es, der verhalten lachte.   „Dein Ernst? Ananas auf einem Croque?“   Leif wandte den Kopf ab.   „Ich weiß, ich weiß. Leute, die warme Ananas mögen sind komisch.“   Ich grinste, lehnte mich vor und knabberte an seinem Ohrläppchen.   „Ach Quatsch“, wisperte ich. „Ananas verbessert doch angeblich den Geschmack. Also lässt du es dir schmecken und ich mir dann auch.“   Ich spürte, wie er lächelte. Seine Arme zogen mich noch ein Stück näher. Die weißen Anzüge zwischen unseren Körpern knisterten. Leif lachte leise auf.   „Oh man, die Dinger sind so richtig unsexy.“   Ich grinste und raunte in sein Ohr: „Ich würd ihn dir trotzdem gerne vom Leib reißen.“   Kaum hatte ich das jedoch gesagt, hörten wir Schritte näher kommen. Schnell stoben wir auseinander. Ich drehte mich um und tat so, als würde ich nochmal meinen Wurm bestaunen, während Leif sich bückte, um seinen Schuh zuzubinden. Als Tobias um die Ecke kam, schnalzte er tadelnd mit der Zunge.   „Versteht ihr das etwa unter unauffällig? Also wirklich.“   „Wir haben nichts gemacht“, verteidigte ich mich. „Nur geredet.“   „Ah ja“, machte Tobias. Es war offensichtlich, dass er mir kein Wort glaubte.   „Ja wirklich“, beteuerte ich. „Ich schwör!“   Tobias brach in kopfschüttelndes Lachen aus.   „Ja ja, schon klar. Aber ich brauch mal Hilfe. Die anderen sind noch nicht fertig mit ihrem Bild, daher soll einer von euch mitkommen zum Schleppen. Also … Ene Mene Muh oder meldet sich einer freiwillig?“   Ich sah kurz zu Leif. Wahrscheinlich war es nicht gerade hilfreich, wenn er de Croques auch noch besorgen musste. Also hob ich schnell die Hand.   „Na prima, dann los. Leif kann so lange hier aufräumen.“   „Ach, war ja klar, dass ich die Arschkarte kriege“, maulte er, aber in seinem Gesicht glaubte ich so etwas wie Dankbarkeit zu erkennen. Vielleicht wurde das heute Abend ja doch noch was mit uns.     Der Croqueladen lag inmitten der Fußgängerzone. Das erklärte, warum Tobias Hilfe beim Tragen brauchte. Als wir durch die Tür traten, erklang über uns altmodisches Glockengeläut. Der Typ hinter dem Tresen sah auf.   „Ah, Tobi. Wie geht’s?“   „Bestens“, gab Tobias zurück. „Wir haben mal wieder eine Großbestellung.“   „Oha. Ist ne Weile her. Was soll’s denn sein?“   Während Tobias die Liste der verschiedenen Croques herunterratterte, sah ich mich im Laden um. Alles hier war hell und weiß. Weiße Fliesen, weiße Wände, weiße Tische. Es hätte steril wirken können, wenn nicht die billigen Kunstdrucke an den Wänden gewesen wären und die leichte Fettschicht, die selbst auf dem frisch gewischten Boden zu haften schien. Es war nicht wirklich dreckig, aber eindeutig gebraucht. Im Thekenbereich glänzte jedoch alles.   „Das dauert jetzt ein bisschen. Willst du was trinken?“   Tobias deutete auf einen der Stehtische mit den hohen Barhockern. Sie waren das Einzige hier drinnen, das sichtbar aus Holz war. Ich schüttelte den Kopf. Trotzdem stand kurz darauf eine Cola vor meiner Nase. An der Flasche bildete sich Kondenswasser.   „Ich hatte sie schon bestellt“, erklärte Tobias entschuldigend. „Bist eingeladen.“   Ich sagte nichts und senkte den Blick. Wie viel besser wäre es gewesen, jetzt mit Leif hier zu sitzen.   „Und?“, fing Tobias nach einer Weile an. „Wie läuft es mit dir und Leif? Alles in Butter?“   „Ja, kann nicht klagen“, gab ich zurück. Der Typ hinter dem Tresen säbelte die langen Weißbrote in der Mitte durch. Danach schmierte er großzügig irgendeine Paste darauf und begann sie zu belegen. Während die Stapel auf den Broten immer höher wurden, konnte ich Tobias’ Blick auf mir spüren. Irgendwann gab ich nach und sah zu ihm rüber. Er legte den Kopf schief.   „Ich hätte ein bisschen mehr Begeisterung erwartet. Muss ich mir Sorgen machen?“   Ein Teil von mir wollte, dass er damit meinte, ob er sich Sorgen um mich machen musste. Oder vielleicht um Leif. Aber mir war klar, dass da noch mehr mitschwang. Wenn die Sache Wellen in der Gruppe schlug, wären er und Thomas vermutlich dran. Mich hätte das an seiner Stelle auch beunruhigt.   Um Zeit zu schinden, nahm ich die Cola und trank einen Schluck. Sie war eiskalt und süß. Erfrischend. Erst jetzt merkte ich, wie durstig ich war. Ich trank und trank, bis ich mehr als die Hälfte der Flasche geleert hatte. Danach stellte ich sie zurück auf den Tisch und sah zu, wie sich an den Stellen, wo meine Finger die Feuchtigkeit weggewischt hatten, langsam neue Tropfen bildeten. Irgendwann atmete ich tief durch.   „Ich weiß nicht“, sagte ich, als würde ich noch auf die Frage antworten, die Tobias mir gestellt hatte. „Ich …“   Frustriert brach ich ab. Ich wusste nicht, wie ich das Gefühl in Worte fassen sollte, das mich manchmal überkam. Das Gefühl, auf irgendwas und irgendwen einprügeln zu wollen, weil … weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.   Noch einmal öffnete ich den Mund. Ich musste an Leif denken. Daran, was vorhin im Flur passiert war. Dass da ständig etwas war, das zwischen uns stand. Etwas, über das wir nicht sprachen.   „Es ist toll mit Leif. Ja wirklich.“   Dieses Mal brauchte nicht mal ich jemanden, der das große Aber hinterherschob. Man hörte es förmlich, wie es durch die Luft schwebte zusammen mit dem Duft von warmem Brot und überbackenem Käse. Mein Magen knurrte wie auf Kommando.   Tobias hingegen wandte sich ab. Er sah zu, wie der Typ hinter dem Tresen die ersten Croques mit Salat und Soßen verzierte und anschließend in große Lagen weißes Papier verpackte. Die ersten zwei Croques verschwanden in dünnen, orangen Plastiktüten.   Mein Blick wanderte von Tobias’ Gesicht weiter nach unten zu den Spitzen des Tattoos auf seinem Halsansatz. Ich wusste immer noch nicht, was es eigentlich darstellte. Als er den Kopf drehte und mich ansah, grinste ich.   „Hast du das Tattoo eigentlich schon lange?“   Tobias lachte leicht.   „Ja, allerdings. Es stammt noch aus meinen ganz wilden Zeiten. Mein ganzes erstes Gehalt ist dafür draufgegangen. Danach hab ich mich einen Monat lang nur von Haferflocken mit Milch ernährt, aber das war es wert.“ „Bekomme ich es irgendwann mal ganz zu sehen?“ „Wer weiß. Wenn wir mal schwimmen gehen, bestimmt.“   Danach kam das Gespräch wieder zum Erliegen. Tobias guckte beim Croquemachen zu, ich hingegen kam mir urplötzlich fehl am Platz vor. Und doch … ich war hier. Mit Tobias, der mir zuhören würde, wenn ich darüber reden wollte, was mir in den letzten Tagen wieder und wieder durch den Kopf gegangen war. Aber wollte ich das?   „Ich komm mit dieser Essenssache nicht klar.“   Tobias reagierte nicht, aber ich wusste, dass er mich gehört hatte. Vielleicht wegen der Art, wie er atmete. Oder weil ja sonst niemand da war, der was hätte von sich geben können. Lediglich das Radio, das irgendwo zwischen Plastikblumen und Porzellanfigürchen versteckt auf einem Eckregal vor sich hin dudelte, störte die Ruhe. Das und der Satz, den ich wie eine Bombe in den Raum geworfen hatte. Nur, dass er nicht explodiert war. Ich wusste nicht, ob mich das beruhigte oder erschreckte.   „Ist auch nicht einfach“, erwiderte Tobias nach einer Weile. „Als Außenstehender hast du kaum eine Chance dahinterzusteigen. Und manchmal hast du das Gefühl, dass du es eigentlich nur falsch machen kannst.“   Er warf mir einen kurzen Blick zu. Ich erwiderte ihn mit einem schmalen Lächeln. Das beschrieb so ziemlich perfekt, wie es mir ging.   „Aber ich glaube, dass Leif es schaffen kann“, fuhr Tobias fort. „Er ist zäher, als er aussieht. Er kriegt das hin.“   Ich wusste, dass der letzte Satz gelogen war. Oder dass Tobias es nur gesagt hatte, um mich zu beruhigen. Ich schnaufte.   „Ich hab Dr. Leiterer das von der Klinik erzählt. Ich will nicht, dass Leif weggeht.“   Jetzt kam doch Leben in Tobias. Er drehte sich zu mir um und fasste mich scharf ins Auge.   „Weiß Leif davon?“, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf. Tobias blies die Backen auf und ließ geräuschvoll die Luft entweichen.   „Oh man. Na wenn das mal gutgeht.“   Er musterte mich weiter eindringlich und ich starrte zurück. Schließlich war es Tobias, der nachgab.   „Leif hat dir ja sicher erzählt, was Phase ist. Herr Steiner ist der Meinung, dass wir Leif in Thielensee nicht ausreichend betreuen können. Er will nicht das Risiko eingehen, Leifs Leben oder seine Gesundheit zu gefährden. Und ich muss sagen, dass ich das durchaus verstehen kann. Ich fühl mich ja selbst mit dem Thema etwas überfordert.“   Tobias fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.   „Eigentlich sollte ich dir das wahrscheinlich gar nicht erzählen. Thomas hat es drauf, immer total souverän zu wirken, aber ich muss das wohl noch lernen.“   Er lachte leicht. Ich grinste schief zurück.   „Was hat Dr. Leiterer denn gesagt, als du ihm davon erzählt hast?“   Ich zuckte leicht mit den Achseln.   „Er wollte das mit Herrn Steiner besprechen. Ich glaube, er findet auch, dass Leif nicht in eine Klinik sollte, aber …“   Ich senkte den Kopf und sah hinunter auf meine Schuhspitzen.   „Ich hab ihn gebeten, dass er dafür sorgt, dass Leif nicht mehr zu seinen Eltern muss. Die sind nicht gut für ihn. Er darf da nicht wieder hingehen.“   Nachdem ich das gesagt hatte, herrschte Schweigen. Das Radio spielte Werbung für irgendwelche Versicherungen ein, der Typ hinter dem Glas belegte weiter Brot, aber um den Tisch herum, an dem Tobias und ich saßen, schien die Welt zum Erliegen gekommen zu sein. Das Auge des Sturms. Wann würde er weiterziehen und mich von den Füßen reißen?   „Also …“ begann Tobias irgendwann, „ich bin mir nicht sicher, ob das in Leifs Sinn war. Er hat mir eigentlich immer gesagt, dass er das Verhältnis zu seinen Eltern verbessern möchte. Deswegen besucht er sie ja auch immer.“   Ich klemmte die Kiefer zusammen. Immerhin wusste ich, warum Leif seine Eltern wirklich besuchte. Aber ich hielt die Klappe. War vielleicht eh besser.   Wenn er nicht so viel abgenommen hätte, wäre das alles nicht passiert.   Noch eine Bombe, aber dieses Mal nur in meinem Kopf. Doch im Gegensatz zu den anderen, konnte ich sie ticken hören. Sie würde explodieren. War es vielleicht längst. Und mein Ich hing in Fetzen.   „Weißt du, warum es ihm so schlecht geht?“   Ich hörte Tobias Luft holen. Schnell redete ich weiter, bevor ich den Mut verlor.   „Ich … ich hab Dr. Leiterer gefragt und er hat mir ein bisschen was erklärt. Aber ich versteh halt nicht, warum es jetzt so schlimm geworden ist. Dafür muss es doch einen Grund geben.“   Und ich wollte nicht wissen, was es war.   Tobias seufzte.   „Tja, weiß nicht. In den letzten Wochen war Leif manchmal ein wenig …“   Tobias schwieg. Ich begann, das Etikett von der Colaflasche zu pulen.   „Liegt es an mir?“, fragte ich leise. Im Radio kamen Verkehrsnachrichten.   Tobias warf mir einen fragenden Blick zu,   „Wie kommst du darauf?“   Ich kratzte weiter mit meinem Fingernagel an dem aufgeweichten Papier herum.   „Na weil … weil wir Stress miteinander hatten. Als ich abgehauen bin und danach. Ich hab mich gefragt, ob er deswegen …“   Tobias unterbrach mich.   „Stop, Manuel. Ich weiß zwar nicht, was da zwischen euch los war, aber es ist immer noch Leifs Entscheidung, wie er damit umgeht. Du bist nicht für ihn verantwortlich.“   Ich nickte, aber ich konnte Tobias dabei nicht in die Augen sehen.   „Hey, ich meine das ernst. Es ist nicht deine Schuld.“ „Ja, ich weiß.“   Obwohl es genau das war, was ich hatte hören wollen, war ich mir nicht sicher, dass es stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass zumindest ein Teil davon auf die Scheiße zurückging, die ich mit ihm angestellt hatte. Das mit dem Tagebuch, dass ich mich einfach verpisst hatte. Vielleicht sogar die Sache mit Tom. Ich hatte es zuerst nicht verstanden, aber im Nachhinein fragte ich mich, ob hinter Leifs Reaktion vielleicht mehr gesteckt hatte, als ich ihn dem Moment geahnt hatte.   Ich bin so ein Idiot.   Etwas berührte meinen Arm. Als ich aufsah, blickte ich direkt in Tobias’ Gesicht. Er lächelte.   „Du hast dich ganz schön entwickelt, seit du zu uns gekommen bist. Weißt du das eigentlich?“   Ich blinzelte. Was sollte das denn jetzt werden? Eine motivierende Ansprache?   Tobias lachte, als er meinen Gesichtsausdruck sah.   „Nun schau nicht so. Du hast wirklich enorme Fortschritte gemacht. Du hast den Schulstoff eines halben Jahres innerhalb weniger Wochen aufgeholt. Du hast an deinen Aggressionsproblemen gearbeitet, du nimmst Hilfe an. Gerade der letzte Punkt hat mich am meisten überrascht. Als du kamst, hat alles an dir klar gemacht, dass du niemanden in deiner Nähe haben willst. Du hast alle auf Abstand gehalten, wolltest es ganz alleine schaffen. Aber jetzt? Jetzt sorgst du dich sogar um andere. Du hast ein verdammt großes Herz da drinnen.“   Er tippte mir mit den Fingern fest gegen die Brust.   „Und wenn du dir erlaubst, es auch zu benutzen, bist du ein verdammt lieber Kerl.“   Der Croquetyp rief uns zu, dass die Bestellung fertig war. Tobias maß mich noch mit einem bedeutungsvollen Blick, bevor er zum Tresen ging, um sie entgegenzunehmen. Auf meiner Haut konnte ich immer noch den Stoß fühlen, den er mir verpasst hatte. Wie ein Echo.   „Na los, Großer. Gehen wir. Die Meute hat Hunger.“   Tobias hielt mir zwei der Tüten hin. In einer von ihnen lag ein kleineres Paket. Es war nur halb so groß wie der Rest, aber in genau das gleiche Papier verpackt. Hätte man es nicht mit den anderen verglichen, hätte es ganz normal gewirkt.   „Ist das für Leif?“   Tobias schaute hin und nickte.   „Ja, mit seiner ganz speziellen Kombi. Feta und Ananas. Gruselig, wenn du mich fragst. Wer mag schon warme Ananas?“   Tobias lachte. Ich sagte nichts dazu und lächelte nur in mich hinein. Mochte ja sein, dass Leif ein Spinner war, aber immerhin war er jetzt mein Spinner und ich würde gut auf ihn aufpassen.     Als wir ins Wohnheim zurückkamen, warteten die anderen schon in der Küche. Alle anderen außer Leif.   „Hey, wo ist Leif?“, fragte Tobias, während ich die Croques an ihre Besitzers verteilte. Leifs Paket hatte ich gleich zu Anfang auf seinen Platz gelegt.   „Der ist oben“, gab Thomas zurück. Die Art, wie er das sagte, klang komisch. Auch Tobias horchte auf.   „Ist was passiert?“   Thomas antwortete nicht, aber der Blick, den er Tobias zuwarf, gefiel mir nicht. So gar nicht.   „Ich werd ihn mal holen gehen“, sagte ich und wartete nicht ab, ob irgendjemand mit zurückhielt. Ich drehte mich einfach auf dem Absatz herum und stürmte aus der Küche.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)