Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 23: Ein gutes Gefühl ---------------------------- Tobias und ich liefen schnurstracks in Richtung Park. Hinter mir konnte ich die anderen rufen hören, was denn los wäre, aber ich ignorierte sie. Ich musste Leif finden. Was, wenn er abgehauen war? Über die Mauer geklettert. Wenn er sich was angetan hatte?   Quatsch! Warum sollte er? Das ist lächerlich.   Ich wusste, dass es Unsinn war, aber das Gefühl in meinem Magen blieb. Das Gefühl wie ein riesengroßer Stein, der mich zu zerquetschen drohte.   „Leif!“   Tobias sah sich hektisch um. Auch ich ließ meinen Blick über den Garten schweifen. War er noch hier? Und wenn ja, wo?   Wir kamen zu dem Baum. Dem, der an der Mauer stand. Tobias sah nach oben. „Hier war er nicht.“   Keine Ahnung, woher Tobias das wusste, aber wenn er es sagte, musste es stimmen. Es musste. Ansonsten … „Da!“   Tobias zeigte hinter mich. Ich wirbelte herum und sah es sofort. Die Gestalt, die mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt da saß. Die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt.   „Leif!“   Noch immer reagierte er nicht. Er saß einfach nur da und schien mich nicht zu hören. Ich rief noch einmal. „Lass mich mit ihm sprechen.“ Tobias war neben mir erschienen. Ihm war die gleiche Erleichterung anzumerken, die auch durch meine Adern strömte. Trotzdem wollte ich nicht, dass er zu Leif ging. Ich wollte derjenige sein, der zuerst mit ihm sprach. Der ihm sagte, dass alles okay war. Derjenige, der ihn zurückholte. „Du bleibst hier.“   Tobias’ Ton duldete keinen Widerspruch. Und ich blieb stehen. Ich wusste nicht, warum. Ich sah nur zu, wie Tobias zu Leif ging, sich vor ihn hinkniete und leise auf ihn einredete. Wie er ihn am Arm berührte und ihn so endlich dazu brachte, den Kopf zu heben. Wie die beiden miteinander sprachen, ohne mich auch nur im Geringsten zu beachten. Und plötzlich konnte ich den Anblick nicht mehr ertragen.   Ich drehte mich um. Meine Schritte wurden schneller, als ich auf das Haus zuging. Ich wusste, was ich jetzt brauchte. Was ich ganz dringend brauchte.   Thomas kam mir entgegen. Er sah nicht begeistert aus. „Manuel! Warum ist drinnen noch nichts fürs Abendessen gedeckt? Wo ist Tobias?“   „Der hat mit Leif zu tun“, spuckte ich ihm entgegen. „Kann ich den Schlüssel zum Sportraum haben?“   „Was?“   Thomas blinzelte mich überrascht an. War der schwerhörig? „Ich brauch grad ne Auszeit. Ganz dringend.“ „Aber jetzt ist Zeit fürs …“   „JETZT!“, schrie ich.   Der Stein in meinem Inneren hatte sich in Lava verwandelt. Sie kochte und schleuderte immer wieder kleine Funken in die Luft. Und der Spiegel stieg.   Endlich schien Thomas zu begreifen. „Gut, ich komme mit.“   Er drehte sich um und ging voraus. Ich folgte ihm. Den Blick auf den Boden gerichtet, wo seine braunen Halbschuhe vor mir herliefen. Tür, Küche, Flur, Tür, Flur, Tür. Endlich öffnete er die letzte von ihnen. Dahinter der kleine Raum, den ich bereits am Anfang mal besichtigt hatte. Jetzt gab es darin zwei Fitnessräder, eine dicke, leicht verschlissene Turnmatte und einen Boxsack, der an einem Seil von der Decke hing. Genau zu dem wollte ich jetzt. „Ich hol dir die Handschuhe.“ „Nicht notwendig. Ich brauch keine.“   Ich wollte keine. Ich wollte es spüren. All den Schmerz und die Wut aus mir rausprügeln in diesen dämlichen Sack. Und ich wollte, dass es wehtat.   Was Thomas antwortete, hörte ich schon nicht mehr. Mein erster Schlag trat den Boxsack. Es gab ein dumpfes, platschendes Geräusch und der Schmerz des Aufpralls. Ein neuer Schlag. Neuer Schmerz. Schmerz, der meinen auslöschte. Meinen und den von Leif. Bis nichts mehr übrigblieb. Bis nur noch das Pochen meiner malträtierten Knöchel und Schienbeine zählte. Schlag um Schlag, Tritt um Tritt. Immer wieder. Bis meine Lunge pfiff und die Umgebung um mich herum verschwamm. Ich hörte nicht auf. Ich machte weiter und weiter. Bis irgendwann jemand meinen Namen rief. Erst dann drehte ich mich um.   Leif stand im Türrahmen. Er war immer noch blass, aber er sah besser aus. Viel besser als noch gerade im Park. Ich hätte mich darüber freuen sollen, aber ich konnte nicht. „Du sollst zum Essen kommen“, sagte er. Nicht mehr. Nicht ein einziges verschissenes Wort. Ich schnaubte. „Ist das alles?“   Am liebsten hätte ich meine Worte wieder zurückgenommen. Ich wollte nicht, dass er mir antwortete. Er sollte weggehen. Weg. Für immer. Damit es aufhörte wehzutun. Aber er ging nicht.   Nach einer Ewigkeit, in der wir uns stumm gegenüberstanden, bewegte er sich. Er machte einen Schritt in den Raum hinein. Meine Fäuste schossen nach oben. Seine Augen wurden groß. „Du blutest.“   Ich blinzelte überrascht. Mein Blick glitt von Leifs Gesicht zu meinen Händen. Er hatte recht. Die Knöchel waren abgeschabt von der Wucht des Aufpralls, der selbst das glatte Material in Sandpapier verwandelte. Ich starrte die winzigen Pünktchen an, die langsam größer wurden, sich zu Tropfen vereinigten und schließlich begannen, eine stetig wachsende, rote Kuppel zu bilden. Bald würde das Blut zu Boden tropfen. Wie damals. Alles war voll damit gewesen. Ich hatte gedacht, ich sterbe.   „Hier. Nimm das.“   Ein Taschentuch erschien in meinem Sichtfeld. Es war zerknittert und mit Sicherheit nicht sauber. Trotzdem ließ ich zu, dass Leif es nahm, um meine Wunden zu reinigen. Seine Finger waren kühl an meinen. Es brannte, als er das Blut abtupfte, aber ich zuckte nicht. Ich hielt einfach still und sah zu, wie er sich um meine Verletzungen kümmerte. „Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich … ich hab in dem Moment einfach Panik gekriegt. Ich wollte nicht weglaufen. Es war nur …“   Er verstummte. Seine Lippen blieben leicht geöffnet. Ich sah sie an und vermisste ihn.   „Es war was?“   Meine Frage klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. Da kreiste immer noch zu viel Adrenalin in meinen Adern.   Leif senkte den Kopf. „Es war wie damals mit meinen Eltern. Ich wollte es ihnen immer erzählen, aber ich war zu feige. Deswegen habe ich es wohl unbewusst darauf angelegt, dass sie mich erwischen. Haben sie dann auch getan.“   Er redete nicht weiter. Stattdessen ließ er sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und rutschte daran nach unten. Sein Blick war auf den Fußboden gerichtet.   Ich zögerte. Die Schmerzen an meiner Hand ließen langsam nach, die Blutung hatte aufgehört. Trotzdem war da immer noch dieser Schmerz. Ganz tief drin. Wie ein Splitter in meinem Herzen. Er machte das Atmen schwer.   Ich gab mir einen Ruck, ging zu Leif und ließ mich neben ihm nieder. Die Wand war kühl in meinem Rücken, der Boden hart und Leif … Leif war warm. Unsere Arme berührten sich. Nur ganz leicht. Nur ein Stück.   Eine ganze Weile saßen wir so da.   „Was ist passiert?“, fragte ich irgendwann. Ich konnte es mir zwar denken, aber …   Leif atmete hörbar aus.   „Eigentlich weiß ich das gar nicht mehr so genau. Also schon. Ich sehe noch vor mir, wie sie ins Wohnzimmer kamen. Das entsetzte Gesicht meiner Mutter, als sie mich halbnackt mit einem Kerl auf ihrer Couch entdeckte. Das meines Vaters, wie er uns voller Abscheu musterte. Aber es war wie in einem Film. Alles lief total mechanisch ab. Ich bin mir nicht mal sicher, ob irgendjemand noch etwas gesagt hat. Ich wollte in dem Moment nur noch weg.“   Leifs Finger hatten sich ineinander gekrampft, dazwischen das Taschentuch mit meinem Blut. Ich wusste, dass ich wohl hätte etwas sagen sollen. Aber ich wusste nicht was. „Scheiße“, gab ich schließlich von mir. Das beschrieb es wohl am besten. „Ja, war es“, antwortete er. „Und heute, als Tobias auf einmal da stand und du weggerannt bist, da kam das alles wieder hoch. Nur deswegen bin ich so ausgerastet. Es tut mir leid.“ Ich spürte, wie er sich neben mir bewegte. Etwas streifte meine Hand.   „Und du? Was soll das da?“   Ich schnaufte. „So was Ähnliches.“   Es fühlte sich an, als würde ich ihn anlügen, aber das tat ich nicht. Ich schützte ihn nur. In diesem Moment ließ uns ein Räuspern aufsehen. Es war Tobias. Er stand in der Tür und hielt seine Miene möglichst neutral. „Ihr solltet wirklich langsam kommen“, sagte er. „Die anderen fangen an, Fragen zu stellen.“   Ich unterdrückte ein erneutes Schnauben. Na klar. Es war ja egal, dass die Welt gerade zusammenbrach. Hauptsache man war pünktlich beim Essen und putzte sich zweimal am Tag die Zähne. Dann war alles okay.   „Wir kommen“, sagte Leif an meiner Stelle. Mir war nicht nach Essen zumute, aber hatte ich eine Wahl? Gehorsam setzte ich mich in Bewegung. Als ich bei Tobias ankam, hielt er mich an, eine steile Falte zwischen den Brauen. „Was hast du mit deinen Händen gemacht?“   Ich grinste schief. „Wonach sieht’s denn aus?“ Tobias presste die Lippen aufeinander. „Ich dachte, wir hätten geklärt, dass du immer mindestens Bandagen anlegst. Du hättest dir was brechen können.“   Ich antwortete nicht darauf. Natürlich hatte er Recht, aber was sollte ich sagen? Dass es mir egal gewesen war? Dass ich es vielleicht sogar darauf angelegt hatte? Wobei das nicht stimmte. Nicht so ganz zumindest. „Wir müssen das desinfizieren, damit es sich nicht entzündet. In der Küche ist ein Verbandskasten.“   Wir gingen über den Flur. Leif halb vor mir, Tobias an der Spitze. Immer wieder sah Leif zu mir rüber. Erst, als wir in die Küche kamen, hörte er damit auf. Um den Tisch herum saßen schon die anderen. Es sagte jedoch niemand ein Wort. Nicht einmal Sven ließ sich zu einer Stichelei herab. Sie sahen nur stumm kauend zu, wie Tobias meine Hände verarztete und danach den Medizinschrank wieder abschloss, bevor er mich in Richtung Tisch schob.   „Los, Manuel. Setz dich.“   Er klang nicht gerade begeistert. Als wenn das alles meine Schuld wäre.   Für einen Moment überlegte ich, dagegen aufzubegehren. Was wollte er denn machen, wenn ich nicht gehorchte? Mich ohne Abendessen ins Bett schicken? Haha! Dann jedoch ging er an mir vorbei und setzte sich auf den Stuhl, auf dem ich sonst gesessen hatte. Der Platz zwischen ihm und Leif blieb frei.   Ich zögerte. Möglicherweise war es nur Zufall, aber vielleicht war es auch … ein Angebot? Was geschah, wenn ich es ausschlug? Würden Leif und ich dann getrennt?   Ohne noch weiter zu überlegen ging ich zum Tisch und ließ mich dort nieder.   Ich wagte nicht, in die Runde zu blicken. Mir war klar, dass die anderen wussten, dass etwas vorgefallen war. Ansonsten hätte kein so eisiges Schweigen geherrscht. Vermutlich dachten sie, dass ich etwas ausgefressen hatte. Nur zu, sollten sie. Mir war es egal, was sie von mir dachten.   „Nach dem Essen werden wir die wöchentliche Sitzung abhalten. Ich möchte mit euch die nächsten Tage besprechen. Das Wetter soll besser werden und wir planen, nächstes Wochenende einen Ausflug zu machen.“   „An den See?“, wollte Sven wissen. Seine vollen Backen ließen ihn wie eine pickelige Bulldogge aussehen.   „Ja, wahrscheinlich. Alternativ könnten wir ins Kino gehen. Je nachdem, worauf ihr mehr Lust habt.“   „Ich bin für Kino.“ „See.“ „Ich auch See.“ „Kino.“   Damit stand es zwei zu zwei. Sämtliche Augen richteten sich auf mich und Leif. Ich tat so, als wenn ich es nicht bemerkte. Leif jedoch ließ die Gabel sinken. „Ich bin an dem Wochenende nicht da.“   Seine Stimme zitterte kaum, aber ich merkte es trotzdem. Stand etwa schon wieder ein Wochenende bei seinen Eltern an? „Dann muss Manuel entscheiden“, rief Jason. „Na los, sag Kino!“ „Nee, See!“ „Klappe, lass ihn doch mal ausreden.“ „Kino!“   Ich war auf einmal das Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei war es mir so völlig egal, was wir machten. Wenn Leif nicht da war, hatte ich sowieso keine Lust dazu. „Meinetwegen Kino“, brummte ich und machte mich weiter über mein Essen her. Bauernfrühstück. Ob das Tobias’ Idee gewesen war? Es hatte doch mittags Nudeln gegeben.   „Ha, ich wusste es. Auf den Mann ist Verlass“, dröhnte Jason, während Nico und Sven rumstöhnten. „Wir werden in den Ferien bestimmt noch ein paar Mal baden gehen“, versprach Thomas. „Also regt euch wieder ab.“ „Dann mach ich dich fertig“, schwor Sven und warf mir einen mörderischen Blick zu. Ich bleckte lediglich die Zähne, bevor ich eine weitere Bratkartoffel dazwischen steckte. Vielleicht hatte Leif doch Recht. Bratkartoffeln gingen immer.   „Also, wie gesagt. Nach dem Essen ist noch Gruppenversammlung. Daher nicht verkrümeln, klar?“   Thomas sah in die Runde. Dass sein Blick dabei ein bisschen länger auf mir und Leif ruhte, war mit Sicherheit kein Zufall. Er wusste also Bescheid.   Aus den Augenwinkeln sah ich zu Leif rüber. Er aß, was schon mal nicht schlecht war. Aber wie konnte er so ruhig sein? Und wie würde es weitergehen? Tobias hatte gesagt, wir dürften zusammen sein. Aber wie sollte das gehen? Mein Kopf weigerte sich, sich das vorzustellen.   Und dann ist da noch das mit dem Essen. Die Klinik. Was mache ich, wenn Leif da hinmuss? Der Gedanke führte prompt dazu, dass ich keinen Hunger mehr hatte. Ich aß trotzdem noch ein bisschen weiter. Damit Leif sich nicht so alleine fühlte. Die anderen waren längst fertig und unterhielten sich. Größtenteils ging es ums Sprayen. Dennis stand Rede und Antwort zu den Fragen, die die anderen hatten. Natürlich wollten sie auch wissen, wo er schon überall gesprüht hatte. Er zuckte nur mit den Schultern. „Nichts, was von Belang wäre. Das Meiste ist eh schon gecovert oder gebufft worden. Aber wenn ich wieder draußen bin, werd ich vielleicht … na ja. Mal sehen, wo ich legal sprayen kann.“   Er verstummte und sah auf den Tisch hinab. Jason schlug ihm auf die Schulter. „Find ich gut, dass du das machen willst. Dein Bild sieht echt scheiße geil aus.“ Auch die anderen beeilten sich, dem zuzustimmen. Dennis zog den Schirm seines Caps ein bisschen nach unten, aber ich konnte sehen, dass er lächelte.   Mit halben Ohr hörte ich zu, wie weiter über Pläne für die Ferien und die letzten Wochen davor gesprochen wurde. Nico und Sven bekamen unbegrenzten Ausgang. Das hieß, sie mussten sich nur noch an- und abmelden. Wie schön für sie. „Manuel, du bekommst auch wieder Ausgang. Einmal die Woche für zwei Stunden. Hast du einen bestimmten Tag im Auge.“   Ich schreckte hoch und sah Tobias an wie ein Auto. Ich bekam Ausgang?   Tobias lächelte. „Ich denke, du bist so weit. Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die Message angekommen ist. Da wird es Zeit, dass du wieder ein bisschen mehr Verantwortung für dein Leben übernimmst. Auch wenn es erst mal nicht viel ist.“   Verantwortung. Das Wort fühlte sich an, als hätte er mir ein Messer in die Hand gegeben. Es lag an mir, was ich daraus machte. „Leif, dein Ausgang bleibt wie gehabt bei vier Stunden die Woche. Wir müssen erst noch schauen, wie es bei dir weitergeht.“   Leif nickte. Er hatte ebenso wie ich bei der Versammlung nicht viel gesagt. Plötzlich hatte ich eine Idee. „Kann ich nicht auch vier Stunden haben?“   Sven lachte auf. „Vergiss es, Alter. Du bist gerade getürmt, schon vergessen.“ „Das war ein Versehen. Kommt nicht wieder vor.“ „Das sagen sie alle.“   „Jungs!“ Thomas sah streng in die Runde. „Ruhe, ja? Ihr wollt doch auch ins Wochenende, oder?“ Er wandte sich an mich. „Mehr Ausgang ist definitiv nicht drin. Aber wir können bestimmt noch ein bisschen Extra-Handyzeit einrichten. Da du ja eh nie telefonierst, wäre das wohl fair.“   Ich sah meine Felle davon schwimmen, aber zwei Stunden war besser als gar nichts.   „Kann man eigentlich auch zusammen Ausgang haben?“   Dass diese Frage vielleicht ein bisschen zu verräterisch war, ging mir erst auf, als mich einige fragende Blicke trafen. Ich setzte ein Grinsen auf. „Ich mein ja nur. Dann könnte ich mit Jason ins Kino gehen und wir könnten nächstes Wochenende doch an den See.“   Zustimmendes Brummeln war die Folge und jede Menge Augen, die sich jetzt auf die Erzieher statt auf mich richteten. Die sahen sich an. „Das müssen wir erst noch abklären“, sagte Thomas schließlich. Ich sah, dass Tobias eigentlich etwas dagegen einwenden wollte, aber er beließ es bei einem unzufriedenen Zucken des Mundes, das gleich darauf in einem fröhlichen Lächeln verschwand. „Na schön, dann sind wir für heute fertig. Schwirrt ab.“   Stühle wurden gerückt und die meisten sahen zu, dass sie rauskamen. Mich jedoch hielt Tobias zurück. „Manuel, wartest du nochmal kurz? Wir wollen noch was mit euch besprechen.“   Ich musste nicht fragen, was euch hieß. Als die anderen bis auf Leif und mich die Küche verlassen hatten, schloss Thomas die Tür. Als er wieder an den Tisch kam, sah er ernst aus. Er seufzte leicht. „Also … Tobias hat mir erzählt, was los ist. Er hat sich dafür ausgesprochen, die Sache nicht an Herrn Steiner weiterzumelden. Ich habe mich damit einverstanden erklärt, aber nur solange, wie das Ganze zivilisiert abläuft. Haben wir uns da verstanden?“   Ich sah von Leif zu Tobias und wieder zurück zu Thomas. „Zivilisiert?“, hakte ich nach. „Was soll das denn heißen? Wir sind schließlich keine Wilden.“   Thomas schmunzelte. „Nein, aber zwei Teenager. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hatte welche davon zu Hause.“   In mir brodelte es. Am liebsten hätte ich den beiden gesagt, dass sie das alles überhaupt nichts anging. Aber was hätte es genutzt. Sie saßen ja doch am längeren Hebel. Und wenn wir nicht spurten …   „Wir wollen euch helfen, okay?“, mischte sich jetzt Tobias ein. „Auch wenn ich zugeben muss, dass mir so was bisher noch nicht untergekommen ist …“   Er rang mit den Worten. Es war merkwürdig zu sehen, dass Tobias anscheinend nicht wusste, was er sagen sollte. Thomas fand dafür umso deutlichere. „Wir sind für euch verantwortlich. Das bedeutet nicht nur, dass wir euch mit jeder Menge Regeln nerven, sondern auch, dass wir euch beschützen. Wenn hier etwas passiert, was einem von euch Schaden zufügen könnte, werden wir es unterbinden. Solange das nicht der Fall ist, werden wir uns auch nicht einmischen.“ Er warf erst mir und dann Leif einen prüfenden Blick zu. Nachdem wir beide zustimmend genickt hatten, lächelte er. „Schön, dann ab mit euch. Ihr habt doch bestimmt was Besseres vor, als mit uns zusammen hier rumzuhängen.“   Ein bisschen unsicher erhob ich mich. „Wir … wir dürfen uns also besuchen, wenn wir wollen? Allein?“ Wieder schmunzelte Thomas.   „Natürlich. Wobei mich interessieren würde, wie ihr das Problem mit den Türen gelöst habt. Habt ihr euch einen Schlüssel nachmachen lassen? Den müsste ich dann nämlich einkassieren.“   Leif lachte leicht. „Nein, kein Schlüssel.“ „Und wie habt ihr es dann angestellt?“   Leifs Grinsen wurde breiter. „Das ist ein Betriebsgeheimnis.“   Er lachte immer noch, als er zu mir rübersah. Sein Grinsen ging in ein warmes Lächeln über.   „Und?“, fragte er. „Magst du mit zu mir kommen?“   Ich nickte.   „Klar. Wenn uns jemand aufschließt?“   „Das mache ich“, verkündete Tobias und stand ebenfalls vom Tisch auf. „Ich hab jetzt eh Feierabend. Henning übernimmt dann wieder die Nachtschicht. Also ärgert ihn nicht, ja?“   „Natürlich nicht.“ „Würden wir nie tun.“     Kurz darauf folgten wir Tobias schon zum zweiten Mal durch die Gänge. Dieses Mal ging es die Treppe rauf.   „Irgendwie irre, oder?“, flüsterte Leif mir zu. Ich nickte, ohne ihn anzusehen. Das war wirklich total irre.   Die Bilder im oberen Flur kamen in Sicht. Es roch nach Farbe und Schweiß. Keine besonders anheimelnde Mischung, aber irgendwie … vertraut.   Wir kamen an Leifs Taube vorbei. Als ich sie sah, wurde mir klar, dass sie ganz schön pummelig war. Fast schon dicker als Jasons Tiger. Passte gar nicht zu ihm. Doch bevor ich was dazu sagen konnte, waren wir schon daran vorbei. Vor uns klimperte Tobias mit den Schlüsseln.   „Soll ich euch beide Zimmer aufschließen, oder …?“   Er war stehengeblieben und sah uns unschlüssig an. Ich deutete mit dem Kopf auf Leifs Tür. „Die reicht. Ich sag dann nachher Bescheid, wenn ich bei mir reinwill.“ „Okay.“   Tobias öffnete uns und wir stiefelten brav nacheinander in Leifs Zimmer. Als wir drinnen standen, hörte ich Tobias leise seufzen. „Na schön, dann benehmt euch anständig. Dass mir morgen keine Klagen kommen. Und keine panischen Anrufe heute Nacht, weil einer fehlt, ja?“ „In Ordnung.“   Ich winkte ihm noch zum Abschied, bevor ich endlich die Tür mit Nachdruck hinter ihm schloss. Als ich mich zu Leif umdrehte, stand der mitten im Zimmer. „Und jetzt?“ „Weiß nicht.“   Einen Augenblick lang blieb ich noch an der Tür stehen, bevor ich mich entschlossen davon abstieß und zum Bett rüberging. „Darf ich?“ „Klar.“   Ich setzte mich und Leif gesellte sich zu mir. Eine ganze Weile saßen wir nur da und schwiegen uns an. Plötzlich hörte ich Leif leise lachen. Fragend sah ich zu ihm rüber. „Ich musste nur gerade an diesen Satz aus Batman denken. Wo der Joker sagt: 'Ich bin ein Hund, der Autos nachjagt. Ich wüsste gar nicht, was ich damit machen soll, wenn ich eins erwische.' Genauso fühle ich mich gerade.“   Ich lachte ebenfalls. „Du fühlst dich wie der Joker?“ „Nein, wie ein Hund mit einem Auto.“   Leif sah mich jetzt richtig an. In seinen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck. „Das ist schräg oder?“   Ich hob die Schultern ein winziges Stück.   „Weiß nicht. Kommt darauf an, ob dir das Auto gefällt.“   Leif lächelte.   „Ja, sehr.“ „Na, dann ist doch alles in Butter.“   Wieder sahen wir uns an. Noch vor ein paar Wochen wären wir jetzt wohl bereits übereinander hergefallen. Hätten uns womöglich schon fast wieder voneinander verabschiedet. Und jetzt? Jetzt saßen wir hier und sahen uns stundenlang in die Augen. Wie schnulzig. Trotzdem hätte ich ihn noch ewig ansehen können. Bis es irgendwann nicht mehr reichte. Bis ich mehr wollte.   Den Blick immer noch mit seinem verflochten legte ich eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu mir heran. Als unsere Lippen sich berührten, seufzte er leise. Ich nahm das als Aufforderung und küsste ihn noch einmal. Gemeinsam sanken wir auf das Bett. Streichelten uns. Küssten uns. Immer wieder. Seine Hände fuhren über meinen Rücken und schlüpften unter mein Shirt. Ich erschauderte, als ich seine Finger auf meiner Haut spürte. Langsam glitten sie abwärts. Ein bekanntes Kribbeln begleitete ihren Weg. Schließlich hob Leif den Kopf und sah mich an. Er lächelte leicht. „Was ist?“, fragte ich, als er nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht damit aufgehört hatte. „Ach nichts“, sagte er und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass sich mein Herzschlag beschleunigte. „Es war nur so ein Gedanke.“   „Ein guter Gedanke?“ „Ja.“   Immer noch sah er mich an. Als wäre ich etwas Kostbares, etwas Besonderes. Wir waren uns so unendlich nahe. Wieder beugte ich mich vor und küsste ihn. Meine Lippen streichelten seine, bevor sie sich teilten und ich leicht mit der Zunge über seine Unterlippe fuhr. Er erwiderte die Berührung ebenso sacht. Es war wie ein Stromstoß, der durch meinen ganzen Körper lief. Instinktiv intensivierte ich den Kuss. Meine Hand fand ihren Weg unter seine Kleidung. Ich nahm, was ich zu fassen bekam. Leifs Atem wurde schneller. Ich spürte seine Erregung an meinem Bein. Keuchend unterbrach ich den Kuss. „Ich wäre für Ausziehen.“ „Ich auch.“   In Windeseile befreiten wir uns von unseren Klamotten. Vollkommen nackt ließen wir uns wieder auf das Bett gleiten. Die Decke wurde unser Zelt, unsere Höhle, unser Unterschlupf. Erneut fanden sich unsere Lippen zu einem Kuss. Das Mehr an nackter Haut machte mich an. Ich konnte ihn spüren. Überall an mir. Seine Beine zwischen meinen, seinen Körper an meiner Brust. Seine Hände, wie sie über meinen bebenden Bauch strichen. Wie sie mich anfassten. Den Blick auf mein Gesicht gerichtet, die Hand zwischen uns, begann Leif uns zu wichsen. Langsam und vorsichtig. Ich biss mir auf die Lippen. Das Gefühl von seinem Schwanz an meinem war so … anders. Nicht nur geil, das auch, aber ihn so zu spüren war merkwürdig … intim. So nannte man das wohl. Ich wollte bei ihm sein. Ihn streicheln, berühren. Ich wollte, dass er wusste, wie schön ich ihn fand. Dass ich alles von ihm wollte und noch mehr. Dass ich ihm geben wollte, was immer er verlangte. Was immer er brauchte. Er küsste mich. Sah mich an. „Du bist so …“   Ich ließ ihn nicht ausreden. „Du auch!“   Mein Herz raste in meiner Brust. Gleichzeitig war da eine seltsame Ruhe. Als würde ich genau hierher gehören. Hier in dieses Bett. Mit ihm. Und ich wusste, ich hoffte, dass es ihm genauso ging. Ich hoffte es so sehr.   „Schlaf mit mir.“   Die Worte waren heraus, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Erstaunen erschien in seinem Blick. „Jetzt?“ „Ja. Warum nicht?“   Meine Stimme war abgehackt, als wäre ich zu schnell gerannt. Er lächelte. Schwankte zwischen Unglauben und Freude. Freude! „Willst du das wirklich?“ „Ja. Mehr als alles andere.“   Ich wollte ihn endlich spüren. Er zögerte.   „Und du bist dir ganz sicher?“   Ein Lachen drängte meine Kehle hinauf. Warum fragte er denn nur so d… oh. Deswegen.   „Du bist Top?“   Ein weiteres Lächeln. „Nicht zwingend, aber … vielleicht … dieses Mal?“ Sein Blick begann zu flackern. Unsicherheit trat an die Stelle, die gerade noch etwas anderes ausgefüllt hatte. Ich hatte zu lange gezögert. „Ja. Ja, ich mache es“, versicherte ich schnell. Er sollte nicht gehen.   „Wirklich?“   Noch einmal horchte ich in mich hinein. Unter anderen Umständen und vermutlich zu jedem anderen, hätte ich wohl Nein gesagt. Aber bei Leif war das anders. Bei ihm hatte ich keine Angst. „Ja.“   Leifs Augen beruhigten sich. Da war wieder dieser warme Glanz. Ein Glanz, der anschwoll, der überfloss und dann … tropfte etwas Warmes, Feuchtes auf meine Wange. Leif schreckte hoch. „Ach Scheiße!“ Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Lachte. Seine Augen glänzten immer noch. Erneut versuchte er, sich hinter einem Lachen zu verstecken. Aber es funktionierte nicht. Ich sah, dass er weinte.   Ohne zu fragen, warum und weshalb, zog ich ihn in meinen Arm. Ich rückte neben ihn und bettete seinen Kopf an meiner Schulter. Dort hielt ich ihn einfach fest und wartete, dass seine Tränen versiegten und sein Atem sich beruhigte. Es dauerte nicht lange, aber die Stimmung war definitiv gekillt. „Tut mir leid“, sagte er, nachdem wir eine Weile lang einfach nur da gelegen hatten. „Das war … so nicht geplant.“   Seine Stimme klang rau, aber gefasster. Ich atmete tief durch.   „Kein Problem. Es war ein anstrengender Tag.“ „Okay“, antwortete er und schwieg eine Weile. Dann fing er wieder an. „Und du bist nicht sauer?“ „Nein.“ „Wirklich nicht.“ „Hör auf zu fragen.“   Leif rückte näher an mich heran, die Hand auf meiner Brust, den Rest seines Körpers dicht an mich gedrängt. Ich spürte ihn überall. Es war ein gutes Gefühl.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)