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Ganz tief drin

von

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Auf und davon

Sven betrachtete die Farbdose in seiner Hand. Danach glitt sein Blick zur Wand.
 

„Sollten wir das nicht erst mal vormalen. Mit nem Stift oder so?“
 

Seine Aussprache war durch die Maske, die auf seinem Gesicht saß, etwas undeutlich. Der Rest von ihm steckte in einem Vollkörperschutz. Er sah aus, als wäre er direkt einem Biogefahr-Seuchen-Film entsprungen. 'Die Anzüge müssen sein', hatte Tobias gesagt und sich auch nicht auf Diskussionen eingelassen. Jetzt standen wir also alle in raschelndem Weiß im Flur herum und warteten darauf, endlich anfangen zu können.

 

Cedric grinste Sven an.
 

„Quatsch. Du hast doch draußen schon geübt. Und für die Vorzeichnung haben wir extra ne helle Farbe genommen. Davon sieht man später nichts mehr. Also nur Mut. Du kriegst das hin.“

 

„Eben. Nun mach schon“, drängelte jetzt auch Nico. Er hatte sich seine Maske in die Stirn geschoben und sah aus wie ein behindertes Einhorn.
 

„Es ist nicht schwer“, meinte auch Dennis. Er hatte im Gegensatz zu uns nicht herumgemotzt, als er sich hatte umziehen müssen. Sogar Handschuhe hatte er an.

 

Sven sah noch einmal auf die Farbdose, dann auf die Wand und dann auf das Blatt in seiner anderen Hand. Darauf war das Motiv, das er aufbringen wollte. Mit einer entschiedenen Geste schüttelte er die Farbdose ein paar Mal, hob die Hand und drückte ab.
 

Zischend flog die Farbe an die Wand. Die erste hellgraue Linie wurde gezogen. Es folgte eine zweite, eine dritte. Wie Cedric es uns erklärt hatte, setzte Sven immer wieder ab, bevor er einen neuen Strich zog. Das Ergebnis sah aus wie eine geplatzte Kuh.
 

„Ach fuck, ich kann das nicht“, knurrte Sven und wollte gerade seine Zeichnung wegwerfen, als Cedric zu ihm trat.
 

„Warte, ich runde das mal noch ein bisschen ab. Wirst sehen, das wird richtig fett, wenn es fertig ist.“

 

Er ergänzte noch ein paar Linien, begradigte einige anderen und heraus kam etwas, das Svens Vorlage schon recht ähnlich sah. Eigentlich war es sogar ziemlich cool.

 

„Die endgültigen Konturen machst du ohnehin erst nach dem Farbauftrag“, erklärte Cedric. „Du kannst also alles noch korrigieren. Deswegen braucht auch keiner Angst haben, wenn sein Motiv nicht so aussieht, wie er sich das gedacht hat. Ihr könnt es immer wieder covern. Mit den Farben, die ich besorgt habe, ist das kein Problem.“

 

Er klatschte in die Hände.
 

„Na los, Leute. Auf geht’s!“

 

Sofort herrschte großes Gedrängel an der Kiste mit den Farbdosen. Jeder wollte als Erster auswählen. Dennis nahm sich Jason mit und half ihm dabei, seinen dicken Tiger abzuzeichnen. Nico und Sven machten unter Thomas’ Anweisung weiter, Tobias schnappte sich Leif, was mich und Cedric übrigließ. Grinsend kam er auf mich zu.
 

„Na, Meister! Alles fit im Schritt?“
 

Ich rollte mit den Augen.
 

„Bitte sag mir, dass das nicht cool sein sollte.“

„Als ich so alt war wie du, war es das noch.“
 

Er lachte und zeigte auf das Blatt Papier in meiner Hand.
 

„Ist das dein Motiv?“

„Ja.“

„Zeig mal.“

 

Er nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung mit der Katze. Eine schmale Falte erschien auf seiner Stirn.

 

„Das ist toll. Woher hast du das?“

„Gezeichnet?“

 

Ich versuchte, ein unschuldiges Gesicht zu machen. Cedric schnaubte belustigt.
 

„Das sehe ich. Aber nicht von dir. Versuch gar nicht erst, mir das zu verkaufen.“
 

Ich seufzte.
 

„Das hat Leif für mich gemacht.“

„Mhm …“

 

Cedric musterte mich über den Rand des Papiers hinweg.
 

„Und was ist mit deinem Motiv?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.
 

„Das da ist besser.“

 

Cedric presste die Lippen aufeinander und besah sich das Bild. Er schien zu überlegen.
 

„Weißt du“, meinte er schließlich, „ich finde, du solltest dein erstes Bild nehmen. Das war ziemlich cool.“

 

Meine Augenbrauen schnellten nach oben.
 

„Das kotzende Sperma?“
 

Cedric sah mich für einen Moment überrascht an, bevor er in Gelächter ausbrach.
 

„Kotzendes Sperma? Ist ja geil. Wo hast du das denn her?“

„Na ja, es sah doch so aus.“

 

Während Cedric sich immer noch kringelig lachte, sah ich an ihm vorbei zu Leif rüber. Der war anscheinend vollkommen in seine Arbeit versunken. Tobias und er besprachen gerade die Proportionen. Leif fuhr mit der Hand an der Wand entlang, Tobias nickte dazu. Danach griff Leif nach der Sprühdose. Alles ganz normal. Bis darauf dass er mir seit dem Mittagessen konsequent aus dem Weg gegangen war. Das fühlte sich beschissen an. Echt beschissen.
 

„Hey!“

 

Cedric war neben mich getreten. Er sah mich fragend an.

 

„Alles in Ordnung?“

„Ja klar. Alles bestens.“

 

Ich wandte mich abrupt ab und ging zu der Kiste mit den Farbdosen hinüber. Die hellen Farben waren alle schon weg. Missmutig starrte ich den Rest an.

 

„Für dein Sperma kannst du auch gleich die richtige Farbe nehmen. Das ist ja nicht so filigran.“

 

Ich grinste schwach. Plötzlich blieb mein Blick an einem knallvioletten Etikett hängen. Irgendwie wusste ich, das ist es.
 

„Ich nehm die lilane.“

 

Cedrics Gesicht hellte sich auf.
 

„Nicht schlecht. Das ist eine meiner Lieblingsfarben. Musst dir nur überlegen, welche Farbe du dazu für die Outlines nimmst. Ich empfehle Schwarz und Neongrün. Die Kombi ist echt super.“

 

Ich versuchte es mir vorzustellen. Das Ergebnis sah ein bisschen aus wie aus einem Horrorcomic. Gar nicht übel. Auch Cedric schien voll begeistert.
 

Zögernd ging ich zurück zu meinem Stück Wand. Die Farbdose wog schwer in meiner Hand. Ich begann sie zu schütteln. In alle Richtungen, so wie Cedric es uns beigebracht hatte. Die Metallkugeln im Inneren klackerten wie wild.

 

„Das sollte reichen. Na los. Ab an die Wand.“

 

Ich trat nach vorne, hob die Hand und starrte auf das Stück Tapete vor meiner Nase. Glatt, weiß, perfekt. Und ich würde jetzt meine Spuren darauf hinterlassen. Der Gedanke sorgte für ein Kribbeln in meinem Unterleib, dass sich von dort aus in meinem ganzen Körper ausbreitete. Mit angehaltenem Atem drückte ich auf den Sprühknopf.

 

Ein breiter, dunkler Farbstrahl zischte gegen die Wand. Die Wirkung des Kontrasts war so krass, dass ich einfach draufhielt. Erst Cedrics Stimme holte mich wieder aus meiner Schockstarre.
 

„Halt, halt! Nicht auf einer Stelle bleiben. Gleichmäßig auftragen, sonst tropft es.“

 

Ich sah die Farbnase, die von meinem lila Fleck anfing nach unten zu laufen. Schon wieder der Fehler, den ich ganz am Anfang gemacht hatte. Wie peinlich.
 

„Locker aus der Hüfte schießen, Cowboy. Du schaffst das.“

 

Ich grinste ein bisschen. Ob Cedric wusste, wie zweideutig seine Kommentare waren? Wie von selbst sah ich zu Leif rüber. Der hatte inzwischen mit dem Sprayen begonnen. Die Augen hinter der Schutzbrille auf die Wand gerichtet. Voll konzentriert. Er lächelte. Vielleicht wegen etwas, das Tobias gesagt hatte.
 

„Hallo? Erde an Manuel?“

 

Ich blinzelte und drehte mich zu Cedric herum. Der grinste ein bisschen.

 

„Bereit?“

 

Am liebsten hätte ich Nein gesagt. Aber Kneifen galt nicht. Ich musste da jetzt durch. Zumal ich noch zu Leifs Bild kommen wollte. Ich wollte es auf die Wand malen. Für ihn.

 

„Klar“, meinte ich und schob meine Maske zurecht. „Ich bin immer bereit.“

 

„Dann mal los. Mach sie fertig.“

 

Noch einmal hob ich die Spraydose. Das hier würde vielleicht kein Picasso werden, aber es war mein Bild. Und irgendwann würde mal ein Typ so wie ich hier stehen und denken: „Krasser Scheiß, den der da fabriziert hat.“
 

Mit diesem Gedanken drückte ich auf den Knopf.

 

 

 

„Oh man, der Scheiß geht echt nicht ab, oder?“

 

Jason besah sich seine Hände, die mit orangen und braunen Farbsprenkeln bedeckt waren. Erfolglos schrubbte er daran herum, während der Rest von uns sich noch aus den Anzügen schälte.

 

„Ich hab gesagt, dass du Handschuhe anziehen sollst“, frotzelte Dennis.
 

„Nä, ich krieg das schon ab.“
 

Jasons wilde Wasserpatscherei wurde von Tobias und Cedric unterbrochen, die mit Kisten voller Farbdosen in die Küche kamen. Als Cedric sah, wie Jason sich um saubere Pfoten bemühte, lachte er.
 

„Das kannst du vergessen. Die Farbe ist wasserfest. Nimm Nagellackentferner oder Terpentin. Ansonsten kriegst du das nicht ab.“

 

Jason macht ein jämmerliches Geräusch.
 

„Ach Scheiße!“

 

Tobias lachte.
 

„Ich hol gleich mal die Waschpaste aus der Werkstatt, wenn ich Cedric rausgebracht habe. Damit sollte das abgehen. Bis dahin solltet ihr nochmal ein bisschen raus an die frische Luft gehen zum Ausdünsten.“
 

Er schnappte sich wieder eine der Einkaufskisten und den Schlüssel und verschwand mit Cedric in Richtung Flur. Thomas scheuchte uns derweil nach draußen, bevor er rüber ins Büro ging.

 

Leif und ich waren die letzten, die auf die Terrasse traten. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen. Leif trat neben mich. Er sah mich nicht an.
 

„Hab deine Taube gesehen“, sagte ich irgendwann. „Sah gut aus.“

 

Gut war für den graubraunen Farbfleck vielleicht übertrieben, aber man konnte erkennen, wo er hinwollte. Mein „Wurm“ dagegen sah schon ziemlich nach Tier aus. Die Farbkombi war auch krass. Krasser als ich gedacht hatte. Mit Cedrics Tipps war es fast wie von selbst gegangen. Es fehlten nur noch ein paar Details.

 

„Mhm“, machte Leif nur. Ich konnte ihn atmen hören.
 

„Wenn meins fertig ist, mach ich noch die Katze.“

 

Ich hatte ihn eigentlich damit überraschen wollen, aber irgendwie wollte ich jetzt, dass er es wusste.
 

„Ach ja? Ich dachte, du hast es dir anders überlegt.“

 

Ich verzog das Gesicht.

 

„Quatsch. Cedric hat nur gemeint … na ja. Dass ich mein eigenes Ding machen sollte. Aber die Katze ist was ganz besonderes. Die will ich unbedingt auch noch sprühen.“

 

Ich sah jetzt doch zu Leif rüber. Er erwiderte meinen Blick, ein winziges Lächeln im Gesicht. Ich hätte ihn so gerne geküsst.

 

„Erzählst du mir, was heute Mittag los war?“

 

Das Lächeln verschwand. Er blies die Backen auf.
 

„Ja klar.“

 

Leif ging rüber zu den Gartenstühlen und ließ sich auf einen von ihnen fallen. Ich folgte ihm. Seit langem hatte ich mal wieder das Bedürfnis, eine zu rauchen.
 

„Also?“, fragte ich, als er nach einer Weile immer noch stumm da saß. Er schnaufte. Ich setzte mich. Erst dann begann er zu sprechen.
 

„Tobias hat mir erzählt, dass Herr Steiner … dass er kurz davor ist, mich in eine Klinik zu schicken. Er ist der Meinung, dass ich hier in Thielensee nicht richtig aufgehoben bin. Dass ich mehr … Hilfe brauche.“

 

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Das konnten die doch nicht machen.
 

„Ich hab gesagt, dass ich hier nicht weg will, und Tobias hat gemeint, dass ich dann essen muss. Mehr essen und das ganz dringend. Ich muss das verlorene Gewicht wieder zulegen. Am besten noch mehr. Nur dann lässt Herr Steiner mich bleiben.“

 

Leif hob den Kopf und sah mich an. Er sah traurig aus.
 

„Ich will hier nicht weg.“

 

In dem Moment war es mir egal, ob uns jemand sehen konnte. Egal, ob es wer mitbekam. Ich legte den Arm um Leif und zog ihn an mich. Mir war, als würde ich seinen Herzschlag gegen seine Rippen klopfen hören. Seine Haare kitzelten mein Gesicht.
 

„Wir schaffen das. Du kannst doch … ich mein … kannst du nicht einfach mehr essen?“

 

Leif lachte leise.
 

„Ich wünschte, ich könnte es.“

 

Ich ließ ihn los und sah ihn an.
 

„Aber warum denn nicht? Heute Mittag hast du doch auch gegessen. Einen ganzen Teller voll.“

 

Bei der Erwähnung der Spaghetti wurde Leifs Gesicht verschlossen. Er drehte sich von mir weg und sah in den Garten hinaus. In meinem Hals saß plötzlich ein Kloß.
 

„Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“

 

Er lächelte schmal.

 

„Nein. Es ist nur … mir ging’s danach nicht gut. Deswegen ist Tobias auch bei mir geblieben. Damit ich das Essen bei mir behalte und nicht … na ja, du weißt schon.“

 

Ich runzelte die Stirn.
 

„Nee, ich weiß nicht.“

 

Er atmete angestrengt.
 

„Manchmal, wenn ich … zu viel gegessen habe, stecke ich mir den Finger in den Hals. Damit es wieder rauskommt.“

 

Ich zog die Nase kraus.
 

„Du kotzt? Mit Absicht?“

 

Leif nickte schwach.
 

„Nur selten. Meistens esse ich einfach nur so viel, wie ich aushalte. Aber das ist zu wenig, haben sie gesagt. Ich musste mehr essen, aber das fühlte sich schrecklich an. Deswegen musste ich eine andere Lösung finden. Also fing ich an zu erbrechen. Allerdings hat Tobias das ziemlich schnell spitzgekriegt. Seit dem arbeiten wir daran, dass es nicht mehr vorkommt. Es lief ne ganze Zeit lang gut, aber seit Neuestem … “

 

Leif hatte den Blick auf den Boden gerichtet. Seine Hände waren in seinem Sweatshirt verschwunden und er sah aus, als würde er sich jetzt gleich übergeben.

 

Ich atmete tief durch und sah weg. Das war es also. Und ich Idiot hatte es nicht verstanden. Aber warum?
 

„Warum dann heute Morgen?“, fragte ich, ohne ihn anzusehen. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Oder hätte ihm eine reingehauen. Weil er so ein verdammter Idiot war. Weil er sich kaputtmachte mit dem Scheiß. Und weil ich nichts dagegen tun konnte.

 

Es dauerte einen Augenblick bis Leif antwortete. Seine Worte schienen von weit weg zu kommen.
 

„Weil ich … weil ich mir was beweisen wollte. Vielleicht auch dir. Was im Grunde genommen dämlich ist, weil … egal. Zumindest hab ich gedacht, ich schaffe das mit dem Müsli. Aber nach den ersten Bissen hab ich gemerkt, dass es nicht geht. Ich hab das Gefühl nicht ausgehalten. Das Kauen und wie es dabei immer mehr wurde im Mund. Wie es aufquoll und wuchs. Die Vorstellung, das in meinem Bauch zu haben war auf einmal voll der Horror. Wie ein Alien. Ich hab Herzrasen gekriegt. Alles an mir hat geschrien, dass ich es ausspucken muss. Aber dann wäre Dennis bestimmt ausgerastet. Die anderen hätten dumme Sprüche gemacht. Du wärst sauer gewesen. Also hab ich weitergemacht. Aber irgendwann …“

 

Er brach ab und ich schwieg. Was er da erzählte, war totaler Schwachsinn. Von den drei Löffeln, die er gegessen hatte, wäre nicht mal ein Baby satt geworden.
 

„Warum hast du es mir nicht gesagt?“

 

Dass ich die Frage tatsächlich laut ausgesprochen hatte, wurde mir erst bewusst, als Leif antwortete.
 

„Es war mir peinlich. Ich hatte Angst, dass du … dass du mich eklig findest.“

 

Ich drehte den Kopf zu ihm rüber. Er war in seinem Stuhl nach unten gerutscht. Fast so, als wollte er sich einfach in Luft auflösen.

 

Was passieren könnte, wenn er nicht bald mehr isst.

 

Vielleicht sollte ich langsam mal was sagen.
 

„Ich finde dich nicht eklig.“

 

Leif schielte von unten zu mir hoch. Ich lächelte leicht.
 

„Und das nächste Mal, wenn du dein Müsli nicht gegessen kriegst, dann … dann sag einfach Bescheid. Dann schütte ich das Zeug heimlich weg oder so.“
 

Ein winziges Lächeln erschien auf Leifs Gesicht. Nicht zu vergleichen mit dem von heute Nachmittag, aber es war ein Anfang.

 

„Eigentlich soll ich keine Lebensmittel meiden. Das ist ein Teil der Krankheit.“

 

Ich stöhnte genervt auf.
 

„Aber wenn du sie nicht drin behältst, hilft das auch keinem.“

 

Er lachte und senkte den Kopf.
 

„Hast du auch wieder recht.“

„Klar. Ich bin ja auch voll der Checker.“

 

Ich grinste und auch Leif lächelte wieder. Er schob seine Hand zu mir rüber. Ganz langsam und vorsichtig. Und ich ergriff sie. Mehr ging grad nicht, aber ich wollte, dass er wusste, dass ich da war, wenn er mich brauchte.
 

„Hey, ich hab die … Paste gefunden.“

 

Tobias war auf der Bildfläche erschienen. Sofort ließen Leif und ich uns los, aber es war zu spät. Tobias hatte es gesehen. Seine linke Augenbraue wanderte nach oben. Ich sprang auf.
 

„Oh gut! Her damit!“, rief ich und schnappte mir die Tube, die Tobias in den Händen hielt. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, aber ich drehte mich nicht um. Stattdessen flüchtete ich nach drinnen. Ich steuerte das Waschbecken in der Küche an, drehte das Wasser volle Pulle auf und schraubte den Deckel der gelben Tube ab. Das Zeug war weiß und roch penetrant nach Zitrone. Außerdem waren irgendwelche harten Krümel da drin, die meine Haut aufrieben, während ich mir damit die Farbe abschrubbte. Hinter mir hörte ich Schritte.
 

„Manuel?“
 

„Bin gleich fertig“, gab ich zurück. Ich hatte keine Lust, mit Tobias zu reden. So gar nicht. Er lehnte sich neben mir gegen die Anrichte.
 

„Willst du mir vielleicht was erzählen?“

„Nö.“

 

Ich schrubbte weiter.

 

„Sicher?“

„Ja.“

„Absolut sicher?“

 

Ich hörte auf zu schrubben und funkelte ihn wütend an.
 

„Warum stehe ich eigentlich hier auf der Anklagebank. Du könntest genauso gut Leif ausquetschen.“

 

Tobias schob die Augenbrauen nach oben.
 

„Wäre dir das wirklich lieber?“

 

Ich holte tief Luft und wandte mich wieder meinen Händen zu. Die Paste hatte mittlerweile alle Farbreste beseitigt. Ich brauchte sie nur noch abzuspülen.
 

„Nein“, murmelte ich und hielt meine Hände unter den Wasserstrahl. „Der hatte heute schon genug Stress.“

 

„Also hat er dir erzählt, was los ist?“

„Ja.“

 

Die Seife war mittlerweile abgespült. Ich ließ das Wasser trotzdem noch weiter laufen, bis Tobias mich irgendwann fragte:
 

„Meinst du nicht, dass es langsam reicht?“

 

Ich nickte und drehte das Wasser ab. In der anschließenden Stille hätte man die berühmte Nadel im Heuhaufen zu Boden fallen hören können. Ich griff nach dem Abwaschtuch. Trocknete mir die Hände ab. Danach legte ich es sorgfältig zusammen. Doch erst, als ich es genau am Rand der Arbeitsfläche ausgerichtet hatte, blickte ich auf. Tobias sah mich freundlich an. Das überraschte mich irgendwie.
 

„Bist du gar nicht wütend?“

 

Er lächelte.
 

„Warum sollte ich wütend sein?“

 

Ich zuckte mit den Schultern.
 

„Weißt nicht. Vielleicht weil wir nichts gesagt haben.“

 

Tobias’ Lächeln wurde amüsierter. Ich runzelte die Stirn.
 

Was?
 

Er lachte.
 

„Ich find’s nur witzig, dass du ohne mit der Wimper zu zucken alles Mögliche ausfrisst, aber wenn ich dich beim Händchenhalten erwische, ist dir das peinlich.“

 

Er lachte noch einmal, bevor er wieder ernst wurde.
 

„Außerdem haben wir schon länger den Verdacht, dass bei euch beiden was im Busch ist. Wir waren uns nur nicht sicher, was. Hätte ja auch sein können, dass ihr irgendwelchen Mist ausheckt. Von daher bin ich froh, dass es nur das ist.“

 

Ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben zogen. Ich zwang sie unten zu bleiben.

 

„Was hast du denn gedacht, was wir machen? Klebstoff schnüffeln und uns heimlich mit Bleistiften Tattoos stechen?“

 

Tobias lachte auf.
 

„Keine Ahnung. Henning hat nur gemeint, dass ihr manchmal nachts über den Flur schleicht. Ich würde sagen, jetzt wissen wir, warum.“

 

Als ich nichts darauf erwiderte, stupste Tobias mich an.
 

„Hey, ich war auch mal 16.“

 

Ich schnaubte.

 

„Das ist aber schon ne ganze Weile her.“

„Übertreib’s nicht, mein Lieber.“

 

Tobias lächelte, dann seufzte er.

 

„Trotzdem müssen wir nochmal darüber sprechen. Denn auch wenn nicht wirklich was dagegen spricht, dass ihr … Zeit miteinander verbringt, haben wir trotzdem eine Hausordnung, an die ihr euch halten müsst.“

 

Ich knurrte. Das blöde Ding hatte ich schon zweimal abschreiben müssen.
 

„Ja, und?“

„Keine nächtlichen Besuche mehr. Auch nicht während der Mittagspause. Haben wir uns da verstanden? Diese Zeiten sind dafür gedacht, dass ihr euch in euren Zimmern beziehungsweise euren Betten befindet. Alleine.“

 

Ich grunzte unwirsch. Wann sollten wir uns denn da sehen? Etwa, wenn jederzeit jemand zur Kontrolle reinschneien konnte?
 

„Ich weiß, dass dir das nicht passt. Aber so sind die Regeln. Und die gelten für alle.“
 

„Jaja“, murmelte ich. Die Scheißregeln konnten mich mal.

 

„Und ich will euch keine Vorschriften machen, aber ich würde an eurer Stelle aufpassen, dass die anderen nichts davon mitbekommen.“

 

Ich hörte genau, dass es Tobias nicht leicht fiel, das zu sagen. Trotzdem fuhr ich ihn an.

 

„Wir sollen es also geheim halten. Als wäre es was Verbotenes?“

 

Tobias seufzte.
 

„Natürlich ist es nichts Verbotenes. Aber wenn die anderen was davon mitkriegen, kann uns das die ganze Gruppe sprengen. Hier gibt es sowieso schon genug Spannungen. Und wenn Herr Steiner davon erfährt, kann es sein, dass er euch trennt.“

 

Ich schnaubte.
 

„Der will Leif doch eh abschieben.“

 

Als Tobias mich fragend ansah, stieß ich mich vom Schrank ab. Ich trat ans Fenster. Leif saß nicht mehr draußen auf der Terrasse. Ich runzelte die Stirn. Wo war er hin?

 

„Leif ist weg.“

 

Meine Stimme klang alarmierter, als ich gewollt hatte. Auch Tobias war sofort in Habachtstellung. Er eilte zur Tür.
 

„Leif? LEIF? Scheiße!“

 

Tobias schlug mit der flachen Hand gegen den Türrahmen.

 

„Du bleibst hier, klar?“

 

Damit rannte er nach draußen. Ich wusste, wo er hinwollte. Ohne lange zu überlegen, folgte ich ihm.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryosae
2021-11-02T11:55:34+00:00 02.11.2021 12:55
Hey Mag,
die armen Mäuse. Kaum eine Sache überstanden kommt die nächste. Wenigstens wissen wir nun wirklich was Sache ist. Schlimm, dass es bei Leif so weit kommen musste, aber seine Eltern werden ihren Anteil daran haben..

Irgendwie finde ich es toll, dass Tobias nun Bescheid weiß und so cool reagiert. Spricht wieder für ihn. ;)

Wo zur Hölle ist er jetzt hin?! Dieser Kerl ^^"

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
02.11.2021 14:08
HEy Ryosae!

Du riechst wohl, wenn ich das neue Kapitel fast fertig habe. :D

Jaa, wo ist Leif hin. Eine Frage, die sich hoffentlich bald klärt und auch, warum er abgehauen ist.

Wenn es nur Tobias gäbe, hätten wir sicherlich kein Problem. Leider ist er ja nicht der einzige Betreuer und andere werden vielleicht nicht so leicht zu überzeugen sein. Aber wir werden sehen. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2021-10-27T13:59:04+00:00 27.10.2021 15:59
Also doch weiter quälen - es ist wirklich eine Achterbahnfahrt mit den beiden. Es ist cool, dass Tobias so entspannt reagiert hat auf seine Entdeckung, aber dass Leif alleine sitzen gelassen wurde ... das muss ein richtig mieses Gefühl gewesen sein. Kein Wunder, dass er verschwunden ist. Ich vermute ja, dass sie zu dem Baum wollen - und ich hoffe, dass sie es auf die Reihe bekommen. Sowohl Leifs Essstörung als auch alles andere. Aber wie sich Tobias das vorstellt, dass sie ihre Beziehung gegenüber den anderen Jungs weiter geheim halten sollen und gleichzeitig eigentlich keine Gelegenheit für Zweisamkeit haben, wenn die (wohl nicht ganz so heimlichen) Treffen weg fallen - keine Ahnung.
Antwort von:  Maginisha
27.10.2021 19:30
Hey chaos-kao!

Würde es helfen, wenn ich sage, dass das NICHT meine Idee war. Ich war auch ganz überrascht von der Entwicklung. Im Nachhinein habe ich es natürlich verstanden, warum das passiert ist, aber erst mal habe ich auch ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut.

Was das hinkriegen angeht, drücken wir ihnen einfach mal ganz feste die Daumen. Deine Bedenken bezüglich Heimlichkeit teile ich etwas, aber dazu müssen sie Leif wohl erst einmal wiederfinden.

Zauberhafte Grüße
Mag


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