Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 19: Die halbe Wahrheit ------------------------------ Leifs Lippen schmiegten sich an meine. Groß, warm und voll. So ganz anders als der Rest von ihm. Ich hätte ihn ewig küssen können. Zart, leidenschaftlich, mit nur einem Hauch von Zunge. Immer wieder berührten wir uns, lösten uns kaum voneinander, nur um dann wieder aufeinanderzutreffen. Mit geschlossenen Augen lag er unter mir. Ich spürte die Konturen seines Körpers. Seine Hände auf meinem Rücken, sein Becken an meiner Hüfte. Ich roch die Reste seines Shampoos, schmeckte das Salz auf seiner Haut. Die feinen Stoppeln, die meine Lippen kitzelten, als ich seinen Hals entlang küsste. Er bot mir seine Kehle dar. Ich streichelte sie, fuhr mit der Zunge darüber, leckte und saugte. Er lachte leise. „Hey! Keine Knutschflecke!“ Ich grinste. „Nicht? Vielleicht da, wo es nicht so auffällt?“ Er antwortete nicht, sondern blieb nur still liegen. Die Augen nur noch halb geschlossen. Ich lächelte. „Willst du das nicht ausziehen?“, fragte ich und zupfte an seinem Shirt. Als er nicht reagierte, schob ich meine Hand unter den Stoff. Eine Gänsehaut huschte über seinen Oberkörper. Ich sah es, fühlte es. Die feinen Erhebungen und das leichte Zittern. Und ich wollte immer noch mehr. Mehr von ihm. „Na schön, dann fang ich halt an.“ Ich richtete mich auf, schwang mich über ihn und drückte ihn gleichzeitig tiefer in die Matratze. Er beobachtete mich, während ich Stück für Stück mein Shirt nach oben zog, die Zunge zwischen den leicht geöffneten Lippen spielend, den Blick direkt auf sein Gesicht gerichtet. Ich konnte sehen, wie seine Pupillen sich erweiterten, seine Wangen sich röteten. „Hör nicht auf“, flüsterte er und ich wurde mir bewusst, dass er sich unter mir bewegte. Ganz leicht nur, doch sicherlich genug, um das richtige Gefühl an der richtigen Stelle zu erzeugen. Lächelnd ließ ich mich ein Stück nach unten sinken und erwiderte die Bewegung. Ein ersticktes Keuchen entkam ihm. Er war eben so hart wie ich. Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu meinem Bauch und noch tiefer. Seine Nasenflügel bebten. Er nahm die Hand von meinem Oberschenkel und legte sie zwischen meine Beine. Rieb mich durch den Stoff. Auch meine Atmung beschleunigte sich. Das Blut pulsierte in meinen Adern. Ich schenkte ihm noch einen letzten Blick, bevor ich das Shirt über den Kopf zog und es achtlos in eine Ecke warf. Auffordernd sah ich ihn an. „Na los, du bist dran.“ Noch einmal zögerte er, bevor er sich aufrichtete und mit den Händen Halt an meinem Hintern suchte. Die Art, wie er zu mir hochblickte, jagte einen Schauer über meinen Rücken. Es war so wahnsinnig sexy. „Ausziehen“, forderte ich noch einmal. Er kam meiner Bitte nach. Mit einer schnellen Bewegung streifte er den störenden Stoff von seinem Oberkörper. Mein Blick glitt über das Mehr an nackter Haut. Beeindruckend. „Und jetzt?“ „Komm her.“ Seine Lippen berührten meinen Bauch. Küssten ihn. Zunächst sanft, dann fester. Eine feuchte Zunge malte schlängelnde Muster auf meine Haut und glitt dabei immer weiter nach unten. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Immerhin wusste ich genau, wo das hinführen würde. Ich hielt auch die Hand nicht auf, die sich zielstrebig am Knopf meiner Jeans zu schaffen machte. Ihn öffnete. Ich spürte Leif grinsen. „Keine Unterwäsche?“, fragte er feixend und öffnete den Reißverschluss ein Stück weit. Seine Lippen streiften federleicht die freigelegte Haut. Nah und doch nicht nah genug. „Kennst mich doch“, erwiderte ich grinsend und unterdrückte ein Zischen. Seine Fingerspitzen hatten sich unter den Stoff geschoben und berührten mich. Nur ganz zart. Viel zu zart. Ich brauchte mehr. „Hör nicht auf“, wisperte ich. Mein Tonfall eine perfekte Imitation seines eigenen. Leifs Blick glitt nach oben, seine Hand in meine Hose. Ich hielt die Luft an. „So?“, fragte er und umfasste mich. „Ja. Genau so.“ Er bewegte seine Finger. Sanft und doch kraftvoll. Die perfekte Mischung. So unheimlich perfekt. Auch jetzt, als er meine Hose noch ein wenig weiter nach unten streifte. Mich endlich befreite. Der Anblick raubte mir den Atem. Die Art, wie er mich ansah. Mein Schwanz direkt neben seinem Gesicht. „Du fühlst dich gut an.“ Immer noch streichelte er mich. Wichste mich. Ganz langsam. Mit Gefühl. „Du auch“, hauchte ich. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu schließen. Ich wollte nichts verpassen. Er leckte sich über die Lippen. „Soll ich?“, fragte er. Ließ den Mund ein wenig geöffnet. Ich wollte sterben. „Wenn du möchtest“, bekam ich irgendwie heraus. Er lächelte wieder. „Und wenn ich nicht will?“ Ich biss mir auf die Lippen, als er mit dem Daumen über die Unterseite strich. Bis zur Spitze. Es war Folter. „Dann … dann müsste ich … oh fuck … dann müsste ich wohl damit leben.“ Er lachte leicht. Im nächsten Moment schlossen sich seine Lippen um mich. Ich seufzte. Aus Erleichterung. Und weil es sich so gut anfühlte. So unheimlich gut. Ich bemühte mich, leise zu sein. Meine Finger krallten sich an der Wand fest, während ich versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Meine andere Hand lag auf Leifs Kopf. Berührte ihn. Streichelte ihn. Ich hielt ihn nicht fest. Ich wollte nur … bei ihm sein. Der Höhepunkt kam schneller, als mir lieb war. Und doch fieberte ich ihm entgegen. Ich wollte jetzt kommen. Ich musste. Ich brauchte es. „Warte! Stopp!“, warnte ich flüsternd, aber Leif hörte nicht auf. Er sah nur zu mir hoch, während seine Lippen mich weiter festhielten und er die Geschwindigkeit noch einmal erhöhte. Den Sog. Den Druck. Ich konnte es nicht mehr aufhalten. „Fuck! Leif!“ Ich schloss die Augen. Ich kam. All mein Gefühl konzentriert auf diesen einen Punkt. Ich keuchte, stöhnte. Kam. Wieder und wieder. Bis es endlich vorbei war. Bis ich endlich zusammenbrach. Meine Beine zitterten, mein Mund war trocken wie Sandpapier. Die Geräusche kehrten zurück, die Gerüche, Formen und Farben. Das Gefühl von Leifs Mund, der mich entließ. Der Anblick des geschlossenen Fensters. Mein rasselnder Atem. Sein Schlucken. Er hatte geschluckt! „Du bist verrückt“, brachte ich irgendwie heraus. Er sah immer noch zu mir hoch. Lächelnd. „Gern geschehen.“ Für einen Augenblick wusste ich nicht, was ich sagen oder tun sollte. Dann aber beugte ich mich zu ihm und küsste ihn. Tief und lange. Irgendwann musste ich aufhören, um wieder zu atmen. Er sah mich fragend an. „Ich dachte, du magst das nicht.“ Meine Lippen streichelten seine. „Manchmal ist es okay.“ Wieder küsste ich ihn. „Soll ich jetzt?“ „Wenn du möchtest.“ Ich grinste. „Klar.“ Ich schob Leif auf mein Kissen und küsste ihn noch einmal tief und ausgiebig, bevor ich begann, mir meinen Weg an seinem Körper entlang nach unten zu bahnen. Er erwartete mich, so wie ich ihn erwartet hatte. Und er beobachtete mich dabei, so wie ich ihn beobachtet hatte. Immer wieder sahen wir uns an. „Du musst nicht“, sagte er irgendwann, als sein Atem bereits so schnell war, dass ich wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Ich lächelte nur und machte weiter. Genau wie er. Bis zum Schluss. Er kam in meinem Mund. Ich fühlte das Zucken. Ich schmeckte, roch und hörte seine Lust. Das heisere Keuchen, das tiefe Luftholen, das erleichterte Ausatmen. Und ich schluckte. Alles. Und es war okay. Vollkommen okay. Als ich mich erhob, sah Leif mich an. Er lag da, halbnackt auf meinem Kissen, die Haare feucht und verschwitzt. Vollkommen fertig. Überwältigt. Und verunsichert. Zögernd legte ich mich neben ihn. Ich richtete den Blick auf seinen Brustkorb, der sich unter seinen schnellen Atemzügen hob und senkte. Eine Hand streifte mein Haar. „Danke“, wisperte er. Ich reagierte nicht darauf. Alles, was ich hätte sagen können, wäre dumm gewesen. Ein blöder Spruch nach dem anderen. Der Griff um mich verstärkte sich. Leif zog mich an sich und ich lehnte mich nach vorn, aber ich ließ mich nicht fallen. Dafür ging mir zu viel durch den Kopf. Zu viel, was ich nicht in Worte fassen konnte. Oder wollte. Mein Herz machte merkwürdige Mätzchen. „War es wirklich so schlimm?“ Die Sorge, die in Leifs Stimme mitschwang, ließ mich aufblicken. Ich lächelte halb. „Nein, nicht wirklich. Es ist nur …“ Wieder brach ich ab. Es wäre albern gewesen, es auszusprechen. Ich war albern. Und dumm. „Wir sollten vielleicht …“ Auch diesen Satz brachte ich nicht zu Ende. Leif wusste, was ich meinte. Er atmete hörbar ein. „Ja, du hast recht. Es wird Zeit.“ Er zog sich an und auch ich schloss meine Hose wieder. Klaubte mein T-Shirt vom Fußboden. Routiniert. Als wäre gar nichts passiert. Erst, als wir fertig waren, sahen wir uns wieder an. „Ich … ich muss dann mal wieder rüber.“ „Ja.“ „Wir sehen uns nachher.“ Er drehte sich um, um zu gehen. „Leif!“ Mit zwei schnellen Schritten war ich bei ihm. Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und küsste ihn. Legte alles, was ich nicht gesagt hatte, in diesen Kuss und hoffte, dass er mich verstand. Seine Arme schlossen sich um mich. Hielten mich, so wie ich ihn hätte halten sollen. Es war so erbärmlich. „Ich bin froh, dass du gekommen bist.“ Mehr konnte ich nicht sagen. „Ich auch.“ Seine Stimme war leise. Nur ein Flüstern. Ich sah ihn an. „Kommst du heute Nacht nochmal her?“ Er lächelte. Ein bisschen erstaunt vielleicht, aber nur ein bisschen. „Wieso? Willst du eine zweite Runde?“ Ich grinste. Das war einfach. „Warum nicht? Wenn du noch Klebeband hast.“ Er lachte. „Ja, habe ich. Noch fast eine ganze Rolle.“ Für einen Moment schwiegen wir. Jetzt, da die Spannung zwischen uns abgebaut war, kam die Erinnerung an das wieder hoch, was davor gewesen war. Auch Leif musste daran denken. Ich konnte es sehen. „Vielleicht reden wir dann ja auch?“ „Ja, vielleicht tun wir das.“ Er griff nach der Türklinke. Zögerte. Sah mich an. „Wäre es dir lieber, wenn er hier wäre?“ Die Frage traf mich völlig unvorbereitet. Wie kam er denn auf die Idee? „Nein, überhaupt nicht“, sagte ich schnell. Ich meinte es so. Das Lächeln kehrte in Leifs Gesicht zurück. „Gut, dann … dann geh ich jetzt mal.“ „Ja, tu das. Und pass auf, dass dich keiner erwischt.“ Er grinste und lehnte sich noch einmal kurz vor, um mit seinen Lippen meinen Mund zu streifen, bevor er sich endlich nach draußen schob. Ich blieb zurück und konnte hören, wie Leif es gerade noch schaffte in sein Zimmer zu kommen. Im nächsten Moment wurde Svens Tür nebenan aufgerissen und er kam herausgepoltert. Als er mich sah, schnaubte er. „Sei beim Wichsen nächstes Mal gefälligst leiser. Das Gestöhne hält ja kein Mensch aus.“ Ich grinste und streckte ihm den Mittelfinger hin, was er ebenso erwiderte. In der Beziehung war auf Sven absolut Verlass. Wie gut, dass wenigstens einige Dinge blieben, wie sie waren. Cedric tauchte auf, während wir noch beim Kaffee saßen. Er und Tobias begrüßten sich wieder überschwänglich, als hätten sie sich drei Jahre nicht gesehen. Worüber sie redeten, konnte ich nicht verstehen. Ich tauschte einen Blick mit Leif. „Die haben sich aber doll lieb“, tuschelte ich und er grinste nur als Antwort. Viel Zeit zum Lästern blieb uns jedoch nicht, denn Cedric hatte einen ganzen Kasten mit Farbdosen mitgebracht. Damit gingen wir nach dem Essen nach draußen. „Also, dann spitzt mal die Ohren. Normalerweise würde ich jetzt mit euch ja noch eine ganze Ecke Theorie zum Motivaufbau und so weiter machen. Da heute aber das Wetter gut zu werden verspricht, werden wir uns heute schon mal an eine Wand machen. Dadurch bekommt ihr ein Gefühl dafür, was machbar ist und welche Schwierigkeiten auf euch zukommen können. Probieren geht immerhin über studieren.“ Er griff sich eine der Farbdose und hielt sie in die Höhe. „Also die Dosen, die wir verwenden, sind andere als die, die ihr im Baumarkt bekommt. Es sind Künstlerfarben, die speziell für diesen Zweck entwickelt wurden. Ich will euch auch hier nicht mit den Hintergründen langweilen, aber wer es mal versucht hat, wird den Unterschied merken. Es gibt zudem Dosen mit verschiedenem Innendruck. Großer Druck für viel Farbauftrag bei großen Flächen, geringerer Druck für Feinarbeiten.“ Er stellte die Dose ab und griff nach einigen Plastikzylindern. „Das nächste wichtige Teil der Dose ist das Cap. Das ist das Ventil, das den Farbauftrag reguliert. In der Regel kauft ihr die Dosen mit einem Standard-Cap. Es gibt allerdings auch noch Fat Caps für einen breiten Farbauftrag bis hin zu den Skinny Caps mit kleinen Löchern, die jedoch auch schnell verstopfen. Es gibt dann noch eine ganze Reihe Spezial-Caps, um die wir uns aber erst mal nicht kümmern müssen. Wichtiger ist der grundlegende Umgang mit der Dose.“ Wieder nahm Cedric eine der Dosen zur Hand. Er schüttelte sie und das charakteristische Klackern ertönte. „Das Wichtigste ist zunächst einmal das Schütteln vor der Benutzung. Dadurch werden Farbpartikel, Lösungsmittel und Treibgas im Inneren mit Hilfe einer Metallkugel vermischt. Ihr müsst außerdem die Windrichtung mit einberechnen. Also seht zu, dass ihr die Wand und nicht euch einnebelt. Außerdem dürft ihr nicht zu nah rangehen, weil sonst …“ Ein Klingeln zog meine Aufmerksamkeit weg von Cedrics Ausführungen und hin zu Tobias’ Telefon, dass dieser aus seiner Hosentasche fischte. Als er den Anrufer auf dem Display erkannte, entfernte er sich ein Stück von der Gruppe. „Ritter?“, hörte ich ihn sagen. Dabei machte er ein ernstes Gesicht. Er lauschte und nickte, bevor sein Blick sich auf mich richtete. „Ja, Moment, er ist da. Ich gebe ihn Ihnen.“ Mein Hals wurde eng. „Manuel, kommst du mal? Das ist Frau Täubert. Sie möchte dich sprechen.“ Er reichte mir das Handy und ich nahm es mit klopfendem Herzen entgegen. Tobias nickte mir zu und wies in Richtung Haus. Ich atmete tief durch und lief los, während ich gleichzeitig das Handy ans Ohr hielt. „Ja?“ „Manuel? Bist du es?“ „Ja.“ „Hier ist Täubert. Vom Jugendamt. Du erinnerst dich?“ „Ja, natürlich. Hallo Frau Täubert.“ „Manuel, ich will es kurz machen. Der Antrag deiner Eltern auf Beendigung der Inobhutnahme wurde zur erneuten Prüfung zugelassen. In drei Wochen ist deswegen ein erneuter Anhörungstermin angesetzt. Ich rufe an, um dich zu fragen, ob du an diesem Termin teilnehmen möchtest oder nur eine schriftliche Stellungnahme einreichen.“ Ich hatte mittlerweile die Küche erreicht. Die anderen standen immer noch an der Wand und sahen Cedric dabei, wie er verschiedene Linien an die Wand malte. Leif stand am Rand der Gruppe und hörte aufmerksam zu. „Manuel?“ Frau Täuberts Stimme pikte in meinem Ohr. „Ja. Ja, ich komme.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja, bin ich. Ich will nicht wieder zurück. Und wenn da ein Richter oder irgendwer ist, der dafür sorgen kann, dann will ich es ihm selber sagen.“ Ich hörte Frau Täubert am anderen Ende lächeln. „Gut. Ich werde veranlassen, dass du deine Meinung kundgeben darfst. Am besten besprichst du mit Herrn Ritter, wie ihr am besten vorgeht. Wir schaffen das schon.“ „Ja, okay. Danke.“ Damit legte ich auf und ließ das Handy sinken. Sie versuchten es also tatsächlich schon wieder. Was für Idioten. Die waren sich auch für nichts zu schade. Und wenn sie es wieder schaffen? Wenn du hier weg musst? Ich schob den Gedanken weit von mir. Das würden sie nicht schaffen. Nicht dieses Mal. Nie wieder. Von draußen war Gejohle zu hören. Ich sah durch das Fenster und entdeckte Leif, der wohl als erster eine Dose in die Hand bekommen und tatsächlich einen Schriftzug fabriziert hatte. Die anderen klatschten Beifall. Er lächelte und gab die Farbdose an Sven weiter. Dabei sah er so glücklich aus, dass ich unwillkürlich auch lächeln musste. Ich hatte jedoch kaum damit angefangen, als ich an unsere Verabredung denken musste. An dieses Gespräch und das, worüber wir reden würden. Reden mussten. Scheiße! Mein Blick glitt zu dem Handy in meiner Hand. Es fühlte sich an, als hätte ich seit Ewigkeiten keines mehr gehabt. Aber es hatte da draußen auch niemanden gegeben, den ich hätte anrufen können. Jetzt jedoch … Bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, was ich da tat, hatte ich die Kontakte aufgerufen und scrollte durch die Liste. Ich stoppte, als ein bekannter Name auftauchte. Ob er mir helfen konnte? Das finde ich nur heraus, wenn ich ihn frage. Ich zögerte noch einen winzigen Augenblick, bevor ich auf den grünen Hörer drückte und die zugehörige Nummer wählte. Das Display wechselte in den Anrufmodus und dann klingelte es am anderen Ende. Nach dem dritten Mal nahm jemand ab. „Hier ist die psychotherapeutische Praxis Dr. Leiterer. Meine Sprechzeiten sind Montag bis Donnerstag …“ Ach fuck! Der Doc war nicht da. Ich wollte gerade auflegen, als jemand das Gespräch annahm. „Hallo? Herr Ritter? Entschuldigen Sie, ich war nicht schnell genug am Apparat.“ Ich schluckte. Natürlich dachte er jetzt, dass Tobias dran war. Immerhin hatte ich dessen Handy gekapert. „Hier … hier ist nicht … Ich bin’s. Manuel.“ „Manuel?“ Dr. Leiterer klang verwundert. „Ist etwas passiert? Warum rufst du an?“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich zwang mich zu antworten. „Ich … es geht um diese Aufgabe, die Sie mir gegeben haben. Die mit dem Tagebuch.“ „Hast du Schwierigkeiten damit? Das hätten wir doch am Dienstag besprechen können.“ Ich schluckte. „Nein, ich … ich hab die Liste geschrieben. Es ist nur, dass … Leif hat sie gesehen.“ Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende. „Und wie war das für dich?“, fragte Dr. Leiterer dann. Ich lachte leicht. „Na scheiße. Das wussten Sie doch vorher schon. War das nicht der Sinn der Übung?“ Jetzt war es Dr. Leiterer, der lachte. „Auch. Wobei ich natürlich nicht wusste, dass wirklich jemand die Liste zu Gesicht bekommen würde. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich zu fragen, wie es sich anfühlen würde, wenn jemand das täte. Die reale Erfahrung ist natürlich eindringlicher.“ Ich verzog den Mund. „Ja. War sie. Danke nochmal.“ Eigentlich hätte ich jetzt wohl auflegen müssen. Immerhin hätte ich den Doc gar nicht anrufen dürfen. Aber irgendwie … „Manuel?“ „Mhm?“ „Verrätst du mir, was auf der Liste stand?“ Ich schluckte. Das war es doch, warum ich angerufen hatte. Oder nicht? Weil ich darüber reden wollte. Noch einmal gab ich mir einen Ruck. „Es … es stehen Namen darauf. Von Betreuern. Mitbewohnern. So was halt.“ „Noch mehr?“ „Meine Familie. So wie ich sie kenne, werden Sie doch über die mit mir reden wollen. Dass ich wegen der einen Dachschaden habe und so.“ „Ich gebe zu, dass das auf meiner Liste stand.“ Ich lächelte und er wohl ebenfalls. Aber dann kam die Frage. Die, vor der ich mich gefürchtet hatte. „Steht noch etwas darauf?“ Ich antwortete nicht. Ich traute mich nicht. „Manuel? Bist du noch da?“ „Ja, bin ich. „Und?“ Ich räusperte mich. „Es steht noch ein Name drauf. Also eigentlich ist es nicht sein richtiger Name. Nur sein Spitzname. Er mochte ihn nie. Hat mir sogar mal einen geblasen, damit ich damit aufhöre, ihn so zu nennen. Ich hab’s trotzdem gemacht. Obwohl er echt gut war, aber …“ „Manuel …“ „Ja?“ „Welcher Name steht auf der Liste?“ Ich schloss die Augen. Mit dem Namen kamen Erinnerungen. Erinnerungen an laue Frühlingstage. Küsse. Starke Arme, die mich hielten. Ein Lachen, das nur mir galt. Augen, die mich ansahen. Warm und mit diesem Ausdruck darin. Dass man mir vertrauen konnte. Dass ich etwas Gutes war. Etwas, das er wollte. „Sein Name war Bambi. Also eigentlich Benedikt, aber … na ja. Das hab ich ja grad schon erzählt.“ „Ja, das hast du.“ Ich schluckte noch einmal. Da war etwas in meinem Hals, das da einfach nicht wegging. „Und warum hast du seinen Namen aufgeschrieben?“ Ich lachte leicht. „Tja, da kommen Sie ins Spiel. Sagen Sie es mir, Doc. Sie haben das doch studiert. Warum hab ich diesen verdammten Namen aufgeschrieben? Ich mein … Leif hat sich echt aufgeregt, als er ihn gesehen hat. Warum hab ich ihn auf die Liste gesetzt? Das war so dumm.“ „Nun, du wusstest ja nicht, dass Leif ihn lesen würde.“ Dr. Leiterer klang versöhnlich. Als wäre es nichts Schlimmes, was ich getan hatte. „Ja, aber … warum hab ich ihn dann aufgeschrieben?“ „Diese Frage kann ich dir nicht beantworten.“ Ein Fluch lag mir auf der Zunge und meine Finger schlossen sich um das Telefon. Ich hätte das blöde Ding am liebsten von mir geschmissen. Aber erstens hätte das nichts geholfen und zweitens hätte ich dann Tobias erklären müssen, warum sein Handy nur noch ein Haufen Schrott war. Das war es nicht wert. „Aber vielleicht findest du die Antwort ja selbst heraus, wenn du darüber nachdenkst.“ Ich zischte. „Das hab ich schon. Es ist nichts dabei rausgekommen. Ich meine, es ist vorbei. Ich werde ihn nie wiedersehen. Und selbst wenn, würde er wohl kaum mit mir sprechen wollen.“ Ich sah förmlich, wie Dr. Leiterer aufhorchte. „Ach nein? Warum das nicht?“ Ich zögerte. Sollte ich das jetzt echt erzählen? „Weil … weil ich mich ihm gegenüber wie ein Arsch benommen habe.“ „Weil du ihn bei diesem Spitznamen gerufen hast?“ Ich lachte wieder. Wenn es doch nur das gewesen wäre. „Nein, ich … ich bin einfach abgehauen. Ich hab gewusst, dass ich hierherkomme, aber ich hab ihm nichts gesagt. Hab ihn in dem Glauben gelassen, dass alles okay sei. Ich hab sogar …“ Ich brach ab. Diese Geschichte musste der Doc nun wirklich nicht hören. „Ja?“ Natürlich musste er nachfragen. „Nicht so wichtig.“ „Dir anscheinend schon.“ Ich blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen. „Ja. Schon irgendwie. Aber die Sache ist die, dass ich halt … ich weiß auch nicht. Ich hab’s vergeigt mit ihm. So richtig. Und er … er hatte das nicht verdient.“ „Und du? Hattest du es verdient?“ „Was?“ Dr. Leiterer lächelte. Ich konnte es durchs Telefon hören. Es war ein trauriges Lächeln. „Ob du es verdient hattest. Denn offenbar war die Beziehung zu diesem Benedikt dir wichtig.“ „Es war keine Beziehung.“ „Und was war es dann?“ Ich wollte sagen „nur Sex“, aber das stimmte nicht. Es war mehr gewesen und ich wusste es. „Ich weiß nicht, was es war“, wich ich der Frage aus. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, den Doc anzurufen. „Und wie fühlst du dich, wenn du jetzt an ihn denkst?“ Ich zuckte mit den Achseln. Als mir bewusst wurde, dass er das nicht sehen konnte, seufzte ich. „Es … es fühlt sich scheiße an“, gab ich zu. „Also nicht alles. Es gab auch gute Sachen, aber … wenn ich daran denke, was ich gemacht habe …“ „Dann?“ „Dann würd ich mir am liebsten selbst vor die Füße kotzen.“ Dr. Leiterer schwieg einen Moment. „Du hast also ein schlechtes Gewissen. „Ja.“ „Warum?“ Ich schnaubte spöttisch. „Ist das ihr Ernst? Ich meine, ich war bestimmt nicht so der tollste Typ, den die Welt zu bieten hat, aber … er mochte mich. Glaube ich. Und ich hab ihn einfach so abserviert. Das ist doch scheiße.“ „Du kannst also nachvollziehen, wie er sich gefühlt hat?“ „Ja!“ „Mhm.“ Für einen Moment schwieg der Doc. Schrieb der sich etwa schon wieder etwas auf? „Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht angenehm war, so im Stich gelassen zu werden. Aus heiterem Himmel. Ohne irgendeine Vorwarnung.“ Wollte der mich verarschen? „Ja, genau“, knurrte ich. „Reiben Sie noch Salz in die Wunde. Ich hab doch schon gesagt, dass ich mich wie ein Arsch verhalten habe. Was wollen Sie denn noch?“ „Die viel wichtigere Frage ist doch: Was willst du?“ Ich presste die Kiefer aufeinander. Am liebsten hätte ich aufgelegt. Aber ich hatte ihn angerufen. Weil ich etwas wollte. Einen Rat oder so. Was ich jetzt machen sollte. Und warum ich dauernd an Bambi denken musste. Immerhin konnte ich jetzt auch nichts mehr an der Sache ändern. Und inzwischen hatte er mich bestimmt eh schon abgehakt. Selbst wenn ich gekonnt hätte, ich hätte mich nicht mehr bei ihm gemeldet. Er hätte mir vermutlich eine reingehauen. Verdientermaßen wohlgemerkt, aber … Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Ich hörte ein Summen, das dem Geräusch folgte. Dr. Leiterer ergriff wieder das Wort. „Tja, Manuel, du hast es sicher gehört. Mein nächster Patient ist da. Ich muss auflegen.“ „Halt. Warten Sie! Doc! Was mache ich jetzt mit Leif?“ Dr. Leiterer seufzte. „Das kann ich dir nicht sagen. Es ist deine ganz persönliche Entscheidung. Aber wenn du mich fragst, solltest du in Erwägung ziehen, Leif bezüglich deiner Gefühle die Wahrheit zu sagen.“ „Meiner Gefühle?“ „Ja, genau. Das sind die Dinger, die sich dazu gebracht haben, mich anzurufen und nach einem dringenden Rat zu fragen, weil dein Mitbewohner eine Liste gelesen und darauf den Namen deines Exfreundes gelesen hat.“ „Er war nicht mein …“ „Manuel!“ Ich senkte den Kopf. „Ja, okay. Ist gut, Doc. Ich überleg’s mir.“ „Tu das. Und jetzt gib Herrn Ritter bitte sein Handy zurück. Er vermisst es sicher schon.“ Damit legte er auf und auch ich ließ meine Hand wieder sinken. Der Anruf hatte mir gleich mal Nullkommanull gebracht. Außer vielleicht Ärger mit Tobias, weil ich unerlaubterweise telefoniert hatte. Schnell rief ich die Anrufliste auf und löschte Dr. Leiterers Namen. Dann war wenigstens das Problem erst einmal vom Tisch. Und das andere? Was war nun mit Bambi? Und Leif? Und diesen Gefühlen, die ich angeblich hatte. Nicht nur angeblich. Du weißt es. „Scheiße!“ Ich rieb mir über die Augen und atmete tief durch. Natürlich wusste ich, was der Doc meinte, wenn er davon sprach, dass ich Leif die Wahrheit sagen sollte. Aber konnte ich das denn? Was, wenn ich es wieder vermasselte? Darin war ich ja schließlich ziemlich gut. Hatte man ja bei Bambi gesehen. Und auch bei Leif. Und wie sollte das überhaupt aussehen mit uns? Das war doch alles Schwachsinn. Ganz großer, gequirlter Schwachsinn. Aber irgendwas muss ich ihm sagen. Ich weiß nur noch nicht, was. Ich seufzte noch einmal. So langsam wurde es Zeit zurückzugehen, sonst würden sie mich noch suchen kommen. Ich war eh schon viel zu lange hier drin. Mit dem Handy in der Hand ging ich wieder hinaus in den Garten, wo die anderen noch wie wild am Sprühen waren. Als Tobias mich entdeckte, kam er zu mir rüber. „Was hat sie gewollt?“ „Wer?“ „Na, Frau Täubert.“ Ach ja. Mit der hatte ich ja auch noch telefoniert. Als wenn eine Scheiße allein nicht reichen würde. „Es gibt eine Anhörung mit meinen Eltern. Ich werde hingehen.“ Tobias blies die Backen auf. „Oh, das ist krass. Hat sie gesagt, wann der Termin ist?“ „In drei Wochen. Sie schickt dir alles zu, glaube ich.“ „Okay.“ Er sah mich an und machte ein komisches Gesicht. „Keine Angst. Wir kriegen das hin.“ „Klar.“ Tobias nahm sein Handy wieder entgegen und ich trollte mich und mischte mich unters Volk. Als ich sah, dass Leif mich beobachtete, grinste ich. „Na, alles schick hier?“ Er nickte. „Klar. Aber ich hab das mit deinen Eltern gehört. Warum eine Anhörung?“ Ich machte eine lässige Handbewegung. „Ach, die denken, sie können mich wieder zurückholen. Alles halb so wild“ Dass sie das schon einmal geschafft hatten, sagte ich natürlich nicht. Ich grinste nur. „Okay. Das klingt … gut.“ „Ja, oder?“ Ich schnappte mir eine der Farbdosen und schüttelte sie kräftig. „So, und jetzt zeig ich euch mal, wie der Meister das macht.“ Ich ging zur Wand, drückte auf den Farbknopf und malte einen großen, schwarzen Smiley an die Wand. Einer, der richtig fett grinste. Allerdings hatte ich wohl etwas viel Farbe genommen. Das Ding begann zu verlaufen. Schwarze Tropfen auf grauem Untergrund. Es sah aus, als würde er weinen. „Typischer Anfängerfehler“, sagte eine Stimme neben mir. Als ich aufblickte, stand dort Cedric. So dicht, dass ich ihn fast riechen konnte. „Soll ich dir mal zeigen, wie man es richtig macht?“, fragte er und deutete auf meine Schmiererei. Ich grinste. „Na klar. Lass sehen, was du drauf hast.“ Cedric lachte, griff nach der Dose und begann mir zu verklickern, was ich offenbar während meines Gesprächs verpasst hatte. Dass Leif mir währenddessen Löcher in den Rücken starrte, ignorierte ich geflissentlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)