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Ganz tief drin

von

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Umwege

Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Ich bemühte mich stillzuliegen, obwohl ich bestimmt schon seit einer halben Stunde wach war. Es folgte ein Klopfen, dann wurde die Tür aufgeschlossen und Henning streckte den Kopf herein.
 

„Manuel. Aufstehen.“

„Komme.“
 

Ich tat so, als würde ich mich gerade zum ersten Mal strecken. Er brummte zufrieden und ging weiter, um die anderen beiden zu wecken. Den Geräuschen nach zu urteilen war es Sven, der sich zuerst aus dem Bett quälte und in Richtung Bad tappte. Henning ging derweil rüber in den zweiten Trakt. Das war der Augenblick, auf den ich gewartet hatte. Ich sprang aus dem Bett, vergewisserte mich, dass die Luft rein war, und huschte dann auf leisen Sohlen zur Tür am anderen Ende des Flurs.
 

In Leifs Zimmer war es dunkel. Nur ein heller Streifen mit meinem Schatten darin dehnte sich bis zum Bett. Der Deckenberg, der sich gegen den Hintergrund abzeichnete, rührte sich nicht.
 

„Hey, Leif! Bist du wach?“
 

Keine Reaktion.
 

Scheiße!
 

Ich nagte an meiner Unterlippe. Es war wichtig, weswegen ich gekommen war. Aber konnte ich riskieren, einfach so in Leifs Zimmer zu platzen? Was, wenn er wieder sauer wurde?
 

Aber er hat dir das Bild gegeben. Das muss doch etwas bedeuten.
 

„Leif!“, rief ich ein wenig lauter. Wieder bekam ich keine Antwort. Ich musste es wohl darauf ankommen lassen.
 

Geräuschlos schob ich mich in die Dunkelheit und schloss die Tür bis auf einen kleinen Spalt. Danach pirschte ich bis zum Bett. Ich ließ mich davor auf die Knie sinken und lauschte. Unter der Decke war nichts zu hören. Anscheinend schlief Leif tatsächlich noch. Wie er wohl reagierte, wenn er mich hier entdeckte?
 

Das wirst du nicht rausfinden, wenn du hier weiter rumhühnerst. Also los, nun mach schon!
 

Langsam streckte ich die Hand aus.
 

„Leif“, flüsterte ich erneut und rüttelte ihn sanft an der Schulter. „Wach auf! Ich bin’s.“
 

Der Deckenberg bewegte sich und Leifs Kopf tauchte darunter hervor. Er hatte die Augen noch geschlossen und seine Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich wollte sie anfassen.
 

„Guten Morgen“, sagte ich leise. Er blinzelte gegen die Helligkeit des Türspalts an.
 

„Wo bin ich? Wie spät ist es?“
 

Ich grinste.
 

„Du liegst in deinem Bett und Henning hat dich gerade zum ersten Mal geweckt.“
 

Leif blinzelte noch einmal, bevor ihm langsam zu dämmern schien, dass ich am frühen Morgen vor seinem Bett hockte. Ungläubig stierte er mich an.
 

„Was machst du hier?“
 

Es klang ein bisschen angespannt.
 

„Ich … ich wollte mich nur bei dir bedanken. Für das Bild. Das mit dem Vogel. Du weißt schon. Ich … ich habe mich sehr darüber gefreut.“
 

Kaum, dass ich das gesagt hatte, hätte ich mir am liebsten mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Das klang so dermaßen bescheuert, dass es strafbar sein sollte. Ich hätte doch nicht kommen sollen. Ich hätte mir eine bessere Ansprache überlegen sollen. Ich hätte …
 

Gerade, als ich aufspringen und aus der Tür stürmen wollte, bewegten sich Leifs Mundwinkel ein winziges Stück nach oben.
 

„Und damit konntest du nicht bis zum Frühstück warten?“
 

Ich zuckte mit den Achseln und machte ein entschuldigendes Gesicht.
 

„Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest.“
 

Das war natürlich Blödsinn, wir beide wussten es. Wenn Leif nicht zum Frühstück kam, würde Henning ihn an den Ohren in die Küche schleifen. Teilnahme an den Mahlzeiten war schließlich Pflicht.
 

Leif lächelte leicht und senkte den Kopf.
 

„Freut mich, dass es dir gefällt“, sagte er leise. „Ich … ich hab lange überlegt, aber dann habe ich mir gedacht, ich wage es einfach. Auch wenn es vielleicht ein Fehler ist.“
 

Als er den Blick wieder hob, lag eine Frage darin. Eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Oder wollte. Noch nicht.
 

Draußen ging die Badtür auf und Sven bölkte über den Flur, dass frei war. Ich verzog das Gesicht.
 

„Du solltest vielleicht als Nächster gehen, dann fällt es nicht so auf, dass ich …“

„Ja. Ja, ist gut.“
 

Leif beeilte sich, sich von der Bettdecke zu befreien. Seine langen Beine schoben sich neben mich und ich wich zurück, um ihn durchzulassen. Fast schon ein bisschen zu weit trat ich vom Bett weg und stieß im Dunklen mit dem Schreibtisch zusammen. Leif saß immer noch auf der Bettkante und sah zu mir hoch.
 

„Du solltest gehen“, sagte ich noch einmal. Meine Stimme war rauer, als ich mir eingestehen wollte. Er fuhr sich durch die Haare. Glättete sie leidlich.
 

„Ja, das sollte ich wohl.“
 

Er schenkte mir noch einen kurzen Blick, bevor er sich erhob und zur Tür ging. Im erleuchteten Rahmen blieb er noch einmal stehen und sah zu mir zurück. Unwillkürlich musste ich lächeln.
 

„Na los jetzt! Geh!“
 

Er grinste, stieß sich vom Türrahmen ab und verschwand aus meinem Sichtfeld.
 

Als er weg war, atmete ich innerlich auf. Als wäre ein Felsen von meiner Brust gerollt. Gleichzeitig wäre ich ihm am liebsten nachgelaufen. Beides war gleich unsinnig.
 

Seufzend rieb ich mir mit den Händen über das Gesicht.
 

Du bist ein verdammter Idiot!
 

Was ich noch war, sprach ich lieber nicht aus.
 

Mit einem letzten Blick auf das Bett, in dem ich mich jetzt zu gerne mit einem gewissen Jemand gewälzt hätte, flüchtete ich aus dem Raum und zurück in mein eigenes Zimmer. Ich schloss gerade noch rechtzeitig die Tür, bevor Henning im Flur auftauchte. Schon hörte ich ihn draußen schnaufen. Im nächsten Moment klopfte es laut und der Schlüssel drehte sich im Schloss.
 

„Manuel! Aufstehen! Du hast Tischdienst.“
 

Ach du Scheiße! Das hatte ich ja vollkommen vergessen.
 

In Windeseile schmiss sich mich in ein paar Klamotten und sah zu, dass ich in die Küche kam. Mit viel Geklapper und Getöse holte ich aus den Schränken, was wir so brauchten. Henning unterstützte mich ein wenig, brummte dazu aber, dass ich mir endlich angewöhnen sollte, rechtzeitig aufzustehen.
 

„Ich verspreche es. Großes Indianerehrenwort!“
 

Ich grinste und er lachte, bevor er mich schickte, um die Müslischalen aus dem Schrank zu holen. Als ich sie gerade abstellte, kam Leif um die Ecke.
 

„Brauchst du noch Hilfe?“, fragte er mit Blick auf den Küchentisch.
 

„Nein, alles cool bei mir.“

„Gut.“
 

Er schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, bevor er sich setzte. Auch die anderen kamen in die Küche. Wir frühstückten. Still und hochkonzentriert. Zumindest war ich das bis zu dem Zeitpunkt, als Leif mich unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß.
 

„Was ist?“, murmelte ich leise. Ich hatte keine Lust, dass einer der anderen mitkriegte, worüber wir redeten.
 

„Gehen wir nachher zusammen rüber?“
 

Es war im Grunde genommen eine überflüssige Frage. Henning würde uns sowieso alle zusammen zur Schule bringen. Aber ich wusste natürlich, was er meinte.
 

„Klar. Warum nicht.“
 

Er lächelte leicht.
 

„Schön. Ich freu mich.“

„Ich mich auch.“
 

Für einen Moment entstand ein merkwürdiges Schweigen zwischen uns. Ich atmete vernehmlich ein und aus.
 

„Ist noch Kaffee da?“, fragte ich ein kleines bisschen zu laut. Ich sah Leif grinsen und musste selbst ein bisschen über mich lachen. Ich benahm mich wirklich wie ein Vollidiot.
 

Der Sand knirschte unter meinen Füßen, während ich neben Leif herging. Die anderen hatten die Änderung wohl bemerkt, aber nicht weiter kommentiert. Anscheinend hing heute jeder seinen eigenen Gedanken nach.
 

„Sag mal“, meinte Leif plötzlich, kurz bevor wir am Schulhaus ankamen, „stimmt es eigentlich, dass du nach den Ferien zu uns rüberkommst?“
 

„Jepp. Mit dem Stoff fange ich allerdings jetzt schon an.“

„Und warum fragst du dann nicht, ob du gleich kommen kannst?“
 

Die Frage brachte mich ein bisschen aus dem Konzept. Ich wurde langsamer.
 

„Wieso sollte ich?“
 

Leif zuckte mit den Schultern.
 

„Ach, war nur so ein Gedanke. Vergiss es einfach.“
 

Er lächelte, aber ich wusste, dass er es nicht so meinte. Das Lächeln erreichte nicht seine Augen. Mit ein bisschen mulmigen Gefühl folgte ich ihm nach drinnen.
 


 

Die Schulstunden zogen sich. Ich bekam von Frau Schmidt und Herrn Zimmermann neue Materialien. Beide bemühten sich redlich, mich an den Stoff ranzuführen. Kommaregeln und englische Vergangenheitsform bei Herrn Zimmermann, Winkel und Dreiecke bei Frau Schmidt. Als sie mir gerade ein Arbeitsblatt für Bio hinlegte, klingelte es zur Pause.
 

„Damit machen wir dann nachher weiter“, erklärte sie lächelnd und ging nach vorne zu ihrem Tisch, um sich einen Kaffee aus ihrer Thermoskanne zu genehmigen. Wie jeden Schultag. Ich sah derweil auf das Blatt hinunter. Darauf prangte die Zeichnung eines menschlichen Verdauungssystems. Na prima. Jetzt würde ich also wirklich was über Scheiße lernen.
 

„Na, du fängst ja früh an“, meinte jemand und ließ sich auf meinen Tisch fallen.
 

„Hey Jason!“, antwortete ich ohne aufzusehen. Mein Blick klebte immer noch an dem Zettel. Da waren die verschiedenen Organe abgebildet und daneben Striche mit den Bezeichnungen. Ich fragte mich, warum ich das alles wissen musste.
 

„Ich dachte, wir lernen dann nächstes Jahr zusammen“, meinte Jason und schnappte sich mein Arbeitsblatt. Die Augenbrauen in seinem rundlichen Gesicht wanderten nach oben, als er die Rückseite betrachtete.
 

„Abgesonderte Säfte“, las er grinsend und gluckste. „Ob damit auch das gute Zeug gemeint ist?“
 

Ich boxte ihn leicht.
 

„Spinner!“
 

Sein Grinsen wurde breiter.
 

„Waaas. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“

„Ja ja.“
 

Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber ich hatte bestimmt keine Lust, mit Jason über Sex zu reden. Dummerweise schien er genau das zu wollen. Er sah sich nach Frau Schmidt um, die ihren Pausenkaffee genoss, bevor er sich neben mich auf den Stuhl setzte und sich zu mir rüberbeugte.
 

„Sag mal …“, begann er und bekam vor lauter Aufregung schon rote Ohren. „Hast du nicht mal ein paar Tipps für mich. Also, wie man ein Mädchen rumkriegt, mein ich. Du weißt schon. Im Bett und so.“
 

Ich stöhnte innerlich. Wollte er das jetzt wirklich ausgerechnet von mir wissen?
 

„Wieso fragst du das nicht Sven oder Nico?“, fragte ich betont gelangweilt und versuchte, ein Stück von ihm wegzurücken. Er rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her.
 

„Die lachen mich doch aus, wenn ich sie frage. Du bist da irgendwie anders.“
 

Wenn der wüsste, wie anders.
 

Ich atmete angestrengt aus.
 

„Sorry, Alter, aber ich kann dir da nicht helfen.“
 

„Warum nicht?“, quengelte er. „Komm schon, ich brauch echt Hilfe. Vorgestern hab ich nämlich so ne süße Schnecke am Eisstand kennengelernt. Wir haben uns ein bisschen unterhalten und … na ja. Ich würde sie gerne wiedersehen.“
 

Ich verdrehte die Augen.
 

„Hör mal Jason, du fragst da echt den Falschen. Ich hab von diesem Beziehungskram überhaupt keine Ahnung, okay?“
 

Jason sah mich an, als wäre ich ein bisschen plemplem.
 

„Ich will sie doch nicht heiraten. Ich will nur wissen, wie ich sie dazu bringe, dass sie mir einen bläst.“
 

In dem Moment konnte ich nicht mehr anders. Ich prustete los. Frau Schmidt warf mir einen fragenden Blick zu, aber ich ignorierte ihn. Auch Jason musterte mich argwöhnisch.
 

„Ey, das ist nicht lustig.“
 

„Doch, ein bisschen schon“, gab ich zurück, auch wenn er natürlich nicht wusste, was genau daran jetzt so lustig war.
 

„Also was nun? Hilfst du mir oder nicht?“
 

Ich verdrehte erneut die Augen.
 

„Man, Jason, ich kann dir dabei nicht helfen.“

„Aber dir hat doch schon mal eine einen geblasen, oder?“

„Ja, und?“
 

Über die Details musste er ja nicht so genau Bescheid wissen.
 

„Wie hast du das hingekriegt?“
 

Ich stöhnte leise.
 

„Keine Ahnung. Sie hatte halt Bock drauf. Wenn das nicht so ist, kannst du es eh vergessen. Jemanden dazu zu zwingen ist absolut unterste Schublade.“
 

Jason schrumpfte ein bisschen in sich zusammen.
 

„Hatte ich ja nicht vor“, nuschelte er. „Ich dachte nur, ich könnte irgendeinen Spruch bringen, damit ich sie dazu kriege. Irgendwas, was sie scharf macht oder so.“
 

Ich seufzte.
 

„Nein, wirklich, keine Ahnung. Ich hatte da bisher noch nie Probleme.“
 

Jason schnaufte unglücklich.
 

„Hast du ein Schwein.“
 

Ich grinste.
 

„Tja, wer hat, der hat.“

„Penner!“
 

Grummelnd machte Jason sich auf den Weg zurück zu seinem Platz. Ich blieb allein zurück und konnte ihm eigentlich nur zustimmen. Ich war wirklich ein Penner. Allerdings war ich mir gerade nicht so ganz sicher, warum ich das war
 

Den Rest des Schultages versuchte ich mich mit Bauchspeicheldrüse und Co abzulenken. Es klappte erstaunlich gut. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Klingel das Ende der letzten Stunde verkündete und ich Leif auf dem Flur wiedertraf.
 

„Hey!“, rief er. „Alles klar bei dir? Du siehst aus wie Grumpy Cat, der jemand auf den Schwanz getreten ist.“
 

Ich zögerte. Sollte ich ihm verraten, was Jason von mir gewollt hatte? Vielleicht half es, mit ihm gemeinsam darüber zu lachen.
 

Ich hob meine Mundwinkel zu einem Lächeln.
 

„Ach, nichts. Schule war anstrengend heute. Der ganze neue Stoff und so. Halb so wild.“

„Verstehe.“
 

Auch Tobias, der draußen auf uns wartete, wollte noch einmal wissen, ob mit mir alles in Ordnung war.
 

„Ja, alles bestens“, log ich, obwohl irgendwie so gar nichts in Ordnung war. Warum wusste ich selbst nicht genau. Das Gefühl wurde jedoch nicht besser, je länger der Tag dauerte. Nicht einmal Tobias Ankündigung, dass Cedric am Nachmittag kommen und mit uns die ersten Sprayversuche machen würde, riss es für mich wieder raus. Während die anderen feierten, starrte ich in meine Gemüsesuppe. Tobias, der das bemerkt hatte, stieß mich an.
 

„Ist wirklich alles in Ordnung? Wenn du willst, können wir nachher reden.“
 

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, was ich zu ihm sagen sollte. Trotzdem blieb ich, während die anderen schon ins Wohnzimmer gingen und sich an ihre Hausaufgaben setzten. Als sie weg waren, lehnte sich Tobias an die Küchenzeile.
 

„Na, dann erzähl mal. Was ist los?“
 

Ich atmete tief durch. Wo sollte ich da anfangen? Ich wusste ja selbst nicht, was los ist. Vielleicht war es da besser, bei derselben Geschichte zu bleiben, die ich Leif schon erzählt hatte.
 

„Ich hab einfach grad viel um die Ohren. Neue Bücher, Themen … der Wechsel in die andere Klasse.“
 

Tobias lächelte.
 

„Ach darum geht es. Du hast Schiss, in die Abschlussklasse zu kommen.“

„So ungefähr.“
 

Er lachte jetzt ein bisschen. Es klang nett.
 

„Dabei hatte ich gedacht, dass du dich freust, endlich bei den Großen mitzumischen. Wenn Sven und Nico nicht mehr da sind …“

„Nicht mehr da?“
 

Ich hob den Kopf.
 

„Die beiden werden entlassen?“

„Ja, nach den Ferien. Sven wechselt in ein offenes Wohnprojekt und Nico beginnt eine Ausbildung und wird in dem Zuge in eine eigene Wohnung ziehen. Das haben sie doch aber bestimmt erzählt.“
 

Ich nickte. Natürlich hatten die beiden über ihre Pläne gesprochen. Auch in unseren Sitzungen. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren würde.
 

„Hey, alles in Ordnung? Du guckst so komisch.“
 

Ich beeilte mich, meine Mundwinkel zu heben.
 

„Ja, klar. Alles bestens. Wird nur seltsam werden, wenn die beiden nicht mehr da sind.“
 

Tobias lächelte.
 

„Ja, wird es. Ist es jedes Mal, wenn jemand Neues kommt. Aber es findet jeder seinen Platz. Die einen früher, die anderen später. Aber dafür sind wir ja da. Wir helfen euch dabei, euch zurechtzufinden.“
 

Er machte eine kleine Pause, bevor er hinzufügte: „Machst du dir Sorgen deswegen? Weil du nicht weißt, wie es weitergehen soll?“
 

Ich nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Das war es nicht. Eigentlich hatte ich mir noch keine Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn ich hier wieder rauskam. Ein Leben ohne die anderen konnte ich mir im Moment gar nicht mehr so richtig vorstellen. Nicht einmal ohne Nico und Sven, auch wenn das echt schräg war.
 

Tobias kam auf mich zu und legte seine Hand auf meinen Arm.
 

„Keine Panik. Wir schaffen das, okay? Du kriegst Hilfe bei allem. Wir lassen niemanden im Stich.“
 

Ich schaffte es, noch einmal zu nicken, obwohl mein Hals eng wurde und mein Herz sich anstrengen musste um weiterzuschlagen.
 

„Ich … ich geh dann mal meine Sachen holen“, murmelte ich. Ich drehte mich um und ging am Wohnzimmer vorbei. Drinnen saßen Leif und die anderen. Als ich an der Tür auftauchte, hob er den Kopf und lächelte. Ich schaffte es, das Lächeln zu erwidern, bevor ich weiter die Treppe hinauf floh. Am liebsten wäre ich gleich oben geblieben.
 

Es half jedoch nichts, ich musste wieder nach unten gehen und mich durch die Hausaufgabenzeit quälen. Dass Leif mir dabei immer wieder unauffällige Blicke zuwarf, machte es nicht unbedingt besser. Ich versuchte zwar, mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren, aber ich brachte die inneren Organe so oft durcheinander, dass Thomas am Ende entnervt seinen Stift auf den Tisch warf.
 

„Diese Schmiererei kann ja keiner mehr lesen. Am besten holst du dir morgen ein neues Blatt und schreibst es nochmal sauber ab.“
 

Ich nickte gehorsam und verstaute meine Sachen in meinem Rucksack. Anschließend schleppte ich ihn und mich nach oben und war fast froh, als endlich die Mittagsruhe ausgerufen wurde.
 

Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett sinken und schloss die Augen.
 

Was war nur heute mit mir los? Am Morgen war ich doch noch so begierig darauf gewesen, zu Leif zu kommen. Und jetzt war ich froh, dass zwei Wände, zwei Türen und ein ganzer Flur zwischen uns lagen. Ich verstand das einfach nicht.
 

Irgendwann hielt ich es im Bett nicht mehr aus. Ich ging zum Schrank und holte das Bild heraus, das ich unter dem untersten Klamottenstapel verborgen hatte. Vorsichtig faltete ich es auf und betrachtete es.
 

Ein Vogel in einem Käfig. Ja, genau so fühlte ich mich gerade. So hilflos und ausgeliefert. Ich hasste es, mich so zu fühlen. Gleichzeitig war da dieses Herz. Dieses kleine, rote, warme Herz, das in meiner Brust schlug, wann immer ich an Leif dachte. Was das bedeutete, wusste ich natürlich. Ich war schließlich nicht dämlich. Aber kam ich auch mit dem Rest davon klar? Auf diese Frage hatte ich keine Antwort.
 

Ich legte das Bild wieder weg und trat ans Fenster. Draußen schien heute die Sonne, auch wenn der Wind Wolken über den Himmel jagte. Wann hatte ich das letzte mal dagelegen und in den Himmel gesehen
 

Du weißt wann. Du willst dich nur nicht daran erinnern.
 

Nein, das wollte ich nicht. So gar nicht. Weil es jetzt nicht mehr zu ändern war. Ebenso wie andere Dinge. Warum sollte ich mich mit der Vergangenheit beschäftigen, wenn es die Zukunft war, die mir Sorgen machte?
 

Dr. Leiterer würde das bestimmt anders sehen.
 

Um mich von meinen Gedanken irgendwie abzulenken, setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Hier hatte ich irgendwie noch nie gesessen. Meine Hausaufgaben machte ich unten, ansonsten lag oder saß ich lieber auf dem Bett. Es fühlte sich fremd an.
 

Ich strich mit dem Finger über einen Kratzer in der Tischplatte. Wer den wohl hinterlassen hatte? Und wo derjenige jetzt wohl war? Ob er es geschafft hatte?
 

Ich atmete tief durch, zog einen Zettel und einen Stift heraus und begann zu schreiben.
 

'Mein Tagebuch', malte ich oben auf die Seite. Es sah total lächerlich aus. Ich knüllte es zusammen und warf es in eine Ecke.
 

'Dinge, die ich in mein Tagebuch schreiben würde', schrieb ich auf einen neuen Zettel und fand, dass sich das ein winziges bisschen weniger schlimm anhörte. Immerhin hatte Dr. Leiterer ja gesagt, dass ich es nicht ausformulieren musste. Anschließend überlegte ich, was ich aufschreiben konnte.
 

Meinen Bruder würde ich sicherlich mehr als einmal erwähnen und auch meine Eltern hätten bestimmt einen Eintrag bekommen. Ich schrieb also 'Familie' hin und dachte weiter nach.
 

'Leif' wurde ein neuer Punkt. Zu ihm hätte es sicherlich einiges zu schreiben gegeben. Nach kurzem Zögern setzte ich auch noch 'Tobias' mit auf die Liste. Immerhin hatte ich mir auch über ihn schon einige Gedanken gemacht. Es folgten noch 'Sven', weil ich über den Penner bestimmt was reingeschrieben hätte, ebenso wie über 'Maik' und den Rest der Bande. Ein bisschen unzufrieden sah ich die Liste an.
 

Ich hätte auch 'Mitbewohner' und 'Betreuer' schreiben können, das wäre weniger Arbeit gewesen, dachte ich und wollte den Stift schon weglegen, als ich zögerte. Da war noch ein Name, den ich vielleicht aufschreiben sollte. Es war eigentlich lächerlich und dämlich, aber vielleicht … Kurzentschlossen hob ich den Stift noch ein letztes Mal und setzte ein weiteres Wort ganz ans untere Ende.
 

In dem Moment klopfte es leise an meine Tür.
 

Ich schrak zusammen. Jeden Moment musste sich der Schlüssel im Schloss drehen. Vielleicht war es Tobias, der noch einmal mit mir sprechen wollte. Oder Thomas, der mir ein neues Arbeitsblatt besorgt hatte. Oder der Weihnachtsmann. Aber nichts passierte.
 

Zögernd erhob ich mich und ging zur Tür. Ich horchte, aber von draußen war nichts zu hören. Hatte ich mich getäuscht? Mit gerunzelter Stirn griff ich nach der Klinke. Ich drückte sie nach unten und öffnete die Tür. Draußen stand Leif.
 

„Hi“, machte er. „Ich … ich wollte …“
 

Ich überlegte nicht lange. Mit einem Blick über seine Schulter zog ich ihn kurzerhand nach drinnen, bevor ich die Tür wieder schloss. Erst dann wurde mir klar, was ich gerade getan hatte. Ich schluckte
 

„Du dürftest nicht hier sein“, sagte ich leise. Immer noch stand ich mit dem Rücken zu ihm. Vielleicht weil ich mir wünschte, dass er …
 

„Ich weiß“, gab er ebenso leise zurück. „Ich wollte nur mal nach dir sehen.“
 

Ein kleines Lächeln stieg auf mein Gesicht. Er war so ein Idiot.
 

„Mir geht es gut“, erklärte ich und drehte mich endlich um.
 

Leif stand mitten im Zimmer. Ein bisschen verloren irgendwie. Ich ahnte, wie sich das anfühlte. Er war trotzdem hier.
 

„Und wenn es jemand mitkriegt?“, wollte ich wissen. Leif lächelte schmal.
 

„Haben sie doch nie.“

„Aber das war nachts.“
 

Er senkte den Blick und strich mit dem Zeigefinger über die Kante meines Schreibtischs.
 

„Ich hab die Tür präpariert. Mit Klebeband. Deswegen haben sie nie was gemerkt. Sie sieht aus, als wäre sie zu.“
 

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, was das hieß.
 

Du hast das Zeug geklaut?“

„Ja.“
 

Er wirkte ein bisschen verlegen. Gleichzeitig sah ich, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste. Ich ebenfalls.
 

„Clever.“

„Danke.“
 

Immer noch standen wir knapp zwei Meter voneinander entfernt. Etwas, von dem ich nicht wusste, ob ich es ändern sollte. Ich wollte, aber war das klug? Leif schien es ebenso zu gehen. Sein Blick wanderte ziellos durch das Zimmer, bis er schließlich an meinem Schreibtisch hängenblieb. Genauer gesagt an dem Zettel, der darauf lag. Mir wurde erst heiß und dann kalt.
 

Leifs Augen glitten über die Zeilen. Ich wollte es verhindern, aber es war schon zu spät. Er hatte gelesen, was ich geschrieben hatte. Plötzlich wusste ich, wie er sich gefühlt haben musste.
 

Nimm es ihm weg! Sag was! TU WAS!
 

Ich stand einfach nur da. Seine Mundwinkel zuckten.
 

„Ich würde also in deinem Tagebuch stehen?“
 

Ich bemühte mich zu atmen.
 

„Ja. Klar.“
 

Mehr brachte ich nicht raus. Es war wie ein Unfall. Ich begann zu schwitzen.
 

Leifs Blick glitt weiter nach unten. Sein Mienenspiel wechselte mit jeder Zeile, bis er bei der letzten ankam. Dann blickte er auf.
 

„Bambi?“, fragte er halb belustigt. Was die andere Hälfte war, konnte ich nicht erkennen. Ich räusperte mich.
 

„Das war ein Typ. Nichts Wichtiges.“

„Und doch steht er in deinem Tagebuch.“
 

Ich presste die Kiefer aufeinander. Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war, ihn aufzuschreiben. Aber jetzt half es nichts mehr. Ich musste zusehen, wie ich mich hier wieder herausmanövrierte.
 

„Ich … ich hatte mal was mit ihm. Das war alles.“
 

Lüge.
 

Leif sah mich an. In seinem Kopf ging etwas vor. Er atmete hörbar ein und aus.
 

Nein! Neinneinneinneinnein!
 

Das durfte nicht passieren.
 

„Sorry, dass ich gefragt habe. Das geht mich nichts an.“
 

Scheiße!
 

Es war passiert. Er hatte es in den falschen Hals bekommen. Den völlig falschen Hals. Mein Herz hämmerte gegen meine Brust. Ich musste an das denken, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Dass ich die Leute an mich heranlassen sollte. Die Wahrheit sagen. Aber ich hatte Angst.
 

„Nein, ist schon okay“, plapperte ich. „Ich … ich hätte es da nicht so rumliegen lassen sollen. Das war dumm von mir.“
 

Ich sah, wie Leif die Luft anhielt. Oh fuck! Was hatte ich getan?
 

„Ja, du hast recht“, würgte er hervor. „Das war wirklich dumm. Tut mir leid, dass ich das ausgenutzt habe.“
 

Er stieß sich vom Schreibtisch ab und kam in meine Richtung.
 

„Ich sollte gehen.“

„Nein.“
 

Ich stellte mich ihm in den Weg.
 

„Leif, bitte, ich … es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Ich hab nur …“
 

Ich holte tief Luft. Ich war dabei es zu verbocken. So richtig. Mal wieder.
 

Scheiße!
 

„Ich hab nicht dich damit gemeint. Ich denke nicht, dass du dumm bist.“
 

Leif zögerte. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich bestimmt an mir vorbeidrängen können. Aber er tat es nicht. Er stand nur da und sah mich nicht an.
 

„Ich hab nur … ich hab diese Aufgabe von Dr. Leiterer bekommen. Wir … wir haben uns vorher über die Sache mit deinem Tagebuch unterhalten und er meinte, ich solle mir doch selbst mal überlegen, was ich in ein Tagebuch schreiben würde. Na ja, und dabei ist diese Liste entstanden. Sie hat nichts zu bedeuten.“
 

Jetzt sah Leif doch auf. Sein Blick war bewölkt.
 

„Nichts zu bedeuten?“, fragte er leise. Es stach tief in meiner Brust. Ich wusste, dass es nur einen Weg gab, es zu beenden. Ich gab mir einen Ruck.
 

„Doch, es hat etwas zu bedeuten“, antwortete ich flüsternd. „Weil … weil da Leute draufstehen, die wichtig für mich sind. Aber nicht alle auf die gleiche Weise. Verstehst du das?“
 

Er sah mich an. Lange sah er mich an. Dann nickte er.
 

„Ja, das verstehe ich.“
 

Ein kleines Grinsen.
 

„Ich bin ja nicht doof.“
 

Ich lächelte.
 

„Nein, das bist du nicht. Immerhin hast du dir das mit dem Klebeband ausgedacht. Das war ziemlich schlau.“
 

Sein Grinsen wurde zu einem Lächeln, bis es völlig verschwand. Ein anderer Ausdruck trat an seine Stelle. Leifs Blick glitt zu meinem Mund. Er schluckte, bevor er mir wieder in die Augen sah. Plötzlich waren wir uns so nahe. Hitze sprudelte durch meinen Körper. Mein Herz machte Purzelbäume.
 

Im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen. Sein Körper drückte sich an mich und mich gegen die Tür. Ich schlang die Arme um ihn. Zog ihn noch näher. Öffnete meinen Mund und küsste ihn. Küsste und küsste und küsste ihn, bis wir beide keine Luft mehr bekamen. Keuchend trennten wir uns. Zögerten. In seinen Augen sah ich die gleiche wilde Verwirrung, die wohl auch in meinen lag. Wir waren beide so kaputt.
 

„Wollen wir … ins Bett gehen?“
 

Meine Frage hatte Erstaunen zur Folge. Rückzug.
 

Schnell schob ich hinterher: „Nur weil es bequemer ist. Zum … Reden.“
 

Immer noch schlug mir mein Herz bis zum Hals. Wie würde er reagieren?
 

Ich sah seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen.
 

„Okay. Lass uns … reden.“
 

Ich wusste, dass wir beide lieber etwas anderes gemacht hätten. Die Zeichen waren eindeutig und ich war versucht, ihnen nachzugeben. Wieder einmal viel zu weit zu gehen. Aber ich wusste, wie ich mich hinterher fühlen würde. Es war trotzdem verlockend. Ich lächelte.
 

„Du hast da auch keinen Bock drauf, oder?“
 

Er schüttelte den Kopf.
 

„Nein. So gar nicht.“
 

Ich zog ihn noch einmal an mich. Vergrub meinen Kopf an seinem Hals. Meine Lippen streiften seine Haut.
 

„Dann einfach nur Bett?“

„Ohne Reden?“
 

„Ohne Reden“, bestätigte ich. Es mochte falsch sein, aber ich wusste, dass wir den Fehler immerhin zusammen machten.
 

„Bin dabei.“
 

Danach stellten wir keine Fragen mehr. Wir hatten andere Dinge zu tun. Ganz andere Dinge.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryosae
2021-09-12T20:28:55+00:00 12.09.2021 22:28
Hey Mag,
was beschäftigt Manuel hier so sehr?
Hat er ein schlechtes Geswissen, da er an diesem Tag öfter an unseren lieben Benedikt erinnert wurde? Die Art und Weise wie das mit den Beiden angefangen und geendet ist... Gefühle waren definitiv da... und jetzt steht er im Tagebuch.
Ach Leif, aber keine Angst, ich glaube er mag dich mehr ;)

Freue mich sehr auf nächstes Mal!

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
13.09.2021 14:10
Hey Ryosae!

Tja, was nagt da so an Manuel, dass er nach dem guten Start den Tag doch nicht so recht genießen kann? Ob er das wohl selber rausfindet oder ob er noch Hilfe braucht? Wir werden sehen. ^__^

Die Frage, warum dieser ominöse Kerl nun mit auf der Liste steht, wird Leif aber bestimmt nciht zum letzten Mal gestellt haben. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2021-09-12T17:05:35+00:00 12.09.2021 19:05
Schlauer Leif. Und war ja schon bekannt, dass unser liebes Bambi seine Spuren hinterlassen hat. Wenn er die Liste dem Doc vorlegt, könnte ich mir auch vorstellen, dass dieser 'Name' nach einer Erklärung verlangen wird, da er den nicht zuordnen kann. Aber schön, dass er es mit Leif diesmal nicht wieder komplett verkackt hat :D
Antwort von:  Maginisha
13.09.2021 14:08
Hallo chaos-kao!

Ja, auch Dr. Leiterer würde wohl nach den Personen auf der Liste fragen. Mal sehen, ob Benedikt noch draufsteht, wenn Manuel ihm die Liste zeigt. ;)

Aber wenigstens mit Leif hat Manuel es so halbwegs hinbekommen, dass der nicht wieder die Flucht ergreift. Lag vielleicht auch an der Vorarbeit. ;D

Zauberhafte Grüße
Mag


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