Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 17: Bilder ------------------ Wir waren kaum auf den Parkplatz des Wohnheims eingebogen, als Tobias bereits einen freudigen Laut von sich gab. Als ich nach dem Grund fragte, begann er zu grinsen. „Ich hatte ein bisschen Sorge, ob meine Überraschung gelingt. Aber wie es aussieht, hat er es doch noch rechtzeitig geschafft.“ Was genau er damit meinte, erklärte er nicht, aber als wir ausstiegen fiel mir ein Wagen auf, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich war normalerweise kein Autofreak, aber das Ding machte nicht allein durch die knallig blaue Farbe auf sich aufmerksam. Es hatte obendrein auch noch ein gelbes Kennzeichen und das Lenkrad auf der falschen Seite.   Ich warf Tobias einen fragenden Blick zu. „Wer ist das?“ „Lass dich überraschen.“   Ohne noch weiter auf meinen Protest einzugehen, schob er mich und Leif in Richtung Haustür. Kaum dass wir drinnen waren, ließ er uns jedoch stehen und steuerte direkt die Küche an.Ein großes Hallo folgte und eine unbekannte Stimme mischte sich in die Geräuschkulisse. Als Leif und ich schließlich um die Ecke bogen, stockte mir ein bisschen der Atem. Der Typ war groß, muskulös und braungebrannt. Ein schwarzes Shirt spannte über seinem Oberkörper, während der Rest von ihm in weiten, khakifarbenen Hosen und halb offenen Schnürstiefeln steckte. Ein Käppi, das er mit dem Schirm nach hinten trug, hielt seine langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Über einem sorgfältig getrimmten Bart blitzten wache, braune Augen und sein strahlend weißes Lächeln blendete mich fast, während er versuchte, Tobias die Luft aus den Lungen zu klopfen.   „Hey Kumpel, kommst du auch endlich mal an’n Laden?“ „Klar, hatte erst noch zu tun. Schön, dass du da bist! Wie war die Reise? Wie geht es Andrea?“   Thomas, der den Neuankömmling wohl bisher bewirtet hatte, winkte Leif und mir um das dynamische Duo herum zu.   „Hallo ihr beiden. Wollt ihr noch was essen? Die anderen sind schon drüben im Konferenzraum. Wir wollen gleich anfangen.“   Während Leif den Kopf schüttelte, ließ ich mir von Thomas eine Tasse Kaffee einschenken und schnappte mir dazu ein paar Kekse. Kauend beobachtete ich Tobias und seinen Freund. Die beiden grinsten die ganze Zeit und tauschten Erinnerungen aus. Wie in einer Waschmittelwerbung. Man hätte fast neidisch werden können.   Als Tobias sich endlich genug gefreut hatte, drehte er sich zu uns um. „Das hier sind schon mal zwei unserer derzeitigen Bewohner. Das da drüben ist Leif und das hier Manuel.“ Der fremde Riese lächelte breit. „Freut mich. Ich bin Cedric.“   Ich hätte beinahe losgeprustet. Der Name passte ungefähr so sehr zu ihm wie „Schnuffi“ zu einem Kampfhund. Trotzdem griff ich nach der Hand, die er mir reichte und in der meine fast verschwand. Kohlenschaufeln waren ein Scheiß dagegen. Tobias grinste immer noch. „Dann lasst uns mal rübergehen. Nicht, dass die anderen sich langweilen.“     In dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, in dem wir auch immer unsere Besprechungen abhielten, lümmelte der Rest der Truppe bereits auf ihren Stühlen herum. Als wir eintraten, rief Sven: „Na endlich! Die Spinnerfraktion ist angekommen, wir können anfangen.“ „Sven!“   Thomas warf einen warnenden Blick in seine Richtung, während ich einen zu Leif riskierte. Dessen Gesicht zeigte keinerlei Regung, aber für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er ein bisschen blasser geworden war. Kurzentschlossen trat ich einen Schritt näher. „Kommst du?“   Ich wies auf zwei freie Plätze direkt vor uns.   Leif musterte mich mit leichtem Erstaunen, gemischt mit einer guten Portion Misstrauen. Fast so, als könne er nicht glauben, dass ich das gerade gefragt hatte. Und eigentlich konnte ich ihm das auch nicht verdenken. Ein Teil von mir war ja ebenfalls der Meinung, dass das mit uns Zeitverschwendung war. Dass ich ihn einfach abhaken sollte. Und doch konnte ich es nicht. Nicht solange ich nicht sicher wusste, dass ich absolut keine Chance bei ihm hatte.   Auf der anderen Seite des kreisförmigen Tisches klatschte Tobias jetzt in die Hände. „Also Leute, dann hört mal zu. Wie ihr mitbekommen habt, haben wir heute einen Gast. Cedric ist ein alter Freund von mir und gerade für zwei Wochen in der Gegend. Er hat sich bereit erklärt, uns ein bisschen bei unserem Projekt zu unterstützen. Eigentlich wollten wir ja mit euch einen Drogen-Workshop machen …“   „Geil, mit ner Anleitung zum Meth kochen und so? Kriegen wir Gratisproben?“   Sven sonnte sich im aufkommenden Gelächter, aber Thomas fand das offenbar so gar nicht komisch.   „Drogen sind nichts, worüber man Scherze machen sollte“, erklärte er mit ernstem Gesicht. „Das Zeug ist lebensgefährlich.“   Sven winkte ab. „Ja ja, Mann, wissen wir doch. 'Keine Macht den Drogen' und so. Es sollte doch nur ein Joke sein.“ „Spar dir deine Witze lieber und pass auf.“ „Aye-aye, Käpt’n.“   Sven legte die Hand an die Stirn und grüßte lässig. Thomas schüttelte den Kopf und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Cedric rüber. „Bist du dir sicher, dass du das hier machen willst?“ „Aber absolut.“   Cedric lachte und entblößte dabei erneut seine perfekten Zähne. Der Typ sah echt verboten gut aus. Dagegen stank sogar Tobias ab. Ich stupste Leif unauffällig an. „Lecker, oder?“, wisperte ich. Ein winziges Lächeln zupfte an Leifs Mundwinkeln. „Ja, schon. Ein bisschen zu groß vielleicht. Ich hab es lieber etwas handlicher.“   Der Blick, den er mir daraufhin zuwarf, zauberte ein Grinsen auf mein Gesicht. Ich beeilte mich, wieder nach vorne zu sehen, aber die Tatsache, dass Leif neben mir saß, spukte trotzdem weiter in meinem Kopf herum. Dagegen hatte Tobias es schwer, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Er versuchte es trotzdem.   „Wir haben geplant, endlich mit der Verschönerung des Flurs anzufangen. Ich hatte euch ja gesagt, dass ich versuche, jemand ins Boot zu holen, der sich mit Graffiti auskennt. Und hier ist er. Cedric, vielleicht stellst du dich kurz mal selbst vor.“   Der Hüne hob grüßend die Hand. „Hi! Ich bin, wie schon erwähnt, Cedric. Ihr könnt aber auch Ced zu mir sagen. Ich hab mit dem Spinner hier zusammen gelernt, aber dann hat mich die Liebe nach London verschlagen. Da lebe ich jetzt seit drei Jahren zusammen mit meiner Freundin. Sie arbeitet als Grafikdesignerin und konnte mich leider wegen eines Auftrags nicht nach Deutschland begleiten. Deswegen stehe ich jetzt hier und werde euch mal ein bisschen über mein zweitliebstes Hobby erzählen. Das Sprayen.“ „Und was ist dein liebstes Hobby?“, rief Nico dazwischen. Cedric lächelte.   „Ich bin im Ruderverein. Zweimal die Woche Training und Regatta am Wochenende.“   Ich lehnte mich zu Leif hinüber und flüsterte: „Das erklärt dann die Oberarme.“ Leif grinste verhalten. Cedric, der von all dem nichts mitbekommen hatte, redete weiter. „Ich erspare euch jetzt mal die geschichtlichen Hintergründe des Graffiti, weil ihr mir da sowieso nicht zuhören würdet. Wahrscheinlich könnt ihr es gar nicht abwarten, eine Farbdose in die Hand zu nehmen und loszusprühen. Aber ganz so einfach ist das nicht, deswegen werden wir uns erst einmal ein bisschen mit den Grundlagen beschäftigen, damit ihr später mehr zustande bringt als einen verlaufenen Smiley.“ Er schmunzelte und ließ sich auf einem der Tische nieder, bevor er weiter sprach. „Wände anzumalen hat natürlich schon unendlich lange Tradition. Wer kennt nicht die schicken Höhlenmalereien mit Mammuts, Jägern und all dem Krempel. Aber auch im täglichen Leben begleiten uns mehr oder weniger gekonnte Schriftzüge auf allen möglichen Oberflächen. Damit kommen wir aber auch gleich schon zu einem Problempunkt, den ich leider ansprechen muss. Graffiti an sich ist nicht illegal. Genauso wenig wie Häkeln, Stricken oder Mobiles basteln. Aber wenn ihr hingeht und mit euren Werken das Eigentum anderer beschmiert, erfüllt das den Strafbestand der Sachbeschädigung. Je nachdem, wie schwer das Vergehen ist, drohen dafür etliche Stunden gemeinnützige Arbeit oder sogar Gefängnisstrafen. Das ist jedoch noch nicht mal das Schlimmste daran. Viel härter können einen die Schadensersatzforderungen treffen, die schnell ins Sechs- oder Siebenstellige gehen können. Das ist richtig, richtig viel Asche. Damit verschuldet ihr euch in wenigen Minuten für den Rest eures Lebens. Also Hände weg von Flächen, die nicht zum Sprayen freigegeben sind. Es gibt immer Möglichkeiten, das legal zu machen. Vergesst das nicht.“ Keiner reagierte auf seine mahnenden Worte. Sven und Nico guckten gelangweilt, Dennis pulte an irgendwas auf dem Tisch herum, nur Jason schien vollkommen begeistert. Cedric bemerkte die Stimmung wohl ebenfalls. Er lächelte schmal.   „Mir ist klar, dass sich das dann weniger Gansta und nicht ganz so cool anfühlt. Aber um Beachtung zu finden, müsst ihr keine Gesetze übertreten. Benutzt lieber euer Werk, um euch Respekt zu verschaffen. Dann könnt ihr mit Fug und Recht sagen, dass ihr wirklich etwas geleistet habt. Weil ihr was aufgebaut habt, nicht etwas kaputtgemacht.“   Wieder kam wenig Reaktion. Ich selbst hatte mich noch nie damit beschäftigt, mich auf irgendwelchen Wänden zu verewigen. Trotzdem musste ich zugeben, dass der Gedanke ein kleines bisschen interessant klang. Immerhin war Graffiti schon irgendwie cool. „Und was malen wir nun an die Wände?“, wollte Nico wissen. Cedric verzog das Gesicht. „Sag bitte nicht malen. Immerhin verwenden wir keine Pinsel und solchen Kram. Allenfalls die Grundierung könnte man mit ner Rolle auftragen.“ „In Schwarz?“, ließ sich Dennis auf einmal vernehmen. Cedric schüttelte den Kopf.   „Zu dunkel dürfen die Farben nicht werden, weil euch sonst in dem engen Gang buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt. Auch wenn Graffitis natürlich Aufmerksamkeit erregen sollen, ist es doch nie gut, es zu übertreiben und das Bild zu überladen. Es spricht sicherlich nichts gegen schwarze Akzente, aber im Prinzip sollten wir auf der hellen Seite der Macht bleiben. Außerdem hatte ich vor, mit euch eher ein bisschen in Richtung Streetart zu gehen. Also Motive statt Schriftzügen. Ihr dürft eure Werke natürlich signieren.“   Er griff jetzt nach einer Tasche und zog dort einige Zeitschriften und Bücher hervor, die er locker in die Runde verteilte. „Damit ihr mal eine Vorstellung davon bekommt, wie so etwas aussehen könnte, habe ich euch mal ein paar Beispiele mitgebracht. Ich hab außerdem ein Tablet mit, mit dem ihr im Internet nach Anregungen suchen könnt. Aber gebt euch keine Mühe, das Ding hat eine Kindersicherung. Pornos gucken ist also nicht.“   Er lachte und ignorierte das Protestgeheul, das von uns allen kam. Immerhin waren wir keine Kinder mehr. Aber vielleicht hatte er bei der Sache mit den Pornos nicht ganz unrecht.   Ich nahm mir eines der Bücher und blätterte lustlos darin herum. Eigentlich hatte ich so gar keine Vorstellung, was ich malen – oder vielmehr sprayen – wollte. Ich hatte noch nie besondere Noten in Kunst gehabt oder mich mit Bildern beschäftigt. Außer, wenn halbnackte Kerle drauf waren. Aber irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass das etwas war, das ich hier im Wohnheim an die Wand bringen sollte.   Ein Bild von einem Tierskelett, das jemand auf eine Schuppenwand am Hafen gesprüht hatte, tauchte auf. Ich hätte nicht sagen können, was genau es darstellte. Am ehesten sah es aus wie eine Kreuzung aus einer Eidechse, einem Seehund und einem Käfer mit riesigen Beißzangen. Seine leere Augenhöhle starrte mich an. Es war makaber aber gleichzeitig auch irgendwie geil. Als würde es gleich von der Wand ins Wasser springen und davon schwimmen. Ohne darüber nachzudenken, stieß ich Leif an. „Hey, guck mal“, sagte ich und schob ihm das Bild rüber. „Das da gefällt mir.“   Er sah in mein Buch und schob dabei unauffällig das zur Seite, das er sich gerade angesehen hatte. Ich nickte mit dem Kopf in seine Richtung. „Zeigst du mir deins? Immerhin hab ich dir meins gezeigt.“   Ich grinste, Leif zögerte. Sein Blick huschte unruhig hin und her.   „Ich … ich hab noch nichts gefunden“, wich er mir aus und versuchte, das Buch noch ein wenig weiter wegzuschieben. Ich schnaubte belustigt.   „Na los, zeig schon. Ich lach auch nicht.“   „Nein. Es ist nichts“, beharrte er und schloss das Buch ein wenig zu heftig, um glaubhaft zu wirken. Ich wollte ihn gerade fragen, was das sollte, als sich ein Schatten über mich legte. Cedric war zu uns gekommen. Als er meinen Wal, oder was immer es war, entdeckte, hellte sich seine Miene auf. „Ah, Roa. Da hast du dir ja gleich einen der ganz Großen rausgesucht. Was hat dir daran gefallen?“   Ich sah nochmal auf das Skelett. „Weiß nicht“, antwortete ich achselzuckend. „Es war irgendwie … keine Ahnung. Vielleicht wegen der Knochen. Es sah interessant aus.“   Cedric nickte.   „Und du?“, fragte er an Leif gewandt. „Wobei bist du hängengeblieben?“   Er zog das Buch zu sich rüber, das Leif vor mir hatte verstecken wollen, und nahm es in die Hand. „Ah, Bansky. Anders als Roa arbeitet er viel mit Schablonen. Das unterscheidet die beiden grundlegend voneinander. Allerdings bevorzugen beide Schwarz-Weiß-Bilder.“   „Es gibt aber auch viele Bilder, wo er mit Farben gearbeitet hat, oder?“, hakte Leif nach.   Cedric nickte.   „Einige von Banskys bekanntesten Werken setzen darauf. Zum Beispiel das Ballonmädchen.“   Der Hüne suchte eine Seite heraus. Er legte sie vor uns auf den Tisch und ich erkannte, dass es die Seite gewesen war, die Leif sich angesehen hatte. Zu sehen war das Bild eines kleinen Mädchens, das die Hand nach einem herzförmigen, roten Ballon ausstreckte. An ihrem Kleid und den Haaren sah man, dass sie im Wind stand. Er trug den Ballon von ihr fort.   Fragend sah Cedric uns an.   „Und? Wie findet ihr es?“   Ich legte den Kopf schief. „Das kommt darauf an.“ „Worauf denn?“ „Na, ob sie den Ballon mit Absicht hat fliegen lassen oder ob er ihr aus der Hand geweht wurde.“   Ein zufriedener Ausdruck erschien auf Cedrics Gesicht. „Gar nicht schlecht. Was denkst du denn, was passiert ist?“   Wieder betrachtete ich das Mädchen. Da man es nur von der Seite sah und es sich obendrein nur um ein angedeutetes Bild handelte, war ich mir nicht sicher. „Ich glaube, sie hat ihn verloren“, meinte Leif plötzlich. „Ihr Gesicht sieht traurig aus.“   Ich schob die Augenbrauen zusammen.   „Ja, aber wenn sie ihn wiederhaben will, warum läuft sie ihm dann nicht nach, sondern bleibt einfach stehen. Das ist doch dumm.“   Leif wollte gerade noch etwas erwidern, als Cedric endgültig zu grinsen begann. „Seht ihr? Und schon diskutiert ihr darüber. Genau so funktioniert diese Kunst. Sie verbirgt sich nicht hinter irgendwelchen Türen und Toren, sondern kommt dorthin, wo die Menschen sind. Sie rüttelt sie wach, bringt sie zum Nachdenken. Manchmal sogar dazu, miteinander zu sprechen. Das ist Streetart.“   Er nickte uns noch einmal zu, bevor er weiter zu den anderen ging und sich ansah, was sie sich ausgesucht hatten. Das Bild mit dem Mädchen blieb zwischen mir und Leif liegen. Ich sah zu ihm rüber. Sein Blick klebte immer noch an der Buchseite. Fast schon ein wenig ehrfürchtig strich er über die Abbildung. „Vielleicht weiß sie, dass sie ihn sowieso nicht zurückbekommen wird“, sagte er plötzlich ohne mich anzusehen. Erst, als ich nicht darauf reagierte, hob er den Kopf. „Du hast gesagt, dass sie dumm ist, weil sie dem Ballon nicht nachläuft. Aber vermutlich weiß sie einfach, dass sie eh keine Chance hätte.“   Ich blickte von Leif zu dem Bild. Plötzlich wurde ich auf eine Aufschrift aufmerksam, die auf der Wand ein Stückchen neben dem Bild angebracht war. Ich begann zu grinsen. „Siehst du?“, fragte ich und wies triumphierend auf den Schriftzug, den jemand mit Kreidestrichen daneben gemalt hatte. „Der da sagt, dass ich recht habe.“   Auch Leif beugte sich wieder über das Bild. Seine Lippen bewegten sich, als er den Spruch las. „There is always hope“, wisperte er. In meinen Ohren klang es wie ein Versprechen.     Tobias und Thomas hatten in der Zwischenzeit Papier und Stifte ausgeteilt. „Damit könnt ihr erst mal ein bisschen rumprobieren“, erklärte Cedric. „Es muss kein fertiger Entwurf sein, aber wenigstens eine grobe Skizze. Darin haltet ihr Motiv, Proportionen, Farben und so weiter als Idee fest. Manches davon kann sich während der Fertigstellung noch ändern, weil es dann in groß auf der Wand doch anders aussieht. Aber wie bei einem Haus braucht ihr als Erstes ein Gerüst; ein Fundament, auf dem ihr aufbauen könnt. Nur so kann später ein ausgewogenes Bild entstehen.“   Nach diesen aufmunternden Worten sah ich eine Weile auf das leere Blatt hinab. Mir wollte einfach nichts einfallen, das ich malen konnte. Irgendwas Cooles, Gefährliches sollte es sein. Ein Tier vielleicht. Das Problem war nur, dass ich nicht malen konnte. So gar nicht. Also musste es was einfaches sein. Am besten was ohne Beine.   Ne Schlange! Ja, das ist gut.   Ich versuchte mich daran, eine zischende Kobra mit weit aufgerissenem Maul und gespaltener Zunge zu zeichnen. Das Ergebnis sah aus wie kotzendes Sperma. Ich wollte das Blatt gerade zerknüllen, als Cedric zu mir rüberkam. „Oh, cool. Ein Wurm?“   Ich verzog das Gesicht. „Sollte eigentlich ne Schlange werden, aber das sieht voll dumm aus.“   „Mhm“, machte Cedric „Darf ich mal?“   Er streckte die Hand nach meinem Stift aus. Bereitwillig rückte ich ihn raus und beobachtete, wie er meine missglückte Schlange in einen coolen Wurm verwandelte. Mitsamt Schirmmütze, Halskette und fettem Joint. „Siehst du? Schon viel besser.“   Ich grinste. „Die Tüte müssen wir aber weglassen, sonst kriegt Tobi einen Herzinfakt.“ „Was für ein Spießer!“   Cedric grinste und ging rüber zu Leif, der über einer Zeichnung saß. Viel konnte ich nicht erkennen, weil er den Arm darüber gelegt hatte, aber als Cedric ihn ansprach, erkannte ich, dass er einen Käfig gemalt hatte. Darin saß ein Vogel und ließ den Kopf hängen.   Cedric nahm das Bild und betrachtete es. „Ziemlich speziell. Die Umsetzung an der Wand könnte schwierig werden. Zwar kann man beim Sprayen im Gegensatz zu anderen Techniken Farben wunderbar überlagern, aber das Motiv ist reichlich filigran. Da müsste man auf jeden Fall mit dem richtigen Cap drangehen, sonst war alles umsonst.“   Leif presste die Lippen aufeinander. „Ich … ich hatte gedacht, dass ich vielleicht den Vogel mache und den Käfig danach mit einer Schablone aufsprühe.“   Cedric zog die Augenbrauen nach oben und nickte langsam.   „Nicht schlecht. Das könnte funktionieren. Echt kreativ!“   Er lächelte Leif zu und der erwiderte mit einem Grinsen, das immer noch bestand, als er sich wieder zu mir umdrehte. „Was?“, fragte er gespielt empört und versuchte erfolglos, seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu bringen.   „Ach nichts. Ich find deine Idee gut. Viel besser als meinen Spermawurm.“ „Spermawurm? Zeig her!“   Ich wollte ihm gerade meine Skizze rüberschieben, als zwei Tische weiter großes Getöse ausbrach. Jason hatte Dennis’ Bild entdeckt und es ihm weggezogen. Dennis protestierte schwach, aber Jason beachtete ihn gar nicht. „Wow, der Hammer!“, krakeelte er und hielt das Blatt hoch. „Seht mal!“   Alle Blicke richteten sich auf das Blatt, auf dem ein Tintenfisch zu sehen war. Er hielt eine Spraydose in jedem seiner acht Arme. Das Bild wirkte total plastisch und man erwartete jeden Moment, das das Vieh loslegte. Jason wedelte damit herum. „Das ist einfach total krass. Ich bin dafür, dass Dennis uns die Motive zeichnet. Der hat’s voll drauf.“ Dennis, dem das Ganze unangenehm zu sein schien, rutschte ein bisschen tiefer in seinen Sitz.   „Ich hab doch nur schnell was hingekritzelt“, murmelte er. Cedric war da anderer Meinung. „Quatsch, das ist ne richtige Komposition. Du hast wohl Erfahrung damit?“ „Ein wenig. Ich hab schon ein bisschen getaggt und so.“ „Und die Farben?“   Dennis zog die Nase kraus. „Ich hatte an orange gedacht. In Kombi mit rot und grün für die Spraydosen.   „Nicht übel. Gar nicht übel“, urteilte Cedric und machte sich dann daran, Svens Bulldogge anatomisch korrekt zu gestalten. Währenddessen bekniete Jason Dennis, ihm ebenfalls ein Motiv vorzuzeichnen. „Nur die Außenlinien. Ausmalen kann ich dann selber. Biiiittteeee!“   Dennis sah erst so aus, als wenn er nicht wollte, doch dann ließ er sich endlich erweichen. „Na schön. Was willst du denn haben?“ „Weiß nicht. Auch irgendein Tier. Einen Wolf vielleicht. Oder einen Tiger!“   Ich sah ein Grinsen in Dennis’ Gesicht aufblitzen, bevor er sich daran machte, einen Tiger aufs Papier zu bringen. Als er fertig war, hielt er Jason ein Bild unter die Nase, das mehr an Winnie Puh erinnerte als an einen Tiger. „So etwa?“, fragte er feixend. Jason schob beleidigt die Unterlippe vor. „Nee, Mann. Ich bin doch kein Baby mehr. Was Krasseres.“ Dennis grinste wieder. „Na, ich schau mal, was ich machen kann.“   Mit schnellen Strichen skizzierte er einen neuen Tiger. Er stand aufrecht und hatte eine Spraydose in der Hand. Dass sich das Shirt ziemlich über seinem Bauch spannte, war vermutlich kein Zufall. Es sah trotzdem geil aus.   „Besser?“, fragte Dennis und hielt Jason das Blatt hin. Der war völlig aus dem Häuschen. „So geil! Ich könnte dich knutschen.“   Damit sprang er davon, um Cedric sein Motiv unter die Nase zu halten. Dennis blieb allein zurück. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, nickte er kurz in meine Richtung. Danach wandte er sich wieder seinem Tintenfisch zu, um dessen Schattierungen zu vertiefen und noch einige Details zu ergänzen. Leif hatte währenddessen begonnen, ein zweites Bild zu zeichnen. Es war wieder ein Vogel, eine Taube oder so, aber dieses Mal ohne Käfig. Dafür mit einer Spraydose in der Hand oder vielmehr dem Flügel. Ich stieß ihn an. „Hey, ich dachte, du wolltest was anderes machen?“   Leif sah nicht auf. „Es hätte nicht zu den anderen gepasst“, meinte er lapidar. „Immerhin sollen die Bilder doch alle in einen Flur. Da fand ich es besser, wenn ich es auch so mache wie der Rest.“   Die Art, wie er das sagte, gefiel mir nicht. Bevor ich ihn jedoch danach fragen konnte, kam Tobias zu uns. Wir zeigten ihm unsere Motive und sprachen über Farben und Platzierungen. Die Begeisterung, die er und Cedric für das Ganze an den Tag legten, sprang nach und nach auch noch auf den letzten über und am Ende diskutierten wir alle gemeinsam, wo wer welches Motiv hinsprayen würde und wie man sie in ein Gesamtbild einbinden konnte. Wir waren so beschäftigt, dass wir beinahe vergessen hätten, dass es Zeit zum Abendessen wurde. „Na los, Leute“, rief Thomas in die Runde. „Diejenigen, die Küchendienst haben, bereiten drüben alles vor. Der Rest räumt hier auf. Aber nehmt eure Entwürfe mit!“   Da ich diese Woche zum Tischdecken eingeteilt war, nahm ich meinen Spermawurm und wartete dann an der Tür auf Leif, der fürs Teekochen und die restlichen Lebensmittel zuständig war. Als ich sah, dass er nur die Taube mitgenommen hatte, stutzte ich. „Was ist denn mit dem anderen Bild?“ Er zuckte die Schultern. „Ach, das kann in den Müll. War eh nicht so gut.“ Damit ging er an mir vorbei und verschwand in Richtung der Wohnräume. Ich zögerte, bevor ich schnell zu Leifs Tisch trat und unter den dort liegenden Blättern die Zeichnung hervorzog. Schnell faltete ich sie zusammen und stopfte sie in meine Tasche. Erst dann folgte ich ihm in die Küche.     Die Zeichnung schien während des Essens ein Loch in den Stoff meiner Hose zu brennen. Ich wusste, dass es Leif bestimmt nicht recht war, dass ich sie hatte. Das war schon wieder etwas von ihm, dass ich sozusagen geklaut hatte. Gleichzeitig hatte er es ja aber auf den Müll geworfen. Er wollte es also nicht mehr. War es da nicht okay, wenn ich es behalten wollte?   Während ich so dasaß und grübelte, stieß Tobias mich an. „Was machst du denn für ein Gesicht? Ist dir ne Laus über die Leber gelaufen?“ Scheiße! Erwischt. Jetzt musste ich mir schnell was ausdenken. „Nee, ich bin nur nicht so richtig zufrieden mit meinem Bild. Ich finde, es passt nicht zu mir.“ „Wieso. Der Wurm ist doch cool.“   Ich verdrehte die Augen. „Jaa, aber es ist immer noch ein Wurm. Verstehst du? Das ist doch voll lame.“   Tobias nickte verstehend. „Du willst also ein Tier, das besser zu dir passt.“ „Ja.“ „Und was für eins?“   Ich überlegte. Eigentlich fiel mir nicht wirklich was ein. Herausfordernd grinste ich Tobias an. „Was würdest du denn für mich aussuchen?“   Er schürzte die Lippen und überlegte.   „Mhm, keine Ahnung. Einen Hund vielleicht? Oder ne Katze. Die sind auch unberechenbar. Manchmal eigensinnig und hochnäsig, aber manchmal auch ganz kuschelig und schmusig.“   „Ey!“, rief ich empört.   Ich versetzte Tobias einen ordentlichen Rempler, den dieser genauso beantwortete. Wir kabbelten uns noch den Rest des Essens durch, sodass ich ganz vergaß, womit das Ganze eigentlich angefangen hatte. Als sich der Rest jedoch ins Wohnzimmer verzog und auch Tobias sich verabschiedete, weil er Feierabend und obendrein noch eine Verabredung mit Cedric hatte, blieben Leif und ich auf einmal allein in der Küche zurück. Sofort hatte ich das Gefühl, dass die Temperatur um mindestens zwei Grad gefallen war. Oder gestiegen. Ganz sicher war ich mir nicht. Es fühlte sich merkwürdig an.   Während er stumm Käse und Aufschnitt wieder zurück in den Kühlschrank räumte, stellte ich die Teller in die Spülmaschine. Das Ding war allerdings mal wieder vollkommen überfüllt, sodass mir die Hälfte der Teller und fast alle Gläser übrig blieben. Ich stöhnte laut auf. „Was ist los?“ „Die Spülmaschine ist mal wieder voll.“ „Zeig mal.“   Leif kam zu mir und betrachtete sich die Bescherung. Dann begann er, das dreckige Geschirr umzuschichten. Er nahm die zwei Töpfe vom Mittagessen wieder heraus und stellte sie auf die Spüle. Danach passten Teller und Gläser hervorragend hinein und es blieb sogar noch Platz für die Schüsseln und Teller, die Leif mitgebracht hatte. „Siehst du? Die Töpfe nehmen zu viel Platz weg. Du solltest sie mit der Hand abwaschen.“ „Aber ich hab keinen Abwaschdienst.“ „Tja …“   Er zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er sich einen sichtbaren Ruck gab und entschlossen nach der Spülbürste griff. „Dann wasche ich ab und du trocknest. So sind wir schneller fertig.“   Eigentlich hätte ich lieber Jason, der diese Woche fürs Abwaschen zuständig war, wieder zurückgeholt, aber dann schnappte ich mir doch ein Geschirrtuch und wartete darauf, dass Leif mit dem ersten Topf fertig wurde. Er schrubbte jedoch ewig daran herum und fand anscheinend immer noch eine Stelle, die er mit großer Hingabe bearbeiten musste. Irgendwann reichte es mir. „Sag mal, ist der nicht bald durch? So wie du darauf herumrubbelst …“ „Da ist was angebrannt.“ „Zeig mal.“   Ich drängte mich neben ihn an das Spülbecken und griff nach dem Topf. Er hielt ihn fest, aber ich bekam ihn so weit aus dem Wasser, dass ich sehen konnte, dass der Boden bereits blitzeblank war. Triumphierend funkelte ich ihn an. „Ha, siehste! Der ist sauber.“   Leif lächelte leicht.   „Tja, na ja. Ich schätze, ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“   Ich sah ihm in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und mein Herz begann zu klopfen. Das Verlangen, mich zu ihm zu lehnen und ihn zu küssen, sprengte sämtliche Skalen. Von Null auf Hundert in drei Sekunden. Und doch ging das nicht. Zum einen, weil wir hier in der Küche standen und jederzeit jemand reinkommen konnte. Allein dass wir uns anstarrten wie die Mondkälber, war schon verdächtig genug. Zum anderen war ich mir nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Ich schluckte langsam. „Ich … ich hab dein Bild mitgenommen. Das von dem Vogel. Im Käfig.“   Ich wusste nicht, warum ich das jetzt sagte. Sofort zogen sich die Wolken auf Leifs Gesicht wieder zu. „Was? Warum? Ich hatte doch gesagt, dass es in den Müll kann.“ „Ja, aber … ich mochte das Bild. Deswegen wollte ich dich fragen, ob ich es behalten kann.   Er rang mit sich; ich konnte es sehen. Sein Blick flackerte, während sich der Rest seines Körpers versteifte. Sein Atem wurde schneller, die Pupillen größer. Als würde er jeden Moment davonlaufen. Ich wollte das nicht mitansehen. Also zog ich das schon leicht zerknitterte Blatt wieder aus meiner Tasche und reichte es ihm. „Hier“, sagte ich leise. „Nimm es. Und wenn du es dir noch anders überlegst, kannst du es mir zurückgeben.“   Danach griff ich nach dem Topf und begann ihn abzutrocknen. Ich versuchte meinen hämmernden Herzschlag zu ignorieren und die Tatsache, dass Leif mich eine gefühlte Ewigkeit lang anstarrte, bevor er endlich anfing, den zweiten Topf abzuwaschen. Ich versuchte die Erinnerung daran zu verdrängen, wie es sich angefühlt hatte, so nahe neben ihm zu stehen. Ihn fast zu berühren, aber eben doch nicht ganz. Es brachte mich fast um, aber ich wusste, dass ich abwarten musste. Selbst wenn es die ganze Nacht dauern würde. Oder eine Woche, einen Monat, ein Jahr.   Trottel! In einem Jahr seid ihr beide nicht mehr hier.   Bei diesem Gedanken zuckte ich innerlich zusammen. Ich wusste, dass ich mit Sicherheit noch ein paar Monate bleiben würde. Bis zu meinem Schulabschluss fehlte einfach noch zu viel. Aber Leif? Wie lange würde er noch hierbleiben? Nur so lange, bis er das mit dem Essen wieder sicher im Griff hatte? Und wenn ja, wie lange würde das dauern?     Leif verabschiedete sich von mir, nachdem er den Topf abgewaschen hatte. Ich räumte das Teil noch weg und dachte, dass ich ihn im Wohnzimmer bei den anderen finden würde, aber da war er nicht. Enttäuscht ließ ich mich neben Jason auf einen der Sofaplätze fallen und schaute blicklos auf die flimmernde Mattscheibe. Dort oben reihte sich eine Actionszene an die andere, nur kurz unterbrochen von sinnfreien Dialogen, aber mir war es recht. Dabei musste man wenigstens nicht nachdenken.   Als Henning uns schließlich in unsere Betten scheuchte, war Leifs Zimmertür bereits geschlossen und es sah nicht so aus, als würde er heute noch einmal herauskommen. Ich hörte, wie Henning ihm eine gute Nacht wünschte, während ich noch eben ins Bad huschte zum Zähneputzen. Als ich zurück in mein Zimmer kam, ließ ich mich schwer auf mein Bett fallen. Ich war hundemüde und erwartete, dass mir gleich die Augen zufallen würden. Stattdessen lag ich eine halbe Stunde später immer noch da und wartete darauf einzuschlafen. Genervt warf ich mich in meinem Bett herum, als ich plötzlich etwas hörte. Ein feines Rascheln und Knistern, das ich einfach nicht zuordnen konnte.   Ich erhob mich wieder und tastete auf meinem Bett herum. Unter meinem Kissen fand ich schließlich ein Stück Papier. Ich zog es hervor und entfaltete es. Im spärlichen Licht des kaputten Rollladens konnte ich erkennen, dass es die Leifs Zeichnung war. Das Bild von dem Vogel im Käfig. Auf die Brust des Tieres hatte er ein rotes Herz gemalt.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)