Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 16: Fragen und Antworten -------------------------------- „Manuel? Hast du mir zugehört?“ Ich schreckte hoch. Schon wieder saß ich auf diesem merkwürdigen Schaukelstuhl, der keiner war, und sollte mich darin üben, mein Inneres zu erforschen oder irgendwelchen Quatsch. Ich hasste es, hier zu sein. Aber noch viel mehr hasste ich die Tatsache, dass ich meine Gedanken einfach nicht von der Person lösen konnte, die draußen im Wartezimmer saß. Vor einigen Wochen hätte ich noch gewettet, dass es Tobias sein würde, der mir mal schlaflose Nächte bereitete. Im positiven Sinne natürlich. Doch stattdessen war es Leif, um den sich alles drehte, und ich kam darauf einfach nicht klar. „Nein. Nein, hab ich nicht“, gab ich zu. Dr. Leiterer hatte diese Wirkung irgendwie. Dass man ihm die Wahrheit sagte. Warum das so war, wusste ich nicht, aber es war beängstigend und anstrengend und so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich wollte. Besonders als ich die nächste Frage hörte. „Was beschäftigt dich denn so, dass du meinen Ausführungen nicht folgen kannst? Wir können uns durchaus auch um akute Probleme kümmern, wenn du das möchtest. Auch dafür bin ich da.“ „Wie beruhigend“, knurrte ich. Dann würden wir heute also nicht in der Scheiße herumwühlen, die bisher in meinem Leben passiert war, sondern in der, die noch an meinem Hintern klebte. Ganz großartig. Ja wirklich. „Also, dann schieß mal los. Was geht dir gerade durch den Kopf?“ 'Nichts!', hätte ich am liebsten gesagt. Aber das wäre eine dicke, fette Lüge gewesen. Eigentlich war da oben eine ganze Menge los. Nicht alles davon hatte mit Leif zu tun. Da war zum Beispiel der Test, den ich heute Morgen wiederbekommen hatte. Volle Punktzahl. Frau Schmidt war darüber wohl ebenso erstaunt gewesen wie ich. Trotzdem hatte sie gelächelt und gemeint, dass ich 'das Klassenziel wohl bald erreicht hätte'. Das hieß, ich kam in die größere Gruppe. Wie auch immer ich es geschafft hatte, den ganzen Kram nachzuholen. Wenn ich mich konzentrierte, war es eigentlich auch gar nicht schwer. Auch wenn sich mir der Sinn nicht immer erschloss. War mir doch egal, wie sich Blumen vermehrten. Die würden schon nicht aussterben, wenn ich mich da raushielt. Hauptsache sie wussten, was sie zu tun hatten. Das „Fortpflanzungsverhalten“ von Menschen war es, das mir da größere Schwierigkeiten machte. Vor allem, wenn man einen gewissen Leif mit in die Gleichung einbezog, der sich verhielt wie 33 Unbekannte auf einmal. Echt zum Kotzen. „Es ist nichts“, brummte ich trotzdem. Weil ich nicht mit Dr. Leiterer darüber reden wollte, dass schon wieder Funkstille zwischen mir und Leif herrschte. Im Gegensatz zu unserem ersten Streit machte er seit dem Wochenende aber nicht mal mehr den Versuch, sich um ein normales Verhältnis zu bemühen, und ich auch nicht. Ich hing mit den anderen ab und ließ ihn ebenso wie der Rest der Truppe links liegen. Es fühlte sich falsch an, aber hatte ich denn eine Wahl? „Hast du Probleme mit einem deiner Mitbewohner?“ Volltreffer! Ich hätte echt gerne gewusst, wie er das machte. Ob Leif ihm was von uns erzählt hatte? Dieser Verräter! Ich setzte ein herablassendes Lächeln auf. „So wie ich Sie kenne, wissen Sie das doch schon längst.“ Ich wartete darauf, dass Dr. Leiterer sich mal wieder eine Notiz machte, aber er blieb ruhig sitzen und blickte mich nur an. „Was denkst du denn, das ich schon weiß?“, fragte er freundlich. „Vielleicht kommen wir ja so deiner derzeitigen Missstimmung auf die Schliche.“ Missstimmung. Ich hätte beinahe gelacht. Ja, so konnte man das wohl nennen. Selbst Tobias hatte bemerkt, dass ich scheiße drauf war. Ich kriegte zwar meistens noch die Kurve, bevor es richtig Ärger gab, riss mich in der Schule zusammen und so, aber sobald es um irgendwelche Gruppenaktivitäten ging, hielt ich mich möglichst raus. Ich suchte mir einen Platz weit weg von Leif und brütetet dort vor mich hin, bis ich wieder in mein Zimmer gehen konnte. Dort lag ich stundenlang auf dem Bett und starrte die Wand an, während ich Musik hörte. Nun ja, nicht stundenlang. Schließlich war Tobias immer noch damit beschäftigt, mich zu beschäftigen. Eine Aufgabe, die er durchaus ernst nahm. Auch ihm hatte ich nicht erzählt, was los war. Und jetzt sollte ich das Ganze mit Dr. Leiterer durchkauen? Einem Typen, den ich kaum zwei Wochen lang kannte? Zumal das eh nichts an der Situation geändert hätte. Wenigstens weiß ich jetzt, wo meine Probleme liegen. Das hatte Leif über seine Therapie hier gesagt. Gequirlte Hühnerkacke. Vor allem, weil ich ja schon wusste, was mein Problem war. Ich wollte Leif, aber ich konnte ihn nicht haben. Weil er mich nicht wollte. Um das zu erkennen, brauchte ich keinen Doktortitel und keine schicke Praxis. Dr. Leiterer lehnte sich zurück. Er trug heute einen dunkelblauen Pullover mit einem V-Ausschnitt. Darunter ein hellblaues Hemd. Der oberste Knopf war offen. Vermutlich, um das Ganze ein bisschen lockerer zu gestalten. Oder sein Hals war zu dick für den Kragen. Ich grinste bei diesem Wortspiel. „Worüber freust du dich gerade?“ „Ach nichts. War ein dummer Gedanke.“ „Oh, ich denke nicht, dass Gedanken dumm sein können. Manchmal muss man sie nur in das richtige Licht setzen, damit sich ihr Sinn offenbart.“ Ich prustete. „Sie waren noch nie besoffen, oder?“ Dr. Leiterer schmunzelte. „Das tut jetzt nicht zur Sache.“ Ich grinste. „Aber Sie müssen zugeben, dass einem da schon ziemlicher Stuss durch den Kopf gehen kann.“ Jetzt seufzte er. „Ist dir eigentlich bewusst, dass du mir die ganze Zeit ausweichst?“ Er sah mich an und erwartete anscheinend tatsächlich, dass ich diese Frage beantwortete. Ich drehte den Kopf weg. „Ein bisschen.“ Er kommentierte das nicht, sondern wartete lediglich darauf, dass ich wieder anfing zu sprechen. Das Spiel kannte ich ja inzwischen schon. Natürlich hätte ich jetzt mit irgendeinem anderen Thema anfangen können. Mit meinen Eltern zum Beispiel. Oder meinem Bruder. In der Beziehung lief ich mit Sicherheit auch nicht so ganz rund. War vielleicht normal, wenn der versucht hatte, einen umzubringen, aber trotzdem. Mit mir stimmte so einiges nicht. Wahrscheinlich war das der Grund, warum Leif vor mir davonlief. Weil ich einen an der Klatsche hatte. Ich gab mir einen Ruck. Vielleicht gab der Doc ja endlich Ruhe, wenn ich ihm erzählte, was mich beschäftigte. „Es geht um Leif“, sagte ich, ohne eine weitere Erklärung dazu zu liefern. Dr. Leiterer nickte. „Schön. Und wie genau sieht das Problem aus, dass du mit ihm hast?“ Ich schnaubte. „Ich dachte, ich bin hier, damit Sie mir das sagen.“ Dr. Leiterer lachte. „Oh, da bist du aber falsch informiert. Ich bin lediglich dafür da, dass du das selbst erkennen kannst.“ Ich atmete tief ein und rutschte ein Stück tiefer in meinen Sitz. So ein Mist! Das andere wäre mir deutlich lieber gewesen. Und einfacher. Aber einfach schien es irgendwie nicht zu geben. Nur den Weg mitten hindurch durch die größten Scheißhaufen. Ich wollte diesen Weg nicht gehen. „Sagen Sie mir wenigstens, ob Leif Ihnen schon was erzählt hat? Ich mein, wenn ich nochmal bei Null anfange, obwohl Sie die Geschichte eigentlich schon kennen, wäre das doch irgendwie Zeitverschwendung.“ Dr. Leiterer lächelte leicht. „Wie ich dir bereits mehrmals erklärt habe, darf ich dir dazu keine Auskunft geben. Aber vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ein und dieselbe Geschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven vollkommen unterschiedlich aussehen kann. Einfach weil verschiedene Menschen die gleiche Sache mitunter unterschiedlich erleben und beurteilen. Also fühl dich nicht davon befangen, dass es sein könnte, dass ich einen Teil dessen, was du mir erzählen willst, schon einmal gehört habe. Selbst wenn es so wäre, wäre ich trotzdem an deiner Sicht der Dinge interessiert.“ Ich sah zu Boden. Da unten lag ein Teppich mit einem hellen Muster. Er war schon ziemlich abgetreten und nicht mehr ganz sauber. So wie eigentlich alles hier schon ein bisschen gebraucht aussah. Selbst der Doc. Aber hieß das nicht vielleicht, dass ziemlich viele Leute hierherkamen, weil er ihnen helfen konnte? Ich atmete tief durch. Ein Versuch konnte ja nicht schaden. „Angefangen hat das mit mir und Leif eigentlich schon an dem Tag, als ich in Thielensee ankam. Wir haben … rumgemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Ich schielte zu Dr. Leiterer rüber, ob er irgendwie darauf reagierte, aber er saß nur da mit seinem Schreibblock und wartete, dass ich weitererzählte. Ich sah wieder nach unten und fuhr fort. „Irgendwann ist er dann mal nachts zu mir gekommen. Ich … ich war heiß auf ihn und er auf mich. Wir hatten Spaß zusammen. Ganz unverbindlich. Doch dann …. dann war da mein Geburtstag. Seine Eltern sind an dem Tag aufgetaucht und haben ihn abgeholt. Als er wiederkam, war er ziemlich fertig. Er hat nicht gegessen, wissen Sie? Daran merkt man das meistens. Er wollte nicht mal die Pizza, die ich extra für ihn aufgehoben hatte.“ Dr. Leiterer bewegte die Hand, um sich eine Notiz zu machen. Als er sah, dass ich es bemerkt hatte, lächelte er leicht. „Lass dich durch mich nicht stören. Ich muss mir nur ab und an mal was aufschreiben, damit ich es nicht vergesse. Du bist ja nicht mein einziger Patient.“ Ich nickte und überlegte, wie ich am besten weitermachen sollte. Was an der Geschichte war wichtig? Was davon hatte Leif wohl bereits erzählt? Er hat gesagt, dass es egal ist. Ich schluckte und sprach weiter. „An dem Abend kam er dann noch zu mir. Wir haben uns erst ein bisschen gezofft und dann … dann haben wir uns geküsst.“ „Und das war etwas Besonderes für dich?“ Ich zuckte die Achseln. „Nein, eigentlich nicht. Ich hab schon einige Kerle geküsst, aber …“ Ich hielt inne. Dr. Leiterer sah mich fragend an. „Aber?“, wiederholte er auffordernd. „Ich … mir ist einfach aufgefallen, dass wir das vorher nicht gemacht haben. Keine Ahnung, wieso. Es hat sich nicht ergeben.“ „Soso, nicht ergeben“, murmelte Dr. Leiterer und schrieb sich noch etwas auf. „Und wie ging es dann weiter nach eurem Kuss.“ Ich versuchte ein Grinsen zu verbergen, aber es gelang mir nicht ganz. „Er hat mir einen runtergeholt“, platzte ich schließlich heraus. „Als Geburtstagsgeschenk.“ Dr. Leiterer machte sich eine Notiz. „War das das erste Mal, dass ihr intim wart?“ Ich blinzelte ihn an. „Äh, nein. Hab ich doch schon gesagt. Er hat mir vorher auch schon ein paar Mal einen geblasen und ich ihm. Manchmal war es auch nur Handarbeit. Je nachdem, worauf wir Lust hatten.“ „Aha“, machte Dr. Leiterer und schrieb sich das auf. Danach blickte er hoch. „Hast du eigentlich schon mal Probleme wegen deiner Homosexualität bekommen?“ Ich sah ihn verständnislos an. „Was? Sie meinen, ob ich schon mal blöde Sprüche kassiert habe oder vor irgendwelchen Schlägern flüchten musste, damit die mich nicht aufmischen?“ „Ja, so etwas zum Beispiel. Aber auch innerhalb deiner Familie oder deines Freundeskreises.“ Ich sah zur Seite. „Die wissen es nicht und das soll auch so bleiben.“ „Warum?“ „Weil es Arschlöcher sind. Deswegen.“ Na toll. Jetzt waren wir also doch wieder bei meiner Familie gelandet. Ich hätte es wissen sollen. Die Sache mit Leif ging ihm vollkommen am Arsch vorbei. „Gut. Entschuldige bitte, dass ich das gefragt habe. Ich finde es nur bemerkenswert, dass du damit so gut umgehen kannst. Oftmals geht es einem ja doch ziemlich nahe, wenn geliebte Menschen einen so wichtigen Teil der Persönlichkeit ablehnen oder man ihn ständig verstecken muss.“ Ich verzog den Mund. Geliebte Menschen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Eltern wirklich darunter fielen. Oder mein Bruder. Ich hatte nicht das Gefühl, sie zu lieben. Das beruhte vermutlich auf Gegenseitigkeit. „Ist schon okay. Ich hab kein Problem damit, schwul zu sein. Gibt ne Menge heiße Typen da draußen. Die wollen wir doch nicht enttäuschen.“ Ein kleines Lächeln glitt über Dr. Leiterers Gesicht „Dann erzähl mir doch mal, wie es mit dir und Leif weiterging. Ihr habt also Zärtlichkeiten ausgetauscht. Euch geküsst. Und dann?“ Ich senkte den Kopf. „Dann hab ich Scheiße gebaut.“ Dr. Leiterer sah auf. „Und welche Art von Scheiße?“ Ich schluckte. Auf den Teil der Geschichte hatte ich so gar keinen Bock. Aber es musste wohl sein. „Ich … ich hab sein Tagebuch geklaut. Sie wissen schon. Das, wo er aufschreibt, was er isst. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Und dann war es passiert und er war sauer und ich bin abgehauen. Nach Hamburg. Und als ich wiederkam, da war er immer noch sauer. Aber nicht wegen des Buches. Also schon, aber irgendwie auch nicht. Ich hab das nicht so richtig kapiert. Und am Ende hat er gesagt, dass wir Freunde sind. Aber irgendwie funktioniert das auch nicht so richtig. Weil am Wochenende da haben wir erst geredet und das war okay, aber dann … dann haben wir uns wieder geküsst. Ich wollte mehr und er auch, aber dann hat er plötzlich einen Rückzieher gemacht und ist abgehauen. Seitdem sprechen wir nicht mehr miteinander.“ Ich war gegen Ende immer schneller geworden und jetzt, da ich fertig war, hatte ich das Gefühl kurz vor einem Abgrund stehengeblieben zu sein. Das war einerseits nervenaufreibend, andererseits gab es da doch diesen Spruch. Heute stehe ich vor dem Abgrund, morgen bin ich schon einen Schritt weiter. Natürlich wusste ich, wie das gemeint war – ich war ja nicht blöd – aber vielleicht … vielleicht hatte Dr. Leiterer ja noch eine Idee, wie man aus diesem Schlamassel herauskam. Anders als sich von einer Klippe zu stürzen. Was ich ohnehin nicht vorhatte. Aber wie ich von hier wieder wegkam, wusste ich auch nicht. Dr. Leiterer hingegen reagierte nicht auf meine heruntergehaspelte Erklärung. Er saß da mit einer kleine Falte zwischen den Augenbrauen und schrieb etwas auf. Das war neu. Das hatte er vorher noch nie gemacht. Warum tat er es jetzt? Hatte ich irgendwas Wichtiges gesagt? Und wenn ja, was war es gewesen? Endlich hob er wieder den Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdig zufriedener Ausdruck. Das gefiel mir nicht. „Was?“, fragte ich ärgerlich. Der sollte endlich aufhören zu grinsen und mit seiner Weisheit rausrücken und mich erleuchten. Was hatte ich gerade gemacht? „Lass uns doch noch einmal zu diesem Tag zurückkommen, an dem du weggelaufen bist. Magst du mir mal schildern, was an dem Tag alles passiert ist.“ Ich stöhnte innerlich. Also ging es doch darum. Aber meinetwegen, dann rollte ich das eben nochmal von vorne auf. Ich erzählte wahrheitsgemäß noch einmal den ganzen Tag und Dr. Leiterer hörte mir aufmerksam zu. Als ich fertig war, fragte er: „Und welches dieser Ereignisse, würdest du als am schwerwiegendsten einschätzen. Wenn du sie mal gewichten solltest auf einer Skala von eins bis zehn.“ Ich überlegte. Die Sache mit den Kaugummis war schon ziemlich scheiße gewesen, aber eigentlich nur, weil der Rest so blöd gelaufen war. Also vielleicht eine Vier. Dass Tobias nicht da gewesen war, eine Fünf. Bei ihm hätte ich mich vielleicht darüber auskotzen können oder es wäre gar nicht erst zu diesem blöden Streit mit Maik gekommen. Der pochte immer nur auf die Einhaltung der Regeln ohne Wenn und Aber. Ich verstand ja, dass die wichtig waren, aber manchmal kotzte es mich einfach nur an. Tobias war da viel lockerer und vor allem hatte ich bei ihm das Gefühl, dass er ir auch wirklich zuhörte.Trotzdem bekam der Streit mit Maik auch nur eine Vier. Sven dagegen war bestimmt ne Fünf oder sechs. Obwohl ich inzwischen eigentlich gar nicht mehr verstand, warum wir uns beide immer so auf den Sack gegangen waren. Immerhin saßen wir ja im gleichen Boot. Blieb nur noch die Sache mit Leif. Seine Enttäuschung darüber, dass ich ihn bestohlen hatte. Die Tatsache, dass er so sauer gewesen war. Dass er meinetwegen nicht richtig gegessen hatte. Einfach alles. Das war mindestens eine Sieben. Wenn nicht sogar eine Acht. Ich schluckte. „Das mit Leif war am schlimmsten“, sagte ich tonlos. Der Rest hatte irgendwie nur so am Rand rumgekratzt. Nervig, aber es würde nicht lange vorhalten. Das mit Leif jedoch, das war irgendwie … anders. „Du hast gesagt, dass du ihn magst. Ist das richtig?“ Ich nickte stumm. Ja, ich mochte ihn. Vielleicht ein bisschen zu sehr. Ich war nämlich wirklich nicht so der Typ für … so was. Aber irgendwie hatte dieser komische Frosch mit dem breiten Mundwerk und den dünnen Beinen es geschafft, sich bei mir einzunisten. Obwohl Frösche doch noch nicht mal Nester bauten. Glaubte ich jedenfalls. Die waren in Bio noch nicht dran gewesen. „Und hast du eine Erklärung dafür, warum das so ist?“ Ich zuckte mit den Schultern.. „Nein. Er war halt … er war der einzige Freund, den ich hatte. Da fühlt es sich halt scheiße an, wenn man sich mit dem in die Wolle kriegt.“ „Also seid ihr nur das. Freunde?“ Die Art und Weise, in der er die Frage stellte, ließ mich aufhorchen. „Wieso wollen Sie das wissen? Hat Leif was gesagt?“ Dr. Leiterer hub an, mir zu antworten, aber ich winkte ab. „Jaja, ich weiß. Sie können mir nichts dazu sagen. Aber das ist wichtig. Bitte!“ Normalerweise hätte ich mich wohl geschämt, ihn so zu beknien, aber in diesem Moment war mir das herzlich egal. Ich hatte mich nämlich daran erinnert, dass Leif das ebenfalls gesagt hatte und dabei genauso komisch geklungen hatte wie Dr. Leiterer gerade. Da musste es doch einen Zusammenhang geben. Oder nicht? Dr. Leiterer ließ jetzt seinen Block sinken. Ich riskierte einen Blick darauf, musste aber feststellen, dass er eine ziemliche Sauklaue hatte. Das oder er schrieb mit Absicht so, dass man nichts erkennen konnte. Was für ein Arsch! „Ich darf dir tatsächlich nichts zu dem Thema sagen.“ „Weil Sie mit Leif darüber gesprochen haben?“ „Vielleicht. Aber was ich dir noch einmal ans Herz legen möchte, ist, ihn selbst danach zu fragen. Denn so, wie es sich anhört, findet ihr ja durchaus Gefallen aneinander. Aber du sagst selbst, dass Leif neuerdings vor körperlicher Intimität mit dir zurückschreckt. Vielleicht wäre es eine gute Idee herauszufinden, warum das so ist.“ Ich blieb einen Augenblick lang still. Jetzt, wo Dr. Leiterer es sagte, kam es mir tatsächlich komisch vor. Leif hatte so lange mitgemacht, bis ich angefangen hatte, ihn zu küssen. Und andere Sachen. Aber eigentlich hatte er doch mich zuerst geküsst. Das musste doch was heißen. Aber dann hatte er aufgehört. Weil er nicht konnte. Das hatte er gesagt. Nicht, weil er nicht wollte. Hieß das, dass er doch wollte? Ich schnaufte und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Das war so verdammt kompliziert. Warum war es nur so scheiße kompliziert? Es lief doch am Anfang. Warum jetzt nicht mehr? Was hat sich geändert? „Du siehst ein bisschen verzweifelt aus.“ Ach ja. Dr. Leiterer war ja auch noch da. Ich sah zu ihm rüber. „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Der Doc zog fragend die Augenbrauen nach oben. Anscheinend sollte ich weiter sprechen. Aber in meinem Kopf herrschte gerade absolute Leere. Dafür hatte ich den Bauch voll mit lauter … Dingen. Dingen, die mich verwirrten und zittern ließen und die ich am liebsten nicht gehabt hätte. Dinge, die nur weggehen würden, wenn ich das mit Leif in Ordnung brachte. Aber wie? Wie? „Wie ich dir schon sagte, wäre es vielleicht der richtige Weg, das Gespräch mit Leif zu suchen.“ Ich lachte auf. „Ja klar. Und was soll ich da sagen? 'Ey, entschuldige mal, aber warum willst du eigentlich nicht mit mir ficken?' Meinen Sie wirklich, dass er mir darauf antworten würde?“ Dr. Leiterer schmunzelte. „Die Wortwahl ist vielleicht etwas ungeschickt.“ „Und was soll ich dann sagen?“ „Was möchtest du denn sagen?“ Ich knurrte ihn an. „Müssen Sie eigentlich alles mit einer Gegenfrage beantworten?“ Er lächelte leicht. „Also schön, dann versuche ich dir mal ein bisschen auf die Sprünge zu helfen. Lass uns doch nochmal zu dem Tag zurückgehen, an dem du Leifs Tagebuch mitgenommen hast. Was genau hast du dir denn davon versprochen?“ Ich schnaubte. „Ich hab doch schon gesagt, dass ich das nicht weiß. Es war einfach eine total dämliche Idee.“ Dr. Leiterer nickte jetzt. „Da möchte ich dir zustimmen. Aber auch für die dümmste Entscheidung gibt es doch immer einen Grund. Oder wenigstens einen Auslöser. Denkst du nicht?“ Ich senkte den Kopf. Einen Auslöser. Für das Weglaufen hätte ich ihm den vielleicht noch nennen können. Aber das mit dem Tagebuch? Ich schüttelte frustriert den Kopf. „Da ist nichts. Ich … ich hab einfach die Gelegenheit genutzt.“ „Die Gelegenheit wofür?“ Ich blickte auf. Dr. Leiterer hatte sich ein wenig vorgebeugt und sah mich intensiv an. Ich musste da irgendwas auf der Spur sein. Aber was? WAS? „Ich weiß es nicht“, fuhr ich ihn an. „Ich weiß nicht, warum ich das blöde Ding haben wollte. Es stand ja nicht mal was Spannendes drin. Nur das mit dem Essen. Dabei ist mir das vollkommen egal. Mir ist egal, wie er aussieht. Ich will nur …“ „Ja?“ Ich ballte die Fäuste und hielt die Tränen zurück, die sich mit Macht nach vorne drängten. Scheiße! Ich wusste, was ich wollte. Ich wollte bei ihm sein. Mehr nicht. Aber das ging nicht und das fühlte sich an, als hätte jemand ein Loch in meine Brust gerissen. Ein scheißriesiges fucking Loch! Der Raum begann sich um mich zu drehen. Mir wurde heiß und kalt. Ich schwitze und mir war schlecht. Mein Puls dröhnte durch meinen Kopf. Ich wollte hier nur noch weg.Weg, weg, weg. „Möchtest du etwas trinken?“ Dr. Leiterers Worte rissen mich zurück in die Realität. Wahrscheinlich gab ich gerade ein ziemlich jämmerliches Bild ab. Schnell setzte ich mich wieder – wann war ich aufgesprungen? – und zwang ein schiefes Lächeln auf mein Gesicht. „Wenn Sie Whiskey haben.“ Ich mochte das Zeug nicht, aber der Spruch allein zählte. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Dr. Leiterer lachte. „Nein, nur Wasser. Möchtest du etwas?“ Ich zögerte. Meine Kehle war wie ausgedörrt, aber ich wollte mir nicht die Blöße geben, das zuzugeben. Es war schwach und wer schwach war, kam unter die Räder. Ich fuhr lieber oben mit. Dr. Leiterer wartete meine Antwort jedoch gar nicht ab. Er stand auf, ging zum Regal und holte von dort eine Flasche Mineralwasser und ein Glas. Anschließend goss er es halbvoll und reichte es mir. Ich nahm es und trank einen vorsichtigen Schluck. Obwohl mir eigentlich danach war, alles hinunterzustürzen. Danach stellte ich das Glas wieder auf den Tisch. Erst da fiel mir auf, dass er auch so eine Box mit Taschentüchern dorthin gestellt hatte. Oder hatte die da vorher schon gestanden? Ich wusste es nicht, aber ich würde sie mit Sicherheit nicht benutzen. „Also, lass uns doch mal über das sprechen, was da gerade passiert ist. Du schienst mir sehr … aufgewühlt zu sein. Magst du mir erklären, warum?“ Nein. Natürlich wollte ich das nicht. Zumal ich es auch nicht wusste. Ich hatte Leif doch auch schon gesagt, dass ich ihn wollte. Sogar, dass ich einfach nur so ein bisschen mit ihm zusammen sein wollte, auch wenn wir keinen Sex hatten. Obwohl ich das auch wollte. Es war wirklich zum Verrücktwerden. Ich kam mir vor wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagte. Wobei ich das schon mal ausprobiert hatte. Wenn man gelenkig genug war, gab es da durchaus Möglichkeiten … „Manuel?“ Ich schüttelte den Kopf. Jetzt lenkte ich mich schon selber ab. „Ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, warum ich das Tagebuch genommen habe. Ich weiß es nicht.“ Dr. Leiterer presste die Lippen aufeinander. Anscheinend hatte ich das Kunststück, das er mich vollführen lassen wollte, immer noch nicht hinbekommen. Tja, tut mir leid. Ich bin eben nur ein dummer Hund. Er seufzte. „Na schön, dann werde ich dir jetzt mal eine kleine Hausaufgabe mitgeben. Du hast bis nächste Woche Zeit, sie zu erledigen. Einverstanden?“ Ich nickte Was blieb mir auch anderes übrig? Andererseits: Was wollte er tun, wenn ich sie nicht machte? Mich rausschmeißen? „Ich möchte dass du eine Liste mit Dingen machst, die du in dein Tagebuch schreiben würdest.“ „Aber ich habe kein Tagebuch.“ „Dann stell dir vor, du hättest eines. Du musst die Punkte nicht ausformulieren. Ich möchte nur, dass du einmal darüber nachdenkst, was aus deinem Leben du wohl aufschreiben wollen würdest. Natürlich kannst du es auch gerne tatsächlich aufschreiben, aber eine einfache Liste würde mir erst einmal genügen.“ Dr. Leiterer sah mich fragend an. „Meinst du, du schaffst das?“ „Ich versuch’s mal.“ So richtig klar war mir zwar nicht, was das bringen sollte, aber wenn er meinte, dass das notwendig war, dann würde ich den Stuss eben aufschreiben. So schwer konnte das ja nicht sein. Ein schrilles Klingeln ertönte und Dr. Leiterer drückte auf einen Knopf an der Wand. Ich hörte ein Summen und die Wohnungstür wurde geöffnet. Anscheinend war der nächste Patient angetanzt, um sich hier auszukotzen. Ich erwartete, dass Dr. Leiterer mir sagen würde, dass wir fertig waren, aber er tat es nicht. Stattdessen betrachtete er mich, als würde er irgendetwas suchen. Etwas, das man nicht auf den ersten Blick erkennen konnte. „Weißt du, Manuel, ich glaube, dass du dich manchmal sehr, sehr gründlich vor dem versteckst, was du fühlst. Vielleicht weil du Angst hast, erneut verletzt zu werden. Aber wenn man nicht für den Rest seines Lebens allein bleiben möchte, muss man eine solche Verletzung manchmal riskieren. Damit will ich nicht sagen, dass du loslaufen und dein Herz zum Abschuss freigeben sollst. Aber vielleicht denkst du mal darüber nach, die Menschen um dich herum einen kleinen Blick hinter die Fassade werfen zu lassen. Ich glaube, sie wären erfreut über das, was sie vorfinden würden.“ Mit diesen Worten schloss er das Gespräch und entließ mich nach draußen. Ich ging durch den langen Flur bis zum Wartezimmer, wo Leif und Tobias auf mich warteten. Letzterer sprang auf, als er mich sah. Leif hingegen blieb sitzen und tat, als habe er mich nicht bemerkt. Tobias kam auf mich zu. „Na, Großer, alles klar bei dir? Du bist ein bisschen blass um die Nase.“ Ich war versucht, mein übliches Grinsen aufzusetzen. So zu tun, als wäre nichts passiert. Dann jedoch dachte ich an das, was Dr. Leiterer gesagt hatte. Es klang vollkommen blöd und lächerlich, aber vielleicht … „Wir haben heute über ein schwieriges Thema gesprochen. Jetzt bin ich ganz schön platt.“ Ein kleines Lächeln breitete sich auf Tobias’ Gesicht aus. Kein fröhliches Lachen, das mir einer meiner üblichen Sprüche eingebracht hätte, sondern etwas anderes. Wahrscheinlich hätte es mich stören sollen, aber in dem Moment, als er die Hand auf meinen Oberarm legte, vergaß ich meine Bedenken. Die Wärme drang durch den Stoff. „Das klingt trotzdem gut. Ich freu mich für dich.“ Danach forderte er mich und Leif auf, uns zu beeilen, weil wir am Nachmittag noch mit einem Projekt beginnen wollten. Thomas und Tobias hatten das bereits gestern großzügig angekündigt und machten ein großes Gewese darum. Ich hatte keinen Bock dazu, aber es würde mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Als mein Blick auf Leif fiel, war der gerade dabei, die nächste Seite in der Illustrierten aufzuschlagen. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu erheben. Langsam ging ich zu ihm hin und wartete, dass er zu mir hoch sah. Als er es tat, war sein Gesicht abweisend. „Was guckst du so?“, fragte er gereizt. Ich lächelte. „Tja, weiß nicht. Vielleicht schau ich dich einfach gerne an.“ Leif starrte mich noch einen Augenblick lang an, bevor er hastig den Kopf senkte und so tat, als würde er sich nur für den Artikel interessieren. Aber er war dabei nicht schnell genug gewesen. Ich hatte gesehen, dass er gelächelt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)