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Ganz tief drin

von

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Abgeblitzt

„Nein.“

 

Leifs Antwort traf mich wie eine Ohrfeige. Er sah mich geradeheraus an, wie ich da vor seiner Tür stand. Am Samstagmorgen. In Sportklamotten. Wir hatten den Vormittag zur freien Verfügung und da die anderen draußen waren, hatte auch ich die Erlaubnis bekommen, mich ein bisschen auszutoben. Eine Runde mit dem Boxsack wäre mir lieber gewesen, aber Thomas hatte gemeint, dass ich lieber mit an die frische Luft sollte. Da Tobias heute nicht arbeitete, hatte ich mir einen anderen Laufpartner für mein Training suchen wollen. Nur dass Leif meine Wahl nicht unbedingt begrüßte. So gar nicht.

 

„Warum nicht?“

 

Immerhin hatte Leif mich und Tobias schon mal bei unserer Joggingrunde begleitet. Das war mit ein Grund, warum ich jetzt hier stand. Leif hingegen schien entschlossen zu sein, mich am langen Arm verhungern zu lassen. Ich sah, wie er die Tür ein Stück schloss.
 

„Ich kann nicht“, antwortete er und wich meinem Blick aus.

 

Er konnte nicht? Was sollte das denn für ein Schwachsinn sein?

 

„Warum nicht?“, wiederholte ich.

 

Er atmete angestrengt.
 

„Es geht einfach nicht.“

 

„Und warum nicht?“, fragte ich jetzt schon zum dritten Mal. Ich kam mir langsam vor wie ein Papagei.

 

„Weil …“

 

Leif stockte. Mir war klar, dass er nicht antworten wollte. Aber ich hatte ein Recht auf eine Erklärung. Wenigstens das.
 

„Weil was?“, blaffte ich ihn an, bevor ich es verhindern konnte.

 

Verdammt! Ich hatte doch nett sein wollen. Meine Hand ballte sich zur Faust. Der Wunsch, gegen die Wand zu schlagen und ihn anzuschreien, wurde einen Moment lang übermächtig. Ich hatte mich doch angestrengt. Hatte all meinen Mut zusammen genommen, um an diese verdammte Tür zu klopfen. Und jetzt? Jetzt sagte er Nein. Das war einfach nicht fair!

 

Ich schluckte.

 

„Ich geh dann mal wieder“, presste ich mühsam heraus. Ich musste hier weg, bevor ich etwas Dummes tat. Etwas noch Dümmeres als bei ihm angekrochen zu kommen. Mit steinernem Gesicht drehte ich mich um und schickte mich an, nach draußen zu stürmen.

 

„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht enttäuschen.“

 

Leifs Stimme war leise. Trotzdem hallten die Worte in meinem Kopf wieder. Meine Schritte stockten, bis ich schließlich stehenblieb. Der Impuls wegzurennen war immer noch da. Ich wollte nicht mit ihm reden. Mich nicht entschuldigen oder Entschuldigungen von ihm hören. Es sollte einfach so sein wie früher.
 

„Hast du nicht“, gab ich endlich zurück, als es dafür eigentlich schon viel zu spät war. Ich sah ihn nicht an dabei.

 

„Ich … ich dachte nur … Thomas hat auch gesagt, dass du rauskommen sollst und deswegen …“

 

Die Worte zerbröselten in meinem Mund. Da war etwas, das ich hätte sagen können. Sagen sollen. Aber es auszusprechen?

 

Es war, als würde ich wieder zum ersten Mal an der Kante des Fünf-Meter-Turms stehen. Vollkommen allein, die Blicke der anderen auf mich gerichtet. Ich hatte nach unten gesehen und gewusst, dass es nur einen Weg gab, hier mit erhobenem Kopf wieder rauszugehen. Ich musste springen. Damals hatte ich nicht lange gezögert. Ich hatte es einfach gemacht. War gesprungen und nur Sekunden später im Wasser gelandet, wo mich, als ich nach oben kam, die bewundernden Blicken und der Applaus meiner Klassenkameraden empfangen hatten. Doch anders als damals wusste ich dieses Mal nicht, was mich unten erwartete. Der Stein in meinem Magen schwoll an.

 

Ich hab vor gar nichts Angst.

 

Das hatte ich zu Dr. Leiterer gesagt. Trotzdem wäre ich lieber noch tausend Mal von diesem Turm gesprungen, als zuzugeben, warum ich tatsächlich hier war. Denn was, wenn er Nein sagte? Wenn er mich auslachte? Wenn ich mich hier umsonst zum Affen machte?

 

Mein ganzer Körper schrie danach, von hier zu verschwinden. Normalerweise liebte ich diesen Nervenkitzel. Das Gefühl bei einem Horrorfilm, wenn man genau wusste, dass gleich etwas Furchtbares passierte. Aber das hier war anders. Es war echt und es drehte mir den Magen um. Aber ich war doch schon so weit gekommen. Ich war bis zur Spitze des Turms geklettert. Es wäre feige gewesen, die Leiter wieder hinabzusteigen. Das konnte ich nicht machen. Ich musste springen.

 

Noch einmal schluckte ich. Dann öffnete ich den Mund.
 

„Ich … ich wollte einfach ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“

 

Da. Ich hatte es gesagt. Ich hatte ausgesprochen, was eigentlich hinter dieser schwachsinnigen Idee steckte, mit Leif joggen zu gehen. Die Aussicht, stumm neben ihm Runde um Runde zu drehen, war besser gewesen als die Vorstellung, noch ihn noch einen weiteren Tag lang heimlich zu beobachten. Ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen und doch das Gefühl zu haben, dass da etwas zwischen uns stand. Eine unsichtbare Mauer, die keiner von uns überwinden konnte oder wollte. Eine Mauer, an der ich schuld war.
 

„Oh.“

 

Das war alles, was Leif dazu sagte. Es war ihm also nicht einmal in den Sinn gekommen, dass wir zusammen abhängen könnten. Es war dumm gewesen zu kommen. Ich war dumm. Hätte ich doch Jason geschickt, um ihn zu holen. Dann würde ich jetzt hier nicht stehen mit diesem Stein im Magen und schmerzenden Kiefern, weil ich meine Zähne so fest aufeinander presste, dass sie fast zersplitterten.
 

Ich sollte gehen. Sofort!

 

Aber meine Füße weigerten sich zu gehorchen. Wie festgenagelt stand ich in dem immer noch kahlen Flur. Ein bisschen dunkel war es hier, weil tagsüber der Bewegungsmelder abgeschaltet war. Rechts von mir lag Svens Tür. Der spielte gerade mit den anderen Fußball. Er hatte gefragt, ob ich mitmachen wollte, aber ich hatte verneint. Ich hatte mich ja unbedingt lächerlich machen müssen. Zu Leif gehen. Jetzt hatte ich den Salat.

 

„Du könntest … reinkommen.“

 

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Hatte er das jetzt gerade wirklich gesagt? Oder hatte ich mir das nur eingebildet?

 

„Ich kann aber auch mit rauskommen. Wie du willst. Ich könnte dir zuschauen. Wenn du das möchtest.“
 

Er hatte schnell gesprochen. Abgehackt. Als wären die Worte zu schnell für seinen Mund.

 

Langsam drehte ich mich zu ihm herum. Leif hatte die Tür jetzt wieder etwas weiter geöffnet. Im Gegenlicht sah er anders aus als sonst. Ein bisschen weichgezeichnet. Wie auf einem bearbeiteten Foto. Selbst sein Blick wirkte weniger kühl.

 

„Und?“

 

Ich begriff, dass ich auch mal wieder irgendwas sagen musste. Mein Mundwinkel bewegte sich.

 

„Ja, ich … du kannst gerne mitkommen.“

 

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

 

„Gut, dann pack ich nur noch eben meine Sachen weg. Warte kurz.“

 

Er drehte sich um und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich hörte ihn mit Papier rascheln. Stifte, die eilig zusammengerafft wurden, und hektisches Schubladenklappern. Im nächsten Moment erschien er wieder in der Tür. Er hatte seine Kapuzenjacke in der Hand und wirkte ein wenig außer Atem.

 

„Sollen wir?“, fragte er und nickte Richtung Ausgang.

 

„Klar.“

 

Wir liefen zusammen die Treppe hinunter. Keiner von uns sagte ein Wort, aber ich bildete mir ein, dass er manchmal zu mir herübersah, wenn ich nicht hinguckte. Als wir nach draußen kamen, sah Thomas auf seine Uhr.
 

„Meine Güte, ihr habt ja ewig gebraucht. Alles okay bei euch?“

 

„Ja“, kam es wie aus einem Mund von uns beiden. Ich schickte noch ein entschuldigendes Lächeln hinterher.

 

„Leif konnte seine Sportsachen nicht finden, deswegen laufe ich allein. Ist das trotzdem okay?“

 

„Jaja, macht nur“, kam von Thomas zurück. Natürlich musste er sich keine Sorgen machen. Der Zaun, der den Sportplatz umgab, war noch höher als die Mauer im Park.
 

„Aber beeilt euch ein bisschen. Sieht so aus, als würde es bald regnen.“

„Alles klar.“

 

Wir bekamen den Schlüssel zum Sportplatz und Leif übernahm es großzügig, mir das Tor aufzuschließen. Metall klimperte auf Metall und dann lud er mich mit einer leichten Verbeugung ein hindurchzuschreiten. Ich zeigte ihm einen Vogel und er grinste.

 

„Was? Kann ich dir nicht mal die Tür aufhalten?“

„Bin ich ne Pussy, oder was?“

 

Ich rempelte ihn auf dem Weg an und er tat so, als hätte ich ihn schwer verletzt. Jetzt war ich es, der grinste.
 

„Oh, armes Tüfftüff. Soll ich mal pusten?“
 

Die Vorlage war steil. Viel zu steil, um sie nicht zu nehmen. Ich sah, wie Leif den Mund öffnete, doch dann besann er sich. Er presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. Es war, als hätte er mir einen Eimer kaltes Wasser vor die Füße geschüttet.

 

„Ich geh dann mal laufen“, meinte ich und machte, dass ich auf die Bahn kam.

 

Es war kühl heute und ich sah, nachdem ich eine halbe Runde gelaufen war, dass Leif sich seine Jacke angezogen hatte. Seine Beine steckten in langen Hosen und auch sonst war er ziemlich verhüllt. Ich dagegen trug nur Shorts und ein T-Shirt. Und natürlich meine Turnschuhe. Tobias hatte sie mir bestellt. Sie waren weiß und ganz neu. Und bezahlt. Von dem Geld, das für meine Bedürfnisse zur Verfügung stand, wie er mir erklärt hatte. Ich bekam Kleidung, Bücher, das Radio, das inzwischen in meinem Zimmer stand. Dinge, die mir zustanden. Es hatte sich gut angefühlt.
 

Der Wind frischte auf und ich merkte, wie die ersten Tropfen meine Haut trafen. Dabei war ich noch nicht weit gekommen. Aber aufgeben war nicht drin. Auch wenn das Ganze nicht so gelaufen war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Immerhin war Leif hier. Ich sah ihn mich beobachten, während ich an ihm vorbeilief; die Arme angewinkelt, die Füße in einem stetigen Rhythmus. Sogar meine Atmung war einigermaßen gleichmäßig. Es zahlte sich aus, dass ich nicht mehr rauchte. Wenigstens das.

 

Der Regen wurde stärker. Ich hörte Thomas rufen, dass wir reinkommen sollten, aber ich wollte nicht. Ich wollte hier bleiben. Das bisschen Wasser konnte mich nicht aufhalten. Also lief ich weiter, bis Thomas schließlich am Tor des Sportplatzes erschien.
 

„Manuel. Mach Schluss! Du wirst ja vollkommen nass.“

 

„Eine Runde noch“, rief ich zurück. Thomas nickte, bevor er sich umdrehte und zum Heim zurückging. Ich wusste nicht, ob er Leif gesagt hatte, dass der reinkommen wollte. Ich wusste nur, dass Leif geblieben war. Als ich schließlich vor ihm stehenblieb, war seine Jacke bereits dunkel an den Schultern und Armen. Auch seine Jeans war an den Schienbeinen und auf den Oberschenkeln vollkommen durchnässt. Die Unterseite war noch trocken. Er sah aus wie zweigeteilt. Ich legte den Kopf schief.

 

„Ist dir nicht kalt?“

 

Ich selbst konnte mich da nicht beschweren. Immerhin hatte ich mich bewegt.
 

„Ein bisschen“, gab er zurück, während er zu mir hoch sah. Auch seine Haare waren nass geworden und klebten an seinem Kopf. Ein Regentropfen lief seine Stirn hinab. Er rann an dem Stäbchen in seinem Nasenrücken vorbei weiter nach unten, bevor er sich in seinem Mundwinkel fing. Ich wartete darauf, dass Leif ihn wegleckte, aber er tat es nicht. Stattdessen sah er mich einfach nur an. Ich erwiderte seinen Blick.

 

„Warum bist du nicht mit mir laufen gekommen?“

 

Die Frage kam einfach so aus mir heraus, bevor ich sie zurückhalten konnte. Leifs Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.
 

„Ich … ich hab ein bisschen abgenommen. Nichts Wildes, aber ich sollte besser keinen Sport machen.“
 

„Oder mehr essen“, schlug ich vor. Er lächelte wieder.
 

„Ja. Ja, das wäre wohl gut.“

 

Ich zögerte noch kurz, bevor ich mich neben ihn sinken ließ. Der Regen rauschte jetzt auf uns herab und meine Sachen hatten sich binnen Sekunden vollgesogen. Vermutlich war es absolut dumm, noch hier zubleiben, aber ich konnte jetzt nicht gehen. Nicht schon wieder.

 

„Dr. Leiterer hat gesagt, dass ihr auf einem guten Weg seid.“

 

Leif warf mir einen Seitenblick zu.
 

„Ihr habt über mich gesprochen?“

 

Ich zog die Schultern ein wenig nach oben.

 

„Nein. Ja. Also … nur kurz. Ich wollte nur wissen, ob er dir helfen kann.“

 

Leif sagte nichts darauf. Ich bewegte den Kopf und sah ihn an. Die Tropfen, die über sein Gesicht rannen, sahen aus wie Tränen.

 

„Hilft es dir? Mit ihm zu reden, meine ich.“

 

Leifs Mundwinkel bewegten sich ein Stück nach oben.
 

„Ja, schon. Immerhin weiß ich jetzt, wo meine Probleme liegen. Das ist schon mal ein Anfang.“

„Aber?“

 

Ich hatte gehört, dass da noch etwas mitschwang. Ich wollte wissen, was es war.

 

„Ich …“

 

Er brach ab und senkte den Kopf. Sein Blick richtete sich auf den Boden und ein Tropfen, der über seine Nase gelaufen war, hing für einige Augenblicke daran fest, bevor er zu Boden fiel. Leif würde sich noch erkälten, wenn ich ihn weiter aufhielt. Er musste reingehen. Jetzt.

 

Trotzdem sagte ich nichts. Ich sah ihn einfach nur an. So lange, bis er endlich den Kopf hob und meinen Blick erwiderte.
 

„Alte Gewohnheiten lassen sich leider nur schwer ablegen.“

„Dann helfe ich dir.“

 

Noch einen Augenblick sah er mir direkt in die Augen, bevor er den Kopf abwandte und lachte. Ja wirklich, er lachte. Warum lachte er?

 

„Ich wünschte, das würde funktionieren“, hörte ich ihn noch leise sagen, bevor Thomas’ Stimme über den Platz brüllte, dass wir uns endlich nach drinnen bewegen sollten und zwar pronto.

 

Leif erhob sich, ohne mich anzusehen, und ging mit bedächtigen Schritten in Richtung Wohnheim zurück. Ich sah ihm nach und hatte wieder einmal das Gefühl, das vollkommen Falsche gesagt zu haben. Dabei stimmte es. Ich wollte ihm helfen. Aber vielleicht hatte er recht. Vielleicht war ich wirklich nicht der Richtige dafür.

 

Mit gesenktem Kopf trabte ich zurück zur Terrassentür. Es regnete immer noch in Strömen. Thomas empfing mich mit einem Gewittergesicht und einer Gardinenpredigt.
 

„So eine Unvernunft!“, schimpfte er. „Na los, raus aus den nassen Klamotten und ab in die Dusche. Leif hab ich auch schon geschickt. Seht zu, dass ihr wieder warm werdet.“

 

Ich sah ihn kurz an und entdeckte echte Sorge in seinen Zügen Er hatte anscheinend wirklich Angst, dass uns was passierte. Ich lächelte breit.
 

„Keine Bange, uns haut so schnell nichts um.“

„Dich vielleicht nicht. Aber Leif. Also macht keinen Mist, okay?“

 

Ich nickte nur und bemühte mich, die Küche und das Treppenhaus nicht allzu sehr vollzutropfen auf meinem Weg nach oben. Als ich am Badezimmer ankam, hörte ich drinnen Wasser rauschen. Offenbar duschte Leif noch. Unwillkürlich blieb ich stehen um zu lauschen. Fast hätte ich meine Hand nach der Klinke ausgestreckt um zu sehen, ob er abgeschlossen hatte, als ich Schritte hinter mir hörte. Sven war im Flur aufgetaucht und lachte mich aus.
 

„Du siehst aus wie ne aus dem Wasser gezogene Katze.“

„Immer noch besser als der Golfplatz, den du dein Gesicht nennst.“
 

Er grinste und ich ebenfalls, bevor wir die Fäuste gegeneinander schlugen. Als er jedoch hörte, dass nebenan geduscht wurde, verschwand sein Grinsen schlagartig.

 

„Was findest du eigentlich an dem Spinner?“, wollte er wissen und deutete mit dem Kopf auf die Tür. Ich zuckte die Achseln.
 

„Weiß nicht. Ich find ihn ganz nett.“

„Nett? Nett ist der kleine Bruder von scheiße.“

 

Ich machte ein abfälliges Geräusch wegen des platten Spruchs. Andererseits war ich auch nicht viel besser gewesen. Aber die Wahrheit konnte ich Sven schließlich kaum erzählen.
 

„Kommst du mit?“, fragte er als Nächstes. „Wir dürfen ne Runde unsere sozialen Fähigkeiten unter Beweis stellen.“

 

„Ach ja? Wie das?“

„Brettspiele.“

 

Ich stöhnte und Sven hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste.
 

„Hey, immer noch besser, als wenn er wieder die Klampfe rausholt. Singen? Im Ernst? Ich dachte echt, der will mich verarschen.“

„Ja, geht gar nicht.“

 

Ich tat so, als wenn es nichts Schlimmeres gäbe. Dabei lauschte ich gleichzeitig auf das Wasserrauschen, das jetzt verstummt war. Leif war also fertig mit Duschen. Wenn ich ihn noch erwischen wollte, musste ich Sven loswerden und das zügig.
 

„Na gut, ich komm gleich runter. Warte nur noch auf mein Handtuch, um mich trockenzulegen.“
 

Ich wies mit dem Daumen auf die Badtür.
 

„Klar, mach mal. Aber lass dir nichts abgucken.“

„Logisch.“

 

Damit entließ er mich und ich atmete innerlich auf. Das war gerade nochmal gut gegangen. Als ich mich umdrehte, sah ich direkt in Leifs Gesicht.

 

„Äh, hi“, machte ich. Was Besseres fiel mir gerade nicht ein. Leif reagierte nicht.

 

„Ich … ich soll noch duschen. Hat Thomas gesagt.“

 

Ich klang vollkommen bescheuert, aber ich wollte nicht, dass er dachte, dass ich auf ihn gewartet hatte. Was ich ja irgendwie hatte, aber …

 

„Das Bad ist jetzt frei.“

 

Seine Stimme war rau. Ich kannte diesen Ton. Ich sah seinen Blick, der an mir herabglitt. An meiner Brust, an der immer noch mein nasses T-Shirt klebte, und weiter nach unten. Mein Puls beschleunigte sich. Mein Mund wurde trocken. Das war doch Folter. Alles, was ich wollte, so nahe vor mir und ich konnte es nicht haben. Oder konnte ich?

 

Schnell sah ich mich um. Der Flur war leer. Mit einer Bewegung packte ich Leif und schob ihn zurück ins Bad. Ich schloss die Tür und gleich noch ab. Dabei ließ ich ihn nicht aus den Augen. Er sagte nichts, aber er wehrte sich auch nicht. Er stand einfach nur da, das Handtuch um die Hüften. So wie ich an dem Tag, an dem ich sein Tagebuch geklaut hatte. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Nicht, wenn er hier halbnackt vor mir stand.

 

Mit angehaltenem Atem trat ich einen Schritt näher.
 

„Darf ich?“, fragte ich leise. Er antwortete nicht. Nur seine riesigen Augen sahen mich unverwandt an. Die Pupillen groß und dunkel, die Wimpern lang und gebogen. Seine vollen, leicht spröden Lippen in dem sonst so schmalen Gesicht. Die blasse Haut über seinen Wangenknochen gerötet von der Hitze des Wassers. Ich wollte ihn küssen.

 

„Leif.“

 

Mehr brauchte es nicht. Nur seinen Namen, den ich flüsternd hervorstieß. Im nächsten Moment verschloss er meine Lippen mit einem Kuss. Stürmisch war er. Hungrig. Ich legte meine Hände auf seine Hüften, zog ihn zu mir heran. Ich hatte ihn so vermisst. So sehr vermisst.

 

Ich öffnete den Mund und er folgte meiner Einladung sofort. Seine Zunge strich über meine. Sie umschlangen sich. Das hier war gut, so gut. Ich spürte die Wand in meinem Rücken, den rauen Stoff unter meinen Händen, den ich beiseiteschob, um dann nur noch glatte Haut zu spüren. Nein, nicht glatt. Ich fühlte die Knochen und Sehnen, die feinen Haare, die ihn bedeckten. Er war fest und hart. Überall.

 

Seine Finger stahlen sich unter mein Shirt. Zerrten es über meinen Kopf, bevor wir uns zu einem erneuten Kuss fanden. Lippen, Zähne und Zunge. Forschende, fahrige Berührungen, die überall zugleich waren. Schon verabschiedete sich meine Hose in Richtung Boden. Ich stöhnte, als ich seinen Schwanz an meinem fühlte. Meine Hände krallten sich in seinen Hintern. Er zischte, aber ich ignorierte es. Stattdessen küsste ich ihn. Wieder und wieder, während er sich an mich presste und ich mich an ihn. Für einen Moment blitzte die Idee in mir auf, mich umzudrehen und mich von ihm nehmen zu lassen. Jetzt und hier an dieser verdammten Wand. Mich einfach ficken zu lassen. Ich war so geil. Ich wollte ihn. Jetzt.
 

„Ich will dich“, flüsterte ich ihm ins Ohr. Meine Zunge fuhr über seinen Hals. Er roch ganz leicht nach seinem Duschgel. Irgendein grünes Zeug mit Kräutern. Meine Finger fanden seinen Hintern. Ich fasste zu und zog die Backen auseinander. Das Ergebnis war ein Keuchen und ein Zucken in seinem Schwanz, das mir deutlich zeigte, dass er das mochte. Ich drückte in einer aufreizenden Geste mein Becken gegen seines. Knochen und feste Muskeln beantworteten meine Bewegung. Sein Schwanz stand wie eine Eins. Ich konnte die Spitze leuchten sehen. Sie fast schon zwischen meinen Lippen spüren. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf durcheinander. Blasen. Ficken. Alles. Alles wollte ich und das jetzt. Sofort. Mit ihm.

 

„Ich will dich“, wiederholte ich noch einmal und saugte an der Haut, die sich über seinem Schlüsselbein spannte. „Jetzt. Hier. Ich will dich ficken.“
 

Er keuchte noch einmal und lehnte sich nach hinten. In seiner linken Brustwarze hatte er noch ein Piercing. Ich überlegte nicht lange und legte meine Lippen darüber. Saugte, knabberte, leckte. Er machte so wundervolle Geräusche. Ich wollte ihn zum Schreien bringen.
 

„Halt!“, rief er plötzlich und stieß mich wieder gegen die Wand. Irritiert hob ich den Blick. In meinem Kopf war nur noch Platz für den Gedanken daran, ihn umzudrehen und es ihm zu besorgen. Ihm und mir. Ich wollte, dass er kam, während ich noch in ihm steckte. Ich wollte ihn dabei spüren. Das Zucken seines Körpers. Seine Muskeln, die sich eng und enger um mich zusammenzogen. Seine Lippen auf meinen, wenn es passierte. Ich wollte …

 

„Wir sollten das nicht tun.“

 

Ich hörte die Worte, aber ihr Sinn erschloss sich mir nicht. Was sollten wir nicht tun? Ficken? Oh doch, das sollten wir. Das sollten wir unbedingt.

 

Ich griff nach ihm, zog ihn wieder näher. Sanfter als vorher. Ich wollte, dass er es genoss.

 

„Keine Angst“, wisperte ich in sein Ohr. Meine Lippen spielten mit dem baumelnden Ohrring. Fingen ihn ein und zogen leicht daran. „Es wird niemand was merken.“

 

„Ich werde es merken.“

 

Ich lächelte und küsste noch einmal seinen Hals. Meine Lippen auf seiner Haut. Meine Nase in seinem Geruch.
 

„Ich werde vorsichtig sein. Ich will dir nicht wehtun.“

 

Noch ein Kuss. Sein Puls unter meinen Lippen. Ich hörte ihn atmen. Dann ließ er mich auf einmal los und trat von mir weg. In seinen Augen sah ich Lust und Traurigkeit. Er verzog den Mund zu einem kleinen, schmerzhaften Lächeln.

 

„Ich weiß“, sagte er und ich brauchte einen Augenblick bis ich begriff, dass das eine Antwort gewesen war. Aber worauf? Was hatte ich gesagt? Es war mir entfallen in dem Moment, als ich ihm zum ersten Mal ganz sah. Vollkommen nackt wie noch nie zuvor.

 

Er war wirklich schlank. Ein bisschen zu sehr. Seine Oberarme waren dünner als seine Unterarme. Ich sah seine Schlüsselbeine, den unteren Ansatz seines Brustkorbs, das Becken. Es hätte besser ausgesehen, wenn er ein bisschen mehr auf den Rippen gehabt hätte. Wortwörtlich. Aber gleichzeitig war er … schön. Auf eine unheimliche, zarte Weise. Ich wollte ihn anfassen. Berühren. Streicheln. Ihn in den Arm nehmen und ihn küssen. Ihm durch das Haar streichen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dass wir es schaffen würden. Er lächelte noch einmal.

 

„Ich sollte gehen. Die anderen werden sonst misstrauisch.“
 

Er beugte sich nach seinem Handtuch und hob es auf. Dabei konnte ich noch einmal seinen Rücken bewundern. Auch hier zu viele Knochen, aber die schmale Linie turnte mich an. Ich verstand es nicht. Ich hatte noch nie auf so was gestanden und jetzt wollte ich nichts mehr als das. Warum?
 

„Bis nachher.“

 

Er ging an mir vorbei und ließ mich schutzlos zurück. Nackt. Wie hatte er das geschafft? Ich war verdammt nochmal geil und gleichzeitig hätte ich heulen können. Ich zog geräuschvoll die Nase hoch.

 

Ich werd mir einen runterholen und dann nach unten gehen. Sollen sie doch blöde Sprüche machen. Ist ja nicht so, dass die anderen nicht auch manchmal länger duschen würden.

 

Mit diesen Gedanken machte ich mich daran, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Die Tür ließ ich offen. Sollte er doch hören, was er verpasste. Was er hätte haben können. Ich würde mich nicht vor ihm verstecken. Ich nicht.

 

Doch als ich schließlich kam, war es mit seinem Namen auf den Lippen. Die Lust, die in dicken, weißen Schüben aus mir herausschoss, schrie ihn. Sie sang. Doch ich, ich fühlte mich stumm und zerschlagen, als ich schließlich das Wasser abdrehte. Ich hörte Thomas draußen nach mir rufen und antwortete, dass ich noch duschte. Er blieb an der Tür stehen und klopfte.
 

„Du solltest langsam mal kommen. Die anderen sind schon alle unten.“

„Ja, bin gleich soweit.“

 

Als ich aus der Dusche stieg, fiel mein Blick auf einen dunklen Haufen unter dem Waschbecken. Leifs Sachen, die er bei seiner Flucht vergessen hatte. Ich lachte bitter auf. Denn genau das war es gewesen. Eine Flucht. Eine Flucht vor mir. Vor dem, was wir hätten haben konnten. Aber er wollte es nicht. Er konnte nicht. Es fühlte sich scheiße an, das zu hören. Es tat weh.

 

Trotzdem hob ich seine Sachen auf. Ich trug sie in mein Zimmer und hängte sie über dem Stuhl zum Trocknen auf. Für meine eigenen war kein Platz mehr, aber das machte nichts. Die mussten ohnehin in die Wäsche. Ich ließ sie am Boden liegen und zog mich an.

 

Mit einem letzten Blick auf die Hose, die Jacke und das Shirt drehte ich mich herum, zog die Tür hinter mir zu und ging nach unten. Alles so, wie es erwartet wurde. Alles so, wie Leif es wollte. Doch in mir drin war nichts, wie es sein sollte. Dort herrschte Chaos. Eine Sturmflut, die mich zu verschlingen drohte. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich empfing das Gelächter und die Sprüche der anderen mit weit ausgebreiteten Armen. Ich machte mit. Tat, als könnte mich nichts verletzen. Als wäre ich hart wie Eis. Als glitte alles an mir ab wie ein einer glatten, kalten Wand. Weil das das Einzige war, was mir jetzt noch übrigblieb. Das Einzige, was mich jetzt noch rettete. Das Einzige, das vielleicht dafür sorgte, dass ich irgendwann über ihn hinwegkam.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Ryosae
2021-08-31T20:19:10+00:00 31.08.2021 22:19
Hey Mag!
Hoffe dein Urlaub war trotz des schlechten Wetters gut? Wo wart ihr denn wenn ich fragen darf? :)

Manuel scheint sich wirklich irgendwie verändert zu haben und wirkt viel reifer und erwachsener. Mal sehen wie lange das anhalten wird ;)

Leif scheint ihm mehr zu vergeben und es ist wohl ein sehr großer Schritt in die richtige Richtung, dass er sich komplett nackt gezeigt hat? Die letzten Tage sind sicherlich nicht spurlos an seinem Essverhalten vorbei gegangen.

Lese gleich das nächste Kappi! :D

LG
Ryo
Antwort von:  Maginisha
01.09.2021 12:48
Hey Ryosae!

Wir waren an der Ostsee, ein bisschen Meer tanken. Regen gab es allerdings auch genug. :D

Monsieur Manuel macht sich langsam ein bisschen. Das, was viele bisher versucht haben ihm einzutrichtern, fängt langsam an, Wirkung zu zeigen. Auch weil er eben nicht mehr einfach ausweichen kann.

Leif weiß momentan wahrscheinlich selber nicht wirklich, was er will. Aber vielleicht kommt ja bald mal ein bisschen Licht ins Dunkel. ^_^

Viel Spaß beim Weiterlesen!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  chaos-kao
2021-08-29T10:06:17+00:00 29.08.2021 12:06
Ich hoffe du hattest einen schönen und erholsamen Urlaub :)
Manuel legt ja ordentlich Tempo vor. Kein Wunder wenn es Leif zu schnell geht und er sich zurück zieht. Er muss ja fast denken, dass Manuel nur Sex will, dass er nur den Sex und nicht ihn will. Ich hoffe Manuel lässt jetzt nicht wieder das Arschloch Leif gegenüber raushängen
Antwort von:  Maginisha
29.08.2021 15:02
Hey chaos-kao!

Ja, der Urlaub war schön und kaum nass. *Ironie aus* Nee, Scherz. Es ging schon. Wir hatten relativ viel Glück für das, was da draußen so abgeht.

Leif hat allerdings ein paar Gründe, warum er Manuel zurückweist und ich denke, dass du den Nagel ziemlich auf den Kopf getroffen hast mit deinem Verdacht. Ob und wie sich Manuel jetzt weiter verhalten wird, sehen wir hoffentlich bald. (Immerhin hab ich das nächste Kapitel schon fertig getippt. :D)

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  chaos-kao
29.08.2021 16:26
Wuhuuuu <3


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